190
Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn Universit¨ at Bielefeld

Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

Gewohnliche Differentialgleichungen

Vorlesung

Sommersemester 2014

Prof. Dr. W.–J. Beyn

Universitat Bielefeld

Page 2: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn
Page 3: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

Inhaltsverzeichnis

I Einfuhrung, elementare Losungsmethoden 7

1 Differentialgleichungstypen, das Richtungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1.1 Differentialgleichungstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1.2 Anfangswertaufgaben, Losungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

2 Spezielle Losungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

2.1 Trennung der Veranderlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

3 Die lineare Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

3.1 Die Losungsdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

4 Differentialgleichungen hoherer Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

4.1 Transformation auf Systeme erster Ordnung . . . . . . . . . . . . . 25

4.2 Die Energiemethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

4.3 Erhaltungsgroßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

II Existenz und Eindeutigkeit von Losungen 46

1 Die Anfangswertaufgabe als Operatorgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . 46

2 Funktionalanalytische Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

3 Der Satz von Picard–Lindelof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

3.1 Globaler Existenz– und Eindeutigkeitssatz . . . . . . . . . . . . . . 55

3.2 Lokaler Existenz– und Eindeutigkeitssatz . . . . . . . . . . . . . . . 57

4 Der Existenzsatz von Peano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

4.1 Existenz bei stetigen Nichtlinearitaten . . . . . . . . . . . . . . . . 61

4.2 Der Kompaktheitsbegriff, Satz von Arzela–Ascoli . . . . . . . . . . 62

4.3 ε–Approximation und das Eulersche Polygonzugverfahren . . . . . 67

5 Globale Existenz und stetige Abhangigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

5.1 Fortsetzung von Losungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

3

Page 4: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4 INHALTSVERZEICHNIS

5.2 A–priori Abschatzungen und das Gronwall–Lemma . . . . . . . . . 75

5.3 Stetige Abhangigkeit von Parametern und Anfangsdaten . . . . . . 78

6 Differenzieren nach Parametern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

6.1 Differentiation nach dem Anfangswert . . . . . . . . . . . . . . . . 83

6.2 Differentiation nach Parametern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

IIILineare Differentialgleichungen 91

1 Homogene Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

1.1 Elementare Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

1.2 Homogene Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

1.3 Fundamentalmatrizen und Fundamentalsysteme . . . . . . . . . . . 94

1.4 Wronski–Matrix und Wronski–Determinante . . . . . . . . . . . . . 96

1.5 Das Reduktionsverfahren von d’Alembert . . . . . . . . . . . . . . . 97

2 Inhomogene Differentialgleichungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

2.1 Die Formel Variation der Konstanten . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

2.2 Der Evolutionsoperator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

3 Systeme mit konstanten Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

3.1 Picard Iteration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

3.2 Die Matrixexponentialfunktion und Potenzreihen . . . . . . . . . . 104

3.3 Jordannormalform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

3.4 Der reelle Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . 117

4.1 Losungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

4.2 Konstante Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

IVQualitative Theorie und dynamische Systeme 125

1 Systeme mit konstanten Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

1.1 Stabilitat und asymptotische Stabilitat . . . . . . . . . . . . . . . . 127

1.2 Inhomogene Systeme und ein makrookonomisches Beispiel . . . . . 130

1.3 Zweidimensionale Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

1.4 Stabilitat fur Differentialgleichungen zweiter Ordnung . . . . . . . . 139

2 Stationare Punkte und ihre Stabilitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

2.1 Begriffsbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

2.2 Der Stabilitatssatz von Liapunow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

2.3 Beweis des Instabilitatssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

2.4 Liapunow–Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Page 5: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

V Randwertaufgaben 154

1 Beispiele, Anwendungen und Aufgabentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

1.1 Beipiele fur Zweipunkt–Randwertaufgaben . . . . . . . . . . . . . . 154

1.2 Eine lineare Randwertaufgabe zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . 159

1.3 Eine nichtlineare Randwertaufgabe zweiter Ordnung . . . . . . . . . 161

2 Lineare Randwertaufgaben fur Systeme 1. Ordnung . . . . . . . . . . . . . 166

2.1 Fredholmsche Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

2.2 Die Greensche Matrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

3 Lineare Sturmsche Randwertaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

3.1 Fredholmsche Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

3.2 Die Greensche Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

3.3 Sturmsche Randeigenwertaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

4 Nichtlineare Randwertaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

4.1 Existenz und Eindeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

4.2 Regulare Losungen von Randwertaufgaben . . . . . . . . . . . . . 183

Page 6: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn
Page 7: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

Kapitel I

Einfuhrung, elementareLosungsmethoden

1 Differentialgleichungstypen, das Richtungsfeld

Differentialgleichungen besitzen eine unubersehbare Vielzahl von Anwendungen in denNaturwissenschaften, der Technik und der Okonomie. In der Tat liegt der Ursprung derDifferentialrechnung selbst in dem Bemuhen mathematische Modelle fur Vorgange in derNatur zu entwickeln, zunachst in der Mechanik (Newton):

Finde ein universelles Gesetz, aus dem sich der Ort eines auf die Erde fallenden Apfels alsFunktion der Zeit, allgemeiner die Bahnen der Planeten um die Sonne unter gegenseitigerBeeinflussung bestimmen lassen.

Neben diesen klassischen Ursprungen in der Mechanik sind im Laufe der Zeit eine Vielzahlanderer Anwendungen z. B. in der Physik, der Chemie, der Biologie und der Wirtschafts-wissenschaft getreten.

1.1 Differentialgleichungstypen

Von gewohnlichen Differentialgleichungen spricht man, wenn Funktionen einerVariablen (in der Regel der Zeit t) gesucht werden:

u :J ⊂ R→ R

n

t 7→ u(t) ∈ Rn J ein echtes Intervall,

fur die eine Beziehung zwischen u(t) und seiner Ableitung u′(t) = (u′1(t), . . . , u′n(t)), t ∈ J ,

bekannt ist, z. B.

(1.1) u′(t) = f(t, u(t)), t ∈ J.

7

Page 8: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

8 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

t

c

u

Abbildung 1.1:

Dabei ist f : J × Rn → Rn eine gegebene Funktion, die den Mechanismus, das ’physi-kalische Gesetz’ des Zusammenhangs von u(t) und u′(t) beschreibt. Komponentenweiselautet (1.1):

(1.2) u′i(t) = fi(t, u(t)), i = 1, . . . , n, t ∈ J.

Der Kurze halber schreibt man (1.1) auch als

u′ = f(t, u), t ∈ J.

Beispiel 1.1 Fur die skalare Differentialgleichung (d. h. n = 1),

(1.3) u′ = −2tu, t ∈ R,

ist die allgemeine Losung durch u(t) = ce−t2 , t ∈ R fur beliebiges c ∈ R gegeben, vgl.Abbildung 1.1

Man bezeichnet (1.1) als ein n–dimensionales System von Differentialgleichungen er-ster Ordnung.

In (1.1) kommt u′ explizit vor. Man nennt eine Differentialgleichung implizit, wenn siedie Form

(1.4) F (t, u, u′) = 0

mit einer gegebenen Funktion F : J ×Rn×Rn → Rn besitzt. Hier ordnet sich (1.1) durchdie Setzung F (t, u, v) = v − f(t, u) unter.

Page 9: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. DIFFERENTIALGLEICHUNGSTYPEN, DAS RICHTUNGSFELD 9

Beispiel 1.2 Fur die implizite Differentialgleichung

(u′)2 − 4t2 = 0, t ∈ R,

ist die allgemeine Losung durch u±(t) = c± t2, t ∈ R, c ∈ R fur beliebiges c ∈ R gegeben.

Eine implizite Differentialgleichung k–ter Ordnung (k ≥ 1) hat die Form

(1.5) F (t, u, u′, . . . , u(k)) = 0, t ∈ J

mit u(k)(t) = (u(k)1 (t), . . . , u

(k)n (t)) ∈ Rn und F : J × (Rn)k+1 → Rn.

Eine explizite Differentialgleichung k–ter Ordnung (k ≥ 1) hat die Form

(1.6) u(k) = f(t, u, . . . , u(k−1)), t ∈ J

mit einer gegebenen Funktion f : J × (Rn)k → Rn.

Beispiel 1.3 Die explizite Differentialgleichung 2. Ordnung

u′′(t) = −g, t ∈ R

mit der Erdbeschleunigung g > 0 beschreibt den freien Fall, wobei u(t) die Hohe uber demErdboden angibt. Die allgemeine Losung ist durch u(t) = h0 − v0t − 1

2gt2, t ∈ R fur

beliebige h0, v0 ∈ R gegeben. Wird in diesem Modell die Luftreibung berucksichtigt, soerhalt man die explizite Differentialgleichung 2. Ordnung

u′′(t) = −g + α(u′(t))2, t ∈ R, g, α > 0.

Weitere Typen von Differentialgleichungen sind:

1. partielle Differentialgleichungen:

uxx + uyy = 0, u(x, y), (x, y) ∈ Ω ⊂ R2,

ut − uxx = 0, u(x, t), x ∈ [0, 1], t ≥ 0,

utt − uxx = 0, x ∈ R, t ≥ 0.

2. Differentialgleichungen mit Verzogerung

u′(t) = u(t− 1) (1− u(t)), t ≥ 0, u(t) = u0(t) fur − 1 ≤ t ≤ 0.

Wir werden uns in dieser Vorlesung weitgehend auf den Typ (1.1) beschranken.Spezialfalle von (1.1) sind:

Page 10: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

10 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

α) der autonome Fall(1.7)

u′ = g(u), mit g : Rn → Rn. Hier ist f(t, v) = g(v), t ∈ R, unabhangig von t.

β) der lineare Fall

(1.8) u′ = A(t)u+ r(t)

mit r : J → Rn, A : J → Rn,n. Hier ist f(t, v) = A(t)v + r(t), t ∈ J, v ∈ Rn, furjedes feste t affin linear in v.

Die in (1.3) betrachtete Differentialgleichung ist linear.

1.2 Anfangswertaufgaben, Losungsbegriff

Wie bereits die Beispiele zeigen, besitzen Differentialgleichungen vom Typ (1.1) i. Allg.viele Losungen. Um (hoffentlich) eine auszuzeichnen, schreibt man oft eine Anfangsbedin-gung vor.

Anfangswertaufgabe: Seien f ∈ C(Ω,Rn) mit Ω ⊂ Rn+1 und (t0, u0) ∈ Ω gegeben,dann lautet die Anfangswertaufgabe (oder: das Anfangswertproblem):

(AWA) u′ = f(t, u), u(t0) = u0.

Definition 1.4 Eine Funktion u ∈ C1(J,Rn), J ⊂ R ein Intervall, heißt Losung derAnfangswertaufgabe (kurz: AWA), falls die folgenden Bedingungen gelten:

(i) J ist ein echtes Intervall (J 6= ∅) und t0 ∈ J,

(ii) (t, u(t)) ∈ Ω ∀t ∈ J, (d. h. Graph u ⊂ Ω),

(iii) u′(t) = f(t, u(t)) ∀t ∈ J,

(iv) u(t0) = u0.

Falls nur (i)–(iii) gelten, so heißt u Losung der Differentialgleichung u′ = f(t, u) inΩ.

Eine Losung u ∈ C1(J,Rn) heißt nicht fortsetzbar, falls es keine Losung u ∈ C1(J ,Rn)

der AWA gibt mit J6=⊃ J und u|J = u. J heißt dann maximales Existenzintervall. Ist

in diesem Fall außerdem Ω = J×U mit einer offenen Menge U ⊂ Rn, so heißt u globaleLosung von AWA.

Page 11: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. DIFFERENTIALGLEICHUNGSTYPEN, DAS RICHTUNGSFELD 11

tt0

u

u0

Ω

J

Abbildung 1.2: Losungen einer Differentialgleichung und Tangentialvektoren

Eine Losung der AWA hat bei t0 die Steigung u′(t0) = f(t0, u0) und die Kurve

γ(t) = (t, u(t))

besitzt bei t0 den Tangentialvektor

γ′(t0) = (1, u′(t0)) = (1, f(t0, u0)).

An diese Tangentialvektoren mussen sich die Losungen anschmiegen, vgl. Abbildung 1.2.

Definition 1.5 Die Abbildung

R :Ω→ R

n+1

(t, u) 7→ (1, f(t, u))

heißt Richtungsfeld der Differentialgleichung, und jedes Tripel (t, u, f(t, u)) ∈ Ω×Rn

bezeichnet man als ein Linienelement.

Beispiel 1.6 Wir betrachten erneut die Differentialgleichung u′ = −2tu, aus (1.3).

In der Abbildung 1.3 werden die Tangentialvektoren (1, f(t, u)) mit einem konstantenFaktor skaliert. Eine Losung der Differentialgleichung (1.3) zum Anfangswert u(t0) = u0liefert der Ansatz ce−t20 = u0. Hieraus folgt c = u0 e

t20 und somit u(t) = u0 et20−t2.

In hoheren Dimensionen ist das zugehorige Richtungsfeld naturlich schwierig zu zeichnen;vgl. Abbildung 1.4.

Im autonomen Fall ist das Richtungsfeld von t unabhangig und man zeichnet daher nurseine Projektion auf den Rn, also

f : u ∈ Rn 7→ f(u)

bei Unterdruckung der t–Koordinate.

Page 12: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

12 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

–2

–1

0

1

2

u

–2 –1 1 2

t

Abbildung 1.3: Richtungsfeld der Differentialgleichung

t

u1u2

n = 2

Abbildung 1.4: Dreidimensionales Richtungsfeld

Page 13: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. DIFFERENTIALGLEICHUNGSTYPEN, DAS RICHTUNGSFELD 13

0

0.5

1

1.5

2

u2

0.5 1 1.5 2

u1 .

Abbildung 1.5: Richtungsfeld des Lotka–Volterra Systems (1.9)

u1

u2

Abbildung 1.6: Phasenbild eines autonomen System.

Beispiel 1.7 Als Beispiel betrachten wir das Rauber–Beute–Modell nach Lotka–Volterra,das fur u = (u1, u2) ∈ R+ × R+ durch die Differentialgleichung

(1.9)u′1 = u1(1− u2), (u1 = Beute)u′2 = u2(u1 − 1), (u2 = Rauber)

gegeben ist. Die zugehorige Projektion des Richtungsfeldes auf den R+ × R+ ist in Abbil-dung 1.5 veranschaulicht.

Tragt man hier die durch die Losungen definierten Kurven u(t) : t ∈ J ein, so erhaltman das sog. Phasenbild, vgl. Abbildung 1.6.

Nicht nur Anfangsbedingungen konnen benutzt werden, um Losungen auszuzeichnen, son-dern auch Randbedingungen.

Page 14: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

14 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

(1.10) u′ = f(t, u) fur t ∈ J = [t0, t1], t0 < t1,

(1.11) g(u(t0), u(t1)) = 0

mit einer gegebenen Funktion g : Rn × Rn → Rn. Die Differentialgleichung (1.10) bildetzusammen mit der Randbedingung (1.11) eine Randwertaufgabe (kurz: RWA).

Beispiel 1.8 Betrachte die Randwertaufgabe

u′ = −2tu, t ∈ J = [t0, t1], t0 < t1,u(t1) = u(t0) + 1.

Die allgemeine Losung u(t) = c · e−t2 der aus (1.3) bekannten Differentialgleichung fuhrtaufgrund der Randbedingung auf

1 = u(t1)− u(t0) = c(e−t21 − e−t20).

Fur |t0| 6= |t1| lasst sich die Gleichung nach c auflosen, d. h. es gibt genau eine Losungnamlich

u(t) =1

et20−t21 − 1

et20−t2 =

1

e−t21 − e−t20e−t2 .

Fur t1 = ± t0 ist die Gleichung nicht erfullt, d. h. es gibt keine Losung.

2 Spezielle Losungsmethoden

2.1 Trennung der Veranderlichen

Ein in vielen Anwendungen auftretender Typ skalarer Differentialgleichungen besitzt dieForm

(2.1) u′ = g(t)h(u), u(t0) = u0

mit g ∈ C(J,R), h ∈ C(Ω,R), t0 ∈ J ein Intervall, u0 ∈ Ω ein offenes Intervall. Istu(t), t ∈ K ⊂ J , eine Losung von (2.1) auf einem Teilintervall K mit

(2.2) h(u(t)) 6= 0 ∀ t ∈ K,

Page 15: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. SPEZIELLE LOSUNGSMETHODEN 15

dann folgt durch Integration fur t ∈ K und Substitution

(2.3)

t∫

t0

g(τ)dτ =

t∫

t0

u′(τ)

h(u(τ))dτ =

u(t)∫

u0

h(ξ).

Umgekehrt kann man (2.3) als Gleichung fur u(t) auffassen und zeigen, dass man auf dieseWeise eine Losung von (2.1) erhalt.

Satz 2.1 Ist h(u0) = 0, so ist u(t) = u0, t ∈ J , eine globale Losung von (2.1). Im Fallh(u0) 6= 0 gibt es ein echtes Intervall K ⊂ J, t0 ∈ K, in dem (2.1) genau eine Losungbesitzt. Sie ergibt sich durch Auflosung von (2.3) nach u(t).

Beweis: Der Fall h(u0) = 0 ist klar, wir nehmen also h(u0) 6= 0 an. Da h stetig ist,existiert ein offenes Intervall U ⊂ Ω mit h 6= 0 in U. Dann ist

H(v) :=

v∫

u0

1

h(ξ)dξ, v ∈ U

stetig differenzierbar in U und umkehrbar. Daher ist V := H(U) ein offenes Intervall

mit 0 = H(u0) ∈V . Nun wahlen wir ein echtes Intervall K ⊂ J mit t0 ∈ K und der

Eigenschaft

G(t) :=

t∫

t0

g(τ)dτ ∈ V ∀ t ∈ K.

u(t) := H−1 G(t) ist dann in C1(K) und erfullt u(t0) = H−1(0) = u0 sowie (2.3), alsogilt

(2.4) H(u(t)) = G(t), t ∈ K.

Differentiation von (2.4) liefert

g(t) = G′(t) = H ′(u(t))u′(t) =1

h(u(t))u′(t), t ∈ K.

Somit ist u(t), t ∈ K, eine Losung von (2.1). Ist nun u eine weitere Losung von (2.1) in K,

so existiert wegen h(u(t0)) 6= 0 ein maximales Intervall K ⊂ K mit h(u(t)) 6= 0 ∀ t ∈ K.

Damit genugt u, wie im Vorspann gezeigt, der Gleichung H(u(t)) = G(t), t ∈ K. Wegen

der eindeutigen Auflosbarkeit folgt also u(t) = u(t) ∀ t ∈ K. Ist t1 ein Endpunkt von

K, der inK liegt, so folgt aus h(u(t1)) = h(u(t1)) 6= 0, und der Stetigkeit von h u, dass

K sich noch vergroßern lasst, ein Widerspruch. Also gilt K = K.

Page 16: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

16 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

Der Satz gibt uns eine Moglichkeit, die Losungen explizit zu berechnen. Man benotigtdazu Stammfunktionen H von 1

hund G von g (nicht notwendig H(u0) = 0, G(t0) = 0).

Dann istH(u(t)) + C = G(t), t ∈ K

aufzulosen, wobei die Integrationskonstante C aus

H(u0) + C = G(t0)

zu bestimmen ist. Naturlich sollte man K so groß wie moglich wahlen.

Praktische Merkregel

du

dt= g(t)h(u),

du

h(u)= g(t) dt,

∫1

h(u)du+ C =

∫g(t)dt.

Die so formal erhaltene Losung ist durch Einsetzen zu verifizieren!

Beispiel 2.2 1. Populationsentwicklung (Verhulst, 1838)

(2.5) u′ = u(α− βu), u(t0) = u0 ≥ 0, α > 0, β > 0.

Partialbruchzerlegung Mit der Setzung g(t) = 1, h(u) = u(α− βu) undγ = α

β> 0 folgt

∫dξ

ξ(α− βξ) =1

α

∫ 1ξ

+1

γ − ξdξ =

1

αln( ξ

γ − ξ)+ c,

∫dt = t.

Gleichsetzen nach der praktischen Merkregel liefert die allgemeine Losung

1

αln( u

γ − u)

+ c = t⇒ u

γ − u = eα(t−c).

Die Anfangsbedingung u(t0) = u0 besagt

(2.6)u0

γ − u0= eα(t0−c).

Dies fuhrt zu der folgenden speziellen Losung von (2.5)

Page 17: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. SPEZIELLE LOSUNGSMETHODEN 17

γ = αβ

Abbildung 2.1: Losungen der logistischen Gleichung (2.5).

u(t) =γeα(t−c)

1 + eα(t−c)=

γ

1 + e−α(t−c)=

γ

1 + e−α(t−t0)e−α(t0−c)

1 + γ−u0

u0e−α(t−t0)

=γu0

u0 + (γ − u0)e−α(t−t0)

=γu0

γe−α(t−t0) + u0(1− e−α(t−t0)).

(2.7)

Man rechnet leicht nach, dass durch (2.7) tatsachlich eine Losung der AWA gegebenist, solange der Nenner nicht verschwindet. Fur u0 ≥ 0, t ≥ t0 ist dies immer derFall (biologisch sinnvoller Bereich). Dort gilt außerdem lim

t→∞u(t) = γ = α

β, falls

u0 > 0, vgl. Abbildung 2.1.

Die Losung u(t) aus (2.7) besitzt eine Singularitat beit t1, falls der Nenner bei t1verschwindet, d. h.

eα(t1−t0) =u0 − γu0

⇒ t1 − t0 =1

αln(u0 − γ

u0

), falls u0 > γ > 0 oder u0 < 0.

Abbildung 1.2 illustriert den Ausdruck u0−γu0

als Funktion von u0.

Bedingung Existenzintervallu0 > γ (t1,∞) mit t1 < t0,0 ≤ u0 ≤ γ (−∞,∞),u0 < 0 (−∞, t1) mit t1 > t0.

In allen Fallen sind die Losungen nicht fortsetzbar, jedoch nur im Fall0 ≤ u0 ≤ γ existieren sie global, d. h. auf (−∞,∞).

Page 18: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

18 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

u0

1

γ

Abbildung 2.2: Losungen mit Singularitat

2. Betrachte die Differentialgleichung

u′ = |u|1/2.

Mit u(t) ist auch v(t) = −u(−t) eine Losung, denn

v′(t) = u′(−t) = |u(−t)|1/2 = |v(t)|1/2.

Außerdem ist u ≡ 0 offensichtlich auch eine Losung. Wir suchen zunachst Losungenu(t) > 0. Die Gleichungen

∫dξ

ξ1/2= 2ξ1/2 + C,

∫1 ds = t

liefern aufgrund der praktischen Merkregel

2u(t)1/2 = t− C und fuhren somit auf

u(t) =1

4(t− C)2.

Diese Funktion lost u′ = |u|1/2 fur t ≥ C, aber nicht fur t < C! Aber

u(t) =

0, t ≤ C,14(t− C)2, t > C,

ist eine Losung und ebenso

uC1,C2(t) =

−14(t− C1)

2, t ≤ C1,

0, C1 ≤ t ≤ C2,14(t− C2)

2, C2 ≤ t.

In dieser Losung kann man auch C1 = −∞ bzw. C2 = +∞ zulassen, wobei danndie Definition fur t ≤ C1 bzw. t ≥ C2 entfallt.

Page 19: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. SPEZIELLE LOSUNGSMETHODEN 19

tt0

u0

C1

C2

Abbildung 2.3: Beispiel mit nicht eindeutigen Losungen

Fur u(t0) = u0 > 0 gilt

1

4(t0 − C)2 = u0 ⇒ t0 − C = 2

√u0,⇒ C = t0 − 2

√u0.

Die Losungen sind in Abbildung 2.3 veranschaulicht.

Man erhalt damit die folgende mit Satz 2.1 konsistente Situation:

(i) Fur u0 = 0 besitzt die AWA unendlich viele Losungen, namlich alle

uC1,C2 mit C1 ≤ t0 ≤ C2 sowie u ≡ 0.

(ii) Fur u0 > 0 besitzt die AWA eine lokal bei t0 eindeutige Losung

u(t) =1

4(t− t0 + 2

√u0)

2, t ≥ t0 − 2√u0.

Diese ist jedoch nicht global eindeutig, denn man kann sie fur t ≤ t0−2√u0

durch irgendein uC1,C2 mit C2 = t0 − 2√u0 fortsetzen.

Entsprechendes gilt fur u0 < 0.

Man beachte, dass f(u) = |u|1/2 bei u = 0 nicht Lipschitz–stetig ist!

3. Spezialfall h(u) = 1, die Differentialgleichung (2.1)besitzt also die Form

u′ = g(t), u(t0) = u0.

Die Gleichung (2.3) lautet:

t∫

t0

g(τ)dτ =

u(t)∫

u0

dξ = u(t)− u0,

Page 20: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

20 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

u−

u+u

h(u)

Abbildung 2.4: Losungsverhalten der skalaren Anfangswertaufgabe (2.8)

d. h.

u(t) = u0 +

t∫

t0

g(τ)dτ.

Die Trennung der Veranderlichen entspricht also dem Hauptsatz der Differential–Integralrechnung.

4. Spezialfall g(t) = 1u′ = h(u), u(t0) = u0.

Mit u(t) ist auch v(t) = u(t + t0) eine Losung von v′ = h(v) zum Anfangswertv(0) = u0. Es genugt den Fall t0 = 0, also

(2.8) u′ = h(u), u(0) = u0

zu betrachten. Wir nehmen h(u0) > 0 an. Sei U = (u−, u+) ein maximales Intervall(u− = −∞ oder u+ = ∞ zugelassen) mit h(ξ) 6= 0 ∀ ξ ∈ U , dann ist H(v) =v∫

u0

dξξstetig, streng monoton wachsend und bijektiv. Setze (τ−, τ+) = H(u−, u+) und

beachte, dass die Setzung τ− = −∞ bzw. τ+ = +∞ zugelassen ist. Die Losungu(t) = H−1(t) existiert also auf dem Intervall (τ−, τ+) und

limt→τ±

u(t) = u±.

Fur den Fall, dass h Lipschitz–stetig ist, sind die Falle (τ+ < ∞ und u+ < ∞)sowie (τ− >∞ und u− > −∞) ausgeschlossen.

(Beweis als Ubungsaufgabe)

Beispiel:

Wenn −∞ < u− ≤ u0 ≤ u+ < ∞, dann ist immer τ− = −∞, τ+ = ∞ undlim

t→±∞u(t) = u± sowie h(u−) = 0 = h(u+), vgl. Abbildung 2.4.

Page 21: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. DIE LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNG 21

5. Reaktionskinetik

Betrachte die chemische Reaktion C + Ek→ D, wobei mit c, e, d die zugehorigen

Konzentrationen, gemessen in[

Mol

Volumen

]bezeichnet werden und k > 0 gilt.

(2.9)

c′ = −kce, c(0) = c0 ≥ 0,

e′ = −kce, e(0) = e0 ≥ 0,

d′ = kce, d(0) = d0 ≥ 0.

Es giltc′ − e′ = 0 ∀ t ∈ R⇒ c(t)− e(t) = c0 − e0 ∀ t ∈ R.

Folglich kann (2.9) auf die folgende skalare Anfangswertaufgabe reduziert werden.

(2.10) c′ = kc(S0 − c), c(0) = c0, S0 = c0 − e0.

Im Fall S0 = c0 − e0 > 0 erhalten wir aus dem ersten Beispiel mit α = kS0, β =k, γ = α

β= S0, t0 = 0 und u0 = c0 die Losung

c(t) =S0c0

c0 + (S0 − c0)e−kS0t=

c0(c0 − e0)c0 − e0e−k(c0−e0)t

.

Im Fall c0 = e0 liefert die Trennung der Veranderlichen

c(t) =c0

1 + kc0t.

Ferner ist stets e(t) = c(t)− S0 und wegen d′ + c′ = 0 schließlich

d(t) = d0 + e0 − e(t).

Die Losungen c(t), e(t) und d(t) sind in Abbildung 2.5 fur d0 = 0 veranschaulicht.

Im Fall S0 ≤ 0 vertauschen sich einfach die Rollen von c und e.

3 Die lineare Differentialgleichung

3.1 Die Losungsdarstellung

Wir betrachten die allgemeine skalare lineare Differentialgleichung (vgl. (1.8) mit n = 1)

(3.1) u′(t) = a(t)u(t) + r(t), t ∈ J

Page 22: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

22 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

c0

e0

c0 − e0c(t)

e(t)

d(t)

t

Abbildung 2.5: Losungen des Systems (2.10).

fur gegebene a, r ∈ C(J,R), J ein echtes Intervall. Wir suchen eine Losung u ∈ C1(J,R)von (3.1). Fur spatere Verallgemeinerungen ist es nutzlich (3.1) als Operatorgleichung zuschreiben:

(3.2) Lu = r

mit dem linearen Differentialoperator

L :C1(J,R) → C(J,R)

u 7→ Lu, (Lu)(t) = u′(t)− a(t)u(t).

a) Wir losen zunachst die homogene Gleichung

Lu = 0

im Intervall J mit der Trennung der Veranderlichen (t0 ∈ J fest gewahlt)

u′ = a(t)u, ln(u(t)u0

)=

u(t)∫

u0

ξ=

t∫

t0

a(τ)dτ =: α(t), u0 > 0.

Es folgt

ln(u(t)u0

)= α(t), also u(t) = u0 e

α(t).

In der Tat lost

(3.3) u(t) = u0 eα(t) mit α(t) :=

t∫

t0

a(τ)dτ

die Anfangswertaufgabe Lu = 0, u(t0) = u0.

Page 23: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. DIE LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNG 23

Alle Losungen von Lu = 0 sind von der Form C · eα(t), mit einer Konstanten C ∈ R.Die Eindeutigkeit erhalt man wie folgt: Sei v irgendeine Losung von Lv = 0, so gilt

d

dt(ve−α(t)) = (v′ − α′(t)v) e−α(t) = 0

also ist v(t)e−α(t) konstant.

b) Um die inhomogene Gleichung Lu = r aus (3.2) zu losen, machen wir den Ansatz:

Variation der Konstanten: Wir verwenden den Produktansatz

u(t) = c(t)v(t), v(t) := eα(t)

mit noch unbekanntem c(t), wobei v(t) eine Losung der homogenen Gleichung ist.Dann erhalten wir

u′ − au = c′v + c v′︸︷︷︸=av

−acv = c′v,

also die lineare Differentialgleichung (3.1), wenn wir

r(t) = c′(t)v(t)

setzen. Es gilt:

c′(t) = e−α(t)r(t)⇒ c(t) =

t∫

t0

e−α(s) r(s)ds.

Somit erfullt c(t) zusatzlich c(t0) = 0. Wir erhalten die spezielle Losung

(3.4) u(t) = eα(t)t∫

t0

e−α(s) r(s)ds =

t∫

t0

e

t∫

sa(τ)dτ

r(s)ds.

Diese erfullt die inhomogene Aufgabe Lu = r zum Anfangswert u(t0) = 0. Sei nunu irgendeine Losung von Lu = r, so folgt

L(u− u) = 0 d. h. u = u+ Cv fur ein C ∈ R, v(t) = eα(t).

Die Losung der Anfangswertaufgabe

Lu = r, u(t0) = u0

ist dann u(t) = v(t)u0 + u(t) = e

t∫

t0

a(τ)dτ

u0 + u(t) mit C = u0.

Damit ist das Folgende bewiesen:

Page 24: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

24 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

Satz 3.1 Fur a ∈ C(J,R) besitzt der Differentialoperator Lu = u′ − a(t)u einen eindi-mensionalen Nullraum (Kern)

cv : c ∈ R, mit der Setzung v(t) = e∫ tt0

a(τ)dτ=: U(t, t0),

und alle Losungen von Lu = r ∈ C(J,R) haben die Form u = u + cv mit einem c ∈ R.Die Anfangswertaufgabe

Lu = r in J, u(t0) = u0

hat die eindeutige Losung

(3.5) u(t) = U(t, t0)u0 +

t∫

t0

U(t, s) r(s)ds.

Die Gleichung (3.5) wird als Variation der Konstantenformel bezeichnet. Der Ope-rator U : (t, s) → U(t, s) heißt auch Evolutions– oder Losungsoperator. Er hat diefolgenden Eigenschaften:

(i) U ∈ C1(J × J,R),

(ii) U(t, t) = 1 ∀ t ∈ J,

(iii) U(t, τ) U(τ, s) = U(t, s) ∀ t, s, τ ∈ J,

(iv) u(t) = U(t, t0)u0 lost Lu = 0, u(t0) = u0 fur jedes t0 ∈ J, u0 ∈ R.

Da wir alle Losungen von (3.1) kennen, konnen wir auch leicht die Losbarkeit einer Rand-wertaufgabe

(3.6) Lu = r in [t0, t1], βu(t0) + γu(t1) = δ

diskutieren, wobei nun zusatzlich β, γ, δ ∈ R gegeben sind. Die Losungen der Differenti-algleichung sind u = cv+ u, c ∈ R, wobei u aus(3.4) und v(t) = U(t, t0). Damit auch ihreRandbedingung gilt, muss c die folgende Aussage erfullen

(3.7)

δ = β(cv + u)(t0) + γ(cv + u)(t1) = (β v(t0) + γv(t1))c+ (βu(t0) + γu(t1))

⇔ (β v(t0)︸︷︷︸=1

+γv(t1))c = δ − (β u(t0)︸ ︷︷ ︸=0

+γu(t1)),

also(β + γv(t1))c = δ − γu(t1).

Page 25: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 25

Satz 3.2 Im Fall 0 6= β + γv(t1) = β + γe

t1∫

t0

a(τ) dτ

=: ρ besitzt die Randwertaufgabe(3.6) fur jedes r ∈ C(J,R) und jedes δ ∈ R genau eine Losung. Im Fall ρ = 0 besitzt (3.6)

unendlich viele Losungen u+ cv, c ∈ R, falls γu(t1) = δ,

keine Losung falls γu(t1) 6= δ.

4 Differentialgleichungen hoherer Ordnung und

Erhaltungsgroßen

In diesem Paragraphen studieren wir einige spezielle Differentialgleichungssysteme zweiterund hoherer Ordnung und stellen die Beziehung zu Systemen erster Ordnung her.

4.1 Transformation auf Systeme erster Ordnung

Eine wesentliche Quelle fur Differentialgleichungen 2. Ordnung bilden Bewegungsgleichun-gen der Physik, insbesondere der Mechanik. Dabei beschreibt man die Bewegung einesoder mehrerer Massenpunkte unter dem Einfluss eines Kraftfeldes. Im einfachsten Fallhat man ein Teilchen der Masse m = 1, das sich zur Zeit t am Ort q(t) ∈ R befindet undauf das dort die Kraft f(q(t)) wirkt.

Die Newtonsche Bewegungsgleichung lautet

(4.1) q′′(t) = f(q(t)), kurz q′′ = f(q).

Ist f ∈ C(R,R), so gibt es eine Funktion V ∈ C1(R,R) mit

(4.2) −V ′(x) = f(x) ∀ x ∈ R.

an bezeichnet V als Potential des Kraftfeldes, es ist nur bis auf eine Konstante ein-deutig bestimmt.

Beispiel 4.1

(4.3) V (q) = q2(q2 − 1), f(q) = −4q3 + 2q.

V und f sind in der Figur skizziert. Da V hier nach unten beschrankt ist, bezeichnetman es auch als Potentialtopf. Die Bewegung eines Teilchens in diesem Potentialtopfkann man sich als (reibungslose) Bewegung einer rollenden Kugel unter dem Einfluss derSchwerkraft veranschaulichen.

Page 26: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

26 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

f(q)

V (q)

q

Abbildung 4.1: Potentialtopf und Kraftfeld fur Beispiel (4.1), (4.2)

Ist q(t) Losung von (4.1) und setzt man p(t) = q′(t), so lost (q, p)(t) das System 1.Ordnung

(4.4)q′ = p,

p′ = f(q).

Mit der Beziehung u =(u1

u2

)=(qp

)schreibt sich (4.4) als

(4.5) u′ =

(u2

f(u1)

)=: g(u).

Ist umgekehrt u ∈ C1(J,R2) eine Losung von (4.5), so folgt u1 ∈ C2(J,R) wegen u′1 =u2 ∈ C1(J,R), und damit u′′1 = u′2 = f(u1). Also ist u1 eine Losung von (4.1).

Das (projizierte) Richtungsfeld auf den R2 des Systems (4.5) ist fur den Potentialtopf(4.3) in Abbildung 4.2 skizziert:

Die zu (4.5) gehorige Anfangswertaufgabe

(4.6) u′ = g(u) :=

(u2

f(u1)

), u(0) =

(q0p0

)

ist aquivalent zu der Anfangswertaufgabe fur die Differentialgleichung 2. Ordnung

(4.7) q′′ = f(q), q(0) = q0, q′(0) = p0.

Es erscheint daher sinnvoll, fur eine Differentialgleichung 2. Ordnung Anfangsbedingungenfur die Funktion und die Ableitung vorzuschreiben, um eine eindeutige Losung auszuzeich-nen.

Page 27: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 27

–1

–0.5

0.5

1

u2

–1 –0.5 0.5 1

u1

Abbildung 4.2: Richtungsfeld zum Beispiel (4.3), (4.4)

Allgemein betrachten wir ein Differentialgleichungssystem k–ter Ordnung

(4.8) u(k) = F (t, u, u′, . . . , u(k−1)), t ∈ J,

mit gegebenem F ∈ C(J × (Rn)k,Rn). Durch die Setzung

(4.9) v1 = u, v2 = u′, . . . , vk = u(k−1)

geht (4.8) in ein System 1. Ordnung der Dimension nk fur v = (v1, . . . , vk) ∈ (Rn)k uber

(4.10) v′ =

v2...vk

F (t, v1, . . . , vk)

=: f(t, v), t ∈ J,

mit f ∈ C(J × (Rn)k, (Rn)k).

Wie oben erhalt man aus (4.10), dass die erste Komponente v1 einer C1–Losung von (4.10)

der Differentialgleichung (4.8) genugt. Die Anfangswertaufgabe

v′ = f(t, v), v(t0) = (u01, . . . , u0k) ∈ (Rn)k

ist dann aquivalent zu

(4.11) u(k) = F (t, u, . . . , u(k−1)), u(j−1)(t0) = u0j (j = 1, . . . , k).

Page 28: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

28 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

m1

u1(t)

m2

u2(t)

mj

uj(t)

Abbildung 4.3: Auf eine Masse wirkende Gravitationskrafte

Beispiel 4.2 (das N–Korper Problem)

N Massen mi, i = 1, . . . , N, bewegen sich unter dem Einfluss der gegenseitigen Gravita-tion. Sei ui = (ui1, ui2, ui3) ∈ R3 die Position der i–ten Masse, so gelten nach Newton dieBewegungsgleichungen

(4.12) mi u′′i = Fi(u1, . . . , uN), i = 1, . . . , N,

wobei Fi : R3N → R3 die durch die Massen mj , j 6= i auf mi ausgeubten Gravitationskrafte

aufaddiert, vgl. Abbildung 4.3.

Nach dem Gravitationsgesetz gilt:

(4.13) Fi(u1, . . . , uN) = γN∑

j=1

j 6=i

mimjuj − ui|uj − ui|32

mit der Gravitationskonstanten γ > 0 (| · |2 = Euklidische Norm).

Fur das Potential

(4.14) V (u1, . . . , uN) = −γ∑

i<j

mimj

|ui − uj|2

rechnet man leicht nach

(4.15) Fi = −graduiV = −

(∂V∂ui

)T.

Durch Einfuhrung der Blockvektoren

v = (v1, v2, . . . , v2N ) ∈ (R3)2N , v2i−1 = ui, v2i = u′i (i = 1, . . . , N)

konnen wir (4.12) in ein System erster Ordnung transformieren

Page 29: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 29

(4.16) v′ =

v2m−1

1 F1(v1, v3, . . . , v2N−1)...v2N

m−1N FN(v1, v3, . . . , v2N−1)

=: f(v),

wobei f : (R3)2N → (R3)2N .

4.2 Die Energiemethode

Mit Hilfe der Energiemethode kann man die Losungen der skalaren Anfangswertaufgabe(4.7) weitgehend diskutieren. Sei wieder V ∈ C1(R,R) mit V ′ = −f gegeben.

Ist q ∈ C2(J,R) Losung von (4.7), so folgt fur t ∈ Jd

dt(1

2q′

2) = q′q′′ = f(q)q′ = −V ′(q)q′ = − d

dt(V (q)),

also

(4.17)d

dt

(12q′

2+ V (q)

)= 0.

Diese Gleichung zeigt, dass die sog. Gesamtenergie des Systems

E(q) :=1

2q′

2+ V (q),

1

2q′

2= kinetische Energie,

V (q) = potentielle Energie(4.18)

entlang Losungen konstant bleibt. Es gilt daher fur t ∈ J

(4.19)1

2q′

2+ V (q) =

1

2p20 + V (q0) =: E0.

Dies ist eine implizite Differentialgleichung 1. Ordnung fur q(t). Aus (4.19) folgt

(4.20) q′ =√

2(E0 − V (q)) oder q′ = −√

2(E0 − V (q)).

Welches der Vorzeichen zu nehmen ist, hangt vom Vorzeichen von q′(0) = p0 ab.

Im Fall p0 > 0 folgt aus der ersten Gleichung von (4.20) mit der Trennung der Verander-lichen

(4.21)

q(t)∫

q0

ds√2(E0 − V (s))

= t.

Page 30: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

30 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

Wir benutzen jetzt (4.21), um eine Losung zu konstruieren. Sei weiterhin p0 > 0 und sei(q−, q+) ein maximales Intervall mit der Eigenschaft (vgl. Abbildung 4.4)

(4.22) q0 ∈ (q−, q+), V (q) < E0 fur q ∈ (q−, q+).

V (q)

qq− q+q0

E0

Abbildung 4.4: Energieniveau E0 und Potential V

Zunachst ist q− = −∞ oder q+ = +∞ zugelassen. Die Funktion

(4.23) H(q) :=

q∫

q0

ds√2(E0 − V (s))

, q ∈ (q−, q+)

ist stetig differenzierbar und streng monoton wachsend. Nach (4.21) sind daher die Grenz-werte

(4.24) limqցq−

H(q) =: t−, limqրq+

H(q) =: t+

zu diskutieren, damit wir q ∈ C2((t−, t+),R) gemaß

(4.25) H(q(t)) = t ∈ (t−, t+)

konstruieren konnen. Im Folgenden nehmen wir

(4.26) −∞ < q− < q+ <∞

an, so dass aus der Maximalitat von (q−, q+) folgt

(4.27) V (q−) = V (q+) = E0, −f(q−) = V ′(q−) ≤ 0 ≤ V ′(q+) = −f(q+),

vgl. dazu auch Abbildung 4.4. Wir unterscheiden im Folgenden vier Falle:

Fall 1: V ′(q−) < 0 < V ′(q+) (siehe Abbildung 4.4).

Nach dem Mittelwertsatz folgt fur s− q− > 0 klein√E0 − V (s) =

√V (q−)− V (s) =

√V ′(Θs)(q− − s) ≥ C

√s− q−.

Page 31: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 31

Daher existiert das uneigentliche Integral

t− = H(q−) =

q−∫

q0

ds√2(E0 − V (s))

∈ (−∞, 0]

und ebenso

t+ = H(q+) =

q+∫

q0

ds√2(E0 − V (s))

∈ [0,∞).

(4.21) besitzt eine eindeutige Losung q ∈ C1((t−, t+),R), fur die gilt:

1 = H ′(q(t))q′(t) =q′(t)√

2(E0 − V (q)),

also

(4.28) (q′)2 = 2(E0 − V (q)) in (t−, t+).

Mit der strengen Monotonie von H erhalten wir aus (4.24), (4.25), (4.27) und (4.28)

(4.29) limt→t±

q(t) = q±, limt→t±

q′(t) =√

2(E0 − V (q±)) = 0.

Schließlich zeigt (4.28), dass q ∈ C2((t−, t+),R) da V ∈ C1(R,R), und Differentiation von(4.28) liefert

2q′q′′ = −2V ′(q)q′.

Wegen q′ > 0 in (t−, t+) und f = −V ′ erhalten wir nach Division durch 2q′

q′′ = f(q) in (t−, t+).

Daraus erhalten wir mit (4.27) im betrachteten Fall V ′(q−) < 0 < V ′(q+)

(4.30) limt→t±

q′′(t) = f(q±) = −V ′(q±)<> 0.

Schließlich folgt aus (4.23), (4.25), (4.28) und p0 > 0

q(0) = H−1(0) = q0, q′(0) =

√2(E0 − V (q0)) =

√p20 = p0.

Setzt man daher q(t±) = q±, so lost q(t) die Anfangswertaufgabe (4.7) sogar auf [t−, t+].

Durch Spiegelung

(4.31) q(t) := q(2t+ − t), t ∈ [t+, 2t+ − t−]

Page 32: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

32 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

erhalten wir wegen (4.29), (4.30) eine Fortsetzung dieser Losung auf [t−, 2t+− t−] (in derTat lost die Fortsetzung (4.31) die zweite Differentialgleichung in (4.20)), siehe Abbildung4.5.

t

q(t)

q−

q+

t−

t+

2t+ − t−

Abbildung 4.5: Periodische Losung von (4.7)

Damit kann diese Losung zu einer periodischen Losung auf ganz R mit der Periode

(4.32) T = 2(t+ − t−) =√2

q+∫

q−

ds√E0 − V (s)

fortgesetzt werden (siehe Abbildungen 4.5 und 4.6).

Man uberlegt sich leicht, dass dieses Ergebnis auch im Fall p0 = 0 richtig ist, wobei dannin (4.19) q0 = q− oder q0 = q+ zu setzen ist und H(q) in (4.23) ein bei q0 uneigentlichesIntegral ist.

p

q

q− q+q0

p0

Abbildung 4.6: Phasenbild mit periodischer Losung

Fall 2: V ′(q−) = 0 < V ′(q+) (siehe Abbildung 4.7)

Wie im Fall 1 existiert das uneigentliche Integral

(4.33) t+ = H(q+) =

q+∫

q0

ds√2(E0 − V (s))

<∞.

Page 33: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 33

V (q)

qq− q+

E0

Abbildung 4.7: Eniergieniveau und Potentialtopf in einem kritischen Fall

Hingegen ist

(4.34) t− = limqցq−

H(q) = −∞,

da fur kleine Werte von s− q− > 0 gilt:

E0 − V (s) = V (q−)− V (s) =1

2V ′′(Θs) (q− − s)2

und somit

H(q) =

q∫

q0

ds√2(E0 − V (s))

≤q∫

q0

ds

C|q− − s|→ −∞ fur q → q−.

Damit erhalten wir wie im Fall 1, dass die durch (4.25) definierte Funktion q ∈ C2(−∞, t+],R)die Anfangswertaufgabe (4.7) lost und außerdem

(4.35)

limt→t±

q(t) = q± fur t→ t±, limt→t±

q′(t) = 0,

limt→t+

q′′(t) = f(q+) < 0

erfullt. Durch Spiegelung an t+ gemaß

q(t) = q(2t+ − t), t+ ≤ t <∞

erhalten wir nun direkt eine Losung q ∈ C2(R) von (4.7), siehe Abbildung 4.8 (links).

In der (q, p = q′)–Phasenebene ergibt sich ein Orbit (q(t), q′(t)), der fur t → ±∞ gegendenselben Punkt (q−, 0) konvergiert, vgl. Abbildung 4.8 (rechts). Man bezeichnet ihn alshomoklinen Orbit.

Wir fugen noch an, dass im Fall p0 = 0, q0 = q+ dieselbe Losungskonstruktion moglichist, wahrend im Fall p0 = 0, q0 = q− die konstante Losung q(t) = q− ∀t ∈ R vorliegt.

Page 34: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

34 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

t

q(t)

q−

q+

τ+

p

qq− q+

Abbildung 4.8: Homokliner Orbit im Zeitbild und im Phasenbild

Fall 3: V ′(q−) < 0 = V ′(q+)

Dieser Fall wird analog zu Fall 2 abgehandelt.

Fur q0 = q+ ist q(t) = q+ ∀t ∈ R, wahrend fur q0 6= q+ sich eine Losung q(t), t ∈ R ergibt,

die spiegelsymmetrisch bez. t− =q−∫q0

ds√2(E0−V (s))

ist und ahnlich zu (4.35)

(4.36) q(t)→ q+, q′(t)→ 0 fur t→ ±∞

erfullt, siehe Abbildung 4.9 (links). Der homokline Orbit konvergiert in diesem Fall gegenden Punkt (q+, 0), vgl. Abbildung 4.9 (rechts).

t

q(t)

q−

q+

τ−

p

qq−q+

Abbildung 4.9: Homokliner Orbit im Zeitbild und im Phasenbild

Fall 4: V ′(q−) = 0 = V ′(q+)

Jetzt ist q(t) = q± ∀t ∈ R die Losung, falls q0 = q±. Im Fall q0 ∈ (q−, q+) erfullt die durch(4.25) definierte Losung q ∈ C2(R,R) von (4.7) die Bedingung

(4.37) q(t)→ q±, q′(t)→ 0 fur t→ ±∞,

vgl. Abbildung 4.10 (links). Dies ergibt in der (q, q′)–Ebene einen Orbit

(q(t), q′(t)) : t ∈ R,

Page 35: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 35

vgl. Abbildung 4.10 (rechts), der die Punkte (q−, 0) und (q+, 0) verbindet und als hetero-klin bezeichnet wird.

t

q(t)

q(t)q−

q+

p

qq− q+

Abbildung 4.10: Heterokline Orbits im Zeitbild und im Phasenbild

Im Fall p0 < 0 liefert (4.25) eine Losung von q′′ = f(q) mit q(0) = q0, q′(0) = −p(0), die

dann durch die Setzung q(t) = q(−t) eine Losung der Anfangswertaufgabe (4.7) ergibtvgl. Abbildung 4.10 (links).

Wir fassen zusammen:

Satz 4.3 Gegeben sei die Anfangswertaufgabe (4.7) mit f ∈ C(R,R) und p0 ≥ 0. SeiV ∈ C1(R,R) gewahlt mit V ′ = −f , ferner E0 := 1

2p20 + V (q0) und (q−, q+) ⊂ R ein

endliches Intervall mit q0 ∈ [q−, q+] und

(4.38) V < E0 in (q−, q+), V (q−) = V (q+) = E0.

Dann besitzt (4.7) eine eindeutige Losung q ∈ C2(R,R) und diese hat die Eigenschaften:

Fall 1: f(q−) > 0 > f(q+)

q(t) ist periodisch mit der Periode (4.32) und symmetrisch bez.

(4.39) t+ =

q+∫

q0

ds√2(E0 − V (s))

.

Fall 2: f(q−) = 0 > f(q+)

q(t) erfullt die Limesbeziehung

(4.40) limt→±∞

(q(t), q′(t)) = (q−, 0)

und ist symmetrisch bez. t+ aus (4.33).

Fall 3: f(q−) > 0 = f(q+)

Page 36: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

36 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

q(t) erfullt die Limesbeziehung

(4.41) limt→±∞

(q(t), q′(t)) = (q+, 0)

und ist symmetrisch bez.

(4.42) t− =

q−∫

q0

ds√2(E0 − V (s))

.

Fall 4: f(q−) = 0 = f(q+)

q(t) erfullt

(4.43) limt→±∞

(q(t), q′(t)) = (q±, 0).

Bemerkungen zu Satz 4.3:

1. Der Fall p0 = 0 und damit q0 ∈ q−, q+ wurde in der obigen Herleitung schon stetsberucksichtigt. Die Losung im Fall p0 < 0 erhalt man immer durch Ubergang zuq(−t), wenn q(t) durch (4.25) konstruiert wird.

2. Die Falle q− = −∞ oder q+ = +∞ (oder beides) lassen sich analog behandeln. Jetztist es allerdings moglich, dass das maximale Existenzintervall (t−, t+) (vgl. (4.22),(4.24)) endlich ist und z. B.

q(t)→ ±∞ fur t→ t±

auftritt (Ubungsaufgabe).

Beispiel 4.4 Das mathematische Pendel.

l

qq

q

K = mg

Ksinq

Abbildung 4.11: Mathematisches Pendel

Page 37: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 37

Die Bewegung einer Masse m, die an einem starren und masselosen Pendelstab der Langel aufgehangt ist, lasst sich durch den Winkel q(t) zwischen der Lotrechten und der Pen-delrichtung beschreiben. Nach Newton gilt die Beziehung (siehe Abbildung 4.11, g = Erd-beschleunigung)

m ℓq′′ = − K sin q = − mg sin q.

Mit α = gℓ> 0 erhalten wir nach Division durch m die Anfangswertaufgabe

(4.44) q′′ = −α sin q =: f(q), q(0) = q0, q′(0) = p0.

Ein Potential ist (vgl. Abbildung 4.12)

(4.45) V (q) = α(1− cos q),

da die Potentiale von der Form V (q) = −αcosq + C fur C ∈ R sind.

π−π

V (q)

q0

Abbildung 4.12: Potentialverlauf zum mathematischen Pendel

Das Verhalten der Losung hangt vom Wert

(4.46) E0 =1

2p20 + α(1− cos q0),

ab. Fur E0 < 2α liegt der Fall 1 von Satz 4.3 vor, wobei −π < q− < q+ < π wegen(4.38), vgl. Abbildung 4.13. Dies schließt z. B. den Fall p0 = 0, 0 < q0 < π ein, derdem Loslassen des Pendels bei einem Anfangswinkel q0 entspricht; dann erhalten wir furp0 = 0 eine Losung mit der Periode, vgl. (4.32),

T =√2

q0∫

−q0

ds√α(cos s− cos q0)

=

√2

α

q0∫

−q0

ds√2(sin2( q0

2)− sin2( s

2))

=2√α

q0∫

0

ds√sin2( q0

2)− sin2( s

2),

wobei wir sin2x = 12(1− cos(2x)) verwendet haben.

Page 38: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

38 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

tT2

T

32T−T

2

E0 < 2α

q(t)

p0 = 0 q0

Abbildung 4.13: Potential, Energieniveau und Periode fur das mathematische Pendel

Mit der Substitution s = ϕ(τ) := 2 · arcsin(sin( q02)sinτ), also

sin( s2) = sin( q0

2) sin τ, 0 ≤ τ ≤ π

2folgt:

(4.47) T =4√α

π2∫

0

dτ√1− sin2( q0

2) sin2τ

=4√αE1(sin(

q02)).

Hierbei bezeichnet

E1(x) =

π2∫

0

dτ√1− x2 sin2τ

, 0 ≤ x < 1,

das sog. unvollstandige elliptische Integral erster Art.

Im Fall E0 = 2α liegt der Fall 4 von Satz 4.3 vor: Man erhalt q+ = π und q− = −πaufgrund von (4.38), vgl. Abbildung 4.13, und daher heterokline Orbits, die die Punkte(−π, 0) und (π, 0) verbinden, siehe Abbildung 4.14.

π

−πt

q(t)E0 = 2α

q0 = 0

p0 = 2√α

Abbildung 4.14: Heterokliner Orbit beim mathematischen Pendel

Im Fall E0 > 2α schließlich ist das Intervall (q−, q+) = R und es liegt der Fall (t−, t+) = R

vor (vgl. Bemerkung 2 zu Satz 4.3). Dies entspricht dem Rotieren des Pendels um denAufhangepunkt (vgl. Abbildung 4.15).

Page 39: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 39

π

−πt

q

E0 > 2α

Abbildung 4.15: Unbeschrankte Losung beim mathematischen Pendel

Die Ergebnisse lassen sich in einem Phasenbild zusammenfassen (Abbildung 4.16). Wegender Energieerhaltung gibt dieses Bild gerade die Niveaulinien von

E(q, p) =1

2p2 + α(1− cos q)

wieder.

π−π 2π−2π

p

q

E0 > 2α

E0 = 2α

Pendel uberschlagt sich

Abbildung 4.16: Phasenbild des mathematischen Pendels

Beispiel 4.5 (Fortsetzung von Beispiel 4.1)

Zum Potential V (q) = q2(q2 − 1) aus (4.3) gehort die Energiefunktion, vgl. (4.18)

E(p, q) =1

2p2 + V (q),

aus deren Niveaulinien wir das Phasenbild des Systems

(4.48) q′ = p, p′ = −4q3 + 2q =: f(q)

erhalten (siehe Abbildung 4.17).

Page 40: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

40 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

1−1 −1/√

2 1/√

2

p

q

Abbildung 4.17: Phasenbild zum System (4.48)

Zum Energiewert

0 = E0 =1

2p20 + V (q0)

gehoren zwei homokline Orbits, die fur q0 > 0 zu Fall 2 und fur q0 < 0 zu Fall 3 von Satz4.3 gehoren.

Außer den konstanten Losungen

(4.49) q(t) = 0, ± 1√2

gibt es nur noch periodische Losungen (Fall 1 von Satz 4.3).

Im Fall E0 < 0 umkreisen sie die Ruhelagen (± 1√2, 0) und im Fall E0 > 0 alle drei

Ruhelagen (4.49), vgl. Abbildung 4.17.

4.3 Erhaltungsgroßen

Die Energiemethode aus Abschnitt 4.2 konnen wir auch wie folgt interpretieren: Die Funk-tion E(u) = 1

2u22 + V (u1) ist konstant auf Losungen des Systems, vgl. (4.5),

u′ = g(u) =

(u2

f(u1)

), V ′ = −f,

dennd

dtE(u(t)) = E ′(u(t)) u′(t) = (V ′(u1), u2)

(u2

−V ′(u1)

)= 0.

Page 41: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 41

Definition 4.6 Gegeben sei ein autonomes Differentialgleichungssystem

(4.50) u′ = f(u) mit f ∈ C1(Ω,Rn), Ω ⊂ Rnoffen.

Eine Funktion E ∈ C1(Ω,R) heißt Erhaltungsgroße des Systems (4.50) (alternativ auchals Konstante der Bewegung oder erstes Integral bezeichnet), wenn fur jede Losungu ∈ C1(J,Rn) von (4.50), J ein echtes Intervall, die Funktion E(u(t)), t ∈ J , konstantist.

Satz 4.7 Eine Funktion E ∈ C1(Ω,Rn) ist genau dann Erhaltungsgroße von (4.50), wenngilt

(4.51) E ′(v)f(v) = 0 ∀v ∈ Ω.

Bemerkung: Zur Erinnerung:

E ′(v)f(v) = (grad E(v))Tf(v) =n∑

i=1

∂E

∂vi(v)fi(v).

Beweis: Aus (4.51) folgt fur eine Losung u ∈ C1(J,Rn) von (4.50)

d

dtE(u(t)) = E ′(u(t))u′(t) = E ′(u(t))f(u(t)) = 0 ∀t ∈ J.

Sei umgekehrt E ∈ C1(Ω,Rn) eine Erhaltungsgroße. Wie wir in Kapitel II zeigen werden,existiert zu jedem v ∈ Ω fur hinreichend kleines ε > 0 eine Losung u ∈ C1((−ε, ε),Rn)der Anfangswertaufgabe

u′ = f(u), u(0) = v.

Aus E(u(t)) = E(v) ∀|t| < ε folgt

0 =d

dtE(u(t))|t=0 = E ′(v)f(v).

Beispiel 4.8 1. Reaktionskinetik (siehe (2.9)). Wir betrachten erneut die chemi-

sche Reaktion C + Ek→ D. Das System (2.9) hat die Erhaltungsgroßen

E1(c, e, d) = c− e, E2(c, e, d) = c+ d,

die wir in Abschnitt 2.1 ausgenutzt haben, um das dreidimensionale System auf eineskalare Differentialgleichung zu reduzieren (siehe (2.10)) und explizit anzugeben.

Page 42: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

42 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

2. N–Korperproblem (siehe (4.12)). Mit der Setzung

v = (u1, u′1, . . . , uN , u

′N) = (v1, v2, . . . , v2N−1, v2N) ∈ (R3)2N

hat das System (4.12) bzw. (4.16) die Erhaltungsgroße

E(v) =1

2

N∑

i=1

miu′Ti u

′i + V (u1, . . . , uN)

=1

2

N∑

i=1

mivT2iv2i + V (v1, v3, . . . , v2N−1).

Sie stellt die Gesamtenergie des Systems dar. Es gilt mit (4.16) und (4.15)

E ′(v)f(v) =N∑

i=1

mivT2i f2i(v) +

N∑

i=1

∂V (v1, v3, . . . , v2N−1)

∂v2i−1

f2i−1(v)

=

N∑

i=1

vT2i Fi(v1, . . . , v2N−1) +

N∑

i=1

∂V (u1, . . . , uN)

∂ui· v2i

=N∑

i=1

vT2i Fi(v1, . . . , v2N−1) +N∑

i=1

(−Fi(u1, . . . , uN))T v2i

=

N∑

i=1

vT2iFi(v1, . . . , v2N−1) +

N∑

i=1

(−Fi(v1, . . . , v2N−1))T v2i

= 0.

Es gibt weitere Erhaltungsgroßen wie den Gesamtimpuls und den Drehimpuls. MitHilfe dieser Großen kann die Dimension 6N des Gesamtsystems aber nur um wenigeDimensionen reduziert werden.

3. Gedampfte Oszillatoren. Wenn wir in (4.1) eine Dampfung einfuhren, ergibtsich die Differentialgleichung

(4.52) q′′ = f(q)− αq′, α > 0

oder das aquivalente System

q′ = p,

p′ = f(q)− αp.(4.53)

Fur die Energiefunktion E(q, p) = 12p2 + V (q) mit V ′ = −f gilt jetzt

E ′(q, p)

(p

f(q)− αp

)= −αp2 < 0 fur p 6= 0.

Page 43: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 43

Die Energie ist jetzt keine Erhaltungsgroße mehr. Sie nimmt entlang Losungen ab

(4.54)d

dt[E(u(t))] = −αu22(t) ≤ 0.

Funktionen mit dieser Eigenschaft werden auch als Lyapunow–Funktionen be-zeichnet. Wenn sie existieren, sind sie nutzlich, um das asymptotische Verhaltenfur t → ∞ von Losungen zu diskutieren. Abbildung 4.18 zeigt ein Phasenbild furdiesen Fall.

Abbildung 4.18: Phasenbild zum gedampften System (4.53)

4. Rauber–Beute–Modelle (siehe (1.9)). Seien u1(t), u2(t) der Umfang einer Po-pulation von Beutetieren bzw. Raubern zur Zeit t. Typische Modelle fur die Zeitent-wicklung solcher Populationen sind Differentialgleichungen vom Typ

(4.55)u′1 = w1(u1, u2) u1,

u′2 = w2(u1, u2) u2,

wobei w1, w2 : R2+ → R geeignete Wachstumsfunktionen sind. Das einfache

Lotka–Volterra–Modell nimmt an

w1(u1, u2) = α− β u2, w2(u1, u2) = −γ + δ u1

mit geeigneten Konstanten α, β, γ, δ > 0. Man rechnet leicht nach, dass fur diesenFall eine Erhaltungsgroße gegeben ist durch (Ubungsaufgabe)

(4.56) E(u1, u2) = E1(u1)E2(u2), wobei

(4.57) E1(u1) := uγ1e−δu1 , E2(u2) := uα2 e

−βu2 .

Page 44: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

44 KAPITEL I. EINFUHRUNG, ELEMENTARE LOSUNGSMETHODEN

Eine Kurvendiskussion liefert fur E1 und E2 die Bilder in Abbildung 4.19, die dannzu dem Graphen von E in Abbildung 4.20 und zu seinem Niveaulinienbild (= Pha-senbild) in Abbildung 4.21 fuhren.

E1(u1) E2(u2)

M1 M2M1 =

(γeδ

M2 =(

αeβ

u1 u2γ/δ α/β

Abbildung 4.19: Funktionsgraphen zu E1, E2 aus (4.57)

Das Maximum von E ist

M = E(γδ,α

β

)=( γeδ

)γ ( αeβ

)γ.

Fur 0 < E(u0) < M liefert die Anfangswertaufgabe zu (4.55) eine periodische

Losung und fur u0 =(

γδ, αβ

)eine konstante Losung.

E(u)

u1

u2

γ/δα/β

Abbildung 4.20: Funktionsgraph zur Erhaltungsgroße (4.56) fur das Lotka–Volterra Sy-stem

Page 45: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 45

γ/δ

α/β

Abbildung 4.21: Phasenbild des Lotka–Volterra Systems

Trotz der hier behandelten Beispiele sind Differentialgleichungssysteme mit Erhaltungs-großen die Ausnahme in der Familie aller denkbaren Systeme. Sie treten in den Anwen-dungen immer dann auf, wenn sog. abgeschlossene Systeme modelliert werden. Sobaldaußere Einflusse berucksichtigt werden (Dampfung oder Anregung in physikalischen Sy-stemen, Abernten oder Zusetzen in Populationsmodellen, Entnahme oder Zufuhrung vonSubstrat in der Reaktionskinetik, Geld– oder Steuerpolitik des Staates in volkswirtschaft-lichen Modellen), werden die entsprechenden Erhaltungsgroßen zerstort.

Page 46: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

Kapitel II

Existenz, Eindeutigkeit und stetigeAbhangigkeit von Losungen

1 Die Anfangswertaufgabe als Operatorgleichung

Wir untersuchen in diesem Kapitel die Losbarkeit der Anfangswertaufgabe (siehe KapitelI, 1.2)

(1.1) u′(t) = f(t, u(t)), t ∈ J, u(t0) = u0

wobei J ⊂ R ein Intervall, f ∈ C(J × Rn,Rn), t0 ∈ J, u0 ∈ Rn gegeben seien.

Man nennt eine solche Aufgabe (nach J. Hadamard) korrekt gestellt, wenn sie diefolgenden Bedingungen erfullt:

1. Existenz: es gibt eine Losung u ∈ C1(J,Rn) von (1.1),

2. Eindeutigkeit: es gibt hochstens eine Losung von (1.1),

3. stetige Abhangigkeit: die Losung u = u(·, t0, u0) von (1.1) hangt stetig von denAnfangsdaten t0 ∈ J, u0 ∈ Rn ab.

Die Forderung 3. werden wir spater sogar zur differenzierbaren Abhangigkeit von t0, u0erweitern.

Die Suche nach einer moglichst einheitlichen, abstrakten Theorie von korrekt gestelltenAnfangswertaufgaben und Randwertaufgaben bei gewohnlichen und partiellen Differen-tialgleichungen (sowie Integralgleichungen) war eine der wesentlichen Triebfedern fur dieEntwicklung der Funktionalanalysis. In der Funktionalanalysis werden allgemein Opera-torgleichungen der folgenden Form studiert:

(1.2) T (x) = y, y ∈ Y,

46

Page 47: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. DIE ANFANGSWERTAUFGABE ALS OPERATORGLEICHUNG 47

wobei T : X → Y ein gegebener Operator, zwischen Banachraumen X, Y (bzw. me-trischen Raumen oder topologischen Vektorraumen) ist. In der Anwendung sind X, YFunktionenraume und der Operator T wird so definiert, dass eine Losung x ∈ X von(1.2) eine zugrunde liegende Anfangs– oder Randwertaufgabe lost, wobei y ∈ Y vorgege-ben ist. Die im Rahmen dieser Vorlesung benotigten Hilfmittel aus der Funktionalanalysisstellen wir in Abschnitt 2 zusammen.

Mit den Vektorraumen

X = C1(J,Rn), Y = C(J,Rn)× Rn

und dem Operator T : X → Y gegeben durch

T (u) = (u′ − f(·, u), u(t0)− u0)

konnen wir (1.1) schreiben als T (u) = 0. In der Tat kann man hierauf bei der Wahl geeig-neter Normen und unter Verwendung des Satzes uber implizite Funktionen eine abstrakteExistenztheorie aufbauen (siehe [ch96]). Wir nehmen hier stattdessen die Umformung aufeine Integralgleichung vor:

Formal liefert die Integration von (1.1) bzgl. t von t0 bis t die folgende Integralgleichung

(1.3) u(t) = u0 +

t∫

t0

f(s, u(s)) ds, t ∈ J.

Hierbei ist das Integral komponentenweise zu lesen, d. h.

(1.4)

t∫

t0

u(s) ds =

t∫

t0

u1(s) ds, . . . ,

t∫

t0

un(s) ds

, t ∈ J.

Wir interessieren uns nun dafur, inwiefern die Losbarkeit von (1.1) bzw. (1.3) die jeweilsandere impliziert.

Lemma 1.1 Sei f ∈ C(J ×Rn,Rn). Lost u ∈ C1(J,Rn) die AWA (1.1) so auch die In-tegralgleichung (1.3). Ist umgekehrt u ∈ C(J,Rn) Losung von (1.3), so gilt u ∈ C1(J,Rn)und u ist Losung der AWA (1.1).

Beweis: ”(1.1) ⇒ (1.3)”: Nach dem Hauptsatz der Differential–Integralrechnung folgt

u(t)− u0 =t∫

t0

u′(s) ds =

t∫

t0

f(s, u(s))ds ∀t ∈ J.

Page 48: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

48 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

”(1.1) ⇐ (1.3)”: Aus

ui(t) = u0i +

t∫

t0

fi(s, u(s)) ds, i = 1, . . . , n

und der Stetigkeit von f(s, u(s)) folgt nach dem Hauptsatz

ui ∈ C1(J,R), u′i(t) = fi(t, u(t)), t ∈ J, ui(0) = u0i.

Wir schreiben die Integralgleichung (1.3) als Fixpunktgleichung

(1.5) u = F (u)

mit dem Operator

F :

C(J,Rn)→ C(J,Rn)

u 7→ F (u), (F (u))(t) = u0 +

t∫

t0

f(s, u(s)) ds.

Man beachte, dass sogarF (C(J,Rn)) ⊂ C1(J,Rn)

gilt, vgl. Lemma 1.1. Mit T = I − F lasst sich (1.5) auch als Nullstellengleichung

T (u) = 0

schreiben.

2 Funktionalanalytische Hilfsmittel

Im Folgenden sei X ein Vektorraum uber K, wobei K ∈ R,C.

Definition 2.1 Ein Paar (X, || · ||) heißt normierter Raum, falls || · || : X → R eineAbbildung mit folgenden Eigenschaften ist:

(i) ||Θ|| = 0, ||x|| > 0 ∀ Θ 6= x ∈ X,

(ii) ||λx|| = |λ| ||x|| ∀ λ ∈ K, x ∈ X, (absolute Homogenitat)

(iii) ||x+ y|| ≤ ||x||+ ||y|| ∀ x, y ∈ X. (Subadditivitat oder Dreiecksungleichung)

Page 49: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. FUNKTIONALANALYTISCHE HILFSMITTEL 49

In dieser Definition bezeichnet Θ das Nullelement in X. Im Folgenden verwenden wirhierfur einfach das Symbol 0 anstelle von Θ.

Der normierte Raum (X, || · ||) heißt Banachraum, falls er vollstandig ist, d. h. jedeCauchy–Folge ist konvergent. Ausgeschrieben bedeutet dies: Jede Folge (xn)n∈N ⊂ X mitder Eigenschaft

∀ε > 0 ∃N(ε) > 0 ∀ n,m ∈ N mit n,m ≥ N : ||xn − xm|| ≤ ε

erfullt auch

∃x ∈ X ∀ε > 0 ∃N = N(ε) > 0 ∀n ∈ N mit n ≥ N : ||xn − x|| ≤ ε.

Beispiel 2.2

1. Sei x = (x1, . . . , xn) ∈ Kn =: X und definiere die p–Norm | · |p durch

|x|p =

n∑

i=1

|xi|p1/p

, 1 ≤ p <∞, |x|∞ = maxi=1,...,n

|xi|, p =∞,

so ist (Kn, | · |p) ein Banachraum fur jedes 1 ≤ p ≤ ∞. Der Einfachheit halberschreiben wir | · | statt || · || fur Normen in K

n. Alle Normen in Kn sind aquivalent,

d. h. sind | · |, | · |∼–Normen in Kn, so existieren C1, C2 > 0 mit

C1|x| ≤ |x|∼ ≤ C2|x| ∀x ∈ Kn.

Beide Normen fuhren dann zu demselben Konvergenzbegriff. Kn ist ein Banachraumbezuglich jeder Norm.

2. Fur M ⊂ Kn betrachten wir den Raum der beschrankten Funktionen auf M ,

X = B(M,Km) := u :M → Km|∃ C > 0 mit |u(t)| ≤ C ∀t ∈M.

Versehen wir X mit der Supremumsnorm

||u||∞ = supt∈M|u(t)|, | · | eine Norm in K

m,

so bildet (B(M,Km), || · ||∞) einen Banachraum.

Beweis: Die Normeigenschaften sind klar, es bleibt die Vollstandigkeit zu zeigen.Sei (un)n∈N Cauchy–Folge in X, so folgt aus

|un(t)− um(t)| ≤ ||un − um||∞ ∀t ∈M,

Page 50: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

50 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

dass un(t) fur jedes t ∈ M eine Cauchy–Folge in Km ist, also in Km konvergiert.Daher existiert der punktweise Grenzwert

u(t) := limn→∞

un(t), t ∈M.

Sei ε > 0 gegeben und wahle N(ε) > 0 so, dass ||un−um||∞ ≤ ε/2 fur alle n,m ≥N(ε), gilt. Fur t ∈M existiert m = m(t, ε) ≥ N(ε) mit |u(t)− um(t)| ≤ ε

2. Es folgt

|un(t)− u(t)| ≤ |un(t)− um(t)|+ |um(t)− u(t)|≤ ||un − um||∞ + |um(t)− u(t)| ≤

ε

2+ε

2= ε,

also supt∈M|un(t)− u(t)| ≤ ε ∀n ≥ N(ε). Insbesondere ist

|u(t)| ≤ |uN(ε) − u(t)|+ |uN(ε)(t)| ≤ ε+ ||uN(ε)||∞ ∀t ∈M.

Daher ist u ∈ B(M,Kn) und es gilt ||un − u||∞ → 0 fur n→∞.

3. Sei (X, || · ||) ein Banachraum und sei Y ⊂ X ein abgeschlossener Teilraum,dann ist (Y, || · ||) selbst ein Banachraum.

Beweis: Sei (yn)n∈N eine Cauchy–Folge in Y , dann ist (yn)∈N wegen Y ⊂ X eineCauchy– Folge in X. Da X ein Banachraum ist, ist die Folge (yn)n∈N konvergentin X mit Grenzwert x ∈ X. Da Y ⊂ X abgeschlossen ist, gilt x ∈ Y . Damitist (yn)n∈N konvergent in Y und (Y, || · ||) somit ein Banachraum, da (yn)n∈N einebeliebige Cauchy–Folge in Y war.

4. Der Raum

X = B(M,Km) ∩ C(M,Km) =: Cb(M,Km)

der stetigen und beschrankten Funktionen auf M ist ein Banachraum bez.|| · ||∞.

Beweis: Es genugt wegen 2. und 3. zu zeigen, dass X abgeschlossen in B(M,Km)ist, d. h. dass der gleichmaßige Grenzwert stetiger Funktionen stetig ist.

Sei also un ∈ Cb(M,Km) fur n ∈ N, u ∈ B(M,Km) und gelte ||un − u||∞ → 0fur n → ∞. Sei t0 ∈ M und ε > 0 vorgegeben. Dann existiert ein n ≥ N(ε) mit||u− un||∞ ≤ ε

3und zu diesem n ein δ = δ(t0, ε) mit

|un(t)− un(t0)| ≤ε

3fur |t− t0| ≤ δ, t ∈M.

Page 51: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. FUNKTIONALANALYTISCHE HILFSMITTEL 51

Aus|u(t)− u(t0)| ≤ |u(t)− un(t)|+ |un(t)− un(t0)|+ |un(t0)− u(t0)|

≤ ε

3+ε

3+ε

3= ε

fur |t− t0| ≤ δ, t ∈M folgt die Behauptung.

Falls M ⊂ Kn kompakt ist, (⇔ beschrankt und abgeschlossen nach Bolzano,Weierstraß), so gilt

C(M,Km) = Cb(M,Km).

I. Allg. ist dies jedoch falsch und man hat auf C(M,Km) nicht die || · ||∞–Normzur Verfugung.

5. Gewichtete Normen: (siehe Ubungsaufgabe)

Sei M ⊂ Kn, p :M → R positiv, d. h. p(t) > 0 ∀t ∈M. Wir definieren

B(M,Km; p) := u :M → Km : ∃ C > 0 mit |u(t)| ≤ Cp(t) ∀t ∈M,

und falls zusatzlich p ∈ C(M,R), so definieren wir

C(M,Km; p) := B(M,Km; p) ∩ C(M,Km).

Beide Raume sind Banachraume bezuglich der gewichteten Supremumsnorm

||u|| = supt∈M

|u(t)|p(t)

.

Falls Konstanten α, β ∈ R existieren mit 0 < α ≤ p(t) ≤ β fur alle t ∈ M , so sinddie Normen || · ||∞,p und || · ||∞ aquivalent.

6. Sei M ⊂ Rn offen, k ∈ N, k ≥ 1. Dann definieren wir

Ckb (M,Rm) := u ∈ Ck(M,Rm) : Dαu ∈ B(M,Rm) ∀|α| ≤ K, α ∈ N

n

wobei α = (α1, . . . , αn) ∈ Nn einen Multiindex und |α| :=

n∑i=i

αi die Lange von α

bezeichnen.

Versehen wir den Raum mit der Norm

||u||k,∞ = sup|α|≤k

x∈M

|Dαu(x)|,

Page 52: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

52 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

so bildet (CKb (M,Rm), || · ||K,∞) einen Banachraum.

Beweis der Vollstandigkeit im Fall k = 1: Sei (un)n∈N eine Cauchy–Folgein C1

b (M,Rm) bez. || · ||1,∞, dann ist (Dαun)n∈N fur |α| ≤ 1 eine Cauchy–Folge inCb(M,Rm) bez. || · ||∞. Somit existiert nach 4. ein vα ∈ Cb(M,Rm) mit

||Dαun − vα||∞ → 0 fur n→∞.Zeige v0 ∈ C1

b (M,Rn) und Dαv0 = vα fur |α| = 1: Sei x0 ∈ M, h ∈ R klein, ausdem Mittelwertsatz fur un folgt

|v0(x0 + hα)− v0(x0)−h∫

0

vα(x0 + τα) dτ |

≤ |v0(x0 + hα)− un(x0 + hα)|+ |v0(x0)− un(x0)|

+ |∫ h

0

(Dαun − vα)(x0 + τα) dτ | ≤ 2||v0 − un||∞ + |h| ||Dαun − vα||∞ → 0

fur n→∞

also v0(x0 + hα) = v0(x0) +∫ h

0vα(x0 + τα) dτ. Nach dem Hauptsatz existiert

Dαv0(x0) und es gilt Dαv0(x0) = vα(x0).

Definition 2.3 Seien X, Y normierte Raume und T : Ω ⊂ X → Y gegeben. T heißtLipschitz–beschrankt in Ω, falls ein q > 0 existiert mit

||T (x1)− T (x2)|| ≤ q||x1 − x2|| ∀x1, x2 ∈ Ω.

Beachte, dass die Lipschitz–Beschranktheit die Stetigkeit von T impliziert.

Lemma 2.4 Ist T : X → Y linear, so ist Lipschitz–beschrankt aquivalent zu

(2.1) ∃ C > 0 mit ||T (x)|| ≤ C||x|| ∀x ∈ X.

Außerdem ist (2.1) aquivalent mit

(2.2) T : X → Y ist stetig.

Beweis: ”(2.1) ⇒ (2.2)”. Sei x ∈ X und sei ε > 0 beliebig, dann gilt fur δ := εC

mitC aus (2.1)) wegen der Linearitat und Beschranktheit von T

||T (x)− T (x0)|| = ||T (x− x0)|| ≤ c||x− x0|| ≤ ε ∀ x0 ∈ X mit ||x− x0|| ≤ δ.

”(2.1) ⇐ (2.2)” Aus der Linearitat von T folgt

T (0) = T (0 + 0) = T (0) + T (0) = 2T (0)⇒ T (0) = 0.

Page 53: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. FUNKTIONALANALYTISCHE HILFSMITTEL 53

Wegen der Stetigkeit von T in 0 gibt es zu ε = 1 ein δ > 0 mit ||T (x)|| ≤ 1 fur alle x ∈ Xmit ||x|| ≤ δ. Daraus und aus der Linearitat folgt

||T (x)|| = || ||x||δ· T( ||x||

δ

)|| ≤ ||x||

δ∀x ∈ X mit ||x|| 6= 0.

Einen linearen Operator T : X → Y , der (2.1) erfullt, nennt man beschrankt.Achtung: dies bedeutet nicht, dass der Bildraum T (X) beschrankt ist, sondern nur,dass T beschrankte in beschrankte Mengen abbildet.

Seien X, Y normierte Raume. fur einen linearen beschrankten Operator T : X → Ydefiniert man durch

(2.3) ||T || := supx∈X,x 6=0

||Tx||||x||

die Operatornorm von T und findet

(2.4) ||T || = sup||x||≤1

||Tx|| = inf C > 0 : ||Tx|| ≤ C||x|| ∀x ∈ X.

Beachte, dass die Normen || · || in (2.4) links und rechts trotz gleicher Bezeichnung ver-schieden sind. Versehen wir den Vektorraum

L(X, Y ) = T : X → Y linear, beschrankt

mit der Operatornorm aus (2.3), so ist (L(X, Y ), || · ||) ein Banachraum, falls Y vollstandigist.

Ein wichtiger Fixpunktsatz fur (i. Allg. nichtlineare) Abbildungen eines Banachraums insich selbst ist der folgende.

Satz 2.5 (Kontraktionssatz, Banachscher Fixpunktsatz)

Sei (X, || · ||) ein Banachraum, Ω ⊂ X abgeschlossen und T : Ω → X eine Kontraktionauf Ω, d. h.

(i) T (Ω) ⊂ Ω,

(ii) T ist auf Ω Lipschitz–beschrankt mit einer Konstanten q < 1.

Dann besitzt T genau einen Fixpunkt u ∈ Ω. Fur jedes u0 ∈ Ω konvergiert die durch

un+1 = T (un), n = 0, 1, . . .

Page 54: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

54 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

definierte Folge (un)n∈N gegen u. Es gilt die Abschatzung

(2.5) ||un − u|| ≤1

1− q ||un+1 − un|| ≤qn

1− q ||u1 − u0|| ∀n ∈ N.

Ferner besteht fur alle u, v ∈ Ω die Ungleichung

(2.6) ||u− v|| ≤ 1

1− q ||u− T (u)− (v − T (v))||.

Beweis: Wir beginnen mit dem Beweis von (2.6):

||u− v|| = ||u−T (u)− (v−T (v))+T (u)−T (v)|| ≤ ||u−T (u)− (v−T (v))||+ q||u− v||,

also folgt(1− q)||u− v|| ≤ ||u− T (u)− (v − T (v))||

und damit (2.6).

Die durch un+1 = T (un) fur jedes u0 ∈ Ω definierte Folge in Ω erfullt wegen (ii)

(2.7) ||un+1 − un|| = ||T (un)− T (un−1)|| ≤ q||un − un−1|| ≤ . . . ≤ qn||u1 − u0||.

Sei ε > 0 gegeben, dann folgt aus (2.6) und (2.7)

||um − un|| ≤1

1− q ||um − um+1 − (un − un+1)||

≤ 1

1− q[||um+1 − um||+ ||un+1 − un||

]≤ qm + qn

1− q ||u1 − u0|| ≤ ε,

falls n,m hinreichend groß sind. Daher ist un Cauchy–Folge, mithin konvergent und wegender Abgeschlossenheit von Ω

u = limn→∞

un ∈ Ω.

Als Lipschitz–beschrankte Funktion ist T auch stetig, so dass aus un+1 = T (un) durchGrenzubergang u = T (u) folgt. Der Fixpunkt ist auch eindeutig (insbesondere unabhangigvon u0), denn fur jeden weiteren Fixpunkt v folgt aus (2.6)

||u− v|| ≤ 1

1− q · 0 = 0.

Schließlich ergibt sich (2.5) aus (2.6) und (2.7) wie folgt:

||un − u|| ≤1

1− q ||un − T (un)|| =1

1− q ||un+1 − un|| ≤qn

1− q ||u1 − u0||.

Eine einfache Erweiterung von Satz 2.5 ergibt sich, wenn der Operator T in Satz 2.5 nochvon Parametern abhangt.

Page 55: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. DER SATZ VON PICARD–LINDELOF 55

Folgerung 2.6 Sei X Banachraum, Y normierter Raum, Ω ⊂ X abgeschlossen undΛ ⊂ Y gegeben. Sei ferner T ein stetiger Operator

T : Ω× Λ→ X, (u, λ)→ T (u, λ)

der fur jedes λ ∈ Λ die Kontraktionsbedingungen (i) und (ii) von Satz 2.5 mit derselbenKonstanten q < 1 erfullt. Dann besitzt

(2.8) u = T (u, λ)

fur jedes λ ∈ Λ genau einen Fixpunkt u(λ) ∈ Ω und die Funktion u : Λ → Ω, λ → u inΛ, ist stetig.

Beweis: Nach Satz 2.5 bleibt die Stetigkeit von u in Λ zu zeigen. Die Abschatzung (2.6)lautet hier

||u− v|| ≤ 1

1− q ||u− T (u, λ)− (v − T (v, λ))|| ∀u, v ∈ Ω, λ ∈ Λ.

Setzt man hier u = u(λ), v = u(λ0) ein, so folgt

||u(λ)− u(λ0)|| ≤1

1− q ||u(λ0)− T (u(λ0), λ)||

=1

1− q ||T (u(λ0), λ0)− T (u(λ0), λ)||.

Wegen der Stetigkeit von T bei (u(λ0), λ0) wird die rechte Seite beliebig klein, falls ||λ−λ0||hinreichend klein ist.

3 Der Satz von Picard–Lindelof

3.1 Globaler Existenz– und Eindeutigkeitssatz

Wir betrachten die Anfangswertaufgabe (1.1) auf einem kompakten Intervall J alsFixpunktgleichung wie in (1.3)

(3.1) u = T (u)

mit

(3.2) T (u)(t) = u0 +

t∫

t0

f(s, u(s)) ds, t ∈ J.

Page 56: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

56 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

Fur f nehmen wir eine globale Lipschitzbedingung an, d. h.

(3.3) ∃L > 0 : |f(t, u1)− f(t, u2)| ≤ L|u1 − u2| ∀t ∈ J, u1, u2 ∈ Rn.

Dabei sei | · | irgendeine Norm in Rn. Wie man sich leicht uberlegt, hangt die Tatsache,dass (3.3) fur eine geeignete Konstante L gilt, nicht von der Wahl der Norm im Rn ab,sehr wohl hangt aber im Allgemeinen die Große der Konstanten L von der Wahl der Normab.

Fur zwei Funktionen u, v ∈ C(J,Rn) folgt aus (3.3)

(3.4)

||T (u)− T (v)||∞ = supt∈J

∣∣∣∣∫ t

t0

f(s, u(s))− f(s, v(s)) ds∣∣∣∣

≤ supt∈J

∣∣∣∣∫ t

t0

|f(s, u(s))− f(s, v(s))| ds∣∣∣∣

≤ L||u− v||∞ supt∈J|t− t0| ≤ L|J | ||u− v||∞,

wobei |J | = b − a fur J = [a, b] die Lange des Intervalls J ist. Kontraktion liegt furL|J | < 1 vor. Auf eine solche Restriktion kann man verzichten, wenn man eine gewichteteNorm verwendet (siehe Beispiel 2.2, 5 mit p(t) = eα|t−t0|).

Sei

(3.5) ||u|| = supt∈J

|u(t)|eα|t−t0| ,

wobei α ≥ 0 noch gewahlt werden kann. Wegen

||u|| ≤ ||u||∞ = supt∈J

( |u(t)|eα|t−t0| e

α|t−t0|)≤ ||u||eα|J |

sind beide Normen aquivalent und fuhren zu denselben Konvergenzbegriffen. Jetzt giltdie punktweise Abschatzung, vgl. (3.4),

|T (u)(t)− T (v)(t)| ≤

∣∣∣∣∣∣

t∫

t0

L|u(s)− v(s)| ds

∣∣∣∣∣∣

≤ L||u− v||

∣∣∣∣∣∣

t∫

t0

eα|s−t0|ds

∣∣∣∣∣∣=L

α||u− v||

∣∣eα|t−t0| − 1∣∣

≤ L

α||u− v||eα|t−t0|

also

||T (u)− T (v)|| = supT∈J

e−α|t−t0||(T (u))(t)− (T (v))(t)| ≤ L

α||u− v||.

Somit ist T eine Kontraktion auf C(J,Rn), falls wir α ≥ 0 mit L < α wahlen. Wir erhaltenden fundamentalen Satz von Picard–Lindelof.

Page 57: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. DER SATZ VON PICARD–LINDELOF 57

Satz 3.1 (Picard–Lindelof globaler Satz)

Sei f ∈ C(J × Rn,Rn)), J ⊂ R kompakt und f Lipschitz–beschrankt bez. der zweiten

Variablen. Dann besitzt die AWA (1.1) genau eine Losung u ∈ C1(J,Rn) und fur jedesv0 ∈ C(J,Rn) konvergiert die Folge

(3.6) vk+1(t) = u0 +

t∫

t0

f(s, vk(s)) ds, t ∈ J, k = 0, 1, . . . .

gleichmaßig gegen u.

Man nennt (3.6) auch diePicard–Iteration und die Funktionen vk diePicard–Iterierten.

Ein wichtiger Spezialfall, in dem Satz 3.1 anwendbar ist, ist der lineare Fall

(3.7) u′ = A(t)u+ r(t), t ∈ J, u(t0) = u0

mit stetigen Funktionen A ∈ C(J,Rn,n), r ∈ C(J,Rn) und J ⊂ R kompakt.

Fur f(t, v) = A(t)v + r(t) gilt

|f(t, u)− f(t, v)| = |A(t)(u− v)| ≤ supt∈J|A(t)| |u− v| ∀u, v ∈ R

n.

Folgerung 3.2 Sei J ⊂ R kompakt und A ∈ C(J,Rn,n). Fur jedes t0 ∈ J, u0 ∈ Rn,

r ∈ C(J,Rn) besitzt die Anfangswertaufgabe (3.7) genau eine Losung.

Die Konsequenzen der Folgerung 3.2 werden wir in Kapitel III ausfuhrlich untersuchen.

3.2 Lokaler Existenz– und Eindeutigkeitssatz

Die globale Lipschitzbedingung (3.3) ist sehr einschrankend. Sie wird meistens mit Hilfeder Ableitung Duf gepruft.

Lemma 3.3 Sei f ∈ C(J × U,Rn), U ⊂ Rn offen, konvex und seiDuf ∈ C(J × U,Rn,n). Dann ist die Lipschitzbedingung

(3.8) |f(t, u)− f(t, v)| ≤ L|u− v| ∀t ∈ J, u, v ∈ U

aquivalent zu

(3.9) |Duf(t, u)| ≤ L ∀t ∈ J, u ∈ U.

Page 58: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

58 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

Bemerkung: Die Norm |·| fur die Matrix A = Duf(t, u) ∈ Rn,n ist die in (2.3) definierteOperatornorm.

Beweis: ”(3.9)⇒ (3.8)”: Aus (3.9), dem Mittelwertsatz und der Konvexitat von U folgtfur alle t ∈ J und u, v ∈ U

|f(t, u)− f(t, v)| =

∣∣∣∣∣∣

1∫

0

Duf(t, v + s(u− v)) ds (u− v)

∣∣∣∣∣∣

≤1∫

0

|Duf(t, v + s(u− v))| ds |u− v| ≤ L|u− v|.

”(3.8) ⇒ (3.9)”: Sei umgekehrt (3.8) vorausgesetzt. Sei u ∈ U und ε > 0 vorgegeben.Dann existiert ein δ > 0, so dass fur h ∈ U mit |h| < δ gilt:

|Duf(t, 0)h| ≤ |f(t, u+ h)− f(t, u)−Duf(t, u)h|+ |f(t, u+ h)− f(t, u)|≤ ε|h|+ L|h| = (L+ ε)|h|.

Damit folgt |Duf(t, u)| ≤ L+ ε. Da ε > 0 beliebig war, ergibt sich die Behauptung.

Seien die Voraussetzungen von Lemma 3.3 erfullt und J kompakt. Dann folgt, dass f(t, ·)auf jeder kompakten, konvexen Menge K ⊂ Ω Lipschitz–beschrankt ist mit

(3.10) L = supu∈Kt∈J

|Duf(t, u)|.

Wenn man nur eine lokale Lipschitzbedingung hat, so muss das Existenzintervall im All-gemeinen eingeschrankt werden.

Satz 3.4 (Lokaler Existenz– und Eindeutigkeitssatz)

Seien J ⊂ R ein kompaktes Intervall, t0 ∈ J und u0 ∈ Rn. Weiter sei Q := (t, u) ∈J × Rn : |u− u0|∞ ≤ β ⊂ Rn+1 ein Quader fur β > 0. Ferner erfulle f ∈ C(Q,Rn) furein L > 0 die Bedingung

(3.11) |f(t, u)− f(t, v)|∞ ≤ L|u− v|∞ ∀(t, u), (t, v) ∈ Q,

und sei M := Max(t,u)∈Q

|f(t, u)|∞. Dann besitzt die AWA (1.1) genau eine Losung u auf dem

Intervall

(3.12) J ∩ [t0 − α, t0 + α], α :=β

M.

Page 59: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. DER SATZ VON PICARD–LINDELOF 59

Bemerkung: Die Bedingung |t − t0| ≤ α = βM

sichert, dass Losungen u(t) von (1.1)wegen (1.3)

|u(t)− u0|∞ ≤∣∣∣

t∫

t0

f(s, u(s)) ds∣∣∣∞≤∣∣∣

t∫

t0

|f(s, u(s))|∞ ds∣∣∣ ≤M |t− t0| ≤ β

erfullen, also ihr Graph (t, u(t))|t ∈ J in Q verlauft, siehe Abbildung 3.1.

u0

u0 + β

u0 − β

t0t0 − α t0 + α

Q

Steigung M

J

Abbildung 3.1: Eingeschrankter Existenzbereich der Losung einer Anfangswertaufgabe

Beweis: Das Ziel ist es den globalen Satz 3.1 anzuwenden. Dazu verwenden wir die inAbbildung 3.2 illustrierte Abschneidefunktion

Ψ(x, a, b) = Min(b,Max(a, x)), a ≤ b.

a

a

b

b x

Ψ(x, a, b)

Abbildung 3.2: Die Abschneidefunktion

Sie hat die Lipschitzkonstante 1 bez. x

(3.13) |Ψ(x, a, b)−Ψ(y, a, b)| ≤ |x− y| ∀x, y ∈ R

Page 60: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

60 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

und erfullt Ψ(x, a, b) = x fur alle x ∈ [a, b]. Setze f auf dem Streifen S = J × Rn fortmittels

(3.14) f(t, v) := f(t, v), vi := Ψ(vi, u0i − β, u0i + β), i = 1, . . . , n, (t, v) ∈ S.

Nach Konstruktion gilt (t, v) ∈ Q. Sei w ∈ Rn ein weiterer Vektor. Mit (3.13) und (3.14)folgt

|v − w|∞ = Maxi=1,...,n

|vi − wi| ≤ Maxi=1,...,n

|vi − wi| = |v − w|∞ ∀v, w ∈ Rn

und mit (3.11)

|f(t, v)− f(t, w)|∞ = |f(t, v)− f(t, w)|∞ ≤ L|v − w|∞ ≤ L|v − w|∞, ∀v, w ∈ Rn,

womit f Lipschitz beschrankt im 2. Argument ist. Schließlich gilt f ∈ C(J × Rn,Rn), daf und Ψ(·, a, b) stetig sind. Satz 3.1 liefert nun eine eindeutige Losung u ∈ C1(J,Rn) dermodifizierten Anfangswertaufgabe

(3.15) u′ = f(t, u), t ∈ J, u(t0) = u0.

Es giltMax(t,u)∈S

|f(t, u)| = Max(t,u)∈Q

|f(t, u)| =M.

Mit dem Mittelwertsatz folgt aus (3.15) fur t ∈ J

|u(t)− u(t0)|∞ =

∣∣∣∣∣∣

t∫

t0

f(s, u(s)) ds

∣∣∣∣∣∣∞

∣∣∣∣∣∣

t∫

t0

|f(s, u(s))|∞ds

∣∣∣∣∣∣≤M |t− t0|.

Fur |t − t0| ≤ α = βM

ist also |u(t) − u0| ≤ M · α = β und somit f(t, u(t)) = f(t, u(t)).Daher lost u(t) in J ∩ [t0 − α, t0 + α] die AWA (1.1).

Ist u eine weitere in Q verlaufende Losung von (1.1) in J ∩ [t0−α, t0+α], so lost sie auch(3.15) auf diesem Intervall und die Eindeutigkeit aus Satz 3.1 liefert u = u.

Beispiel 3.5 Betrachte die Anfangswertaufgabe

u′ = u2, u(0) = 1.

Diese besitzt die Losung u(t) = 11−t

auf dem maximalen Existenzintervall (−∞, 1). Wirwollen die Eindeutigkeit der Losung und ein zugehoriges Existenzintervall mit Hilfe unse-rer Satze bestimmen. Zunachst ist f(t, u) := u2 nicht Lipschitz–beschrankt auf ganz R und

Page 61: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DER EXISTENZSATZ VON PEANO 61

Satz 3.1 daher nicht anwendbar. Um Satz 3.4 anzuwenden, betrachten wir wegen t0 = 0und u0 = 1

J := [−a, a], a > 0, Q := [−a, a]× [1− β, 1 + β], β > 0.

Die Stetigkeit der Funktion f auf Q ist klar, und die Bedingung (3.12) gilt mit L := 2β,denn

|u2−v2| = |(u+v)(u−v)| ≤ (|u−1|+ |v−1|) · |u−v| ≤ 2β · |u−v| ∀u, v ∈ [1−β, 1+β].

Weiter haben wir M := (1+ β)2 und daher α := β(1+β)2

. Um α moglichst groß zu machen,

wahlen wir β derart, dass der Ausdruck β(1+β)2

maximal wird. Das Maximum wird bei

β = 1 angenommen und fuhrt zu α = 14. Satz 3.4 liefert die Eindeutigkeit unserer Losung

auf dem Intervall J = [−14, 14]. Da das rechte Intervallende nicht bis an die 1 heranreicht,

konnen wir versuchen, den Satz 3.4 mit t0 =14und u0 =

43erneut anzuwenden:

J :=[14− α, 1

4+ α

], α > 0, Q :=

[14− α, 1

4+ α

]×[43− β, 4

3+ β

], β > 0.

Die Stetigkeit von f und (3.12) folgen analog wie oben und wir haben M := (43+ β)2 und

daher α := β

( 43+β)2

. Der Ausdruck wird fur β = 43maximal, fuhrt zu α = 3

16und somit zu

dem Existenzintervall J = [ 116, 716]. Zusammen liefern die Anwendungen die Eindeutigkeit

der Losung auf dem Intervall [−14, 716].

Diesen Prozess kann man in der Tat auch theoretisch solange fortsetzen, bis man an denRand des Grundgebietes kommt. Diesen Zugang systematisieren wir in Abschnitt 5.

4 Der Existenzsatz von Peano

4.1 Existenz bei stetigen Nichtlinearitaten

Sei J ⊂ R ein kompaktes Intervall. Wir betrachten wieder fur t0 ∈ J und u0 ∈ Rn dieAnfangswertaufgabe

(4.1) u′ = f(t, u), t ∈ J, u(t0) = u0

und wollen anstelle der Lipschitzbedingung in Abschnitt 3 lediglich f ∈ C(J × Rn,Rn)voraussetzen. Wie die Beispiele in Kapitel I gezeigt haben, kann es dann mehrere Losungenvon (4.1) geben.

Unser Ziel sind die folgenden zu Satz 3.1, 3.4 analogen Existenzaussagen.

Page 62: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

62 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

Satz 4.1 (Existenzsatz von Peano)

Seien J ⊂ R ein kompaktes Intervall, t0 ∈ J und u0 ∈ Rn.

(i) (globaler Existenzsatz:) Ist f ∈ C(J ×Rn,Rn) beschrankt, so besitzt (4.1) (min-

destens) eine Losungu ∈ C1(J,Rn).

(ii) (lokaler Existenzsatz:) Sei Q := (t, u) ∈ J × Rn : |u − u0|∞ ≤ β ⊂ R

n+1

ein Quader fur β > 0. Ferner seien f ∈ C(Q,Rn) und sei M := Max(t,u)∈Q

|f(t, u)|∞.

Dann besitzt (4.1) (mindestens) eine Losung auf dem Intervall

J ∩ [t0 − α, t0 + α], α :=β

M.

Beweis:

Zu (ii): Der Beweis von (ii) ergibt sich aus (i) in derselben Weise wie Satz 3.4 aus Satz3.1. Man beachte dazu, dass

Max(t,u)∈J×Rn

|f(t, u)|∞ = Max(t,u)∈Q

|f(t, u)|∞

gilt und somit die Aussage von (i) auf die modifizierte AWA (3.15) anwendbar ist.

Zu (i): Fur den Beweis von (i) mussen wir etwas ausholen. An die Stelle einer konvergen-ten Iteration (3.6) tritt ein Kompaktheitsschluss. Der verbleibende Teil von Abschnitt 4befasst sich nun mit dem Beweis von Satz 4.1 (i).

4.2 Der Kompaktheitsbegriff, Satz von Arzela–Ascoli

Definition 4.2 Sei (X, || · ||) ein normierter Raum. Eine Teilmenge M ⊂ X heißt

— relativ kompakt, wenn jede Folge (xn)n∈N ⊂ M eine in X konvergente Teilfolgebesitzt,

— kompakt, wenn jede Folge (xn)n∈N ⊂ M eine in M konvergente Teilfolge besitzt,(d. h. der Grenzwert liegt in M).

Ein Operator T :M ⊂ X → X heißt kompakt in M , falls T (M) relativ kompakt ist.

Bemerkung: Ohne Beweis teilen wir die folgenden Aquivalenzen mit.

Page 63: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DER EXISTENZSATZ VON PEANO 63

(i) M relativ kompakt ⇔ M kompakt,

(ii) M kompakt ⇔ Jede offene Uberdeckung von M besitzt eine endliche Teiluber-deckung.

Definition 4.3 Sei (X, || · ||) ein normierter Raum, M ⊂ X eine Teilmenge und seider Operator T : M ⊂ X → X gegeben. Ein Element u ∈ M heißt ε–Approximation derFixpunktgleichung u = T (u) fur ein ε > 0, falls

||u− T (u)|| ≤ ε.

Wir verwenden den folgenden Fixpunktsatz.

Satz 4.4 Sei (X, || · ||) ein normierter Raum, M ⊂ X abgeschlossen und sei T :M → Xein in X stetiger und in M kompakter Operator gegeben. Wenn es zu jedem ε > 0 eineε–Approximation von u = T (u) gibt, so hat T mindestens einen Fixpunkt in M .

Beweis: Sei un ∈M fur n ∈ N eine 1n–Approximation. Da T inM kompakt ist, existiert

eine Teilfolge T (unk) und y = lim

k→∞T (unk

) mit y ∈ X .

Aus

||unk− y|| ≤ ||unk

− T (unk)||+ ||T (unk

)− y|| ≤ 1

nk+ ||T (unk

)− y||

folgt limk→∞

unk= y und y ∈M wegen der Abgeschlossenheit von M. Schließlich liefert die

Stetigkeit von T

||y − T (y)|| ≤ ||y − unk||+ ||unk

− T (unk)||+ ||T (unk

)− T (y)|| → 0

fur k →∞, also y = T (y).

Wir wollen Satz 4.4 auf

X :=M := C(J,Rn), || · || := || · ||∞, J ⊂ R kompaktes Intervall

mit

(4.2) (T (u))(t) = u0 +

t∫

t0

f(s, u(s)) ds, t ∈ J.

anwenden. Die Voraussetzung des Satzes verlangt, dass T :M → X kompakt ist. Um dieszu zeigen, benotigen wir ein Kompaktheitskriterium in C(J,Rn).

Page 64: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

64 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

Definition 4.5 Sei Ω ⊂ Rm kompakt. Eine Menge M ⊂ C(Ω,Rn) heißt gleichgradigstetig in t0 ∈ Ω, falls

∀ε > 0 ∃δ = δ(ε, t0) > 0 ∀u ∈M ∀t ∈ Ω mit |t− t0| ≤ δ : |u(t)− u(t0)| ≤ ε.

M heißt gleichgradig stetig in Ω, falls M in jedem Punkt t0 ∈ Ω gleichgradig stetig ist.

Achtung: δ hangt von ε und t0 ab, aber nicht von u ∈M !

Beispiel 4.6 Die Menge

ML = u ∈ C(J,Rn) : J ⊂ R kompaktes Intervall, |u(t)− u(s)| ≤ L|t− s| ∀t, s ∈ J

ist gleichgradig stetig in J .

Satz 4.7 (Arzela–Ascoli)

Sei Ω ⊂ Rm kompakt. Eine Teilmenge M ⊂ C(Ω,Rn) ist genau dann relativ kompakt bez.|| · ||∞, wenn sie gleichgradig stetig und in Ω beschrankt bez. || · ||∞ ist .

Beweis: Im Folgenden kurzen wir Normkugeln wie folgt ab:

Kε(u) = v ∈ C(Ω,Rn) : ||v − u||∞ ≤ ε, u ∈ C(Ω,Rn), ε > 0,

Kε(t) = s ∈ Rm : |s− t| ≤ ε, t ∈ Ω, ε > 0.

”⇒”M beschrankt: FallsM nicht beschrankt ist, so konnen wir sukzessive un ∈M,n ∈ N,finden mit un /∈ K1(uj) fur j = 1, . . . , n− 1. Da M relativ kompakt ist, besitzt die Folge(un)n∈N eine in C(Ω,Rn) konvergente Teilfolge (unk

)k∈N. Da (unk)n∈N somit eine Cauchy–

Folge ist, gilt fur ε = 1 die Ungleichung ||unk+1− unk

||∞ < 1 fur alle hinreichend großenk. Dies steht im Widerspruch zu unk+1

/∈ K(unk, 1).

M gleichgradig stetig in Ω: Da M relativ kompakt ist, ist M kompakt, d. h. jede offeneUberdeckung von M besitzt eine endliche Teiluberdeckung. Daher finden wir zu jedemgegebenen ε > 0 endlich viele vi ∈ M, i = 1, . . . , N = N(ε), so dass

M ⊂N⋃

i=1

Kε/3(vi).

Seien nun t0 ∈ Ω und ε > 0 beliebig und wahle ui ∈M ∩Kε/3(vi) fur i = 1, . . . , N . Somitgilt ui ∈ C(Ω,Rn) und wegen der Stetigkeit von ui in t0 ∈ Ω existiert ein δ = δ(t0, ε, i) > 0

mit |ui(t)− ui(t0)| ≤ ε3fur alle t ∈ Ω mit |t− t0| ≤ δ. Daraus folgt nun

(4.3) |ui(t)− ui(t0)| ≤ε

3∀ i = 1, . . . , N, ∀t ∈ Ω mit |t− t0| ≤ δ := min

i=1,...,Nδ(t0, ε, i).

Page 65: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DER EXISTENZSATZ VON PEANO 65

Da Kε/3(vi), i = 1, . . . , N , die Menge M und somit M uberdecken, existiert fur jedesu ∈M ein i ∈ 1, . . . , N mit ||u− ui||∞ ≤ ε

3. Mit (4.3) folgt fur |t− t0| ≤ δ

|u(t)− u(t0)| ≤ |u(t)− ui(t)|+ |ui(t)− ui(t0)|+ |ui(t0)− u(t0)|≤ ||u− ui||∞ + |ui(t)− ui(t0)|+ ||u− ui||∞≤ ε

3+ε

3+ε

3= ε.

Damit ist die gleichgradige Stetigkeit gezeigt.

”⇐” Wir zeigen zunachst, dass es zu jedem ε > 0 eine endliche Uberdeckung von M mitε–Kugeln Kε(vi), i = 1, . . . , N, vi ∈ M , gibt. Wegen der gleichgradigen Stetigkeit vonM in Ω existiert zu jedem t ∈ Ω und zu jedem ε > 0 ein δ = δ(t, ε) > 0 mit

(4.4) |u(t)− u(s)| ≤ ε

4∀u ∈M ∀s ∈ Ω mit |s− t| ≤ δ.

Da Ω kompakt ist, lasst es sich mit endlich vielen Kδi(ti), i = 1, . . . , k, δi = δ(ti, ε), ti ∈ Ωuberdecken. Da M beschrankt ist, gibt es ebenso eine endliche Uberdeckung

(4.5) u(t) : t ∈ Ω, u ∈M ⊂ℓ⋃

j=1

Kε/4(yj), yj ∈ Rn, j = 1, . . . , ℓ.

Fur den Multiindex α = (α1, . . . , αk), αi ∈ 1, . . . , ℓ setzen wir

Mα = u ∈M : |u(ti)− yαi| ≤ ε

4, i = 1, . . . , k.

Wegen (4.5) existieren fur jedes u ∈ M Indizes αi ∈ 1, . . . , ℓ mit |u(ti) − yαi| ≤ ε

4, i =

1, . . . , k. Also gilt

M ⊂⋃

α

Mα.

Wir zeigen nun, dass jedes Mα in einer ε–Kugel liegt, so dass die Behauptung folgt. Wirwahlen zunachst fur jedes α ein uα ∈Mα und zeigen dann ||uα− u||∞ ≤ ε ∀u ∈Mα. Zut ∈ Ω existiert ein i ∈ 1, . . . , k mit |t− ti| ≤ δi, und wir erhalten aus (4.4)

|u(t)− uα(t)| ≤ |u(t)− u(ti)|+ |u(ti)− yαi|+ |yαi

− uα(ti)|+ |uα(ti)− uα(t)|≤ ε

4+ε

4+ε

4+ε

4= ε.

Wir konstruieren jetzt zu un ∈M, n ∈ N, eine konvergente Teilfolge. Sei εk =12k, k ≥ 1.

Wie bewiesen, existiert eine endliche Uberdeckung

M ⊂N⋃

i=1

Kε1(vi), vi ∈M (i = 1, . . . , N).

Page 66: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

66 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

In einer der Kε1(vi) liegen unendlich viele un, etwa

uj ∈ Kε1(w1), j ∈ N1 = n1, . . . , ,

wobei w1 ∈ v1, . . . , vN gilt und n1 das kleinste Element von N1 bezeichnet. Induktivkonstruieren wir jetzt Teilfolgen Nk = nk, . . . , ⊂ N und wk ∈M mit Nk+1 ⊂ Nk \ nkund

uj ∈ Kεk(wk) fur j ∈ Nk.

Ist Nk bereits gegeben, so besteht auchM ∩Kεk(wk) aus gleichgradig stetigen gleichmaßigbeschrankten Funktionen und wir konnen sie durch endlich viele Kεk+1

(yi), i = 1, . . . , N,yi ∈ Kεk(wk) ∩ M uberdecken. Wir wahlen dann wk+1 ∈ y1, . . . , yN sowie Nk+1 ⊂Nk \ nk mit

uj ∈ Kεk+1(wk+1), j ∈ Nk+1.

Wegen wk+1 ∈ Kεk(wk) folgt

||unk− unk+1

||∞ ≤ ||unk− wk||∞ + ||wk − wk+1||∞ + ||wk+1 − unk+1

||∞≤ 2εk + εk+1 =

1

2k−1+

1

2k+1≤ 1

2k−2.

Da∑k≥2

12k−2 konvergent ist, bildet unk

eine Cauchy–Folge bez. || · ||∞ und ist mithin

konvergent.

Lemma 4.8 Sei J ⊂ R ein kompaktes Intervall. Ist f ∈ C(J × Rn,Rn) beschrankt, soist der Operator T : C(J,Rn) → C(J,Rn) aus (4.2) stetig und kompakt in X := M :=C(J,Rn).

Beweis: Da f beschrankt ist, gilt

|f(t, v)| ≤ C ∀t ∈ J, v ∈ Rn.

Damit folgt aus (4.2) fur jedes u ∈ C(J,Rn) und jedes t, τ ∈ J

|(T (u))(t)− (T (u))(τ)| =

∣∣∣∣∣∣

t∫

τ

f(s, u(s)) ds

∣∣∣∣∣∣≤

∣∣∣∣∣∣

t∫

τ

|f(s, u(s))| ds

∣∣∣∣∣∣

∣∣∣∣∣∣

t∫

τ

C ds

∣∣∣∣∣∣= C|τ − t|.

Nach dem Beispiel 4.6 ist daher T (M) gleichgradig stetig. Außerdem ist T (M) beschrankt,denn aus der Kompaktheit von J und (4.2) erhalten wir

Page 67: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. DER EXISTENZSATZ VON PEANO 67

|(T (u))(t)| =

∣∣∣∣∣∣u0 +

t∫

t0

f(s, u(s)) ds

∣∣∣∣∣∣≤ |u0|+

∣∣∣∣∣∣

t∫

t0

|f(s, u(s))| ds

∣∣∣∣∣∣

≤ |u0|+ C|t− t0| ≤ const ∀t ∈ J, u ∈M.

Nach Arzela–Ascoli ist T (M) relativ kompakt, also ist T kompakt in M .

T stetig in M : Die Stetigkeit von T schließen wir aus der gleichmaßigen Stetigkeit vonf auf kompakten Mengen. Sei ℓ = Max

t∈J|t − t0| und u ∈ C(J,Rn) gegeben. Fur ε > 0

definieren wir den (kompakten) Schlauch

Q := t, v) ∈ J × Rn : |v − u(t)| ≤ ε.

Da f ∈ C(J ×Rn,Rn) und Q ⊂ J ×Rn kompakt, ist f gleichmaßig stetig auf Q, d. h. zuε > 0 existiert ein δ = δ(ε) > 0 derart, dass

(4.6) |f(t1, v1)− f(t2, v2)| ≤ε

ℓ∀(ti, vi) ∈ Q, i = 1, 2, mit |t1 − t2| ≤ δ, |v1 − v2| ≤ δ.

Fur v ∈ C(J,Rn) mit ||v − u||∞ ≤ δ folgt dann fur t ∈ J

|(T (v))(t)− (T (u))(t)| =

∣∣∣∣∣∣

t∫

t0

|f(s, v(s))− f(s, u(s))| ds

∣∣∣∣∣∣≤ ℓ · ε

ℓ= ε,

also ||T (v)− T (u)||∞ ≤ ε.

4.3 ε–Approximation und das Eulersche Polygonzugverfahren

Der Beweis von Satz 4.1 (i) wird nun durch den Fixpunktsatz 4.4 mit Hilfe des folgendenSatzes vollendet.

Satz 4.9 Sei J ⊂ R ein kompaktes Intervall. Ist f ∈ C(J × Rn,Rn) beschrankt, so gibtes fur jedes ε > 0 eine ε–Approximation in C(J,Rn) fur die Integralgleichung

(4.7) u(t) = u0 +

t∫

t0

f(s, u(s)) ds, t ∈ J.

Page 68: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

68 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

Beweis: Wir verwenden das Eulersche Polygonzugverfahren fur

u′ = f(t, u), t ∈ J, u(t0) = u0.

Wahle eine Unterteilung von J = [a, b]

a = t−k < t−k+1 < . . . < t−1 < t0 < t1 < . . . < tk = b

und definiere den Polygonzug induktiv durch

(4.8) u(t) :=

u(ti) + (t− ti)f(ti, u(ti)), i ≥ 0

u(ti+1) + (t− ti+1)f(ti+1, u(ti+1)), i ≤ −1 t ∈ [ti, ti+1].

Dieser Polygonzug folgt dem Richtungsfeld stuckweise (Abbildung 4.1).

a b

u0

t0 t1t−1

Abbildung 4.1: Eulersches Polygonzugverfahren

Aus |f(t, v)| ≤ C folgt nach (4.8) durch Induktion nach i

(4.9) |u(t)− u0| ≤ C|t− t0| ≤ Cℓ fur t ∈ J.

Zu vorgegebenem ε > 0 wahlen wir nun δ > 0, so klein, dass (4.6) auf dem Quader

Q = (t, v) ∈ J × Rn : |v − u0| ≤ Cℓ

erfullt ist. Die Partition ti wird anschließend so verfeinert, dass

(4.10) Max−k≤i≤k−1

|ti+1 − ti| ≤ δ/Max(C,1)

gilt. Wir schatzen fur t ∈ [tj , tj+1], j = 0, . . . , k − 1, ab:

|u(t)− u(tj)| = |(t− tj)f(tj , u(tj))| ≤δ

C· C = δ

und es folgt mit (4.6), (4.9)

Page 69: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

5. GLOBALE EXISTENZ UND STETIGE ABHANGIGKEIT 69

|u(t)− (T (u))(t)|

=

∣∣∣∣∣∣u(t)− u(t0)−

t∫

t0

f(s, u(s)) ds

∣∣∣∣∣∣

∣∣∣∣∣∣∣u(t)− u(tj)−

t∫

tj

f(s, u(s)) ds

∣∣∣∣∣∣∣+

∣∣∣∣∣∣u(tj)− u(t0)−

tj∫

t0

f(s, u(s)) ds

∣∣∣∣∣∣

=

∣∣∣∣∣∣∣

t∫

tj

f(tj, u(tj))− f(s, u(s)) ds

∣∣∣∣∣∣∣+

∣∣∣∣∣∣

j−1∑

i=0

u(ti+1)− u(ti)−

ti+1∫

ti

f(s, u(s)) ds

∣∣∣∣∣∣

≤ ε

ℓ(t− tj) +

∣∣∣∣∣∣

j−1∑

i=0

ti+1∫

ti

|f(ti, u(ti))− f(s, u(s))| ds

∣∣∣∣∣∣

≤ ε

[t− tj +

j−1∑

i=0

(ti+1 − ti)]

ℓ(t− t0) ≤ ε.

Dieselbe Abschatzung erhalt man fur t ≤ t0, t ∈ J. Damit folgt

||u− T (u)||∞ ≤ ε.

5 Globale Existenz und stetige Abhangigkeit

5.1 Fortsetzung von Losungen

Bei der Anwendung auf die Beispiele in Abschnitt 3 haben wir bereits bemerkt, dass manden lokalen Existenz– und Eindeutigkeitssatz (Satz 3.4) benutzen kann, um Losungen’zusammenzustuckeln’. Dies wollen wir jetzt systematisieren:

Betrachte die AWA

(5.1) u′ = f(t, u), u(t0) = u0

mit Ω ⊂ Rn+1 offen, f ∈ C(Ω,Rn) und (t0, u0) ∈ Ω, vgl. Abbildung 5.1.

Page 70: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

70 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

tt0 t0 + αt0 − α

u0

Ω

Abbildung 5.1: Lolake Exsitenz und globale Fortsetzung von Losungen

Definition 5.1 Sei Ω ⊂ Rn+1 offen. Eine Funktion f ∈ C(Ω,Rn) heißt lokal Lipschitz–beschrankt bzgl. der zweiten Variablen, falls es zu jedem (t0, u0) ∈ Ω eine UmgebungU ⊂ Ω von (t0, u0) und eine Konstante L = L(t0, u0) ≥ 0 gibt mit

(5.2) |f(t, u)− f(t, v)| ≤ L|u− v| ∀(t, u), (t, v) ∈ U.

Man sagt auch, f ist Lipschitz–stetig bzgl. der zweiten Variablen in Ω.

Bemerkung: f ∈ C(Ω,Rn), Duf ∈ C(Ω,Rn,n) ⇒ f lokal Lipschitz–beschrankt bzgl.der zweiten Variablen in Ω nach Lemma 3.3.

Wir wollen zeigen, dass sich die Losung von (5.1) bis zum Rand ∂Ω von Ω fortsetzen lasst.Der Rand von Ω ist definiert durch

(5.3) ∂Ω := Ω ∩ Ωc = w ∈ Rn+1 : ∃ wk /∈ Ω, vk ∈ Ω, vk → w, wk → w fur k →∞

und der Abstand eines Punktes auf dem Graphen von u zum Rand von Ω wirddefiniert durch

(5.4) ρ(t) := dist((t, u(t)), ∂Ω) := infw∈∂Ω

|(t, u(t))− w|.

Falls ∂Ω = ∅ (also Ω = Rn+1 oder Ω = ∅), so setzen wir ρ(t) :=∞.Wie der folgende Satz zeigt, ist es nicht zwingend, dass die fortgesetzte Losung gegen denRand im Sinne von ρ(t)→ 0 strebt. Es kann ebenso der Fall |(t, u(t))| → ∞ eintreten.

Satz 5.2 (Globaler Existenz– und Eindeutigkeitssatz)

Seien Ω ⊂ Rn+1 offen und f ∈ C(Ω,Rn) lokal Lipschitz–beschrankt bezgl. der zweitenVariablen. Dann gibt es fur jedes (t0, u0) ∈ Ω eine eindeutige und nicht fortsetzbare Losungu ∈ C1(J,Rn) von (5.1) auf einem offenen maximalen Existenzintervall J = (t−, t+) mit−∞ ≤ t− < t0 < t+ ≤ ∞.

Page 71: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

5. GLOBALE EXISTENZ UND STETIGE ABHANGIGKEIT 71

Fur t → t+ bzw. t → t− nahert sich (t, u(t)) dem Rand ∂Ω des Definitionsgebietes Ω imfolgenden Sinne an: Mit ρ(t) := dist((t, u(t)), ∂Ω) aus (5.4) gilt

(5.5) Min

(ρ(t),

1

|(t, u(t))|

)→ 0 fur t→ t±.

Bemerkung:

1. Aus (5.5) folgt dass es eine Folge tk → t+ gibt mit ρ(tk)→ 0 oder |(tk, u(tk))| → ∞fur k →∞ d. h. es ist

liminft→t+

ρ(t) = 0 oder limsupt→t+

|(t, u(t))| =∞.

Falls Ω von der Form Ω = (a, b) × U mit U ⊂ Rn offen ist, so gilt, vgl. Abbildung

5.2,∂Ω = (a, b × U) ∪ ((a, b)× ∂U).

U

a b

(a, b)× ∂U

a, b × U

Abbildung 5.2: Rand eines Produktgebietes

Im Fall t+ < b (also insbesondere t+ <∞) muss daher wenigstens einer der Falle

(5.6) limsupt→t+

|u(t)| =∞

oder

(5.7) liminft→t+

dist(u(t), ∂U) = 0

eintreten (entsprechend im Fall t− > a).

In den Anwendungen versucht man die Falle (5.6) und (5.7) meistens auszuschließen,um damit t+ = b nachzuweisen (Existenz einer globalen Losung). Gilt U = R

n, sogenugt es zu zeigen, dass die Losung auf [t0, t+), t+ < b beschrankt bleibt.

Man beachte, dass im Fall t+ = b naturlich sowohl (5.6) als auch (5.7) eintretenkann. Einige typische Falle sind in den folgenden Bildern skizziert.

Page 72: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

72 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

U tt0 t+

t−u0

Abbildung 5.3: (a, b) = (−∞,∞), t− > −∞, t+ <∞, U beschrankt, ρ(t)→ 0 fur t→ t±

U tt0

u0

Abbildung 5.4: (a, b) = (−∞,∞) = (t−, t+), U beschrankt

tt0 t+

t−

u0

a b

Abbildung 5.5: −∞ < a < t− < t+ < b <∞, U unbeschrankt, |u(t)| → ∞ fur t→ t±

Page 73: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

5. GLOBALE EXISTENZ UND STETIGE ABHANGIGKEIT 73

tt0

u0

t− = a b = t+

Abbildung 5.6: −∞ < a, b <∞, (a, b) = (t−, t+), U unbeschrankt, |u(t)| → ∞ fur t→ t+

2. Wir bemerken, dass sowohl die nicht fortsetzbare Losung als auch das maximaleExistenzintervall vom Anfangszeitpunkt t0 und vom Anfangsvektor u0 abhangen.Wir schreiben dann

u(t) = u(t, t0, u0), J = J(t0, u0) = (t−(t0, u0), t+(t0, u0)).

Die genaue Abhangigkeit von diesen Anfangsdaten studieren wir in Abschnitt 5.3.

Beweis: Sei (t0, u0) ∈ Ω. Da f lokal Lipschitz–beschrankt bzgl. der zweiten Variablenist, gibt es eine Umgebung U = U(t0, u0) ⊂ Ω um (t0, u0), in der f Lipschitz–beschranktist. Wir wahlen nun einen Quader um (t0, u0)

Q = (t, v) ∈ Ω : |t− t0| ≤ γ, |v − u0| ≤ β ⊂ Ω fur γ, β > 0

derart, dass Q ⊂ U(t0, u0). Dann ist f Lipschitz–beschrankt in Q bzgl. der zweiten Va-riablen.

Nach Satz 3.4 hat (5.1) dann genau eine Losung u ∈ C1 auf dem Intervall

[t0 − α, t0 + α], α := Min

(γ,

β

M

), M := Max

(t,v)∈Q|f(t, v)|∞.

Nach dieser Voruberlegung existieren damit die Zeitpunkte

t+ = sup τ > t0 : (5.1) besitzt eine Losung in [t0, τ ] ∈ (t0,∞],

t− = inf τ < t0 : (5.1) besitzt eine Losung in [τ, t0] ∈ [−∞, t0).

Man beachte, dass Losungen (t, u(t)) per Definition in Ω liegen.

Schritt 1: Wenn wir zwei Losungen u1 und u2 von (5.1) auf [t0, τ1] bzw. [t0, τ2] haben,so stimmen sie auf [t0,Min (τ1, τ2)] uberein:

Sei dazu [t0, τ ] das großte Intervall, auf dem u1 und u2 ubereinstimmen. Fallsτ < Min(τ1, τ2), so losen u1 und u2 beide die AWA u′ = f(t, u), u(τ) = u1(τ) in einem

Page 74: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

74 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

Intervall [τ, τ+δ] und stimmen dort nach Satz 3.4 uberein imWiderspruch zur Maximalitatvon τ.

Schritt 2: Nach Schritt 1 ist fur t0 ≤ t < t+ die folgende Definition sinnvoll undeindeutig:

Wahle ein τ < t+ mit t0 ≤ t ≤ τ und setze u(t) = uτ(t), wobei uτ die auf [t0, τ ] existierendeLosung von (5.1) ist. Entsprechend definiert man u(t) fur t− < t ≤ t0. u ist dann Losungvon (5.1) auf (t−, t+) und sie ist eindeutig, wie Schritt 1 zeigt.

Sie ist auch nicht weiter fortsetzbar. Denn wenn es eine Losung von (5.1) auf [t0, t+]gibt, so ist bei (t+, u(t+)) in Ω wieder Satz 3.4 anwendbar und die Losung lasst sich auf[t0, t+ + δ] fortsetzen, im Widerspruch zur Maximalitat von t+. Damit ist auch gezeigt,dass das maximale Existenzintervall J(t0, x0) = (t−(t0, x0), t+(t0, x0)) offen ist.

Schritt 3: Es gilt die Limesbeziehung (5.5): Wenn (5.5) nicht erfullt ist, so gibt es einC > 0 und eine Folge tk ր t+ <∞ mit

(5.8) ρ(tk) = dist ((tk, u(tk)), ∂Ω) ≥ C, |(tk, u(tk))| ≤1

C, k ∈ N.

O. B. d. A. konnen wir daher

u(tk)→ u+, dist ((t+, u+), ∂Ω) ≥ C

annehmen. Aus (t+, u+) ∈ Ω = Ω∪∂Ω folgt dann (t+, u+) ∈ Ω. Dazu gibt es einen Quader

Q+ = (t, v) : |t− t+| ≤ γ+, |v − u+|∞ ≤ β+ ⊂ Ω, β+, γ+ > 0,

auf dem f Lipschitz–beschrankt bez. der zweiten Variablen ist. SeiM+ := Max(t,v)∈Q+

|f(t, v)|.

Wir wahlen nun 0 < δ ≤ 13Min (γ+,

β+

M+) und ein k ∈ N mit

|t+ − tk| ≤ δ und |u(tk)− u+|∞ ≤1

2β+.

Der lokale Satz 3.4 wird jetzt angewandt auf die Anfangswertaufgabe

(5.9) u′ = f(t, u), t ∈ J =[tk −

γ+2, tk +

γ+2

], u(tk) = u(tk).

Q+

Qk

t+ tk + α+tk

u(tk)

u+

u(t)

Abbildung 5.7: Fortsetzung der Losung uber den Zeitpunkt t+ hinaus

Page 75: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

5. GLOBALE EXISTENZ UND STETIGE ABHANGIGKEIT 75

mit dem Quader

Qk =

(t, v) : |t− tk| ≤

γ+2, |v − u(tk)| ≤

β+2

.

Dieser liegt in Q+, vgl. Abbildung 5.7, denn (t, v) ∈ Qk impliziert

|t− t+| ≤ |t− tk|+ |tk − t+| ≤1

2γ+ +

1

3γ+ ≤ γ+,

|v − u+|∞ ≤ |v − u(tk)|∞ + |u(tk)− u+| ≤1

2β+ +

1

2β+ = β+.

Somit besitzt (5.9) eine Losung u auf [tk − α+, tk + α+], wobei

α+ = Min

(γ+2,

β+2M+

)>

1

3Min

(γ+,

β+M+

)≥ δ.

Durch Zusammensetzen von u(t), tk ≤ t ≤ tk +α+ mit u(t), t0 ≤ t ≤ tk erhalten wir eineLosung von (5.1) auf [t0, tk + α+] mit

tk + α+ > tk + δ = t+ + (tk − t+) + δ ≥ t+.

Dies steht im Widerspruch zur Definition von t+.

5.2 A–priori Abschatzungen und das Gronwall–Lemma

Mit Hilfe von Satz 5.2 konnen wir die lineare Anfangswertaufgabe

(5.10) u′ = A(t)u+ r(t), t ∈ J, u(t0) = u0

fur ein beliebiges offenes Intervall J = (a, b) (a = −∞ oder b = +∞ zugelassen)untersuchen (vgl. Folgerung 3.2).

Folgerung 5.3 Seien J = (a, b) und A ∈ C(J,Rn,n). Dann besitzt die AWA (5.10) furjedes t0 ∈ J, u0 ∈ R

n, r ∈ C(J,Rn) genau eine Losung u ∈ C1(J,Rn).

Beweis: Es ist Ω = J × Rn und f(t, v) = A(t)v + r(t) offensichtlich lokal Lipschitz–beschrankt bez. v (vgl. Beweis von Folgerung 3.2). Gilt t+ < b in Satz 5.2, so folgt

limsupt→t+

|u(t)| =∞

aus (5.6). Die steht im Widerspruch zu Folgerung 3.2, die die Existenz einer Losungu ∈ C1([t0, t+],R

n) liefert. Ebenso zeigt man t− = a.

Page 76: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

76 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

Durch Kombination von Folgerung 3.2 und Folgerung 5.3 erhalt man auch, dass die lineareAnfangswertaufgabe (5.10) auf jedem Intervall J (offen, abgeschlossen, halboffen) eineeindeutige globale Losung u ∈ C1(J,Rn) besitzt.

Ein nutzliches Hilfsmittel zur Herleitung von a–priori Abschatzungen von Losungen istdas folgende grundlegende Lemma.

Lemma 5.4 (Gronwall–Lemma)

Gegeben sei ein Intervall J = [t0, t1) ⊂ R. Dann gelten

(i) (Differentialversion)

Gilt fur v ∈ C1(J) und α, β ∈ C(J) die Differentialungleichung

(5.11) v′(t) ≤ α(t) + β(t)v(t), t ∈ J,

so folgt mit b(t) =t∫

t0

β(τ)dτ die Abschatzung

(5.12) v(t) ≤ eb(t)(v(t0) +

t∫

t0

e−b(s) α(s)ds), t ∈ J.

(ii) (Integralversion)

Gilt fur ϕ ∈ C(J) und α ∈ R, β ∈ C(J) mit β ≥ 0 in J die Integralungleichung

(5.13) ϕ(t) ≤ α +

t∫

t0

β(s)ϕ(s)ds, t ∈ J,

so folgt mit b(t) =t∫

t0

β(τ)dτ die Abschatzung

(5.14) ϕ(t) ≤ αeb(t), t ∈ J.

Bemerkung: Man beachte, dass in (ii) β ≥ 0 vorausgesetzt wird, in (i) jedoch nicht.

Bezeichnet man mit ψ(t) die rechte Seite von (5.12) bzw. (5.14), so rechnet man leichtnach, dass ψ die Differentialungleichung (5.11) bzw. die Integralungleichung (5.13) gerademit ”=” statt ”≤” erfullt. Auf diese Weise kann man sich das Gronwall–Lemma guteinpragen.

Page 77: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

5. GLOBALE EXISTENZ UND STETIGE ABHANGIGKEIT 77

Beweis: Aus der Voraussetzung (5.11) folgt fur w(t) := e−b(t)v(t), t ∈ J ,

w(t) = e−b(t)v(t) = w(t0) +

t∫

t0

w′(s)ds

= v(t0) +

t∫

t0

e−b(s)[v′(s)− β(s)v(s)

]ds

≤ v(t0) +

t∫

t0

e−b(s)α(s)ds.

Multiplikation mit eb(t) liefert die Behauptung.

(ii) Fur v(t) :=t∫

t0

β(s)ϕ(s)ds gilt nach (5.13)

v′(t) = β(t)ϕ(t) ≤ αβ(t) + β(t)v(t), t ∈ J.

Hierauf ist Teil (i) anwendbar und liefert

ϕ(t) ≤ α+ v(t) ≤ α + eb(t)(0 + α

t∫

t0

e−b(s)β(s)ds)

= α[1−

[e−b(s)

]tt0eb(t)

]

= α[1− 1 + eb(t)e−b(t0)] = αeb(t).

Eine Anwendung enthalt die folgende Verallgemeinerung von Folgerung 5.3.

Folgerung 5.5 Sei J ⊂ R offen, f ∈ C(J × Rn,Rn), Duf ∈ C(J × Rn,Rn,n) und f seilinear beschrankt, d. h. es existieren α, β ∈ C(J,R) mit β ≥ 0 in J und

(5.15) |f(t, v)| ≤ α(t) + β(t)|v|, t ∈ J, v ∈ Rn.

Dann besitztu′ = f(t, u), t ∈ J, u(t0) = u0

fur jedes t0 ∈ J und u0 ∈ Rn genau eine Losung u ∈ C1(J,Rn).

Beweis: Wir wenden Satz 5.2 mit Ω = J × Rn an: Sei J = (a, b). Damit ist Ω ⊂ Rn+1

offen und f ∈ C(Ω,Rn). Insbesondere ist f lokal Lipschitz–beschrankt bzgl. der zweiten

Page 78: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

78 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

Variablen, vgl. Bemerkung nach Definition 5.1. Nun liefert Satz 5.2 eine eindeutige undnicht–forsetzbare Losung u ∈ C1(J,Rn) auf dem maximalen Existenzintervall J = (t−, t+).

Nach (5.6) bleibt der Fall t+ < b und limsupt→t+

|u(t)| = ∞ auszuschließen bzw. t− >

a, limsupt→t−

|u(t)| = ∞. Dies folgt direkt aus einer Anwendung von Lemma 5.4. Im Fall

[t0, t+] ⊂ (a, b) folgt aus (1.3) und (5.15)

(5.16)

|u(t)| =

∣∣∣∣∣∣u(t0) +

t∫

t0

f(s, u(s)) ds

∣∣∣∣∣∣≤ |u(t0)|+

t∫

t0

|f(s, u(s))| ds

≤ |u(t0)|+t∫

t0

α(s) ds +

t∫

t0

β(s)|u(s)| ds, t ∈ [t0, t+).

Man beachte, dass (5.15) mit v = 0 die Ungleichung 0 ≤ |f(t, 0)| ≤ α(t), t ∈ J zur Folge

hat. Das Gronwall–Lemma (Lemma 5.4) ist mit ϕ(t) = |u(t)|, α = |u(t0)|+t+∫t0

α(s) ds und

dem Intervall [t0, t+) anwendbar und liefert

|u(t)| ≤

|u(t0)|+

t+∫

t0

α(s) ds

e

t∫

t0

β(τ)dτ

≤ const, t ∈ [t0, t+).

Daher ist u beschrankt auf [t0, t+), ein Widerspruch, also gilt t+ = b. Der Nachweis vont− = a erfolgt analog.

5.3 Stetige Abhangigkeit von Parametern und Anfangsdaten

Das Gronwall–Lemma ist ein ideales Hilfsmittel, um Losungen bzw. die Differenz vonLosungen abzuschatzen.

Betrachten wir z. B. fur kompaktes J ⊂ R die AWA

(5.17) u′ = f(t, u), t ∈ J, u(t0) = u0

wobei f ∈ C(J×Rn,Rn) global Lipschitz–beschrankt wie im Satz 3.1 von Picard–Lindelofsei.

Page 79: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

5. GLOBALE EXISTENZ UND STETIGE ABHANGIGKEIT 79

Seien u ∈ C1(J,Rn) die Losung zum Anfangswert u0 und v ∈ C1(J,Rn) die zum Anfangs-wert v0. Dann gilt fur t ∈ J, t ≥ t0

(5.18)

ϕ(t) := |u(t)− v(t)| =

∣∣∣∣∣∣u0 +

t∫

t0

f(s, u(s)) ds−

v0 +

t∫

t0

f(s, v(s)) ds

∣∣∣∣∣∣

≤ |u0 − v0|+t∫

t0

|f(s, u(s))− f(s, v(s))| ds

≤ |u0 − v0|+t∫

t0

L|u(s)− v(s)| ds = |u0 − v0|+ L

t∫

t0

ϕ(s) ds.

Aus dem Gronwall–Lemma (Lemma 5.4) folgt also

(5.19) |u(t)− v(t)| ≤ |u0 − v0| eL|t−t0|, t ≥ t0.

Ebenso kann man fur t ≤ t0 abschatzen. Da J ⊂ R kompakt ist, erhalten wir hieraus

Maxt∈J|u(t)− v(t)| = ||u− v||∞ → 0, falls v0 → u0.

Die Losungen von (5.17) hangen also stetig vom Anfangswert ab.

Diese Uberlegungen lassen sich erheblich verallgemeinern. Die Losungen andern sich auchdann noch stetig, wenn wir den Anfangszeitpunkt t0 oder sogar die Funktion f mit Hilfevon Parametern λ variieren.

Wir betrachten allgemein die Aufgabe

(5.20) u′ = f(t, u, λ), u(t0) = u0

mit Ω ⊂ Rn+1 offen, (t0, u0) ∈ Ω, λ ∈ Λ, f ∈ C(Ω× Λ,Rn) und Λ ⊂ Rp offen. Ferner seif lokal Lipschitz–beschrankt bez. der zweiten Variablen in Ω × Λ. Nach Satz 5.2 besitztdann (5.20) fur jedes

(t0, u0) ∈ Ω und λ = λ0 ∈ Λ

eine eindeutig bestimmte Losung u(t) = u(t, t0, u0, λ0) auf einem maximalen Existenzin-tervall

J(t0, u0, λ0) = (t−(t0, u0, λ0), t+(t0, u0, λ0)).

Unser Ziel ist der folgende Satz.

Page 80: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

80 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

Satz 5.6 (Satz uber stetige Abhangigkeit)

Seien Ω ⊂ Rn+1 und Λ ⊂ Rp beide offen. Weiter sei f ∈ C(Ω × Λ,Rn) lokal Lipschitz–beschrankt bzgl. der zweiten Variablen Dann ist der durch

D = (t, t0, u0, λ0) ∈ R× Ω× Λ : t ∈ J(t0, u0, λ0)

gegebene Definitionsbereich der Losungen u(t, t0, u0, λ0) von (5.20) offen und die Abbildung

u :D → R

n

(t, t0, u0, λ0) 7→ u(t, t0, u0, λ0)

ist stetig.

Wir zeigen zunachst, dass die lokale Lipschitzbeschranktheit aus Definition 5.1 eine gleichmaßi-ge Lipschitzbedingung auf einer kompakten Menge zur Folge hat.

Lemma 5.7 Seien die Voraussetzungen von Satz 5.6 erfullt. Dann gibt es jedem Kom-paktum K ⊂ Ω× Λ ein L > 0 mit

(5.21) |f(t, u1, λ)− f(t, u2, λ)| ≤ L|u1 − u2| ∀(t, ui, λ) ∈ K, i = 1, 2.

Beweis: Wenn (5.21) falsch ist, so gibt es zu jedem k ∈ N Elemente (tk, uk, λk), (tk, vk, λk) ∈K mit

(5.22) |f(tk, uk, λk)− f(tk, vk, λk)| > k|uk − vk|.

Wegen der Kompaktheit von K konnen wir o. B. d. A.

uk → u, vk → v, tk → t, λk → λ fur k →∞

annehmen mit (t, u, λ) ∈ K. Aus (5.22) folgt

|uk − vk| <1

k2 Max

(t,w,λ)∈K|f(t, w, λ)| → 0 fur k →∞,

also u = v.Wegen der lokalen Lipschitzbeschranktheit gibt es zu (t, u, λ) ∈ K eine Umge-bung U = U(t, u, λ) ⊂ Ω× Λ, auf der f(t, ·, λ) Lipschitzbeschrankt mit einer KonstantenC ist. Da (tk, uk, λk), (tk, vk, λk) fur große k in U liegen, ist dies ein Widerspruch zu (5.22).

Beweis: Zum Beweis von Satz 5.6 nehmen wir ein (t0, u0, λ0) ∈ Ω × Λ mit zugehori-ger Losung u(t) = u(t, t0, u0, λ0), t ∈ (t−, t+) = J(t0, u0, λ0) =: J0 und betrachten einkompaktes Zeitintervall [τ−, τ+] mit

t− < τ− < t0 < τ+ < t+.

Page 81: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

5. GLOBALE EXISTENZ UND STETIGE ABHANGIGKEIT 81

Wahle ε > 0 mit [τ− − ε, τ+ + ε] ⊂ J0 und mit der Eigenschaft

K = (t, w, λ) : t ∈ [τ− − ǫ, τ+ + ǫ], |w − u(t)| ≤ ǫ, |λ− λ0| ≤ ǫ ⊂ Ω× Λ.

Lemma 5.7 ist auf K anwendbar, d. h. es existiert ein L > 0 mit

|f(t, u1, λ)− f(t, u2, λ)| ≤ L|u1 − u2| ∀(t, ui, λ) ∈ K, i = 1, 2.

K

ǫ

tt0 t1 t+t−

u

u0u1

τ−−ǫ

τ++ǫ

τ− τ+

J0

J2

Abbildung 5.8: Skizze zum Beweis des Fortsetzungssatzes

Sei jetzt v(t) = u(t, t1, u1, λ1), t ∈ J1 = (t−(t1, u1, λ1), t+(t1, u1, λ1)) Losung der ’benach-barten’ AWA, d. h. u und v losen

u′ = f(t, u, λ0), u(t0) = u0,v′ = f(t, v, λ1), v(t1) = u1,

mit |t1−t0| ≤ ǫ2, |λ1−λ0| ≤ ǫ

2, |u1−u0| ≤ ǫ

2.Wegen dieser Abschatzungen liegt (t1, u1, λ1)

im Innern von K.

Sei nun J2 das maximale Intervall (siehe Abbildung 5.8) in J1 ∩ [τ− − ǫ, τ+ + ǫ] mit

(5.23) (t, v(t), λ1) ∈ K ∀t ∈ J2.

Page 82: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

82 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

Dann folgt fur t ∈ J2, t ≥ t1

(5.24)

ϕ(t) := |u(t)− v(t)| =

∣∣∣∣∣∣u0 +

t∫

t0

f(s, u(s), λ0) ds−

u1 +

t∫

t1

f(s, v(s), λ1) ds

∣∣∣∣∣∣

≤ |u0 − u1|+

∣∣∣∣∣∣

t1∫

t0

f(s, u(s), λ0) ds

∣∣∣∣∣∣+

∣∣∣∣∣∣

t∫

t1

f(s, u(s), λ0)− f(s, u(s), λ1) ds

∣∣∣∣∣∣

+

∣∣∣∣∣∣

t∫

t1

f(s, u(s), λ1)− f(s, v(s), λ1) ds

∣∣∣∣∣∣

≤ |u0 − u1|+ |t1 − t0| ·M + ℓ · ω(|λ1 − λ0|) +t∫

t1

L ϕ(s) ds

mitM = Max

(t,w,λ)∈K|f(t, w, λ)|, ℓ = τ+ − τ− + 2ǫ (Intervalllange)

ω(δ) = sup |f(t, w, λ)− f(t, w, µ)| : (t, w, λ), (t, w, µ) ∈ K, |λ− µ| ≤ δ.

Da f stetig auf dem Kompaktum K ist, ist f insbesondere gleichmaßig stetig auf K,woraus wir ω(δ) → 0 fur δ → 0 schließen. Aus dem Gronwall–Lemma (Lemma 5.4)erhalten wir fur t ∈ J2, t ≥ t1

(5.25) |u(t)− v(t)| ≤ α eL|t−t1| ≤ α eLℓ, α = |u0 − u1|+M |t1 − t0|+ ℓω(|λ1 − λ0|)

sowie dieselbe Abschatzung fur t ≤ t1.

Wahlen wir nun u1, t1, λ1 so nahe bei u0, t0, λ0, dass α eLℓ ≤ ǫ

2gilt, so kann v(t) den ǫ/2

Schlauch um u(t) in J2 nicht verlassen (siehe Abbildung 5.8). Wegen der Maximalitat vonJ2 in J1 ∩ [τ−− ǫ, τ+ + ǫ] ist also Min(t+(t1, u1, λ1), τ+ + ǫ) der rechte Randpunkt von J2.

Nun ist aber t+(t1, u1, λ1) ≤ τ+ + ǫ nicht moglich, da dann (t, u(t), λ1) ∈ K fur t0 ≤t < t+(t1, u1, λ1) gilt im Widerspruch zu Satz 5.2, (5.5). Analog wird am linken Randargumentiert. Damit erhalten wir insgesamt

t−(t1, u1, λ1) < τ− − ǫ, τ+ + ǫ < t+(t1, u1, λ1),

falls |t1 − t0|, |u1 − u0|, |λ1 − λ0| hinreichend klein ist. Es ist also dann[τ− − ǫ, τ+ + ǫ] ⊂ J(t1, u1, λ1) und (t, t1, u1, λ1) ∈ D fur τ− − ǫ ≤ t ≤ τ+ + ǫ.

Da τ−, τ+ beliebig gewahlt waren, folgt die Offenheit von D. Außerdem folgt aus (5.25)direkt

supτ−−ǫ≤t≤τ++ǫ

|u(t, t0, u0, λ0)− u(t, t1, u1, λ1)| → 0 fur (t1, u1, λ1)→ (t0, u0, λ0)

Page 83: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

6. DIFFERENZIEREN NACH PARAMETERN 83

und damit die gewunschte Stetigkeit in D.

Bemerkung:

1. Die Gronwall–Abschatzung (5.25) zeigt sogar, dass u(t, t0, u0, λ0) lokal Lipschitzbe-schrankt bez. t0 und u0 ist. Dies gilt auch bez. λ0, falls f lokal Lipschitz bzgl. λvorausgesetzt wird.

2. Man kann die stetige Abhangigkeit von Parametern auch mit dem parameterabhangi-gen Kontraktionssatz (Folgerung 2.6) beweisen (Ubungsaufgabe).

6 Differenzieren nach Parametern

6.1 Differentiation nach dem Anfangswert

In Abschnitt 5 haben wir gesehen, dass Losungen von Anfangswertaufgaben unter rechtallgemeinen Voraussetzungen stetig von den Anfangsdaten (t0, u0) und Parametern abhangen.In der Tat kann man auch nach diesen Werten differenzieren, wenn f differenzierbar ist.

Wir betrachten ein System

(6.1) u′ = f(t, u), t ∈ J, u(t0) = u0,

mit der nicht fortsetzbaren Losung u(t, t0, u0), t ∈ (t−, t+) = J0.

t0 t t

h

∂u∂u0

(t, t0, u0)h

u0

Abbildung 6.1: Abhangigkeit der Losungen vom Anfangswert

In vielen Anwendungen sind die Anfangsdaten u0 mit Unsicherheiten behaftet, z. B. beider Wettervorhersage. Man mochte dann wissen, wie sich eine Storung h ∈ Rn, |h| ≤ ǫzur Zeit t0 auf die Losung zur Zeit t ≥ t0 auswirkt (Sensitivitatsanalyse).

Page 84: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

84 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

Wenn man u(t, t0, u0) nach u0 differenzieren kann, so hatte man

u(t, t0, u0 + h) = u(t, t0, u0) +∂u

∂u0(t, t0, u0) h+ o(|h|).

Die Vergroßerung der ’Unsicherheit h’ wird also im Wesentlichen durch die Matrix

(6.2) Y (t) =∂u

∂u0(t, t0, u0) ∈ R

n,n

beschrieben. Wie kann man diese Matrix bestimmen?

Sei jetzt f ∈ C(Ω,Rn), Duf ∈ C(Ω,Rn,n) angenommen. Dann schreiben wir die Losungs-eigenschaft explizit mit der partiellen Ableitung nach t auf

∂u

∂t(t, t0, u0) = f(t, u(t, t0, u0)), t ∈ J0,

u(t0, t0, u0) = u0.

Wir differenzieren diese Gleichung formal nach u0 und nehmen an, dass ∂2u∂t ∂u0

stetig ist,

so dass wir ∂∂t

und ∂∂u0

vertauschen konnen (vgl. Satz von Schwarz):

Wir erhalten mit der Kettenregel

∂t

(∂u

∂u0(t, t0, u0)

)= Duf(t, u(t, t0, u0)) ·

∂u

∂u0(t, t0, u0),

∂u

∂u0(t0, t0, u0) = I.

Die Matrix Y (t) lost also die Anfangswertaufgabe

(6.3) Y ′(t) = Duf(t, u(t, t0, u0)) Y (t), t ∈ J0,

(6.4) Y (t0) = I.

Man beachte, dass (6.3) ein lineares Differentialgleichungssystem ist mit den MatrizenA(t) = Duf(t, u(t, t0, u0)), die die Kenntnis der Losung selbst voraussetzen. (6.3) heißtauch die zu (6.1) gehorige Variationsgleichung.

Die Differenzierbarkeit von u nach u0 weisen wir im Folgenden nach, indem wir die Losungder nach Folgerung 5.3 eindeutig losbaren AWA (6.3), (6.4) nehmen und zeigen, dass sie∂u∂u0

liefert.

Das formale Differenzieren klappt auch bez. t0:

∂t

(∂u

∂t0(t, t0, u0)

)= Duf(t, u(t, t0, u0)) ·

∂u

∂t0(t, t0, u0),

0 =∂u

∂t(t0, t0, u0) +

∂u

∂t0(t0, t0, u0) = f(t0, u0) +

∂u

∂t0(t0, t0, u0).

Page 85: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

6. DIFFERENZIEREN NACH PARAMETERN 85

Die Funktion y(t) = ∂u∂t0

(t, t0, u0) lost also die lineare AWA

(6.5) y′(t) = Duf(t, u(t, t0, u0)) y(t), t ∈ J0,

(6.6) y(t0) = −f(t0, u0).

Man beachte, dass die Differentialgleichungen (6.3) und (6.5) zwar ubereinstimmen, je-doch Y (t) in (6.3) eine Matrix und y(t) in (6.5) ein Vektor ist. Insbesondere sind dieAnfangsbedingungen (6.4) und (6.6) unterschiedlich.

Satz 6.1 (Satz uber differenzierbare Abhangigkeit)

Sei Ω ⊂ Rn+1 offen, f ∈ C1(Ω,Rn) und

D = (t, t0, u0) ∈ R× Ω : (t0, u0) ∈ Ω, t ∈ J(t0, u0)

der nach Satz 5.6 gegebene Definitionsbereich der Losungen von (6.1). Dann giltu ∈ C1(D,Rn) fur die Losungen u(t, t0, u0) von (6.1). Daruber hinaus sind die FunktionenY (t, t0, u0) :=

∂u∂u0

(t, t0, u0) und y(t, t0, u0) :=∂u∂t0

(t, t0, u0) noch stetig partiell differenzier-bar nach t und losen die linearen AWAen (6.3), (6.4) bzw. (6.5), (6.6).

Bemerkung: Der Satz besagt insbesondere, dass die partiellen Ableitungen∂Y∂t

= ∂2u∂t∂u0

, ∂u∂t

= ∂2u∂t∂t0

existieren und stetig in D sind. Nach dem Satz von Schwarzlassen sich daher die partiellen Ableitungen vertauschen.

Beweis:

1. Wir zeigen zunachst, dass die Ableitung ∂u∂u0

existiert und ∂u∂u0∈ C(D,Rn,n). Dazu

unterdrucken wir die Abhangigkeit von t0 und zeigen fur i = 1, . . . , n die Existenzund Stetigkeit der verschiedenen Richtungsableitungen von u

∂u

∂u0i(t, u0) := lim

h→0

1

h(u(t, u0 + hei)− u(t, u0)), ei =

0...10...0

.

Da D offen ist, gibt es zu jedem kompakten Intervall J1 ⊂ J0 eine abgeschlosseneǫ–Kugel Kǫ(u0) mit (t, t0, v) ∈ D ∀t ∈ J1, v ∈ Kǫ(u0). Fur t ∈ J1, |h| < ǫ sei

∆(t) := ∆(t, u0, h) := u(t, u0 + hei)− u(t, u0).

Page 86: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

86 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

Aus (6.1) und dem Mittelwertsatz fur vektorwertige Funktionen mehrerer Variablenfolgt

(6.7)

∆′(t) = u′(t, u0 + hei)− u′(t, u0) = f(t, u(t, u0 + hei))− f(t, u(t, u0))

=

1∫

0

Duf(t, u(t, u0) + s(u(t, u0 + hei)− u(t, u0)))ds ∆(t)

= B(t, u0, h) ·∆(t)

mit den Matrizen

(6.8) B(t, u0, h) :=

1∫

0

Duf(t, u(t, u0) + s ∆(t, u0, h))ds.

Nach Definition von ∆ gilt

(6.9) ∆(t0) = u0 + hei − u0 = hei.

Man beachte ferner ∆(t, u0, 0) = 0 und B(t, u0, 0) = Duf(t, u(t, u0)). Wegen f ∈C1(Ω,Rn) gilt B ∈ C(J1 ×Kε(u0)× [−ε, ε],Rn), und daher besitzt die lineare vonden Parametern u0, h abhangige AWA

(6.10) z′ = B(t, u0, h)z, t ∈ J1, z(t0) = ei

nach Folgerung 5.3 eine eindeutige Losung z ∈ C1(J1,Rn) mit z(t) = z(t, u0, h).

Diese hangt nach Satz 5.6 stetig von t, u0, h ab. Insbesondere ist z(t, u0, 0) Losungder AWA

(6.11) z′ = Duf(t, u(t, u0))z, z(t0) = ei

und stimmt daher mit der i–ten Spalte von Y aus (6.3), (6.4) uberein. Aus (6.7),(6.9), (6.10) folgt ∆(t, u0, h) = z(t, u0, h) · h und somit

|u(t, u0 + hei)− u(t, u0)− z(t, u0, 0)h|= |∆(t, u0, h)− z(t, u0, 0)h| = |z(t, u0, h)− z(t, u0, 0)| · |h| = o(|h|)

wegen der Stetigkeit von z in J1×u0×[−ǫ, ǫ]. Damit folgt aber gerade z(t, u0, 0) =∂u∂u0i

(t, u0), also die Existenz der Richtungsableitung. Zusammen mit (6.10) ist dann

auch die Stetigkeit von ∂u∂u0i

und ∂2u∂t∂u0i

bez. (t, u0) gesichert.

Page 87: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

6. DIFFERENZIEREN NACH PARAMETERN 87

2. Wir zeigen nun, dass die Ableitung ∂u∂t0

existiert und ∂u∂t0

∈ C(D,Rn). Fur dieDifferentiation nach t0 verwenden wir einen Trick: Wenn u(t, t0, x0) die Aufgabe(6.1) lost, so ist

w(t, t0, u0) :=

(τ(t, t0)

v(t, t0, u0)

):=

(t+ t0

u(t+ t0, t0, u0)

)

Losung des (n + 1)–dimensionalen Systems

(6.12)τ ′ = 1, τ(0) = t0,

v′ = f(t+ t0, v) = f(τ, v), v(0) = u0

und umgekehrt! Schreiben wir (6.12) als

(6.13) w′ = g(w), w(0) = w0

mit w =(τv

), w0 =

(t0u0

), so ist g ∈ C1(R × Ω,Rn+1), da f ∈ C1(Ω,Rn). Wenden

wir das schon Bewiesene auf (6.13) an, so folgt, dass w(t, w0) und ∂w∂t(t, w0) stetig

differenzierbar nach w0 = (t0, u0) sind, also nach Definition von w insbesondere auch∂v∂t0

(t, t0, u0) existiert und stetig ist. Nun gilt nach der Definition von v

(6.14) u(t, t0, u0) = v(t− t0, t0, u0), t ∈ J0,

und zusammen mit der Existenz und Stetigkeit von ∂v∂t

folgt die Existenz und Ste-tigkeit von ∂u

∂t0in D.

3. Daruber hinaus existiert ∂u∂t

und erfullt ∂u∂t∈ C(D,Rn). Die eindeutige Losung u

haben wir aus Satz 5.6 erhalten. Im Beweis wurde Satz 5.2 angewendet, der uns dieExistenz und Stetigkeit von ∂u

∂tliefert.

Insgesamt erhalten wir aus 1. – 3., dass u ∈ C1(D,Rn) gilt.

Bemerkung: Der Trick, die nichtautonome Anfangswertaufgabe (6.1) der Dimensionn als autonome Anfangswertaufgabe (6.13) der Dimension n + 1 zu schreiben, ist anvielen Stellen nutzlich. Man beachte, dass das (projizierte) Richtungsfeld von (6.13) imPhasenraum Rn+1 gerade das Richtungsfeld von (6.1) ist (vgl. Kapitel I, Abschnitt 2). Mankann auch die Variationsgleichung (6.5), (6.6) fur ∂u

∂t0durch Differentiation von (6.13)

und Rucktransformation mittels (6.14) herleiten. Jedoch ist der hier beschrittene Wegeinfacher, bei dem (6.13) lediglich fur die Existenz und Stetigkeit der Ableitungen ∂2u

∂t0∂t=

∂2u∂t∂t0

benutzt und dann (6.5), (6.6) durch Differenzieren der Anfangswertaufgabe wie vorSatz 6.1 gewonnen wird.

Page 88: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

88 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

6.2 Differentiation nach Parametern

Nun versuchen wir auch die parameterabhangige Situation zu behandeln:

Seien dazu Ω ⊂ Rn+1 und ∆ ⊂ Rp beide offen und betrachte die AWA

(6.15) u′ = f(t, u, λ), u(t0) = u0

mit f ∈ C1(Ω×Λ,Rn). Hierbei ist die zugehorige Losung u(t, t0, u0, λ0) auf dem maximalenDefinitionsbereich

D = (t, t0, u0, λ0) ∈ R× Ω× Λ : t ∈ J(t0, u0, λ0)

definiert. Auch hier gibt es einen Trick: Wenn u eine Losung von (6.15) fur λ = λ0 ist, solost v(t) = (u(t), λ(t)) = (u(t), λ0) die AWA

(6.16)u′ = f(t, u, λ) = f(t, v), u(t0) = u0,

λ′ = 0, λ(t0) = λ0

und umgekehrt! Das System (6.16) hat die Form

(6.17) v′ = g(t, v), v(t0) = v0

mit g(t, v) =

(f(t, v)

0

), v0 =

(u0λ0

), g ∈ C1(Ω × Λ,Rn+1). Auf (6.17) ist also Satz 6.1

anwendbar und zeigt, dass

v(t, v0) = v(t, u0, λ0) =

(u(t, u0, λ0)

λ0

)

stetig differenzierbar nach λ0 ist. Und zwar lost V (t) = ∂v∂λ0

(t, u0, λ0) =

(∂u∂λ0

(t, u0, λ0)

I

)

die Anfangswertaufgabe ((∗) = (t, u(t, t0, λ0), λ))

V ′ = Dvg(t, v(t, u0, λ0)) V

=

(Duf(∗) ∂u

∂λ0(t, u0, λ0) +Dλf(∗)

0

),

V (t0) =

(0

I

).

Fur Z(t) = ∂u∂λ0

(t, u0, λ0) gilt also

(6.18)Z ′ = Duf(t, u(t, t0, u0, λ0))Z +Dλf(t, u(t, t0, u0, λ0), λ0),

Z(t0) = 0.

Page 89: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

6. DIFFERENZIEREN NACH PARAMETERN 89

Dieses Ergebnis kann man auch direkt durch Differentiation von

∂u

∂t(t, t0, u0, λ0) = f(t, u(t, t0, u0, λ0), λ0),

u(t0, t0, u0, λ0) = u0

nach λ0 erhalten!

Beispiel 6.2 (Verhulst Wachstum) Betrachte die Differentialgleichung

u′ = u(α− βu), u(0) = u0

fur α, β > 0 und u0 ∈ R. Trennung der Variablen liefert uns die Losung

u(t) =γu0

u0 + (γ − u0)e−αt, γ :=

α

β.

Daher lost v = ∂u∂α

die lineare Differentialgleichung

v′ = (α− 2βu)v + u

=

(α− 2αu0

u0 + (γ − u0)e−αt

)v +

γu0u0 + (γ − u0)e−αt

=1

u0 + (γ − u0)e−αt[(α(γ − u0)e−αt − αu0)v + γu0]

und erfullt v(0) = 0.

Nachdem wir einmal nach t0, u0, λ differenziert haben, stellt sich die Frage, ob wir denProzess wiederholen konnen. Dies ist ohne weiteres moglich, da wir auf die Anfangswert-aufgaben (6.3), (6.4) fur Y (t) = ∂u

∂u0(t, t0, u0, λ0) bzw. (6.18) fur Z(t) = ∂u

∂λ(t, t0, u0, λ0)

wieder den Satz 6.1 bzw. dessen Erweiterung auf Parameter anwenden konnen. Dazu mussf jetzt 2–mal stetig differenzierbar in seinen Variablen sein. Dies gilt auch fur gemischteAbleitungen.

Beispiel 6.3 n = 1, y(t, t0, u0, λ0) =∂u∂u0

(t, t0, u0, λ0) erfullt

∂ty(t, t0, u0, λ0) = Duf(t, u(t, t0, u0, λ0), λ0)y(t, t0, u0, λ0),

y(t0, t0, u0, λ0) = 1.

Durch Differentiation nach λ0 folgt, dass z(t) = ∂∂λ0

y(t, t0, u0, λ0) =∂2u()∂λ0∂u0

der folgendenAnfangswertaufgabe genugt:

z′(t) = D2uf(∗)

∂u

∂λ0() ∂u

∂u0() +DλDuf(∗)

∂u

∂u0() +Duf(∗)z

z(t0) = 0,

bzw. (6.5), (6.6) fur y(t) = ∂u∂t0

(t, t0, y0, λ0) mit (∗) = (t, u(t, t0, u0), λ0), () = (t, t0, u0, λ0).

Page 90: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

90 KAPITEL II. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN

Wie die Rechnung zeigt, kann man auf diese Weise im Prinzip alle hoheren Ableitungender Losung u(t, t0, u0, λ0) nach Anfangsdaten und Parametern durch sukzessive Losunglinearer Anfangswertaufgaben gewinnen.

Ohne die Induktion im Einzelnen durchzufuhren, geben wir hier das allgemeine Resultatzur differenzierbaren Abhangigkeit der Losungen an.

Satz 6.4 Seien Ω ⊂ Rn+1 und Λ ⊂ Rp beide offen und f ∈ Ck(Ω × Λ,Rn). Dann sindauch die Losungen u(t, t0, u0, λ0) der AWA

(6.19) u′ = f(t, u, λ), u(t0) = u0

und ihre Zeitableitungen ∂u∂t(t, t0, u0, λ0) auf ihrem maximalen Definitionsbereich

D = (t, t0, u0, λ0) ∈ R× Ω× Λ : t ∈ J(t0, u0, λ0)

k–mal stetig differenzierbar nach allen Variablen.

Page 91: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

Kapitel III

Lineare Differentialgleichungen

1 Homogene Differentialgleichungen

1.1 Elementare Eigenschaften

Wir wiederholen einige Eigenschaften und Bezeichnungen fur Normen und Matrizen.

Eine Matrix A ∈ Km,n schreiben wir mit ihren Elementen und Spalten in der Form

A = (Aij)j=1,...,ni=1,...,m = (A1, . . . , An), Aj ∈ K

m.

Sind (Km, | · |1), (Kn, | · |2) mit Normen versehen, so ordnen wir jeder Matrix A ∈ Km,n

die Matrixnorm (vgl. Kapitel II, (2.3))

(1.1) |A|1,2 = sup |u|≤1u∈Rn

|Au|1 = sup u 6=0u∈Rn

|Au|1|u|2

zu.

Lemma 1.1 Sei J ⊂ R ein Intervall und seien

A : J → Rp,n, B : J → R

n,m, u : J → Rn

differenzierbare Funktionen in J . Dann sind auch AB,Au und detA (falls p = n) diffe-renzierbar in J , und es gilt

(i) (AB)′ = A′B + AB′,

(ii) (Au)′ = A′u+ Au′,

(iii) (detA)′ =n∑

i=1

det(A1, . . . , Ai−1, A′i, Ai+1, . . . , An).

91

Page 92: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

92 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Beweis: (i) und (ii) sind offensichtlich (Ubungsaufgabe).

(iii) erhalt man aus der Determinantendarstellung mit Permutationen σ ∈ Sn:

detA =∑

σ∈Sn

sign(σ) Aσ(1),1 · . . . · Aσ(n),n.

Differentiation nach t ∈ J ergibt mit der Produktregel

(detA)′ =∑

σ∈Sn

sign(σ)

n∑

i=1

Aσ(1),1 · . . . · Aσ(i−1),i−1 A′σ(i),iAσ(i+1),i+1 · . . . · Aσ(n),n

=n∑

i=1

σ∈Sn

sign(σ)Aσ(1),1 · . . . · Aσ(i−1),i−1 A′σ(i),iAσ(i+1),i+1 · . . . · Aσ(n),n

=n∑

i=1

det(A1, . . . , Ai−1, A′i, Ai+1, . . . , An).

Eine einfache Folgerung aus Lemma 1.1 ist die folgende Aussage:

Ist A(t) differenzierbar und nicht singular, so folgt

(A−1)′(t) = −A−1(t)A′(t)A−1(t).

Die Differenzierbarkeit von A−1(t) folgt aus der Darstellung nach der Cramerschen Regel(A−1 = 1

det(A)adj(A)) und aus Lemma 1.1(iii). Durch Differentiation von A−1(t)A(t) = I

erhalten wir mit (i)0 = (A−1)′(t)A(t) + A−1(t)A′(t),

also(A−1)′(t) = −A−1(t)A′(t)A−1(t).

1.2 Homogene Systeme

Wir betrachten Anfangswertaufgaben auf einem beliebigen Intervall J ⊂ R

(1.2) u′ = A(t)u+ r(t), t ∈ J, u(t0) = u0

mit A ∈ C(J,Rn,n), r ∈ C(J,Rn) und u0 ∈ Rn.

Unter diesen Annahmen besitzt (1.2) nach Kapitel II, 5.2 genau eine Losung u ∈ C1(J,Rn).Im Fall r(t) = 0 heißt (1.2) eine homogene Anfangswertaufgabe, andernfalls inhomo-gen.

Den komplexen FallA ∈ C(J,Cn,n), r ∈ C(J,Cn), u0 ∈ C

n

Page 93: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. HOMOGENE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN 93

kann man auf den reellen Fall der Dimension 2n reduzieren mittels Zerlegung in Real–und Imaginarteil

A = A1 + iA2, r = r1 + ir2, u = u1 + iu2, u0 = u01 + iu02.

Dann ist (1.2) aquivalent zu

(1.3)u′1 = A1(t)u1 − A2(t)u2 + r1(t), u1(t0) = u1,0,

u′2 = A2(t)u1 + A1(t)u2 + r2(t), u2(t0) = u2,0

kurz (u1u2

)′=

(A1(t) −A2(t)A2(t) A1(t)

)(u1u2

)+

(r1(t)r2(t)

),

(u1u2

)(t0) =

(u1,0u2,0

).

Wir beschranken uns im Folgenden daher ausschließlich auf den reellen Fall.

Lemma 1.2 Sei J ⊂ R ein Intervall und A ∈ C(J,Rn,n).

(i) Der Differentialoperator

L :C1(J,Rn)→ C(J,Rn)

u 7→ Lu = u′ −A(t)u

ist linear und erfullt

(1.4) dim Kern(L) = n, Bild(L) = C(J,Rn).

(ii) Fur jedes t0 ∈ J ist der Operator

T :C1(J,Rn)→ C(J,Rn)× R

n

u 7→ (Lu, u(t0))

linear und bijektiv.

Beweis: Die Linearitat von T und L ist klar und die Bijektivitat von T folgt direktaus der eindeutigen Losbarkeit von (1.2) (vgl. Kapitel II, 5.2). Dies zeigt auch, dass Lsurjektiv ist und Bild (L) = C(J,Rn). Es bleibt dimKern(L) = n zu zeigen.

Dazu wahlen wir ein t0 ∈ J und betrachten die Losungen uj ∈ C1(J,Rn) der Anfangs-wertaufgabe

Lu = 0, u(t0) = ej (j–ter Einheitsvektor im Rn) , j = 1, . . . , n.

Dann gilt uj ∈ Kern(L). Wir zeigen, dass die uj linear unabhangig sind. Aus

u :=n∑

j=1

αjuj = 0 folgt Lu =n∑

j=1

αjLuj = 0, u(t0) =n∑

j=1

αjej = 0,

Page 94: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

94 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

also αj = 0, j = 1, . . . , n, d. h. dimKern(L) ≥ n. In der Tat gilt Kern (L) = spanu1, . . . , un.Sei dazu u ∈ Kern(L) und αj ∈ R durch u(t0) =

n∑j=1

αjej definiert. Dann losen u und

n∑j=1

αjuj beide die Anfangswertaufgabe Lu = 0, u(t0) =n∑

j=1

αjej , so dass aus der eindeu-

tigen Losbarkeit u(t) =n∑

j=1

αjuj(t) ∀t ∈ J folgt, also dimKern(L) = n.

Satz 1.3 Sei J ⊂ R ein Intervall, A ∈ C(J,Rn,n) und seien u1, . . . , uk ∈ C1(J,Rn)Losungen der homogenen Aufgabe

(1.5) u′ = A(t)u, t ∈ J.

Dann gelten fur jedes t0 ∈ J

(i)k∑

j=1

αjuj, αj ∈ R sind Losungen von (1.5),

(ii) u1, . . . , uk sind linear unabhangig in C1(J,Rn)⇔ u1(t0), . . . , uk(t0) ∈ Rn sind linearunabhangig.

Beweis: (i) ist offensichtlich. Ebenso”⇐“ in (ii), denn

k∑

j=1

αjuj = 0 in J ⇒k∑

j=1

αjuj(t0) = 0,

und aus der letzten Gleichung folgt αj = 0, j = 1, . . . , k nach Voraussetzung.

”⇒“ Seien umgekehrt u1, . . . , uk linear unabhangig und sei

k∑j=1

αjuj(t0) = 0. Dann lost

u =k∑

j=1

αjuj die homogene Aufgabe Lu = 0, u(t0) = 0, also gilt u = 0 wegen der

eindeutigen Losbarkeit. Mit der linearen Unabhangigkeit der uj folgt αj = 0, j = 1, . . . , k.

1.3 Fundamentalmatrizen und Fundamentalsysteme

Definition 1.4 Eine Menge von n linear unabhangigen Losungen u1, . . . , un ∈ C1(J,Rn)heißt Fundamentalsystem von (1.5), die zugehorige Matrix Y = (u1, . . . , un) ∈ C1(J,Rn,n)heißt Fundamentalmatrix. Gilt Y (t0) = I fur ein t0 ∈ J , so heißt die Fundamentalma-trix bei t0 normiert.

Page 95: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. HOMOGENE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN 95

Satz 1.5 (i) Jede Fundamentalmatrix Y von (1.5) erfullt die Matrixdifferentialglei-chung

(1.6) Y ′ = A(t)Y, t ∈ J

und Y (t) ist fur alle t ∈ J invertierbar.

(ii) Alle Fundamentalmatrizen Y (t) von (1.5) sind von der Form

(1.7) Y (t) = Y0(t)C,

wobei Y0 eine fest gewahlte Fundamentalmatrix von (1.5) und C ∈ Rn,n eine beliebigeinvertierbare Matrix ist.

(iii) Zu jedem t0 ∈ J gibt es genau eine bei t0 normierte Fundamentalmatrix Y0 und furjedes u0 ∈ Rn ist u(t) = Y0(t)u0 eindeutige Losung der AWA u′ = A(t)u, u(t0) = u0.

Beweis:

(i) Der erste Teil folgt aus Satz 1.3 mit k = n.

(ii) Ist Y0 irgendeine Fundamentalmatrix und Y durch (1.7) gegeben, so ist Y (t), t ∈ J ,invertierbar und ferner nach Lemma 1.1(i)

Y ′ = Y ′0C + Y0C

′ = Y ′0C = A(t)Y0C = A(t)Y,

also ist Y auch eine Fundamentalmatrix.

Fur eine beliebige Fundamentalmatrix Y setze C = Y0(t0)−1Y (t0) fur ein t0 ∈ J und

erhalte(Y0C)

′ = A(t)(Y0C), (Y0C)(t0) = Y (t0).

Wegen der eindeutigen Losbarkeit folgt Y (t) = Y0(t)C ∀t ∈ J .

(iii) Eine bei t0 normierte Fundamentalmatrix Y0 erhalt man, wenn man fur die Spaltenu1, . . . , un von Y0 die Losungen der Anfangswertaufgabe

u′j = A(t)uj, uj(t0) = ej , j = 1, . . . , n

verwendet. Ist Y (t) eine beliebige bei t0 normierte Fundamentalmatrix, so folgt aus(1.7)

I = Y (t0) = Y0(t0)C = C

also Y (t) = Y0(t) wiederum nach (1.7). Fur u(t) = Y0(t)u0 gilt schließlich

u(t0) = Y0(t0)u0 = u0, u′(t) = Y ′

0(t)u0 = A(t)Y0(t)u0 = A(t)u(t).

Page 96: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

96 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Beispiel 1.6 Fur n = 2 betrachten wir

u′ = Au mit A =

(0 −11 0

).

Die Losung zum Anfangswert u(0) =(10

)ist u1(t) =

(cos(t)sin(t)

), die zu u(0) =

(01

)ist u2(t) =(−sint

cost

). Daher ist

Y (t) =

(cos(t) −sin(t)sin(t) cos(t)

)

die bei t = 0 normierte Fundamentalmatrix. Fur beliebige a ∈ R ist u(t) =

(cos(t+ a)sin(t + a)

)

ebenfalls eine Losung von u′ = Au, es gibt also ein c ∈ R2 mit u(t) = Y (t)c. In der Tatfolgt aus den Additionstheoremen

u(t) =

(cos(t)cos(a)− sin(t)sin(a)sin(t)cos(a) + cos(t)sin(a)

)= cos(a)u1(t) + sin(a)u2(t).

1.4 Wronski–Matrix und Wronski–Determinante

Definition 1.7 Seien u1, . . . , un ∈ C1(J,Rn) (nicht notwendig linear unabhangige) Losun-gen von (1.5). Dann heißt Y = (u1, . . . , un) eine Wronski–Matrix zu (1.5) und detY (t)die zugehorige Wronski–Determinante.

Bemerkung: Falls u1, . . . , un linear unabhangig sind, ist die Wronski–Matrix sogar eineFundamentalmatrix.

Satz 1.8 (Liouville) Eine Wronski–Determinante w(t) = detY (t) lost die Differential-gleichung

(1.8) w′(t) = Spur(A(t))w(t) mit Spur(A(t)) :=n∑

i=1

Aii(t),

und es gilt

(1.9) w(t) = exp

t∫

t0

Spur(A(s))ds

w(t0) ∀t, t0 ∈ J.

Page 97: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. HOMOGENE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN 97

Beweis: Sei t0 ∈ J gewahlt und Z(t) die bei t0 normierte Fundamentalmatrix von (1.5).Dann gilt Y (t) = Z(t)Y (t0), t ∈ J (vgl. (1.7)) und somit

w′(t) = (detY )′(t) = (detZ)′(t)detY (t0) = (detZ)′(t)w(t0).

Mit Lemma 1.1(iii) folgt fur Z = (z1, . . . , zn), t ∈ J :

(detZ)′(t) =n∑

i=1

det(z1, . . . , zi−1, z′i, zi+1, . . . , zn)

=

n∑

i=1

det(z1, . . . , zi−1, A(t)zi, zi+1, . . . , zn),

ausgewertet bei t = t0 also

(detZ)′(t0) =n∑

i=1

det(e1, . . . , ei−1, A(t0)ei, ei+1, . . . , en)

=

n∑

i=1

Aii(t0) = Spur(A(t0)).

Daher erhalten wir w′(t0) = Spur(A(t0)) w(t0) fur jedes t0 ∈ J . Schließlich folgt (1.9) mitHilfe der Losungsformel aus Kapitel I, Satz 3.1 fur die lineare Differentialgleichung (1.8).

1.5 Das Reduktionsverfahren von d’Alembert

Es gibt keine allgemeine Methode, um ein Fundamentalsystem von (1.5) explizit zu be-rechnen. Fur den Fall, dass A(t) von t unabhangig ist, sei auf § 3 verwiesen.

Das Reduktionsverfahren von d’Alembert erlaubt, die Dimension von (1.5) auf n−1zu verringern, wenn man eine nichttriviale Losung u(t) von (1.5) kennt. Man setzt furweitere Losungen von (1.5) an

(1.10) v(t) = α(t)u(t) + y(t) mit y(t) =

0y2(t)...

yn(t)

, α(t) ∈ R.

Hierbei nehmen wir u1(t) 6= 0 ∀ t ∈ J an. Dann gilt:

v lost (1.5) ⇔ α′u+ αu′ + y′ = Av = αAu+ Ay

⇔ y′ = Ay − α′u.

Page 98: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

98 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Komponentenweise ausgeschrieben heißt dies

0 =n∑

j=2

A1jyj − α′u1,

y′i =

n∑

j=2

Aijyj − α′ui, i = 2, . . . , n.

Hieraus erhalten wir α′ = 1u1

n∑j=2

A1jyj und es bleibt das (n − 1)–dimensionale System

fur y2, . . . , yn

(1.11) y′i =n∑

j=2

(Aij −

uiu1

A1j

)yj, i = 2, . . . , n

zu losen. Ist (y2, . . . , yn) eine Losung von (1.11), so erhalt man uber

(1.12) α(t) =

∫1

u1(s)

n∑

j=2

A1j(s)yj(s)ds + C

und v aus (1.10) eine weitere Losung von (1.5).

Satz 1.9 Bilden z2, . . . , zn ∈ C(J,Rn−1) ein Fundamentalsystem von (1.11) und ist ueine nicht-triviale Losung von (1.5) mit u1(t) 6= 0 fur t ∈ J , so bilden (u, v2, . . . , vn) mit

(1.13) vi = αiu+

(0

zi

), αi(t) =

t∫

t0

n∑

j=2

A1j(s)(zi)j(s)

u1(s)ds, i = 2, . . . , n

ein Fundamentalsystem von (1.5).

Beweis: Es bleibt die lineare Unabhangigkeit von u, v2, . . . , vn zu zeigen. Sei also

λu+n∑

i=2

λivi = 0. Aus der ersten Komponente folgt λ+n∑

i=2

λiαi = 0 wegen u1 6= 0 in J .

Multiplikation mit u und Einsetzen ergibt

0 =n∑

i=2

λivi −n∑

i=2

λiαiu =n∑

i=2

λi

(0

zi

),

also λi = 0 (i = 2, . . . , n) und damit auch λ = 0.

Wir fuhren das Reduktionsverfahren von d’Alembert in einem zweidimensionalen Beispieldurch.

Page 99: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. INHOMOGENE DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME 99

Beispiel 1.10 Wir betrachten eine homogene lineare Differentialgleichung

u′ = A(t)u, t ∈ J = (0,∞)

mit

A(t) =

(1t−1

1t2

2t

).

Wie man nachrechnet ist

u(t) =

(t2

−t

)

eine Losung der homogenen Aufgabe. Das reduzierte System (1.11) lautet hier

y′2(t) =

(A22(t)−

u2(t)

u1(t)A12(t)

)y2(t) =

1

ty2(t)

und hat die Losung y2(t) = t. Weiter erhalten wir aus (1.12)

α(t) =

∫A12(t)y2(t)

u1(t)dt = −

∫1

tdt = −ln t

und somit nach (1.13) die weitere Losung

v(t) = α(t)u(t) +

(0

y2(t)

)=

(−t2 ln tt ln t+ t

).

Zusammen liefern u und v die Fundamentalmatrix

Y (t) =

(t2 −t2 ln t−t t ln t+ t

), Y (1) =

(1 0−1 1

).

Die bei t = 1 normierte Fundamentalmatrix ergibt sich nach Satz 1.5 mit C = Y (1)−1 zu

Z(t) = Y (t)Y (1)−1 =( t2 −t2lnt−t tlnt+ t

)(1 01 1

)=

(t2(1− ln t) −t2 ln tt ln t t(1 + ln t)

).

2 Inhomogene Differentialgleichungssysteme

2.1 Die Formel Variation der Konstanten

Wir betrachten jetzt das inhomogene Differentialgleichungssystem

(2.1) u′ −A(t)u = r(t), t ∈ J,

Page 100: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

100 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

wobei J ⊂ R wieder ein echtes Intervall und A ∈ C(J,Rn,n), r ∈ C(J,Rn) seien.

Mit dem lineren Differentialoperator

L :C1(J,Rn) −→ C(J,Rn)

u 7−→ Lu, (Lu)(t) = u′(t)−A(t)u(t)

aus Lemma 1.2(i) konnen wir (2.1) auch kurz als

(2.2) Lu = r

schreiben. Die Linearitat von L ergibt dann zusammen mit Satz 1.3 die folgende Aussage.

Folgerung 2.1 Sei u(t) eine spezielle Losung von (2.1) (z. B. die Losung der AWALu = r in J , u(t0) = 0, t0 ∈ J gewahlt). Dann hat jede Losung u ∈ C1(J,Rn) derinhomogenen Aufgabe (2.1) die Form

(2.3) u(t) = u(t) + v(t)

wobei v eine Losung der homogenen Aufgabe Lv = 0 in J ist. Die Losungen von (2.1)bilden einen affinen n–dimensionalen Unterraum von C1(J,Rn).

Beweis:”⇒“ Sei u ∈ C1(J,Rn) eine Losung von (2.1), d. h. Lu = r, so folgt L(u− u) =

r − r = 0. Also gilt (2.3) fur v = u− u.

”⇐“ Ist umgekehrt (2.3) vorausgesetzt, so folgt Lu = Lu + Lv = r, d. h. u lost (2.1).Es bleibt zu zeigen, dass wir auf diesem Wege alle Losungen erhalten. Dies folgt aus derTatsache, dass Kern(L) ein n–dimensionaler Unterraum von C1(J,Rn) ist.

Um eine spezielle Losung u von (2.1) zu konstruieren, machen wir den Ansatz

(2.4) u(t) = Y (t)c(t),

wobei Y eine Fundamentalmatrix von L und c(t) eine noch zu bestimmende vektorwertigeFunktion ist.

Da hier — anders als fur das homogene System (vgl. (1.7)) in Satz 1.5) — die Funda-mentalmatrix mit einer variablen Funktion multipliziert wird, bezeichnet man den Ansatzals Variation der Konstanten. Dies ist ein sprachlicher Balanceakt, der sich auch imEnglischen als variation of constants durchgesetzt hat.

Aus r = Lu ergibt sich mit Y ′ = A(t)Y und Lemma 1.1(ii) die Bedingung

r = Lu = (Y c)′ −A(t)Y c = Y c′ + Y ′c− A(t)Y c = Y c′.

Page 101: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. INHOMOGENE DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME 101

Dies ist fur

(2.5) c(t) :=

t∫

t0

Y (s)−1r(s)ds, t ∈ J,

erfullt, wobei t0 ∈ J ein fest gewahlter Punkt sei. Es gilt dann außerdem c(t0) = 0 undwir erhalten aus (2.4) mit (2.5), dass

(2.6) u(t) = Y (t)

t∫

t0

Y (s)−1r(s) ds, t ∈ J,

die Losung der Anfangswertaufgabe

(2.7) Lu = r, u(t0) = 0

ist.

Satz 2.2 Sei Y eine Fundamentalmatrix von

Lu := u′ − A(t)u = 0, t ∈ J.

Dann hat die Anfangswertaufgabe

(2.8) Lu = r, u(t0) = u0

mit r ∈ C(J,Rn), t0 ∈ J und u0 ∈ Rn die Losung

(2.9) u(t) = Y (t)Y (t0)−1u0 +

t∫

t0

Y (t)Y (s)−1r(s) ds, t ∈ J.

Beweis: Es bleibt zu bemerken, dass

v(t) = Y (t)Y (t0)−1u0, t ∈ J

nach Satz 1.5(iii) mit der bei t0 normierten Fundamentalmatrix Y0(t) = Y (t)Y (t0)−1 die

Anfangswertaufgabe Lv = 0, v(t0) = u0 und u aus (2.6) die Anfangswertaufgabe (2.7)lost.

Bemerkung: Die Darstellung (2.9) wird auch alsVariation der Konstanten Formelbezeichnet, in der englischen Literatur gelegentlich auch als Duhamel’s principle.

Page 102: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

102 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

2.2 Der Evolutionsoperator

Wie in Kapitel I, § 3 fuhren wir den zu L gehorigen Evolutions– oder Losungsoperatorein durch

(2.10) U(t, s) = Y (t)Y (s)−1, t, s ∈ J.

Er ist offenbar von der Wahl der Fundamentalmatrix unabhangig, denn aus (1.7) in Satz1.5 folgt

Y (t)Y (s)−1 = Y0(t)C(Y0(s)C)−1 = Y0(t)Y0(s)

−1,

wobei Y0 eine beliebige weitere Fundamentalmatrix ist.

Die Variation der Konstanten Formel erhalt damit die folgende intuitive Form:

(2.11) u(t) = U(t, t0)u0 +

t∫

t0

U(t, s)r(s) ds, t ∈ J,

die die entsprechende Darstellung aus dem skalaren Fall (Kapitel I, Satz 3.1) verallgemei-nert.

Die bereits in Kapitel I, § 3 genannten Eigenschaften des Evolutionsoperators ubertra-gen sich ebenfalls, wie das folgende Lemma zeigt.

Lemma 2.3 Fur den Evolutionsoperator U(t, s) zu L gelten

(i) U ∈ C1(J × J,Rn,n),

(ii) U(t, t) = I ∀t ∈ J ,

(iii) U(t, s) = U(t, τ)U(τ, s) ∀t, τ, s ∈ J ,

(iv) u(t) = U(t, t0)u0 lost Lu = 0, u(t0) = u0.

Beweis: Die Eigenschaft (i) folgt aus der stetigen Differenzierbarkeit von Y (t) undY (s)−1 (siehe § 1.1). (ii) ist offensichtlich und (iv) folgt aus Satz 1.5(iii) mit der bei t0normierten Fundamentalmatrix Y0(t) = Y (t)Y (t0)

−1. (iii) folgt schließlich aus

U(t, τ)U(τ, s) = Y (t)Y (τ)−1Y (τ)Y (s)−1 = Y (t)Y (s)−1 = U(t, s).

Page 103: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 103

3 Systeme mit konstanten Koeffizienten

3.1 Picard Iteration

Wir betrachten nun spezieller als in § 1–3 ein lineares autonomes System

(3.1) u′ = Au, A ∈ Rn,n.

Man nennt (3.1) auch ein System mit konstanten Koeffizienten, da die Koeffizienten-matrix A von t unabhangig ist.

Wir wollen eine Fundamentalmatrix von (3.1) bestimmen. Dazu losen wir

(3.2) u′ = Au, u(0) = u0

mit der Picard–Iteration (vgl. Kapitel II, § 3)

(3.3) vk+1(t) = u0 +

t∫

0

Avk(s)ds, v0(t) = 0.

Wir wissen bereits nach Satz 3.1 aus Kapitel II, dass vk(t) auf jedem kompakten IntervallJ ⊂ R gleichmaßig gegen die eindeutige Losung u(t) = Y (t)u0 konvergiert, wobei Y (t)die Differentialgleichung

Y ′(t) = AY (t), Y (0) = I

lost. Aus (3.3) folgt fur t ∈ J

v1(t) = u0, v2(t) = u0 +

t∫

0

Au0ds = (I + tA)u0,

v3(t) = u0 +

t∫

0

A(I + sA)u0ds = (I + tA +1

2t2A2)u0,

und induktiv

(3.4) vk(t) =

(k−1∑

i=0

tiAi

i!

)u0, k ∈ N.

Schritt k → k + 1:

vk+1(t) = u0 +

t∫

0

A

k−1∑

i=0

siAi

i!u0 ds = u0 + A

k−1∑

i=0

Ai

t∫

0

si

i!ds u0

=

(I +

k−1∑

i=0

Ai+1ti+1

(i+ 1)!

)u0 =

(k∑

i=0

tiAi

i!

)u0.

Page 104: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

104 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Insbesondere existiert also fur jedes u0 ∈ Rn der Grenzwert

∞∑

i=0

tiAi

i!u0 = Y (t)u0.

Dieser ist stetig differenzierbar nach t und lost (3.2) in R.

Da die Reihe insbesondere fur die Einheitsvektoren u0 = ej gegen die j–te Spalte vonY (t) konvergiert, konvergieren auch die Matrizen. Genauer gilt:

(3.5) Y (t) =∞∑

i=0

(tA)i

i!, t ∈ J

konvergiert auf jedem kompakten Intervall J ⊂ R gleichmaßig und ist die normierteFundamentalmatrix von u′ = Au. In Analogie zur skalaren e–Funktion setzt man daher

(3.6) eB :=

∞∑

i=0

Bi

i!, B ∈ R

n,n.

Die Konvergenz folgt aus (3.5) mit t = 1. Die Formel (3.5) erhalt die Form

(3.7) Y (t) = etA, t ∈ R.

3.2 Die Matrixexponentialfunktion und Potenzreihen

Wir wollen (3.6) fur Potenzreihen verallgemeinern. Dazu definieren wir fur z ∈ K undA ∈ Kn,n mit K ∈ R,C

(3.8) f(z) :=

∞∑

i=0

cizi, f(A) :=

∞∑

i=0

ciAi, ci ∈ K.

Wir verwenden bekannte Aussagen uber Potenzreihen, insbesondere die absolute Konver-genz innerhalb des Konvergenzkreises und ihre Differenzierbarkeit, siehe [ame06, Kap. II9, Kap. V.3, Band I].

Satz 3.1 Sei f(z) eine Potenzreihe in K mit Konvergenzradius 0 < r ≤ ∞. Dannkonvergiert die Potenzreihe

f(A) =

∞∑

i=0

ciAi

absolut fur jede Matrix A ∈ Kn,n, fur die es eine Norm | · |∗ im Kn mit |A|∗ < r gibt.

Fur |t| < r|A|∗ ist dann auch f(tA) nach t stetig differenzierbar und es gilt

(3.9)d

dtf(tA) = Af ′(tA).

Page 105: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 105

Beweis: Sei pk(A) :=k∑

i=0

ciAi, pk(t) :=

k∑i=0

citi. Da die Reihe in (3.8) fur z = |A|∗ < r

absolut konvergiert, existiert fur alle ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N, so dass fur allem, k ≥ N(ε)gilt

|pm(A)− pk(A)|∗ =∣∣∣∣∣

m∑

i=k+1

ciAi

∣∣∣∣∣∗

≤m∑

i=k+1

|ci| |A|i∗ ≤ ε.

Hieraus folgt die normweise und damit auch die elementweise Konvergenz der Matrizenpk(A). Nach einem Satz der Analysis ist f beliebig oft stetig differenzierbar fur |z| < r.Dabei ist die erste Ableitung durch

f ′(z) =

∞∑

i=1

ciizi−1, z ∈ K mit |z| < r

gegeben, wobei die Reihe wieder fur |z| < r absolut konvergiert. Daher konvergiert fur|tA|∗ < r.

d

dtpk(tA) =

d

dt

k∑

i=0

citiAi =

k∑

i=1

ciiti−1Ai = A

k∑

i=1

cii(tA)i−1

= Ap′k(tA) gegen Af ′(tA).

Nach einem weiteren Satz der Analysis (angewandt auf die Elemente von pk(tA)) ist somitf(tA) = lim

k→∞pk(tA) stetig nach t differenzierbar und es gilt:

d

dt[f(tA)] = Af ′(tA).

Beispiel 3.2

(i) Fur A ∈ Kn,n und ci =

1i!erhalten wir die Matrixexponentialfunktion f(A) = exp(A)

sowie die Ableitungd

dtexp(tA) = A exp(tA).

Ferner ist exp(0A) = I offensichtlich.

(ii) Man kann ebenso fur A ∈ Kn,n den Sinus bzw. den Kosinus von A bilden

sin A =∞∑

i=0

(−1)i A2i+1

(2i+ 1)!, cos A =

∞∑

i=0

(−1)i A2i

(2i)!

Page 106: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

106 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

und erhalt aus Satz 3.1 die Abbleitungen

d

dtsin(tA) = Acos(tA),

d

dtcos(tA) = −Asin(tA),

d2

dt2sin(tA) = −A2sin(tA),

d2

dt2cos(tA) = −A2cos(tA)

d. h. sin(tA), cos(tA) sind Losungen des Systems 2. Ordnung

(3.10) u′′ + A2u = 0.

Ferner gilt sin(0A) = 0, cos(0A) = I.

Bemerkung zu Satz 3.1: Fur A ∈ Kn,n heißt

ρ(A) = max|λ| : λ ∈ C Eigenwert von A

der Spektralradius von A. Man kann zeigen:

ρ(A) < r ⇔ ∃ Vektornorm | · |∗ in Kn mit |A|∗ < r.

Die Potenzreihen konvergieren also fur alle Matrizen A mit ρ(A) < r.

Fur gegebenes r > 0 besagt dies, dass die Eigenwerte von A betragsmaßig nicht zu großsein durfen, um die Konvergenz der Potenzreihe zu gewahrleisten.

Einige weitere Eigenschaften der Matrixexponentialfunktion fasst der folgende Satz zu-sammen.

Satz 3.3 Fur A,B ∈ Kn,n gelten die folgenden Aussagen:

(i) eA+B = eA eB falls AB = BA,

(ii) eS−1AS = S−1eAS, falls S ∈ Kn,n nichtsingular ,

(iii) ediag(λ1,...,λn) = diag(eλ1 , . . . , eλn), λi ∈ K.

Beweis: (i) Da A und B kommutieren, gilt:

(A+B)k =k∑

j=0

(k

j

)Aj Bk−j, ferner

k∑

i=0

Ai

i!

k∑

ν=0

ν!=

k∑

ℓ=0

ℓ∑

j=0

AjBℓ−j

j!(ℓ− j)! +2k∑

ℓ=k+1

k∑

j=ℓ−k

AjBℓ−j

j!(ℓ− j)!

=k∑

ℓ=0

1

ℓ!(A +B)ℓ +Rk mit

|Rk| ≤2k∑

ℓ=k+1

k∑

j=ℓ−k

|A|j |B|ℓ−j

j!(ℓ− j)!

=

(k∑

i=0

|A|ii!

k∑

ν=0

|B|νν!−

k∑

ℓ=0

1

ℓ!(|A|+ |B|)ℓ

)→ 0 fur k →∞,

Page 107: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 107

da beide Terme auf der rechten Seite gegen e|A|+|B| = e|A|e|B| konvergieren. Der Grenzuber-gang k →∞ liefert also

eAeB = eA+B.

(ii) Fur jedes k ∈ N gilt:

S−1

(k∑

i=0

Ai

i!

)S =

k∑

i=0

(S−1AS)i

i!,

fur k →∞ folgt also S−1eAS = eS−1AS.

(iii)

ediag(λ1,...,λn) =∞∑

i=0

diag(λ1, . . . , λn)i

i!=

∞∑

i=0

diag

(λi1i!, . . . ,

λini!

)

= diag

( ∞∑

i=0

λi1i!, . . . ,

∞∑

i=0

λini!

)= diag(eλ1 , . . . , eλn).

Folgerung 3.4 Fur A ∈ Kn,n, s, t ∈ R und λ ∈ K gilt

(eA)−1 = e−A, eA(s+t) = eAseAt, eA+λI = eλeA.

Beweis: Aus eAe−A = eA−A = e0 = I folgt eA invertierbar mit (eA)−1 = e−A. Weitererhalten wir

eA(s+t) = eAs+At = eAseAt,

eA+λI = eAeλI = eAeλI = eλeA.

Der in (2.10) eingefuhrte Evolutionsoperator erfullt im Falle konstanter Koeffizientenaufgrund der Darstellung (3.7) also

U(t, s) = Y (t)Y (s)−1 = etAe−sA = e(t−s)A.

Damit erhalt die Variation der Konstantenformel (2.11) zur Losung des inhomogenenSystems

(3.11) u′ − Au = r in J, u(t0) = u0

die Form

(3.12) u(t) = U(t, t0)u0 +

t∫

t0

U(t, s) r(s)ds = eA(t−t0)u0 +

t∫

t0

eA(t−s) r(s)ds, t ∈ J.

Page 108: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

108 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Beispiel 3.5

(i) Betrachte die homogene lineare Differentialgleichung

u′ =

(1 11 1

)u, A =

(1 11 1

).

Die konstante Koeffizientenmatrix A lasst sich mittels

S =

(1 −11 1

), S−1 =

1

2

(1 1−1 1

), S−1AS =

(2 00 0

),

uber R diagonalisieren, so dass wir aus Satz 3.3(ii) und (iii) die zugehorige Funda-mentalmatrix erhalten

Y (t) = etA = S eS−1(tA)S S−1 = S

(e2t 00 1

)S−1 =

(e2t −1e2t 1

) (1 1−1 1

)1

2

=1

2

(e2t + 1 e2t − 1e2t − 1 e2t + 1

).

Lediglich aus der Kenntnis von Spur(A) liefert der Satz von Liouville

det etA = det (e0A) e

t∫

0

Spur(A)dτ= e2t.

Dasselbe Resultat erhalten wir aus der expliziten Darstellung von etA

det etA =1

4[(e2t + 1)2 − (e2t − 1)2] = e2t.

(ii) Betrachte nun das homogene Anfangswertproblem

u′ =

(1 11 1

), u(0) =

(2

1

)=: u0.

Dann ist die Losung nach Satz 1.5(iii) gegeben durch

u(t) = Y (t)u0 = etA(2

1

)=

1

2

(3e2t + 13e2t − 1

), t ∈ R.

(iii) Betrachte schließlich die inhomogene Aufgabe

u′ =(1 11 1

)u+

(t

et

), u(0) =

(2

1

)=: u0.

Page 109: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 109

Dann erhalten wir die Losung aus der Variation der Konstantenformel (2.9)

u(t) = etA(2

1

)+

t∫

0

e(t−s)A

(s

es

)ds

=1

2

(e2t + 1 e2t − 1e2t − 1 e2t + 1

)

(2

1

)+

t∫

0

1

2

((e−2s + 1)s+ (e−2s − 1)es

(e−2s − 1)s+ (e−2s + 1)es

)ds

=1

2

(e2t + 1 e2t − 1e2t − 1 e2t + 1

)2 + 1

2

t∫0

se−2s + s+ e−s − esds

1 + 12

t∫0

se−2s − s+ e−s + esds

=1

2

(e2t + 1 e2t − 1e2t − 1 e2t + 1

) (2− t

4e−2t − 1

8e−2t + 1

8+ 1

4t2 − 1

2e−t + 1

2− 1

2et + 1

2

1− t4e−2t − 1

8e−2t + 1

8− 1

4t2 − 1

2e−t + 1

2+ 1

2et − 1

2

)

=1

2

(e2t + 1 e2t − 1e2t − 1 e2t + 1

) ((− t

4− 1

8) e−2t + 25

8+ 1

4t2 − 1

2et − 1

2e−t

(− t4− 1

8) e−2t + 9

8− 1

4t2 + 1

2et − 1

2e−t

)

=1

2

(− t

2− 1

4+ 17

4e2t − et + 2 + 1

2t2 − et

− t2− 1

4+ 17

4e2t − et − 2− 1

2t2 + et

)=

1

2

(174e2t − 2et + 1

2t2 − 1

2t+ 7

4174e2t − 1

2t2 − 1

2t− 9

4

).

Folgerung 3.6 Sei A ∈ Kn,n diagonalisierbar uber K, d. h. es gibt eine invertierbareMatrix S ∈ Kn,n mit

S−1AS = diag(λ1, . . . , λn).

Dann istetA = S ediag(λ1t,...,λnt) S−1 = S diag(eλ1t, . . . , eλnt)S−1, t ∈ R,

die bei 0 normierte Fundamentalmatrix, von (3.1).

Ferner ist mit S = (y1, . . . , yn)

etAS = (eλ1ty1, . . . , eλntyn)

eine Fundamentalmatrix von u′ = Au.

Beweis: Da A ∈ Kn,n diagonalisierbar uber K und t ∈ R ist, gilt

S−1(tA)S = diag(λ1t, . . . , λnt)

S−1etAS = eS−1(tAS) = diag(eλ1t, . . . , eλnt),

und damit folgt die Behauptung.

Bemerkung: S = (y1, . . . , yn) enthalt die Eigenvektoren von A bzgl. λ1, . . . , λn.

Page 110: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

110 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Beispiel 3.7 Betrachte u′ = Au mit der konstanten Koeffizientenmatrix

A =

(0 −11 0

).

Nach Beispiel 1.6 besitzt A die Eigenwerte λ1,2 = ± i mit Eigenvektoren

(i1

),

(−i1

).

Fundamentallosungen von u′ = Au sind

x1(t) = cos t ·(0

1

)− sin t

(1

0

)=

(−sin tcos t

)

x2(t) = cos t

(1

0

)+ sin t

(0

1

)=

(cos tsin t

).

Wie berechnet man nun die zu u′ = Au gehorige Fundamentalmatrix

Y (t) = eAt = e

0 −11 0

t

?

Offenbar ist A diagonalisierbar uber C mit

S =

(i −i1 1

), AS = S

(i 00 −i

), S−1 =

1

2i

(1 i−1 i

),

so dass uns Folgerung 3.6 die zugehorige bei 0 normierte Fundamentalmatrix liefert:

Y (t) = etA = S

(eit 00 e−it

)S−1 =

1

2i

(ieit −ie−it

eit e−it

) (1 i−1 i

)

=1

2i

(i(eit + e−it) −eit + e−it

eit − e−it i(eit + e−it)

)=

(cos t −sin tsin t cos t

).

3.3 Jordannormalform

Wenn A ∈ Kn,n nicht diagonalisierbar ist, so muss man sich auf die Jordannormalformvon A zuruckziehen:

S−1AS = J =

J1 0

. . .

0 Jk

, Ji =

λi 1 0. . .

. . .

. . . 10 λi

∈ K

ni,ni, i = 1, . . . , k,

Page 111: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 111

wobei n = n1+. . .+nk. Dies gilt fur S = (y11, . . . , yn11 , . . . , y

1k . . . y

nkk ) , wobei fur i = 1, . . . , k

Ayji = λiyji + yj−1

i , j = 1, . . . , ni (y0i = 0)

erfullt ist. yji heißt Hauptvektor j–ter Stufe zum Eigenwert λi. Wir berechnen

etJ =

∞∑

i=0

(tJ)i

i!=

∞∑

i=0

(tJ1)i

i!0

. . .. . .

0 (tJk)i

i!

=

etJ1 0. . .

. . .

0 etJk

.

Mit

Ji =

λi 0. . .

. . .

0 λi

+

0 1. . .

. . .

. . . 10

= λiI +Ni

folgt aus Folgerung 3.4 fur i = 1, . . . , k

etJi = etλietNi = eλit∞∑

ν=0

tνNνi

ν!= etλi

ni−1∑

ν=0

tνNνi

ν!.

Wegen

Nνi =

0 · · · 1 0 · · · 0...

. . .. . .

.... . .

. . . 0. . . 1

. . ....

0 . . . 0

← ν + 1

erhalten wir

etJi = etλi

1 t1!

. . . tni−1/(ni − 1)!. . .

.... . . t

1!

0 1

, etJi

α0...

αni−1

=

q(t)q′(t)...

q(ni−1)(t)

etλi

wobei q(t) =ni−1∑j=0

αjtj

j!.

Page 112: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

112 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Beachte: Die algebraische Vielfachheit von λ, also n(λ) =∑

i:λi=λni, entspricht der Viel-

fachheit der Nullstelle λ des charakteristischen Polynoms. In diesem Fall ist die normierteFundamentalmatrix von der Form

etA = SetJS−1

=

(eλ1ty11, e

λ1t(ty11 + y21), . . . , eλ1t

n1−1∑

ν=0

ν!yn1−ν1 , eλ2ty12, . . . , e

λkt

nk−1∑

ν=0

ν!ynk−νk

)S−1.

Oft ist es rechnerisch einfacher, anstelle der bei 0 normierten Fundamentalmatrix dieFundamentalmatrix etAS = SetJ zu verwenden.

Satz 3.8 Gegeben sei ein lineares System u′ = Au mit einer Matrix A ∈ Kn,n, derenEigenwerte λi ∈ C (i = 1, . . . , k) mit zugehorigen Jordanblocken der Dimension ni seien.Ein Fundamentalsystem erhalt man auf folgende Weise:

Zu jedem Eigenwert λ = λi bestimme man eine Kette von Hauptvektoren

y0i = 0, y1i , . . . , ynii mit (A− λI)yji = yj−1

i , j = 1, . . . , ni,

die den Raum Kern((A−λI)n(λ)), n(λ) = ∑i:λi=λ

ni, aufspannen. Dann erganze man das

System durch die Funktionen

uji (t) = eλtj−1∑

ν=0

ν!yj−νi , j = 1, . . . , ni, i = 1, . . . , k.

Beispiel 3.9 Betrachte die homogene Differentialgleichung

u′ =

(1 −14 −3

)u, A :=

(1 −14 −3

).

Das charakteristische Polynom von A lautet

q(λ) = (1− λ)(−3 − λ) + 4 = (λ+ 1)2.

Folglich ist λ = −1 ein doppelter Eigenwert von A. Der zu λ = −1 gehorige Eigenvektorergibt sich wie folgt

(2 −14 −2

)(1

2

)= 0⇒ y1 :=

(1

2

).

Der zu λ = −1 gehorige Hauptvektor (nur eindeutig bis auf Vielfache von y1) ergibt sichwie folgt

Page 113: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 113

(2 −14 −2

)y2 = y1 =

(1

2

)⇒ y2 =

(1

1

).

Wir erhalten mit Satz 3.8 das Fundamentalsystem e−t[(

12

), t(12

)+(11

)]sowie die folgende

Fundamentalmatrix

Y (t) = e−t

(1 t+ 12 2t+ 1

), Y (0) =

(1 12 1

), Y (0)−1 =

(−1 12 −1

).

Daraus erhalten wir

etA = Y (t)Y (0)−1 = e−t

(2t+ 1 −t4t 1− 2t

).

Betrachten wir nun die Anfangswertaufgabe

u′ =

(1 −14 −3

)u+

(1

1

), u(0) =

(1

1

),

so ergibt sich daraus und aus (3.12) die Losung

u(t) = e−t

(2t+ 1 −t4t 1− 2t

)(1

1

)+

t∫

0

e−(t−s)

(2(t− s) + 1 −(t− s)4(t− s) 1− 2(t− s)

)(1

1

)ds

= e−t

(t + 12t+ 1

)+

t∫

0

e−τ

(2τ + 1 −τ4τ 1− 2τ

)(1

1

)dτ

= e−t

(t + 12t+ 1

)+

t∫0

e−τ (τ + 1)dτ

t∫0

e−τ (2τ + 1)dτ

=

(e−t(t + 1− (t+ 2)) + 2e−t(2t + 1− (2t+ 3)) + 3

)=

(2− e−t

3− 2e−t

).

Bemerkung: Mehrfache Eigenwerte sind empfindlich unter kleinen Storungen. Betrachtez. B.

u′ =

(1 −1

4− ε −3

)u =: A(ε)u

Das charakteristische Polynom ist qε(λ) = (λ + 1)2 − ε, mit den Nullstellen λ±(ε) =−1 ± √ε, vgl. Abbildung 3.1. Obwohl die Losungsdarstellungen fur ε < 0, ε = 0, ε > 0vollig verschieden aussehen, hangen die normierten Fundamentalmatrizen eA(ε)t stetig undsogar differenzierbar von ε ab! (Ubungsaufgabe) Dies wissen wir aus Kapitel II, § 6.

Page 114: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

114 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

−1−1−1

CCC

ε = 0ε < 0 ε > 0

Abbildung 3.1: Storung eines doppelten Eigenwertes

3.4 Der reelle Fall

Reelle Matrizen haben im Allgemeinen komplexe Eigenwerte und Satz 3.8 liefert uns indiesem Fall ein komplexes Fundamentalsystem. Andererseits ist etA eine reelle Fundamen-talmatrix, es muss also moglich sein, die in Satz 3.8 konstruierten Losungen linear so zukombinieren, dass man ein reelles Fundamentalsystem erhalt.

Sei also jetzt A ∈ Rn,n und

(3.13) Az = λz mit λ = µ+ iω, z = x+ iy 6= 0.

Eine Losung ist

u(t) = eλtz = eµt(cos ωt+ i sin ωt) (x+ iy)

= eµt[cos(ωt)x− sin(ωt)y] + ieµt[cos(ωt)y + sin(ωt)x].

Da A reell ist, gilt auch Az = λz und eine weitere Losung ist

u(t) = eλtz

= eµt[cos(ωt)x− sin(ωt)y]− ieµt[cos(ωt)y + sin(ωt)x].

Anstelle von u, u konnen wir daher die folgenden reellen Funktionen fur eine Basis ver-wenden.

(3.14)u1(t) = Re u(t) =

1

2(u(t) + u(t)) = eµt[cos(ωt)x− sin(ωt)y]

u2(t) = Im u(t) =1

2i(u(t)− u(t)) = eµt[cos(ωt)y + sin(ωt)x].

Beachte

(u1(t) u2(t)) = eµt(x y)

(cos(ωt) sin(ωt)−sin(ωt) cos(ωt)

).

Page 115: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 115

Hierdurch wird im Fall µ < 0 eine gedampfte Schwingung in dem von x und y aufge-spannten Unterraum beschrieben, vgl. Abbildung 3.2.

t

x

y

u1(t)

u2(t)

Abbildung 3.2: Gedampfte Schwingung im Unterraum spanx, y

Ebenso kann man im Fall von Vielfachheiten verfahren. Sei etwa eine Hauptvektorkettegegeben

z0 = 0, z1 = z, z2, . . . , zκ, (A− λI)zj = zj−1, j = 1, . . . , κ.

Dann kann man die Losungen

uj(t) = eµtqj(t) mit qj(t) =

j−1∑

ν=0

ν!zj−ν , j = 1, . . . , κ

und uj ersetzen durch

v1j (t) = Re uj(t) = eµt[cos(ωt)Re qj(t)− sin(ωt)Im qj(t)],

v2j (t) = Im uj(t) = eµt[cos(ωt)Im qj(t) + sin(ωt)Re qj(t)],

Re qj(t) =

j−1∑

ν=0

ν!Re zj−ν .

Beispiel 3.10

(i) Betrachte die lineare Differentialgleichung

u′ = Au mit A =

(0 −ωω 0

), ω 6= 0.

Die Eigenwerte und Eigenvektoren von A lauten

λ1,2 = ±iω, z1 =(

1

−i

)=

(1

0

)+ i

(0

−1

)= x+ iy, z2 =

(i

−1

).

Page 116: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

116 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Nach (3.14) gilt nun

u1(t) = cos(ωt)

(1

0

)− sin(ωt)

(0

−1

)=

(cos(ωt)sin(ωt)

),

u2(t) = cos(ωt)

(0

−1

)+ sin(ωt)

(1

0

)=

(sin(ωt)−cos(ωt)

).

Wenn wir −u2 statt u2 verwenden, erhalten wir die normierte Fundamentalmatrix

etA = exp

(0 −tωtω 0

)=(u1(t) −u2(t)

)=

(cos(ωt) −sin(ωt)sin(ωt) cos(ωt)

).

(ii) Betrachte die lineare Differentialgleichung

u′ = Au mit A =

1 −2 02 0 −14 −2 −1

.

Wegen det(A − λI) = (1 − λ)(λ2 + λ + 2) sind die Eigenwerte und Eigenvektorenvon A durch

λ1,2 =1

2± iω, λ3 = 1, ω :=

1

2

√7

und

z1 = z2 =

32+ iω24

, z3 =

102

gegeben. Daraus erhalten wir das zugehorige Fundamentalsystem

u1(t) = e−t/2

cos(ωt)

3/224

− sin(ωt)

ω00

,

u2(t) = e−t/2

cos(ωt)

ω00

+ sin(ωt)

3/224

u3(t) = et

102

.

Die Fundamentalmatrix

Y (t) =(u1(t) u2(t) u3(t)

)

erfullt hierbei

Y (0) =

3/2 ω 12 0 04 0 2

, Y (0)−1 =

1

0 2ω 04 1 −20 −4ω 2ω

.

Page 117: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 117

Das normierte Fundamentalsystem ist

v1(t) = e−t/2

cos(ωt)

100

+

1

ωsin(ωt)

3/224

,

v2(t) = e−t/2

cos(ωt)

112

+1

ωsin(ωt)

38− 1

2ω2

12

1

− et

102

,

v3(t) = e−t/2

cos(ωt)

−1/200

− 1

ωsin(ωt)

3/412

+ et

1/201

.

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung

4.1 Losungstheorie

Wie wir bereits aus Kapitel I, § 4 wissen, konnen gewohnliche Differentialgleichungenhoherer Ordnung auf Systeme erster Ordnung von entsprechend hoherer Dimension trans-formiert werden.

Wir untersuchen daher die Konsequenzen der in den vorigen Paragraphen entwickeltenTheorie linearer Systeme 1. Ordnung fur skalare Differentialgeichungen n–ter Ordnung

(4.1) (Lu)(t) = an(t)u(n)(t) + . . .+ a1(t)u

′(t) + a0(t)u(t) = b(t), t ∈ J

wobei J ⊂ R ein Intervall und aj , b ∈ C(J,K) fur K ∈ R,C seien. L ist offensichtlichein linearer Differentialoperator

L : Cn(J,K)→ C(J,K).

Wir setzen im Folgenden an(t) 6= 0 ∀ t ∈ J voraus. Die Differentialgleichung (4.1)heißt dann regular. Anderenfalls heißt sie singular. Wir konnen im regularen Fall dieGleichung (4.1) durch an(t) dividieren. Es genugt also, wenn wir uns mit dem Fall

(4.2) (Lu)(t) = u(n)(t) + an−1(t)u(n−1)(t) + . . .+ a0(t)u(t) = b(t)

beschaftigen.

Durch v1 = u, v2 = u′, . . . , vn = u(n−1) ist (4.2) wegen

v′1 = v2...

...v′n−1 = vn

v′n = b−n∑

ν=1

aν−1vν ,

Page 118: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

118 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

aquivalent zu dem System

(4.3) v′ = A(t)v + r(t), t ∈ J,

wobei A ∈ C(J,Kn,n) und r ∈ C(J,Kn) gegeben sind durch

(4.4) A(t) =

0 1 0 · · · 0...

. . ....

.... . .

...0 . . . . . . 0 1

−a0(t) . . . . . . −an−1(t)

, r(t) =

0......0b(t)

.

Die zu (4.3) gehorige Anfangsbedingung

(4.5) v(t0) = v0 = (v0,0, . . . , v0,n−1) ∈ Kn

lautet fur die skalare Gleichung (4.2)

(4.6) u(j)(t0) = v0j , j = 0, . . . , n− 1.

Wir erhalten aus Folgerung 2.1, Kapitel II, Folgerung 5.3:

Satz 4.1 Seien aj ∈ C(J,K), (j = 0, . . . , n− 1). Dann besitzt die Anfangswertaufgabe(4.2), (4.6) fur jedes b ∈ C(J,K) und jeden Vektorv0 = (v0,0, . . . , v0,n−1) ∈ Kn genau eine Losung u ∈ Cn(J,K). Alle Losungen der ho-mogenen Differentialgleichung Lu = 0 bilden einen n–dimensionalen Unterraum U vonCn(J,K) und alle Losungen der inhomogenen Differentialgleichung Lu = b einen affinenUnterraum u+ U , wobei u hier eine spezielle Losung von (4.2) bezeichne.

Beweis: Zum Beweis ist lediglich noch Folgendes zu bemerken: Sind

v1 =

v11...v1n

, . . . , vn =

vn1...vnn

linear unabhangige Losungen des homogenen Systems (4.3), so sind auch die Funktionen

u1(t) = v11(t), . . . , un(t) = vn1 (t) linear unabhangig in Cn(J,K), denn ausn∑

j=1

αjuj = 0

folgt fur ν = 1, . . . , n− 1:

0 =n∑

j=1

αju(ν)j =

n∑

j=1

αjdν

dtνvj1 =

n∑

j=1

αjvjν+1.

Also giltn∑

j=1

αjvj = 0 und folglich α1 = . . . = αn = 0.

In Analogie zur Definition 1.4 und 1.7 fuhren wir die folgenden Begriffe ein:

Page 119: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 119

Definition 4.2

(i) Eine Menge von n linear unabhangigen Losungen u1, . . . , un ∈ Cn(J,K) vonLu = 0 heißt Fundamentalsystem der Differentialgleichung n–ter Ordnung, Lu =0. Die zugehorige Matrixfunktion

Y (t) =

u1 . . . un...

...

u(n−1)1 . . . u

(n−1)n

(t), t ∈ J

heißt Fundamentalmatrix von Lu = 0.

(ii) Seien u1, . . . , un ∈ Cn(J,K) (nicht notwendig linear unabhangige) Losungen vonLu = 0, so heißt

W (u1, . . . , un) = det

u1 . . . un...

...

u(n−1)1 . . . u

(n−1)n

die zugehorige Wronski–Determinante.

Aus Satz 1.9 (Liouville) erhalten wir wegen Spur(A(t)) = −an−1(t) die Beziehung

(4.7) W (u1, . . . , un)(t) = e−

t∫

t0

an−1(τ)dτ

W (u1, . . . , un)(t0).

Insbesondere verschwindet die Wronski–Determinante entweder identisch oder an keinemPunkt in J . Im letzten Fall bilden u1, . . . , un dann ein Fundamentalsystem, von Lu = 0.

Die Losung der inhomogenen Anfangswertaufgabe (4.3), (4.5) ergibt sich nach der Varia-tion der Konstanten Formel (2.9) zu

v(t) = Y (t)(Y (t0)−1v0 +

t∫

t0

ρ(s) ds)

mit

ρ(s) := Y (s)−1r(s) = Y (s)−1

0...0b(s)

.

Page 120: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

120 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Die Cramersche Regel liefert:

ρj(s) =1

W (u1, . . . , un)(s)det

u1 . . . uj−1 0 uj . . . un...

......

......

u(n−1)1 . . . u

(n−1)j−1 b(s) u

(n−1)j . . . u

(n−1)n

(s)

=(−1)n+jW (u1, . . . , uj−1, uj+1, . . . , un)(s)

W (u1, . . . , un)(s)b(s).

Da wir nur an der ersten Komponente von v(t) interessiert sind, erhalten wir den folgendenSatz.

Satz 4.3 Sei u1, . . . , un mit ui ∈ Cn(J,K) ein Fundamentalsystem von Lu = 0. Dannhat die Anfangswertaufgabe

Lu = b, u(t0) = . . . = u(n−1)(t0) = 0

die Losung

(4.8) u(t) =

n∑

j=1

cj(t)uj(t), cj(t) = (−1)n+j

t∫

t0

W (u1, . . . , uj−1, uj+1, . . . , un)(s)

W (u1, . . . , un)(s)b(s) ds.

Bemerkung: Man nennt (4.8) die Variation der Konstanten Formel fur die Glei-chung (4.2). Im Fall n = 2 gilt:

c1(t) = −t∫

t0

u2(s)

W (u1, u2)(s)b(s) ds, c2(t) =

t∫

t0

u1(s)

W (u1, u2)(s)b(s)ds.

Beispiele untersuchen wir im nachsten Abschnitt.

4.2 Konstante Koeffizienten

Im Fall konstanter Koeffizienten geht (4.2) uber in

(4.9) (Lu)(t) =

n∑

ν=0

aν u(ν)(t) = b(t), an = 1

Page 121: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 121

mit aν ∈ K, ν = 0, . . . , n, und bν ∈ C(J,K). Gleichung (4.3) geht uber in v′ = Av + r(t)mit

A =

0 1 0 . . . 0...

. . .. . .

. . ....

.... . .

. . . 00 . . . 0 1−a0 . . . . . . . . . −an−1

∈ K

n,n.

A heißt auch Begleitmatrix zu der Aufgabe (4.9).

Entsprechend Satz 3.8 mussen wir die Jordannormalform von A bestimmen: Durch Ent-wicklung nach der letzten Zeile folgt

det(A− λI) = det

−λ 1 0 . . . 0

0 −λ 1. . .

......

. . .. . .

. . . 00 . . . 0 −λ 1−a0 . . . . . . −an−2 −an−1 − λ

= (−1)n+1(−a0) + (−1)n+2(−a1)(−λ) + (−1)n+3(−a2)(−λ)2+ . . .+ (−1)2n−1(−an−2)(−λ)n−2 + (−1)2n(−an−1 − λ)(−λ)n−1

= (−1)n(a0 + a1λ+ . . .+ an−2λn−2 + an−1λ

n−1 + λn)

= (−1)nq(λ).

Dabei heißt q(λ) =n∑

ν=0

aν λν das charakteristische Polynom des Differentialoperators

L. Sei z ∈ Kn ein Eigenvektor von A zum Eigenwert λ, dann gilt:

Az = λz, z 6= 0⇔ zi+1 = λzi, i = 1, . . . , n− 1, und −n−1∑

v=0

aν zν+1 = λ zn, z 6= 0

⇔ zi+1 = λiz1 (i = 0, . . . , n− 1), z1 6= 0, und

(n∑

ν=0

aν λν

)z1 = 0.

Hieraus sehen wir, dass jeder Eigenvektor z1 6= 0 erfullt, so dass wir o. B. d. A. z1 = 1 an-nehmen konnen. Außerdem erhalten wir aus zi+1 = λi (i = 0, . . . , n−1), dass es zu jedemλ nur einen linear unabhangigen Eigenvektor gibt. In der Jordannormalform tritt also zujedem λ hochstens ein Block auf. Matrizen mit dieser Eigenschaft heißen nicht deroga-torisch. Aus den ersten Komponenten des in Satz 3.8 konstruierten Fundamentalsystemserhalten wir somit ein Fundamentalsystem fur L.

Page 122: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

122 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Satz 4.4

(i) Seien λ1, . . . , λk ∈ C die verschiedenen Nullstellen des charakteristischen Polynoms

q von L mit den Vielfachheiten n1, . . . , nk, wobeik∑

j=1

nj = n. Dann bilden die

Funktionen

(4.10) eλ1t, teλ1t, . . . , tn1−1 eλ1t, eλ2t, . . . , . . . , tnk−1 eλkt

ein Fundamentalsystem von L.

(ii) Sind die Koeffizienten a0, . . . , an−1 ∈ R, so erhalt man ein reelles Fundamentalsy-stem, indem man die Funktionen tνeλt und tνeλt, λ = µ+ iω, ω 6= 0 ersetzt durch

Re (tνeνt) = tνeµt cos(ωt),

Im(tνeλt) = tν eµt sin(ωt).

Bemerkung: Dass durch (4.10) Losungen der homogenen Differentialgleichung Lu = 0gegeben sind, kann man auch direkt ohne den Umweg uber die Systeme erster Ordnungeinsehen:

L(eλt) =

n∑

ν=0

aνdν

dtν(eλt) =

(n∑

ν=0

aνλν

)eλt = 0.

Ist λ eine k–fache Nullstelle von q, so gilt:

djq

dλj(λ) = 0, j = 0, . . . , k − 1

und daher fur j = 0, . . . , k − 1

L(tjeλt) =n∑

ν=0

aνdν

dtν

(tjeλt

)=

n∑

ν=0

aνdν

dtνdj

dλj

(eλt)

=n∑

ν=0

aνdj

dλjdν

dtν

(eλt)=

dj

dλj

(n∑

ν=0

aνλνeλt

)=

dj

dλj

(q(λ)eλt

)= 0.

Page 123: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN HOHERER ORDNUNG 123

Beispiel 4.5 Schwingende Feder mit Dampfung

k

−ku(t)u(t)

Ruhezustand ausgelenkter Zustand

Abbildung 4.1: Die gedampfte schwingende Feder

Die Bewegungsgleichung fur die Auslenkung u(t) zur Zeit t lautet

(4.11) mu′′(t) = −αu′(t)− ku(t)

mit der Masse m > 0, der Dampfungskonstanten α ≥ 0 und der Federkonstanten k > 0.

Mit a = αm, b = k

mordnet sich dies dem allgemeinen Fall

(4.12) Lu = u′′ + au′ + bu = 0, a, b ∈ R

unter.

Die Nullstellen des charakteristischen Polynoms von L sind

(4.13) λ± =1

2(−a±

√a2 − 4b).

Wir betrachten hier nur den Fall a ≥ 0, b > 0, der im obigen Beispiel auftritt. DasLosungsverhalten fur t→∞ sowie die Phasenbilder diskutieren wir im nachsten Kapitel.

Fall 1: 0 < b < 14a2 : λ− < λ+ < 0.

Die Losungen von (4.12) sind

u(t) = α+eλ+t + α−e

λ−t, α± ∈ R.

Dies entspricht einem stark gedampften System, alle Losungen klingen exponentiellab fur t→∞.

Fall 2: 0 < b = 14a2 : λ− = λ+ < 0.

Page 124: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

124 KAPITEL III. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Die Losungen sind von der Form

u(t) = α1eλ+t + α2te

λ+t, α1, α2 ∈ R.

Man spricht vom sog. aperiodischen Grenzfall.

Fall 3: 0 < 14a2 < b : λ± = µ± iω, µ = −a

2, ω = 1

2

√a2 − 4b.

Die reellen Losungen von (4.12) sind von der Form

u(t) = eµt(α1 cos(ωt) + α2 sin(ωt)), α1, α2 ∈ R.

Sie beschreiben gedampfte Schwingungen.

Fall 4: a = 0 < b, λ± = ±iω, ω =√b.

Jetzt liefern die Losungen

u(t) = α1 cos(ωt) + α2 sin(ωt), α1, α2 ∈ R

ungedampfte Schwingungen. Wir haben einen harmonischen Oszillator(vgl. Kapitel I, § 4.2).

Page 125: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

Kapitel IV

Qualitative Theorie und dynamischeSysteme

In den Beispielen von Kapitel III § 4 haben wir bereits das Verhalten von Losungen furt → ∞ diskutiert. Zum Beispiel kann sich die dort behandelte schwingende Feder, jenachdem ob eine Dampfung im System vorliegt oder nicht, fur t→∞ dem Ruhezustandannahern oder aber unaufhorlich weiterschwingen.

In der sog. qualitativen Theorie der Differentialgleichungen befasst man sich mitdem Verhalten der Losungen fur t → ∞ oder t → −∞. Dieses Verhalten hat durchauspraktische Relevanz, wenn in realen Experimenten soviel Zeit verstreicht, dass das Systemin seinen asymptotischen Zustand (fur t→∞) ubergegangen ist. Oftmals kann man diesesasymptotische Verhalten auch bestimmen, ohne die Losung einer Anfangswertaufgabe

(0.1) u′ = f(t, u), t ≥ t0, u(t0) = u0

explizit zu kennen.

In der Tat kann es vorkommen, dass sich das asymptotische Verhalten der Losungenu(t, u0) und u(t, u0 + h) fur jedes noch so kleine h dramatisch unterscheidet. Man sprichtdann von sensitiver Abhangigkeit vom Anfangswert; Beispiele dieser Art werdenwir im § 1 schon fur lineare Systeme mit konstanten Koeffizienten

(0.2) u′ = Au, A ∈ Cn,n, u(0) = u0

vorfinden. Ein solches Verhalten widerspricht nicht der stetigen Abhangigkeit von Losun-gen in Kapitel II, Satz 5.6, aus dem die Konvergenz

u(t, u0 + h)→ u(t, u0) fur h→ 0

immer nur gleichmaßig fur t in einem kompakten Intervall folgt.

125

Page 126: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

126 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

Die Frage nach dem asymptotischen Verhalten steht auch im Zentrum der Theorie dy-namischer Systeme, wobei jetzt zusatzlich die Abhangigkeit vom Anfangswert u0 un-tersucht wird. Bezeichnet u(t, t0, u0) die Losung von (0.1), so betrachtet man dieFlussabbildungen ϕt,t0 gegeben durch

(0.3) ϕt,t0(u0) := u(t, t0, u0).

Da man Losungen von Anfangswertaufgaben zusammensetzen kann, haben diese Flussab-bildungen die Eigenschaften

(i) ϕt0,t0 = I,

(ii) ϕt2,t1 ϕt1,t0 = ϕt2,t0 ,

so lange t0, t1, t2 im jeweiligen Definitionsbereich liegen.

Ist das System (0.1) autonom, also

(0.4) u′ = f(u), u(t0) = u0,

so gilt offensichtlich ϕt,t0 = ϕt−t0,0, es kommt also nur auf die verstrichene Zeit t− t0 an.Fur Φt := ϕt,0 gelten dann die zu (i), (ii) analogen Eigenschaften

(i’) Φ0 = I

(ii’) Φt Φs = Φt+s ∀t, s.

In der Theorie dynamischer Systeme studiert man allgemein Flusse, die die Eigenschaften(i), (ii) bzw. (i’), (ii’) besitzen (auch fur diskrete Zeiten t ∈ Z), wir verweisen z. B. aufdie umfangreichen Monographien [ku95], [kh95], [fh02], aber auch auf die elementarerenTextbucher [am95], [ap90], [au97], [ha82], [hs74], [pe93].

Im Rahmen dieser Vorlesung ist es lediglich moglich, einige wenige Aussagen zum asym-ptotischen Verhalten zu diskutieren. Diese beziehen sich auf die linearen Systeme (0.2) mitkonstanten Koeffizienten (siehe § 1) und den Liapunowschen Stabilitatssatz fur autonomeSysteme (0.4) (siehe § 2).

Page 127: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 127

1 Systeme mit konstanten Koeffizienten

1.1 Stabilitat und asymptotische Stabilitat

Mit Kapitel III, Satz 3.8 haben wir einen vollstandigen Uberblick uber die Losungen deshomogenen Systems (0.2) gewonnen. Im Folgenden sei | · | irgendeine Norm des Kn(K =R,C) und |A| die zugehorige Matrixnorm (siehe Kapitel III, § 1.1).

Satz 1.1 Fur ein System mit konstanten Koeffizienten (0.2), A ∈ Kn,n(K = R,C) sinddie folgenden Bedingungen paarweise aquivalent:

(i) Re λ < 0 fur alle Eigenwerte λ ∈ C von A,

(ii) es gibt Konstanten α,C > 0 mit

(1.1) |etA| ≤ Ce−αt ∀ t ≥ 0,

(iii) fur jede Losung u(t) von (0.2) gilt limt→∞

u(t) = 0.

Beweis: Es genugt den Satz im Fall K = C zu beweisen.

(i) ⇒ (ii) Wahle α > 0 mit Re λ < −α < 0 fur alle Eigenwerte λ von A. NachKapitel III, § 3.3 stehen in den Spalten von etAS = SetJ Funktionen der Form

(1.2) uj(t) = eλt

(j−1∑

ν=0

ν!yj−ν

), yj−ν ∈ C

n, j ≥ 1.

Sie erfullen fur t ≥ 0 die Abschatzung

|uj(t)| ≤ e(Reλ)t

j−1∑

ν=0

ν!|yj−ν|

≤ e−αt

(e(Reλ+α)t

j−1∑

ν=0

ν!

)Max

ν|yj−ν| ≤ C1e

−αt,

da die Funktionen e(Reλ+α)ttν beschrankt sind.

Ist C2 > 0 gewahlt mit |v|1 =n∑

i=1

|vi| ≤ C2|v| ∀ v ∈ Cn, so folgt

|SetJ | ≤ C2C1 e−αt

und damit |etA| ≤ |S−1|C1C2 e−αt.

Page 128: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

128 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

(ii) ⇒ (iii) Dies ist offensichtlich wegen

|u(t)| = |etAu(0)| ≤ Ce−αt|u(0)|.

(iii) ⇒ (i) Wir wenden (iii) auf die Funktionen uj(t) an, die in den Spalten der Funda-mentalmatrix etAS = SetJ stehen. Es folgt uj(t) → 0 fur t → ∞ fur jeden Eigenwert λvon A. Nehmen wir Re λ ≥ 0 an, so folgt

(1.3) |uj(t)| = eReλt

∣∣∣∣∣

j−1∑

ν=0

ν!yj−ν

∣∣∣∣∣ ≥tj−1

(j − 1)!|y1| −

j−2∑

ν=0

ν!|yj−ν|.

Nun ist y1 Eigenvektor von A, also |y1| > 0 und j ≥ 1, so dass (1.3) der Aussagelimt→∞

uj(t) = 0 widerspricht.

Bemerkung: Unter den Voraussetzungen des Satzes kann man fur jedes α, dasRe λ < −α < 0 fur die Eigenwerte λ von A erfullt, eine Norm | · |α in Cn konstruieren, sodass anstelle von (1.1) gilt

(1.4) |etA|α ≤ e−αt ∀ t ≥ 0.

Man setze dazu |u|α := sups≥0

eαs|esAu| und beachte

|u| ≤ |u|α ≤ C|u|, sowie fur t ≥ 0

|etAu|α = sups≥0

eαs|e(s+t)Au| = e−αt sups≥0

eα(s+t)|e(s+t)Au|

≤ e−αt sups≥0

eαs|esAu| = e−αt|u|α.

Definition 1.2 Ein Eigenwert λ ∈ C von A ∈ Kn,n heißt halbeinfach, wenn

Kern (A− λI) = Kern((A− λI)2)

gilt.

Zu halbeinfachen Eigenwerten gibt es also keine Hauptvektoren der Stufe ≥ 2, alle zu-gehorigen Blocke in der Jordannormalform sind daher von der Dimension 1.

Damit kann man ahnlich wie in Satz 1.1 den Fall charakterisieren, dass alle Losungen von(0.2) beschrankt sind.

Satz 1.3 Fur ein System mit konstanten Koeffizienten (0.2), A ∈ Kn,n(K = R,C) sinddie folgenden Bedingungen paarweise aquivalent.

Page 129: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 129

(i) Die Eigenwerte λ ∈ C von A erfullen Re λ ≤ 0 und sie sind halbeinfach, fallsRe λ = 0,

(ii) es gibt eine Konstante C > 0 mit

(1.5) |etA| ≤ C ∀ t ≥ 0,

(iii) jede Losung u(t), t ≥ 0 von (0.2) ist beschrankt.

Beweis: Der Beweis verlauft analog zu Satz 1.1. Es bleibt zu bemerken, dass die Funk-tionen uj(t) in (1.2) im Fall Re λ < 0 beschrankt sind und dass dies auch fur Re λ = 0 gilt,wenn nur der Index j = 1 auftritt. Umgekehrt sind die Funktionen uj(t) auch tatsachlichunbeschrankt in den Fallen Re λ > 0 bzw. Re λ = 0, j > 1.

Wir nehmen die Satze 1.1 und 1.3 zum Anlass fur eine Definition.

Definition 1.4 Die Nulllosung u(t) = 0 von (0.2) heißt

— asymptotisch stabil, falls eine der aquivalenten Bedingungen von Satz 1.1 erfulltist,

— stabil, falls eine der aquivalenten Bedingungen von Satz 1.3 erfullt ist,

— instabil, falls sie nicht stabil ist.

Bemerkung: Asymptotische Stabilitat bedeutet, dass jede Losung mit u(0) = u0 6= 0wieder zu 0 zuruckkehrt ( lim

t→∞u(t) = 0), wahrend Stabilitat lediglich besagt, dass jede

Losung mit u(0) = u0 6= 0 sich nicht wesentlich weiter von der Null entfernen kann(|u(t)| ≤ C|u0| ∀ t ≥ 0). Im folgenden § 2 werden wir diese Begriffe allgemein furnichtlineare Systeme definieren.

Ein einfaches Beispiel, fur das die Nulllosung instabil ist, wird gegeben durch das zweidi-mensionale System

u′ =

(−1 00 1

)u, u(0) = u0.

Im Fall u0 =(a0

)gilt u(t) =

(a e−t

0

)→ 0 fur t → ∞, jedoch fur jedes ǫ 6= 0 im Fall

u0 =(aǫ

)

|u(t)| =∣∣∣∣(e−taetǫ

)∣∣∣∣→∞ fur t→∞.

Hier hangt das asymptotische Verhalten also sensitiv vom Wert in der zweiten Kompo-nenten des Startvektors ab!

Page 130: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

130 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

Im instabilen Fall kann es durchaus Losungen von (0.2) geben, fur die u(t)→ 0 furt → ∞ gilt. Die zugehorigen Startwerte kommen jedoch i.a. aus einem niederdimen-sionalen Teilraum (der von den Eigenvektoren zu Eigenwerten mit Re λ < 0 bzw. zuhalbeinfachen Eigenwerten mit Re λ = 0 aufgespannt wird). Sowie der Startvektor einenAnteil im Komplementarraum besitzt, divergiert die zugehorige Losung.

1.2 Inhomogene Systeme und ein makrookonomisches Beispiel

Wir konnen die vorangegangenen Uberlegungen leicht auf inhomogene Systeme der Form

(1.6) u′ = Au+ r, A ∈ Kn,n, r ∈ R

n

ubertragen. Jeder Vektor u ∈ Kn mit

(1.7) 0 = Au+ r

heißt ein Gleichgewicht oder stationarer Zustand von (1.6). Ist A invertierbar, sogibt es genau ein solches Gleichgewicht

(1.8) u = −A−1r.

Ist u(t) Losung von (1.6), so lost v(t) = u(t)− u die Aufgabe

v′ = u′ = A(v + u) + r = Av.

Aus Satz 1.1 folgt also die Aquivalenz von

(1.9) limt→∞

u(t) = u fur alle Losungen von (1.6)

und

(1.10) Re λ < 0 fur alle Eigenwerte λ von A.

In diesem Fall wird das Gleichgewicht wiederum asymptotisch stabil genannt.

Ubungsaufgabe: Man uberlege sich, unter welchen Voraussetzungen an r und die Eigen-werte von A im Fall einer singularen Matrix A der Grenzwert lim

t→∞u(t) fur alle u(0) = u0

existiert und bestimme diesen Grenzwert.

Beispiel (Ein Guter–Geldmarktmodell)

In einer nur auf Guter– und Geldmenge beruhenden Okonomie bezeichne

Y = Y (t) Produktionsmenge = Gutermenge zur Zeit t,z = z(t) Zinssatz zur Zeit t.

Die zur Zeit t am Kapitalmarkt nachgefragte Geldmenge ist

Page 131: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 131

Md = p Y (t) 1α, p : Preisniveau, α Umlaufgeschwindigkeit der Geldmenge pro Jahr

Ms Geldangebot (von t unabhangig) .

Die Anderung des Zinssatzes ergibt sich aus der Differenz von nachgefragter und angebo-tener Geldmenge

(1.11) z′ = β(Md −Ms), β Elastizitatsfaktor .

Fur die Produktionsdynamik nimmt man entsprechend an, dass sie sich aus der Differenzvon nachgefragten und angebotenen Gutern ergibt

(1.12) Y ′ = ρ(Y d − Y s),

wobei

ρ > 0 : Elastizitatsfaktor

Y s = Y (t) : angebotene Gutermenge

Y d = C + I : nachgefragte Geldmenge C = Konsum, I = Investition

C = cY + γ : Konsum zusammengesetzt aus Grundkonsum γ und Produktionsanteil

I = ι(δY − z) + ε : ε Grundinvestition, δY − z Investitionsanreiz, δY Profitrate ,

ι Investitionsneigung .

Fassen wir (1.11) und (1.12) zusammen, so erhalten wir das zweidimensionale System

(1.13)

(z′

Y ′

)=

(0 a1−a2 −a3

) (zY

)+

(r1r2

)

mit den folgenden Konstanten

a1 =βp

α, a2 = ρι, a3 = ρ(1− (c+ ιδ))

r1 = −βMs, r2 = ρ(γ + ε).

Wegen a1, a2 > 0 gibt es genau ein Gleichgewicht von (1.13)

(1.14) Y = − r1a1

=Msα

p, z =

1

a2(r2 − a3 Y ).

Typischerweise ist in den Anwendungen c+ιδ < 1, also a3 > 0. Die Eigenwerte der Matrixaus (1.13) sind

(1.15) λ± = −a32±√a234− a1a2.

Page 132: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

132 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

Im Fall a3 > 0 ist das Gleichgewicht asymptotisch stabil. Fur a23 > 4a1a2 haben wirλ− < λ+ < 0 und es liegt ein stabiler Knoten vor (siehe den folgenden § 1.3). DieKonvergenz zum Gleichgewicht ist oszillatorisch (komplexe EW’e) im Fall

a23 < 4a1a2 ⇔ ρ(1− (c+ ιδ))2 <4ιβp

α.

Dies tritt insbesondere dann auf, wenn ρ sehr klein ist, wenn sich also die Produktionnur langsam dem Kapitalmarkt anpasst (siehe (1.12)). Andererseits ist das Gleichgewichtselbst (siehe (1.14)) von der Große ρ vollig unabhangig.

1.3 Zweidimensionale Systeme

Es lohnt sich, die Ergebnisse aus Kapitel III, § 3.3 im Zusammenhang mit den asympto-tischen Aussagen dieses Kapitels speziell fur zweidimensionale reelle Systeme

(1.16) u′ =

(a bc d

)u, A =

(a bc d

)∈ R

n,n

zusammenzustellen. Die Eigenwerte von A sind

(1.17) λ± =1

2(T ±

√T 2 − 4D)

mit

(1.18) T = a+ d (Spur) , D = det A = ad− bc (Determinante).

Im Fall T 2 6= 4D ist λ+ 6= λ− und es liegt der diagonalisierbare Fall vor

(1.19) A(z+ z−

)=(z+ z−

) (λ+ 00 λ−

).

Die Eigenvektoren z± sind fur 4D < T 2 reell und fur 4D > T 2 konjugiert komplex vonder Form

(1.20) z± = x± iy, x, y ∈ R2.

Im Fall T 2 = 4D ist λ± = 12T ein doppelter Eigenwert. Diagonalisierbar ist A dann nur

noch im Fall

A =

(a 00 a

), λ± = a.

In allen anderen Fallen ist A nicht diagonalisierbar und die Normalform ist

(1.21) A(z+ z−

)=(z+ z−

)(λ+ 10 λ+

), λ+ =

1

2T =

1

2(a+ d)

Page 133: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 133

wobei z+ Eigenvektor zu λ+ und z− Hauptvektor zweiter Stufe zu λ+ = λ− ist.

Fur das Verhalten t → ∞ der Losungen ist entscheidend, in welchen Halbebenen von C

die Eigenwerte liegen, siehe das folgende Diagramm.

stabiler Knoten

stabile Linie

stabiler Fokus

Knoten

stabileruneigentlicher

Zentrum

stabiler Strudel instabiler Knoten

instabile Linie

instabiler Strudel

Knoten

instabiler Fokus

instabileruneigentlicher

neutrale Liniestationäre EbeneSattel Sattel

T

D

D = 14T 2

Abbildung 1.1:

Nach Satz 1.1 ist die Nulllosung genau dann asymptotisch stabil, wenn

(1.22) T = a+ d < 0, D = ad− bc > 0

gilt. Zusatzlich ist sie nach Satz 1.3 stabil in den Fallen

T = 0, D > 0 bzw. T < 0, D = 0 bzw. A = 0.

Im Folgenden geben wir die Phasenbilder zu den einzelnen in Abbildung 1.1 bereits be-nannten Fallen an.

I Diagonalisierbarer Fall

Die Eigenvektoren seien z± wie in (1.19).

Alle reellen Losungen sind dann von der Form

(1.23) u(t) = α+eλ+tz+ + α−e

λ−tz− =(eλ+tz+ eλ−tz−

) (α+

α−

),

Page 134: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

134 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

wobei α± ∈ R, falls λ± ∈ R, und α+ = α− ∈ C im komplexen Fall zu wahlen sind.

1. Sattel D < 0, λ− < 0 < λ+

u(t)→∞, falls α+ 6= 0

0 sonstfur t→∞.

Man beachte, dass fur die Koordinaten im (z+, z−) Koordinatensystem gilt

(1.24) eλ−t = (eλ+t)λ−/λ+ ,

wobei λ−λ+

< 0.

λ− λ+

z−

z+

Abbildung 1.2:

2. Stabiler Knoten 0 < D < 14T 2, T < 0

Es gilt u(t)→ 0 fur t→∞, und λ−λ+

> 1.

λ− λ+

z−

z+

Abbildung 1.3:

3. Instabiler Knoten 0 < D < 14T 2, T > 0

Es gilt u(t)→∞ fur t→∞ falls |α+|+ |α−| > 0. Außerdem ist 0 < λ−λ+

< 1.

Page 135: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 135

λ− λ+

z−

z+

Abbildung 1.4:

4. Stabiler Strudel 14T 2 < D, T < 0

Wie in (1.20) ist z± = x± iy, λ± = µ± iω, µ = T2, ω =

√14T 2 −D.

Nach Kapitel III, § 3.4 sind die reellen Losungen von der Form

(1.25) eµt(x y

) ( cos(ωt) sin(ωt)−sin(ωt) cos(ωt)

) (α

β

)

mit α, β ∈ R.

λ−

λ+

Im z±

Re z±

Abbildung 1.5:

Es gilt u(t)→ 0 fur t→∞.

5. Instabiler Strudel 14T 2 < D, T > 0

Wir haben dieselben Losungen wie in (1.25) nur mit µ = T2> 0.

λ−

λ+

Im z±

Re z±

Abbildung 1.6:

Page 136: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

136 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

6. Stabile Linie D = 0, T < 0

Fur die Losungen gilt wie in (1.23)

u(t) = α+z+ + α− eλ−tz−, λ− < 0

und wir erhaltenu(t)→ α+z+ fur t→∞.

Alle Punkte in span z+ sind stationar und stabil.

λ− λ+

z−

z+

Abbildung 1.7:

7. Instabile Linie D = 0, T > 0

Jetzt gilt entsprechendu(t) = α+e

λ+tz+ + α−z−

undu(t)→∞ falls α+ 6= 0.

Alle Punkte in spanz− sind stationar und instabil.

λ−λ+

z−

z+

Abbildung 1.8:

8. Zentrum D > 0, T = 0.

Die Losungen sind durch (1.25) mit µ = 0 gegeben

u(t) =(x y

) ( cos(ωt) sin(ωt)−sin(ωt) cos(ωt)

) (α

β

)

Page 137: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 137

u(t) ist periodisch mit der Periode T = 2πω

und der Nullpunkt ist stabil.

λ−

λ+

Im z±

Re z±

Abbildung 1.9:

9. Stabiler Fokus A =

(a 00 a

), T = 2a < 0, D = 1

4T 2

Die Losungen haben die Form

(1.26) u(t) = eat(α+z+ + α−z−) = eatu(0)

und es giltλ−λ+

= 1.

λ−= λ+

z−

z+

Abbildung 1.10:

10. Instabiler Fokus A =

(a 00 a

), T = 2a > 0

Die Losungen sind wieder durch (1.26) gegeben, wobei die Nulllosung jetzt instabil ist.

λ−= λ+

z−

z+

Abbildung 1.11:

Page 138: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

138 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

11. Nullsystem A = 0, alle Punkte in R2 sind stationar und stabil.

II Nichtdiagonalisierbarer Fall

Jetzt ist D = 12T 2 und λ+ = λ− = λ = T

2= 1

2(a + d) ist algebraisch doppelter und

geometrisch einfacher Eigenwert.

An die Stelle von (1.19) tritt (vgl. (1.21))

(1.27) A(z1 z2

)=(z1 z2

) (λ 10 λ

)

und die Losungen sind von der Form

(1.28) u(t) =(z1 z2

)eλt(1 t0 1

) (α

β

)= eλt((α + tβ)z1 + βz2).

12. Uneigentlicher stabiler Knoten D = 14T 2, T < 0

Es giltu(t)→ 0 fur t→∞. Im (z1, z2) Koordinatensystem schreibt sich die erste Koordi-nate α1 = eλt(α + tβ) als Funktion der zweiten α2 = β eλt wie folgt:

α1 =α

βα2 +

α2

λln(α2

β

).

λ−= λ+

z2

z1

Abbildung 1.12:

13. Uneigentlicher instabiler Knoten D = 14T 2, T > 0

Aus (1.28) folgt jetzt |u(t)| → ∞, falls (α, β) 6= (0, 0).

λ−= λ+

z2

z1

Abbildung 1.13:

Page 139: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. SYSTEME MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 139

14. Neutrale Linie D = 0, T = 0

Nach (1.28) haben wir die Losungen

u(t) = z1(α− βt) + βz2

und es gilt

limt→∞

u(t) =∞, falls β 6= 0, und u(t) = u(0) ∀ t, falls β = 0.

λ−= λ+ = 0

z2

z1

Abbildung 1.14:

1.4 Stabilitat fur Differentialgleichungen zweiter Ordnung

Wir kommen im Lichte der asymptotischen Aussagen von § 1.3 noch einmal auf dieDifferentialgleichung zweiter Ordnung (siehe Kapitel III, (4.12)) zuruck

(1.29) Lu = u′′ + au′ + bu = 0, a, b ∈ R.

Sie lasst sich mittels v = u′ schreiben als

(1.30)

(u

v

)′=

(0 1−b −a

) (u

v

).

Die Aussagen von § 1.3 gelten also mit T = −a, D = b und

(1.31) λ± =1

2(−a±

√a2 − 4b), vgl. Kapitel III, (4.13) .

Die in Kapitel III, § 4 aufgefuhrten Falle fur a, b ≥ 0 ordnen sich damit den folgendenPhasenbildern zu.

Fall 1: Stabiler Knoten (stark gedampftes System)

0 < b <1

4a2, λ− < λ+ < 0.

Page 140: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

140 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

Die Eigenvektoren sind z± =

(1λ±

)mit den Losungen

u(t) = α+ eλ+t + α−eλ−t, α± ∈ R.

u

u′

z−

z+t

u0

Losung furu(0) = u0, u

′(0) = v0,v0 variiert.

Abbildung 1.15:

Fall 2: Uneigentlicher stabiler Knoten (aperiodischer Grenzfall)

b =1

4a2, λ− = λ+ = −a

2< 0.

Eigenvektor: z1 =

(1λ+

)

Hauptvektor: z2 =

(01

)(nur eindeutig bis auf Vielfache von z1)

Losungen: u(t) = α1eλ+t + α2te

λ+t.

u

u′

z+t

u0

Losung furu(0) = u0 > 0, u′(0) = v0,v0 variiert.

Abbildung 1.16:

Fall 3: Stabiler Strudel (gedampfte Schwingung)

b >1

4a2 > 0, λ± = µ± iω, µ = −a

2, ω =

1

2

√a2 − 4b

Page 141: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. STATIONARE PUNKTE UND IHRE STABILITAT 141

Losungen: u(t) = e−at/2 (α1 cos(ωt) + α2 sin(ωt)).

u′

ut

u0

π2ω

πω

3π2ω

2πω

Abbildung 1.17:

Fall 4: Zentrum (harmonische Schwingung)

a = 0 < b, λ± = ± iω, ω =√b

Losungen: u(t) = α1 cos(ωt) + α2 sin(ωt).

u′

ut

u0

π2ω

πω

3π2ω

2πω

Abbildung 1.18:

2 Stationare Punkte und ihre Stabilitat

2.1 Begriffsbildungen

Wie in (0.4) betrachten wir ein autonomes Differentialgleichungssystem

(2.1) u′ = f(u),

wobei wir f ∈ C(Ω,Rn), Ω ⊂ Rn offen, voraussetzen.

Definition 2.1 Ein Vektor u ∈ Ω mit f(u) = 0 heißt stationarer Punkt oder Gleich-gewicht von (2.1).

Page 142: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

142 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

Wenn u ∈ Ω ein stationarer Punkt von (2.1) ist, so ist offensichtlichu(t) = u ∀ t ∈ R eine Losung von (2.1) zum Anfangswert u(0) = u0; dennu′(t) = 0 = f(u) = f(u(t)) ∀ t ∈ R.

Die meisten Beispiele aus Kapitel I haben solche stationaren Punkte.

1. Populationsentwicklung (Kapitel I, § 2.1, Beispiel 1)

(2.2) u = u(α− βu), α, β > 0.

Stationare Punkte: u1 = 0, u2 = αβ.

2. Reaktionskinetik (Kapitel I, § 2.1, Beispiel 5)

(2.3)

u1u2u3

= k u1u2

−1−11

, k > 0.

Hier sind alle Punkte der Form

u1 =

0∗∗

und u2 =

∗0∗

stationar .

3. Teilchen im Potential (Kapitel I, § 4.1 und 4.2)

(2.4)

(u1u2

)′=

(u2

f(u1)

)=: g(u).

Stationare Punkte: u =(q0

)wobei f(q) = 0.

Die Punkte (q, q′) = (q, 0) sind stationare Punkte von q′′ = f(q). Dies gilt auch nochfur gedampfte Oszillatoren q′′ = f(q)− αq′ (α 6= 0) (Kapitel I, § 4.2, Beispiel 3).

4. Rauber–Beute Modell nach Lotka–Volterra

(2.5)

(u1u2

)′=

(u1(α− βu2)u2(−γ + δu1)

), α, β, γ, δ > 0.

Stationare Punkte: u1 =(00

), u2 =

( γδαβ

).

Page 143: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. STATIONARE PUNKTE UND IHRE STABILITAT 143

Im Folgenden untersuchen wir, wann die Losungen u(t, u0) von (2.1) fur u0 in einer Um-gebung eines stationaren Punktes u fur t→∞ gegen u konvergieren.

Definition 1.4 wird wie folgt fur nichtlineare Systeme erweitert (vgl. auch § 1.2).

Definition 2.2 Sei f ∈ C(Ω,Rn) lokal Lipschitz beschrankt.

Ein stationarer Punkt u ∈ Ω von (2.1) heißt

— stabil, wenn es zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt mit

(2.6) |u0 − u| ≤ δ ⇒ |u(t, u0)− u| ≤ ε ∀t ≥ 0

— asymptotisch stabil, falls er stabil ist und ein δ0 > 0 existiert mit

(2.7) |u0 − u| ≤ δ0 ⇒ limt→∞

u(t, u0) = u

— instabil, falls er nicht stabil ist.

Bemerkungen

1. Ohne dass wir es explizit gesagt haben, wird in den Implikationen (2.6), (2.7) dieExistenz der Losung u(t, u0) fur alle t ≥ 0 mit behauptet.

2. Man sieht leicht, dass Definition 2.2 eine Verallgemeinerung von Definition 1.4 ist.Gilt |etA| ≤ C ∀ t ≥ 0und wahlt man δ = ε

C, so folgt aus |u0| ≤ δ stets

|u(t, u0)| = |etAu0| ≤ C|u0| ≤ Cδ = ε.

Umgekehrt sei (2.6) erfullt. Zu ε = 1 existiert dann ein δ > 0 mit

|etAu0| ≤ 1 ∀ t ≥ 0, |u0| ≤ δ

und damit |etA| = sup|u0|≤1

|etAu0| ≤ 1δ∀ t ≥ 0.

Weiter folgt aus (0.4) offensichtlich die asymptotische Stabilitat gemaß Definition2.2. Umgekehrt liefert (2.7)

limt→∞|etAu0| = 0 fur |u0| ≤ δ0.

und damit etAu0 =|u0|δ0

etA(

δ0|u0| u0

)→ 0 fur t→∞, u0 ∈ Rn, also Bedingung (iii)

von Satz 1.1.

Page 144: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

144 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

3. Wir haben bereits Beispiele, in denen stationare Punkte auftreten, die zwar stabil,aber nicht asymptotisch stabil sind. Wir nennen das Zentrum aus § 1.3 und dasBeispiel (2.3) aus der Reaktionskinetik, bei dem ein Kontinuum von stationarenPunkten existiert (was der asymptotischen Stabilitat widerspricht), die sehr wohlstabil sind (z. B. u = (c0 − e0, 0, e0)T im Fall c0 > e0, vgl. Kapitel I, § 2.1, Beispiel5).

4. Es gibt auch Beispiele, in denen zwar die asymptotische Aussage (2.7) gilt, aberdennoch keine Stabilitat vorliegt. Ohne es explizit zu konstruieren, geben wir einBeispiel in Form eines zweidimensionalen Phasenbildes an.

Abbildung 2.1:

2.2 Der Stabilitatssatz von Liapunow

Sei u ∈ Ω ein stationarer Punkt von (2.1) und f ∈ C1(Ω,Rn).

Solange sich die Losung u(t, u0) fur u0 nahe u in der Nahe von u aufhalt, konnen wir fnach Taylor entwickeln

(2.8)d

dt(u(t, u0)− u) = f(u(t, u0)) = f(u) +Df(u)(u(t, u0)− u) + o(|u(t, u0)− u|).

Die Differenz ∆(t) = u(t, u0)−u genugt also in erster Naherung einer homogenen Aufgabe

(2.9) ∆′(t) ≈ Df(u)∆, ∆(0) = u0 − u.

Also kommt es offenbar auf die Lage der Eigenwerte von Df(u) ∈ Rn,n an.

Satz 2.3 (Stabilitatssatz von Liapunow) Sei f ∈ C1(Ω,Rn) und u ∈ Ω ein stati-onarer Punkt von (2.1).

Page 145: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. STATIONARE PUNKTE UND IHRE STABILITAT 145

Dann gelten

(i) Reλ < 0 fur alle Eigenwerte λ von Df(u)⇒ u asymptotisch stabil

(ii) Reλ > 0 fur mindestens einen Eigenwert λ von Df(u)⇒ u instabil.

Bemerkung: Die Aussage (ii) wird auch als Instabilitatssatz bezeichnet, sie wird erstim folgenden Abschnitt bewiesen.

Man kann (ii) auch wie folgt formulieren

u stabil ⇒ Reλ ≤ 0 fur alle EW λ von Df(u),

das ist (anders als im linearen Fall) nur eine teilweise Umkehrung von (i). Im folgendenAbschnitt diskutieren wir, warum Charakterisierungen wie im linearen Fall (Satz 1.1, Satz1.3) im nichtlinearen Fall i. A. nicht gelten.

Beweis von (i): Wir setzen A = Df(u) und finden nach Satz 1.1, (1.4) ein α > 0 undeine Norm | · |α in Rn mit

(2.10) |etA|α ≤ e−αt ∀ t ≥ 0.

Sei ε > 0 wie in Definition 2.2 vorgegeben. Da Df stetig ist, existiert ein δ < ε2mit

(2.11) |v − u|α ≤ 2δ ⇒ v ∈ Ω und |Df(v)−Df(u)|α ≤α

2.

Sei jetzt |u0 − u|α ≤ δ und J(u0) das maximale Existenzintervall fur die Losung u(t, u0)von u′ = f(u), u(0) = u0 in K2δ(u) = v ∈ Rn : |v − u|α < 2δ (siehe Kapitel II,Satz 5.2).

Setzen wir ∆(t) = u(t, u0)− u, t ∈ J(u0), so folgt aus (2.8) mit dem Mittelwertsatz

(2.12) ∆′(t) = A∆(t) + g(∆(t)), t ∈ J(u0)

wobei

(2.13) g(v) =

1∫

0

[Df(u+ τv)−Df(u)] vdτ.

Nach der Variation der Konstanten Formel Kapitel III, (3.12) folgt

(2.14) ∆(t) = etA∆(0) +

t∫

0

e(t−s)A g(∆(s))ds, t ∈ J(u0).

Page 146: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

146 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

Wir schatzen mit Hilfe von (2.10) und (2.11) fur t ∈ J(u0), t ≥ 0 ab

|∆(t)|α ≤ e−αt|∆(0)|+t∫

0

e−α(t−s)|g(∆(s)|ds

≤ e−αtδ +

t∫

0

e−α(t−s)α

2|∆(s)|ds.

Fur die Funktion ϕ(t) := eαt|∆(t)|α, t ∈ J(u0), t ≥ 0 gilt daher

(2.15) ϕ(t) ≤ δ +α

2

t∫

0

ϕ(s)ds

und damit nach dem Gronwall–Lemma (Kapitel II, Lemma 5.4) ϕ(t) ≤ eα2tδ, d.h.

(2.16) |u(t, u0)− u|α = |∆(t)|α ≤ e−α2tδ fur t ∈ J(u0), t ≥ 0.

Also bleibt u(t, u0) in einer δ–Kugel um u und nahert sich dem Rand von K2δ(u) nichtan. Nach Kapitel II, Satz 5.2 folgt also [0,∞) ⊂ J(u0). Daher liefert (2.16) die Stabilitats-aussage |u(t, u0)− u| ≤ δ ≤ ε fur alle t ≥ 0 und gleichzeitig die Asymptotik (2.7).

Bemerkung: Der Beweis zeigt (siehe (2.16)), dass die Konvergenz gegen u sogar expo-nentiell ist

u(t, u0)− u = O(e−αt),

wobei Reλ < −α < 0 fur alle Eigenwerte λ von Df(u) gilt. Wenn man die Norm geeignetwahlt (siehe | · |α in (1.4)), kann man sogar δ = ε in der Definition 2.2 erreichen.

Beispiele

1. Populationsentwicklung (2.2)

f(u) = u(α− βu).u1 = 0 ist instabil wegen f ′(0) = α > 0 und u2 = α

βist asymptotisch stabil wegen

f ′(αβ) = −α < 0.

2. Teilchen im Potential (2.4)

Fur u =(q0

)folgt Dg(u) =

(0 1

f ′(q) 0

).

Im Fall f ′(q) > 0 sind die Eigenwerte λ± = ±√f ′(q) und u ist instabil (vgl. die

Punkte qn = nπ, n ungerade, beim mathematischen Pendel Kapitel I, § 4.2).

Page 147: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. STATIONARE PUNKTE UND IHRE STABILITAT 147

Im Fall f ′(q) < 0 sind die Eigenwerte λ± = ±i√|f ′(q)| und Satz 2.3 macht keine

Aussage (siehe jedoch § 4.2 unten). Fuhrt man Dampfung ein (Kapitel I, (4.52))

u′ = g(u) =

(u2

f(u1)− α u2

), α > 0

so gilt fur die Matrix

Dg(u) =

(0 1

f ′(u) −α

)

die Beziehung (vgl. § 1.3)

Spur = T = −α < 0, Det = D = −f ′(u)

und Satz 2.3 liefert Instabilitat fur f ′(u) > 0 und asymptotische Stabilitat furf ′(u) < 0 (vgl. Kapitel I, Abbildung 4.15).

2.3 Beweis des Instabilitatssatzes

Fur den Beweis von Satz 2.3 (ii) verwenden wir anstelle der angepassten Norm mit (2.10)das folgende Lemma.

Lemma 2.4 Sei A ∈ Rn,n und α ≤ β gegeben mit

(2.17) Re λ /∈ [α, β] fur alle Eigenwerte λ ∈ C von A.

Dann gibt es eine Zerlegung Rn = X− ⊕X+ in invariante Teilraume von A und Normen| · |± in X± mit

(2.18) |etA− |− ≤ eαt, |e−tA+ |+ ≤ e−βt ∀ t ≥ 0.

Hierbei bezeichnet A− = A|X−bzw. A+ = A|X+

die jeweilige Einschrankung von A auf X−bzw. X+.

Beweis: X− bzw. X+ wird aufgespannt von allen Eigenvektoren und Hauptvektorenvon A zu Eigenwerten λ mit Re λ < α bzw. Re λ > β. Wenn λ ∈ C\R gilt, so ist auchλ Eigenwert von A und man verwende Real– und Imaginarteil des Eigenvektors bzw.Hauptvektors (vgl. Kapitel III, § 3.4). Damit gilt Re λ < α fur jeden Eigenwert λ von A−und Re λ < −β fur jeden Eigenwert λ von −A+. Anwendung von Satz 1.1, (1.4) auf A−und −A+ liefert die Behauptung.

Page 148: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

148 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

Beweis von Satz 2.3 (ii): Wahle zunachst α, β mit

(2.19) 0 < α < β < Min Re λ : λ EW von A, Re λ > 0

und bestimme Rn = X− ⊕X+ und | · |± nach Lemma 2.4. Seien

P+ : Rn → X+, P− = I − P+ : Rn → X− die entsprechenden Projektoren. Da wenigstensein Eigenwert λ von A mit Re λ > 0 existiert, ist X+ 6= 0 und P+ 6= 0.

Wir versehen Rn mit der angepassten Norm

(2.20) |v|0 := Max (|P+v|+, |P−v|−).

Aus (2.18) folgt dann fur alle v ∈ Rn, t ≥ 0

(2.21) |etAP−v|− ≤ eαt|P−v|−, |e−tAP+v|+ ≤ e−βt|P+v|+.

Ferner bemerken wir

(2.22) |etA|0 ≤ et|A|0 fur t ≥ 0

und wahlen ε > 0 mit

(2.23) 2εe|A|0 ≤ β − α.

Dazu gibt es ein δ > 0 mit (vgl. (2.11))

(2.24) |v − u|0 ≤ δ ⇒ v ∈ Ω, |Df(v)−Df(u)|0 ≤ ε.

Wir betrachten jetzt den Kegel (siehe Abbildung)

K = u+ v ∈ Rn : |P−v|− ≤ |P+v|+

und zeigen

(2.25)u0 ∈ K, u(t, u0) ∈ Kδ(u) fur 0 ≤ t ≤ 1 ⇒u(t, u0) ∈ K und |u(t, u0)− u|0 ≥ eαt|u0 − u|0 fur 0 ≤ t ≤ 1.

Kδ(u)

K

uu0

u(t, u0)

X−

X+

Page 149: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. STATIONARE PUNKTE UND IHRE STABILITAT 149

Die Aussage (2.25) besagt, dass Trajektorienstucke, die in K starten und in Kδ(u) bleiben,bereits in K liegen und ihren Abstand zu u exponentiell vergroßern.

Wir setzen ∆(t) = u(t, u0)− u und schatzen zunachst mit Hilfe von (2.12)–(2.14) wie imBeweis von Teil (i) fur 0 ≤ t ≤ 1 ab

|∆(t)|0 ≤ et|A|0 |∆(0)|0 +t∫

0

e(t−s)|A|0 ε|∆(s)|0 ds.

Auf ϕ(t) = e−t|A|0 |∆(t)|0 lasst sich das Gronwall Lemma anwenden und liefertϕ(t) ≤ eǫt |∆(0)|0 und

(2.26) |∆(t)|0 ≤ et(|A|0+ε) |∆(0)|0 ∀ t ∈ [0, 1].

Nun projizieren wir (2.14) mit P− und erhalten aus der Definition von K und (2.20)–(2.26)

|P−∆(t)|− ≤ |P−etA∆(0)|− + |

t∫

0

e(t−s)A g(∆(s))ds|0

≤ |etAP−∆(0)|− +

t∫

0

|e(t−s)A|0 |g(∆(s))|0 ds

≤ eαt|P−∆(0)|− +

t∫

0

e(t−s)|A|0 · ε|∆(s)|0 ds

≤ eαt|P+∆(0)|+ + et|A|0t∫

0

εeεs ds|∆(0)|0

≤ [eαt + (eεt − 1)et|A|0] |P+∆(0)|+ ≤ [eαt + (eεt − 1)e|A|0] |P+∆(0)|+.

Entsprechend erhalt man aus der Projektion mit P+ und (2.21)

|P+∆(t)|+ ≥ |etA P+∆(0)|+ −t∫

0

|e(t−s)A|0 |g(∆(s))|0 ds

≥ [eβt − (eǫt − 1)e|A|0]|P+∆(0)|+.

Benutzen wir die aus (2.23) folgende Ungleichung (Ubungsaufgabe!)

(2.27) 2(eεt − 1)e|A|0 + eαt ≤ eβt ∀t ∈ [0, 1],

so folgt durch Zusammensetzen der Abschatzungen

|P−∆(t)|− ≤ |P+∆(t)|+ fur 0 ≤ t ≤ 1,

Page 150: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

150 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

also u(t, u0) ∈ K fur 0 ≤ t ≤ 1.

Außerdem erhalten wir aus der Abschatzung von P+∆(t), 0 ≤ t ≤ 1

(2.28) |u(t, u0)− u|0 ≥ |P+∆(t)|+ ≥ eαt|P+∆(0)|+ = eαt |∆(0)|0.

Die Aussage (2.25) widerspricht der Stabilitat von u. Falls u stabil ist, so existiert einδ0 > 0 mit

(2.29) |u0 − u|0 ≤ δ0 ⇒ |u(t, u0)− u|0 ≤ δ ∀t ≥ 0.

Wahlen wir u0 ∈ Kδ0(u)∩K mit u0 6= u, so konnen wir (2.25) induktiv auf die Startwerteu(n, u0), n ∈ N anwenden und erhalten fur n ≤ t ≤ n+ 1

|u(t, u0)− u|0 = |u(t− n, u(n, u0))− u|0 ≥ eα(t−n)|u(n, u0)− u|0≥ eα(t−n)eαn|u0 − u|0 = eαt|u0 − u|0.

Damit folgt|u(t, u0)− u|0 →∞ fur t→∞

im Widerspruch zu u(t, u0) ∈ Kδ(u) ∀t ≥ 0.

Bemerkung: Die Aussage (2.25) zeigt, dass alle Trajektorien, die in einem Kegel umu + X+ starten, jede noch so kleine Umgebung von u verlassen mussen. Man kann indem obigen Beweis den Kegel K durch einen Kegel mit beliebigen Offnungswinkel γ > 0ersetzen

Kγ = u+ v ∈ Rn : |P−v|− ≤ γ|P+v|+,

wobei dann allerdings δ = δ(γ) klein wird fur großes γ > 0. Man vergleiche dazu diePhasenbilder fur den Sattelfall in Kapitel I, § 4.2, 4.3 und § 1.3 in diesem Kapitel.

Wenn man nur Re λ ≤ 0 fur alle Eigenwerte λ von Df(u) weiß und es Eigenwerte aufder imaginaren Achse gibt, so reicht dies i. A. nicht aus, um uber die Stabilitat von u zuentscheiden. Dies zeigt das folgende Beispiel:

Beispiel: u = 0 ist instabil fur das System u′ = −u2 aber asymptotisch stabil furu′ = −u3.Mit der Trennung der Veranderlichen (Kapitel I, § 2.1) erhalt man namlich

Fall 1: f(u) = −u2, u(t, u0) = u0

1+tu0,

u(t, u0)

→ 0 fur t→∞, u0 > 0

−∞ fur t→ − 1u0, u0 < 0.

Fall 2: f(u) = −u3, u(t, u0) = u0(1 + 2 tu20)− 1

2 ,

u(t, u0)→ 0 fur t→∞, u0 ∈ R.

Page 151: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. STATIONARE PUNKTE UND IHRE STABILITAT 151

2.4 Liapunow–Funktionen

Wir haben bereits gesehen, (vgl. § 2.2, Beispiel 2), dass der Liapunowsche Stabilitatssatznichts aussagt in Fallen, bei denen Stabilitat aber keine asymptotische Stabilitat vorliegt.In diesen Fallen ist es oft nutzlich nach einer sogenannten Liapunow–Funktion

(2.30) E : Ω→ R, E ∈ C1(Ω\u,R)

zu suchen, die entlang Losungen nicht wachst, d. h.

(2.31)d

dt(E(u(t))) = DE(u(t)) u′(t) = DE(u(t)) f(u(t)) ≤ 0.

Erhaltungsgroßen (siehe Kapitel I, § 4.3) erfullen (2.31) sogar mit Gleichheit.

Die Theorie der Liapunow–Funktionen ist sehr weit ausgebaut (siehe z. B. [am95, Kap.18] und die dort angegebenen Referenzen), wir beschranken uns hier auf ein wichtigesErgebnis.

Satz 2.5 Sei Ω ⊂ Rn offen, f : Ω→ R

n lokal Lipschitz beschrankt und u ∈ Ω stationarerPunkt von (2.1).

Ferner gebe es eine Funktion E ∈ C(Ω,R) ∩ C1(Ω\u,R) mit den Eigenschaften

(2.32) E(u) < E(v) ∀ v ∈ Ω\u

(2.33) DE(v)f(v) ≤ 0 ∀ v ∈ Ω\u.

Dann ist u stabil.

Beweis: Wahle eine Kugel Kr(u) = v ∈ Rn : |v − u| ≤ r ⊂ Ω.

Gegeben 0 < ε < r, definiere m(ε) = MinE(v) : ε ≤ ||v − u|| ≤ rund beachte m(ε) > E(u) wegen (2.32). Wegen der Stetigkeit von E und (2.32) ist außer-dem

Uε := v ∈ Kr(u) : E(v) < mε

eine Umgebung von u, die nach Konstruktion Uε ⊂ Kε(u) erfullt. Fur u0 ∈ Uǫ\u seijetzt J(u0) das maximale Existenzintervall zur Anfangswertaufgabe

(2.34) u′ = f(u), u(0) = u0

in Kr(u). Dann folgt aus (2.31) und (2.33)

d

dtE(u(t, u0)) ≤ 0 ∀t ∈ J(u0),

Page 152: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

152 KAPITEL IV. QUALITATIVE THEORIE UND DYNAMISCHE SYSTEME

also E(u(t, u0)) ≤ E(u0) < mǫ ∀t ∈ R+ ∩ J(u0). Daher liegt u(t, u0) in Uε ⊂ Kε(u) furalle t ∈ J(u0), t ≥ 0, nahert sich also fur t → ∞ nicht dem Rand von Kr(u). Nach demFortsetzungssatz (Kapitel II, Satz 5.2) gilt also [0,∞) ⊂ J(u0) sowieu(t, u0) ∈ Kε(u) ∀t ≥ 0.

Aus diesem Satz folgt zum Beispiel die Stabilitat des stationaren Punktes u2 = (γδ, αβ)T

fur das Lotka–Volterra Modell (2.5) (siehe auch das Phasenbild in Kapitel I, § 4.3). Manverwende dazu das Negative der Erhaltungsgroße aus Kapitel I, (4.55)

−E(u1, u2) = −uγ1 uα2 e−δu1−βu2

als Liapunow–Funktion und rechne nach, dass D2E(u) negativ definit ist. Dann kann manSatz 2.5 mit einer hinreichend kleinen Kugel Kr(u) anstelle von Ω anwenden.

Als weitere Anwendung von Satz 2.5 betrachten wir ein System zweiter Ordnung

(2.35) q′′ = F (q)

wobei F ∈ C1(Ω,Rn), Ω ⊂ Rn offen, Gradient eines Potentials sei (vgl. Kapitel I, § 4.1,§ 4.2)

(2.36) F (q) = −∇ V (q), q ∈ Ω, V ∈ C2(Ω,R).

Mit u = (q, p)T , p = q′ transformieren wir (2.35) auf das System (vgl. Kapitel I, (4.6))

(2.37) u′ =

(q′

p′

)=

(p

F (q)

)=: f(u).

Folgerung 2.6 Sei u = (q, 0)T ∈ Ω × Rn ein stationarer Punkt von (2.37). Ist dieHesse–Matrix D2V (q) = −DF (q) positiv definit, so ist u stabil fur das System (2.37).

Ist umgekehrt u stabil fur das System (2.37), so ist D2V (q) positiv semidefinit.

Beweis: Wir verwenden fur u = (q, p)T ∈ Ω× Rn die Gesamtenergie

E(u) =1

2pTp+ V (q)

als Liapunow–Funktion. In der Tat gilt

DE(u)f(u) = (DV (q) pT )

(p

−∇V (q)

)= 0.

Page 153: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. STATIONARE PUNKTE UND IHRE STABILITAT 153

Die Hesse–Matrix von E bei u

D2E(u) =

(D2V (q) 0

0 I

)

ist nach Voraussetzung positiv definit. Daher gilt E(u) < E(v) fur v ∈ Kr(u) ⊂ Ω, wennr hinreichend klein gewahlt wird. Satz 2.5 ist also mit Kr(u) an Stelle von Ω anwendbar.

Fur die zweite Aussage nehmen wir an, die symmetrische Matrix D2V (q) besitze einenEigenwert λ < 0 mit Eigenvektor q ∈ Rn. Dann folgt

Df(u)

(q√−λ q

)=

(0 I

−D2V (q) 0

) (q√−λ q

)=√−λ(

q√−λ q

).

Daher besitzt Df(u) den positiven Eigenwert√−λ und u ist instabil nach Satz 2.3.

Aus diesem Satz erhalt man die Stabilitat des Beispiels Teilchen im Potential (2.4), fallsf(q) < 0 (vgl. auch die Phasenbilder in Kapitel I, § 4.2).

Page 154: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

Kapitel V

Randwertaufgaben

In diesem Kapitel studieren wir die Losbarkeit von nichtlinearen Randwertaufgaben derallgemeinen Form

(0.1) u′ = f(x, u), x ∈ J = [x0, x1]

(0.2) g(u(x0), u(x1)) = 0,

wobei die Funktionen f ∈ C(J × Rn,Rn), g ∈ C(Rn × R

n,Rn) gegeben seien. Aufgabendieses Typs haben wir bereits in Kapitel I, Abschnitt 1.2 kurz angesprochen.

Anders als in den vorangegangenen Kapiteln haben wir die unabhangige Variable mit xbezeichnet; denn in den Anwendungen entsteht (0.1), (0.2) in der Regel aus einer partiellenDifferentialgleichung (in der sowohl die Zeit t als auch der Ort x als unabhangige Variablevorkommen, vgl. Kapitel I, Abschnitt 1.1) und beschreibt dort eine ortsabhangige aberzeitunabhangige Losung. Dies zeigen auch unsere ersten Beispiele.

1 Beispiele, Anwendungen und Aufgabentypen

Viele Beispiele fur Randwertaufgaben entstehen aus technischen Anwendungen, insbeson-dere der Mechanik. Wir verweisen auf den klassischen Text [c66, Kap. III] und auf dieBucher [bo81], [amr88], die neben zahlreichen Anwendungsbeispielen numerische Metho-den zur Losung solcher Randwertprobleme enthalten. Viele dieser Randwertprobleme sindvon zweiter oder hoherer Ordnung.

1.1 Beipiele fur Zweipunkt–Randwertaufgaben

Beispiel 1: Eulerscher Knickstab ([bo81])

Der Winkel u(x) gegen die Vertikale eines aufrecht stehenden Stabes, der durch eine Lastλ an der Spitze gedruckt wird (siehe Abbildung), genugt der Randwertaufgabe

(1.1) (p(x)u′)′ = −λ sin(u), 0 ≤ x ≤ L

154

Page 155: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. BEISPIELE, ANWENDUNGEN UND AUFGABENTYPEN 155

(1.2) u′(0) = 0, u(L) = 0.

u(x)

x = L

x = 0

λ

Abbildung 1.1:

Hierbei hat der Stab die Lange L, die Koordinate x ∈ [0, L] gibt die Bogenlange entlang desStabes an (beginnend mit x = 0 an der Spitze) undp(x) > 0 beschreibt die Biegesteifigkeitdes Materials am Ort x. Die Randbedingungen (1.2) geben die Tatsache wieder, dassder Stab am Fuß bei x = L eingeklemmt ist, an der Spitze x = 0 dagegen frei. DieRandwertaufgabe (1.1), (1.2) hat immer die Losung u ≡ 0, man interessiert sich aber furnichttriviale Losungen, die einem durchgebogenen Zustand entsprechen.

Durch Einfuhrung der Variablen v(x) = p(x)u(x) kann man (1.1), (1.2) in ein Systemerster Ordnung bringen.

(1.3)

(u

v

)′=

( 1pv

λ sin (u)

)=: f(u, v),

(1.4) 0 =

(v(0)

u(L)

)=: g(u(0), v(0), u(L), v(L)).

Beispiel 2: Die Kettenlinie [wa93, § 11])

(1.5) u′′(x) = h√

1 + u′(x)2, a ≤ x ≤ b

(1.6) u(a) = ua, u(b) = ub.

Page 156: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

156 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

ua

x

ub

a b

Abbildung 1.2:

Hier beschreibt u(x) die Hohe einer zwischen den Aufhangepunkten (a, ua) und (b, ub)hangenden Kette (ohne Biegesteifigkeit). Die Konstante h hat die Form h = ρg

H, wobei ρ

die Dichte der Kette, g die Erdbeschleunigung, und H > 0 die in der Kette herrschendeHorizontalkraft ist. Diese kann z. B. aus der Forderung, dass die Kette eine vorgegebeneLange L besitzt, bestimmt werden:

(1.7) L =

∫ b

a

√1 + u′(x)2 dx =

b∫

a

1

hu′′(x) dx =

1

h(u′(b)− u′(a)).

Man sieht leicht, dass durch

(1.8) u(x) = c1 +1

hcosh((x+ c2)h), c1, c2 ∈ R

Losungen von (1.5) gegeben sind. In [wa93] wird gezeigt, wie man c1, c2, h aus (1.6) und(1.7) bestimmen kann.

Wir bemerken hier lediglich, dass man die Gesamtaufgabe durch Einfuhrung der Variablenu1 = u, u2 = u′, u3 = h in die Form (0.1), (0.2) bringen kann

(1.9)

u1u2u3

=

u2u3√1 + u220

=: f(u1, u2, u3),

(1.10) 0 =

u1(a)− uau1(b)− ub

Lu3(a)− u2(b) + u2(a)

=: g(u(a), u(b)).

Beispiel 3: Schiene auf elastischem Untergrund ([c66, Kap. III])

Die Randwertaufgabe ist von vierter Ordnung

(1.11) (pu′′)′′ +K(x)u = λ(x), 0 ≤ x ≤ L

Page 157: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. BEISPIELE, ANWENDUNGEN UND AUFGABENTYPEN 157

(1.12) u′′(0) = u′′′(0) = u′′(L) = u′′′(L) = 0.

Hierbei beschreibt u(x) die Durchbiegung einer Schiene mit Biegesteifigkeit p(x) > 0 unterder Last λ(x) auf einen Untergrund mit Elastizitatskoeffizient K(x).

λ(x)

u(x)x

0 L

K(x)

Abbildung 1.3:

Die Randbedingungen (1.12) beschreiben die (unrealistische) Tatsache, dass die Schienean den Enden frei liegt. Mittels u1 = u, u2 = u′, u3 = pu′′, u4 = (pu′′)′ erhalten wir dasSystem

(1.13)

u1u2u3u4

=

u21pu3u4

λ(x)−K(x)u1

=: f(x, u1, u2, u3, u4)

(1.14) 0 = (u3(0), u4(0), u3(L), u4(L))T =: g(u(0), u(L)).

Beispiel 4: Stationare Substratverteilung einer chemischen Reaktion

Wie in Kapitel I, Abschnitt 2.1, Beispiel 5 betrachten wir eine chemische Reaktion

C + Ek→ D

und interessieren uns jetzt fur die stationaren (also zeitunabhangigen) Konzentrations-verteilungen c(x), e(x), d(x) (in

[Mol

Volumen

]), 0 ≤ x ≤ L in einen Reaktor der Lange L

DE , DCe0, c0

x0 L

abgeschlossen

Abbildung 1.4:

Page 158: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

158 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

Dabei konnen die Substrate C,E im Reaktor diffundieren (mit den DiffusionskonstantenDC , DE), sie werden bei x = 0 mit den Konzentrationen e0, c0 eingebracht und konnenden Reaktor bei x = L nicht verlassen (das Produkt D kann unberucksichtigt bleiben):

(1.15) DC c′′ − kce = 0 in [0, L], c(0) = c0, c′(L) = 0

(1.16) DE e′′ − kce = 0 in [0, L], e(0) = e0, e′(L) = 0.

Dies ist ein zweidimensionales System nichtlinearer Randwertaufgaben der Ordnung zwei.Mit u1 = c, u2 = c′, u3 = e, u4 = e′ kann man es wieder in die Form (0.1), 0.2) bringen.

Es ist auch moglich, das System um zwei Dimensionen zu reduzieren. Beachte dazu, dassaus (1.15), 1.16) fur w := DC c−DEe folgt

(1.17) w′′ = 0, w(0) = DC c0 −DE c0 =: w0, w′(L) = 0

mit der eindeutigen Losung w(x) = w0 ∀x ∈ [0, L]. Daher reicht es, die Randwertaufgabezweiter Ordnung

(1.18) DC c′′ +k

DEc(w0 −DCc) = 0, x ∈ [0, L], c(0) = c0, c

′(L) = 0

zu losen.

Beispiel 5: Exotherme Reaktion

Ahnlich wie in Beispiel 4 kann man fur die stationare Temperaturverteilung u(x) in einemReaktor, in dem eine exotherme (sich selbst beschleunigende) Reaktion ablauft, ansetzen(mit einem Parameter λ > 0)

(1.19) u′′ + λeu = 0, 0 ≤ x ≤ 1,

(1.20) u(0) = u(1) = 0.

Dabei drucken die Randbedingungen (1.20) aus, dass an den Randern gekuhlt wird.

Wir werden (1.19), (1.20) als Modellbeispiel explizit diskutieren.

Beispiel 6: Periodische Losungen

In den Beispielen von Kapitel I haben wir vielfach periodische Losungen von autonomenSystemen

(1.21) u′ = f(u), f ∈ C(Rn,Rn)

vorgefunden, d. h. Losungen u(t), t ≥ 0, die

(1.22) u(0) = u(T )

Page 159: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. BEISPIELE, ANWENDUNGEN UND AUFGABENTYPEN 159

fur ein T > 0 erfullen. Nun ist die Periode T i. A. selbst unbekannt und es ist dahergeschickt, die Funktion v(t) = u(tT ), 0 ≤ t ≤ 1 einzufuhren, die die Randwertaufgabe

(1.23) v′ = Tf(v), 0 ≤ t ≤ 1, v(1) = v(0)

lost. Die Losungen dieser Aufgabe sind i. A. nicht eindeutig, da mit v(t) auch v(t+ c) furjedes c ∈ R eine Losung ist. Diese Mehrdeutigkeit schließt man aus, wenn man verlangt,dass v(0) in einer geeigneten Hyperebene

H = v ∈ Rn : ψTv = c0, ψ ∈ R

n, c0 ∈ R

liegt.

v(0) H

Abbildung 1.5: Fixierung des Anfangspunktes einer periodischen Losung in einer Hyper-ebene

Diese gesonderte Bedingung kompensiert die Tatsache, dass T ebenfalls unbekannt ist.Wir erhalten ein Randwertproblem erster Ordnung der Dimension n+ 1 fur y = (v, T )

(1.24) y′ =

(yn+1f(y1, . . . , yn)

0

), 0 ≤ t ≤ 1

(1.25) 0 = ((yj(1)− yj(0))j=1,...,n ,

n∑

j=1

ψjyj(0)− c0).

1.2 Eine lineare Randwertaufgabe zweiter Ordnung

Als Modellbeispiel behandeln wir eine lineare Randwertaufgabe zweiter Ordnung

(1.26) u′′ − λu = 0, x ∈ [0, 1]

(1.27) u(0) = u0, u(1) = u1,

Page 160: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

160 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

wobei λ ∈ R ein gegebener Parameter ist. Nach Kapitel III, Abschnitt 4.2 sind alleLosungen von (1.26) gegeben durch

(1.28) u(x) = c1v1(x) + c2v2(x), c1, c2 ∈ R,

mit den Fundamentallosungen

v1(x) =

e√λ x, λ > 0

1, λ = 0

cos(√−λ x), λ < 0

, v2(x) =

e−√λ x, λ > 0

x, λ = 0.

sin(√−λ x), λ < 0

.

Einsetzen von (1.28) in die Randbedingungen (1.27) ergibt fur c1, c2 das lineare Glei-chungssystem

(1.29)

(v1(0) v2(0)v1(1) v2(1)

) (c1c2

)=

(u0u1

).

Dies ist eindeutig losbar, falls

0 6= D := det

(v1(0) v2(0)v1(1) v2(1)

)= v1(0) v2(1)− v2(0) v1(1).

Fur D haben wir die Formel

D =

e√λ − e−

√λ, λ > 0

1, λ = 0

sin(√−λ), λ < 0,

so dass (1.29) und damit auch die Randwertaufgabe (1.26), (1.27) eindeutig losbar ist,sofern

(1.30) λ /∈ −n2π2 : 1 ≤ n ∈ N.

Im Fall λ = −n2π2 fur ein n ≥ 1 lautet (1.29)

(1 0

cos(nπ) 0

) (c1c2

)=

(u0u1

)

oder aquivalentc1 = u0, 0 = u1 − (−1)n u0.

Im Fall u1 6= (−1)n u0 gibt es also keine Losungen, dafur im Fall u1 = (−1)n u0 denLosungsraum u0v1 + c2v2 : c2 ∈ R.Wir halten fest, dass die folgende Alternative gilt: die Randwertaufgabe (1.26), (1.27)besitzt

Page 161: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. BEISPIELE, ANWENDUNGEN UND AUFGABENTYPEN 161

— genau eine Losung, falls λ 6= −n2π2 ∀n ≥ 1

— keine Losung, falls λ = −n2π2 und u1 6= (−1)nu0

— einen affinen Losungsraum, falls λ = −n2π2, u1 = (−1)nu0.

Da sich die Randwertaufgabe auf das lineare Gleichungssystem (1.29) reduzieren lasst,sind diese Alternativen vollig analog zum Fall der linearen Gleichungssysteme zu sehen.

Im Fall u1 = u0 = 0 besagt die letzte Alternative, dass die sog. Randeigenwertaufgabe

(1.31) u′′ = λu ∈ [0, 1], u(0) = u(1) = 0

die Eigenfunktionen un(x) = sin(nπx), n ≥ 1 zu den Eigenwerten λn = −n2π2 besitzt.

Die hier gefundenen Tatbestande werden wir in Abschnitt 2 wesentlich allgemeiner fassen.

1.3 Eine nichtlineare Randwertaufgabe zweiter Ordnung

Wir analysieren die moglichen Losungen der Randwertaufgaben (1.19), (1.20) fur λ > 0mit Hilfe der Energiemethode aus Kapitel I,Abschnitt 4.2.

Wegen u′′ = −λeu < 0 muss jede Losung konkav sein, und aus Symmetriegrunden ist essinnvoll, unter den Losungen der mit r > 0 parametrisierten Anfangswertaufgabe

(1.32) u′′ = −λeu in [0, 1], u

(1

2

)= r, u′

(1

2

)= 0

nach Losungen der Randwertaufgabe zu suchen (siehe Abbildung 1.6)

x

u(x)

r

12 .

Abbildung 1.6:

Page 162: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

162 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

Mit dem Potential V (s) = λes folgt aus Kapitel I (4.17)–(4.20) fur 0 ≤ x ≤ 12

(1.33)

x∫

12

1 ds = x− 1

2=

u(x)∫

r

ds√2(E0 − V (s))

=

u(x)∫

r

ds√2λ√er − es

,

wobei wir E0 =12u′(12

)2+ V

(12

)= λer benutzt haben. Mit der Substitution ξ = e(r−s)/2

und der Setzung

(1.34) γ = er/2 = e12u( 1

2)

erhalten wir (beachte arcosh(1) = 0)

(1.35) x− 1

2= − 2

γ√2λ

γe−u(x)/2∫

1

dξ√ξ2 − 1

= − 2

γ√2λ

arcosh (γe−u(x)/2).

Durch Umkehrung von arcosh ergibt sich fur 0 ≤ x ≤ 12

(1.36) u(x) = −2 ln

(1

γcosh

(√2λ

γ

2(x− 1

2)

)),

wobei wir ausgenutzt haben, dass cosh eine gerade Funktion ist. In der Tat ergibt sichdieselbe Formel (1.36) auch fur 1

2≤ x ≤ 1 und somit ist (1.36) die Losung der Anfangs-

wertaufgabe (1.32). Aus den Randbedingungen u(0) = u(1) = 0 ergibt sich fur r dieForderung

0 = −2 ln

(1

γcosh(

√2λ

γ

4)

)⇔

γ = cosh(√

2λγ

4

)⇔

(1.37) λ =8

γ2arcosh2(γ) =: f(γ).

Eine Kurvendiskussion von f(γ) zeigt (vgl. Abbildung 1.7), dass genau ein γ∗ ∈ (1,∞)existiert, so dass f in [1, γ∗] streng monoton wachsend und in [γ∗,∞) streng monotonfallend ist. Am Maximum λ∗ = λ(γ∗) ist λ′(γ∗) = 0.

Page 163: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. BEISPIELE, ANWENDUNGEN UND AUFGABENTYPEN 163

λ

λ∗

γγ1 γ2γ∗

f(γ)

.

Abbildung 1.7:

Man erhalt γ∗ = cosh(α∗) wobei α∗ ≈ 1.199678 die eindeutige positive Losung von

(1.38)1

α= tanh (α)

ist. Fur λ∗ = Maxγ>1

λ(γ) = λ(γ∗) ergibt sich

(1.39) λ∗ = 8

(α∗

cosh(α∗)

)2

= 81

sinh2(α∗)≈ 3.513

Fur 0 < λ < λ∗ besitzt daher (1.37) genau zwei, fur λ = λ∗ genau eine und fur λ > λ∗

keine Losung. Damit ergibt sich das folgende bemerkenswerte Ergebnis:

Die Randwertaufgabe (1.19), (1.20) besitzt

— genau zwei Losungen fur 0 < λ < λ∗ (man berechne dazu die beiden Losungen0 < γ1 < γ2 von (1.37) und setze sie in (1.36) ein),

— genau eine Losung fur λ = λ∗ (sie ergibt sich durch Einsetzen von γ = γ∗ in(1.36)),

— keine Losung fur λ > λ∗.

Anders als im linearen Fall in Abschnitt 1.2 ist jetzt der Fall, dass es global genau eineLosung gibt, zur Ausnahme geworden.

Das Losungsdiagramm von (1.19), (1.20) wird ublicherweise dargestellt, indem man dieNorm der Losung

||u||∞ = sup0≤x≤1

|u(x)| = u(12

)= r = 2 · ln (γ)

Page 164: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

164 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

gegen den Parameter λ auftragt (Abbildung 1.8)

λ λλ∗

r1

r2

r = ‖u‖∞

.

Abbildung 1.8:

Erhoht man den Parameter λ, so nahern sich die zu γ1 = er1/2, γ2 = er2/2 gehorendenLosungen an, fallen bei λ = λ∗ zusammen und sind dann verschwunden. Man bezeichnetdaher λ∗ auch als kritischen Punkt oder Umkehrpunkt des parameterabhangigenRandwertproblems (1.19), 1.20).

Die folgende Abbildung 1.9 zeigt die Losungen in Abhangigkeit von λ, wobei fur ein λ < λ∗

die beiden zugehorigen Losungen mit Hilfe eines Schnittes hervorgehoben sind

Page 165: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

1. BEISPIELE, ANWENDUNGEN UND AUFGABENTYPEN 165

λλ

uu

xx

Abbildung 1.9:

λ

u

x

Abbildung 1.10:

Page 166: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

166 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

2 Lineare Randwertaufgaben fur Systeme 1. Ordnung

2.1 Fredholmsche Alternative

Wir betrachten eine allgemeine lineare Zwei–Punkt Randwertaufgabe

(2.1) u′ −A(x)u = r(x), x ∈ J = [x0, x1],

(2.2) R0u(x0) +R1u(x1) = γ

mit A ∈ C(J,Rn), r ∈ C(J,Rn), R0, R1 ∈ Rn,n, γ ∈ R

n.

Sei zunachst Y (x) = (y1(x), . . . , yn(x)) eine Fundamentalmatrix von (2.1). Die Losungender inhomogenen Differentialgleichung (2.1) sind nach Kapitel III, Satz 2.2 von der Form:

(2.3) u(x) = u(x) + Y (x)c, c ∈ Rn,

wobei u eine spezielle Losung von (2.1) ist, z. B. die zum Anfangswert u(x0) = 0 (KapitelIII, Satz 2.2) gehorige Losung

(2.4) u(x) =

x∫

x0

Y (x)Y (ξ)−1r(ξ) dξ, x ∈ [x0, x1].

Um (2.2) zu erfullen, setzen wir u aus (2.3) ein und benutzen u(x0) = 0

γ = R0u(x0) +R1u(x1) = R0(u(x0) + Y (x0)c) +R1(u(x1) + Y (x1)c)

= (R0Y (x0) +R1Y (x1))c+R1u(x1)⇔

(2.5) (R0Y (x0) +R1Y (x1))c = γ −R1u(x1).

Dies ist ein lineares Gleichungssystem fur c. Es ist genau dann eindeutig losbar, wenn

(2.6) det (R0Y (x0) +R1Y (x1)) 6= 0

erfullt ist. Hieraus erhalten wir unmittelbar das folgende Ergebnis.

Satz 2.1 (Fredholmsche Alternative fur Randwertprobleme)

Sei Y (x) ein Fundamentalsystem des linearen Differentialoperators

Lu = u′ − A(x)u, x ∈ [x0, x1], u ∈ C([x0, x1],Rn).

Dann sind aquivalent

Page 167: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. LINEARE RANDWERTAUFGABEN FUR SYSTEME 1. ORDNUNG 167

(i) det (R0Y (x0) +R1Y (x1)) 6= 0,

(ii) fur jedes r ∈ C(J,Rn) und γ ∈ Rn besitzt die Randwertaufgabe (2.1), (2.2) genaueine Losung in C1(J,Rn),

(iii) die homogene Randwertaufgabe

Lu = 0, Ru := R0u(x0) +R1 u(x1) = 0

besitzt nur die triviale Losung u ≡ 0.

Beweis: (i) ⇒ (ii) wurde gerade gezeigt.

(ii) ⇒ (iii) ist trivial.

(iii) ⇒ (i). Sei c ∈ Rn gegeben mit

(R0Y (x0) +R1Y (x1))c = 0.

Fur u(x) := Y (x)c folgt dann Lu = 0 und

Ru = R0Y (x0)c+R1Y (x1)c = 0.

Aus (iii) folgt u ≡ 0 und somit c = 0. Daher ist R0Y (x0) +R1Y (x1) invertierbar.

Bemerkung:

1. Definieren wir den linearen Operator Γ durch

(2.7) Γ :C1(J,Rn)→ C0(J,Rn)× R

n

u→ (Lu,Ru),

so besagt (ii): Γ ist bijektiv und (iii): Γ ist injektiv.

Wie bei quadratischen Matrizen ist also Injektivitat mit Bijektivitat aquivalent.

2. Verwenden wir den Evolutionsoperator U(x1, x0) = Y (x1)Y (x0)−1, so gilt

det (R0Y (x0) +R1Y (x1)) 6= 0⇔0 6= det (R0Y (x0) +R1Y (x1)) det(Y (x0)

−1) = det (R0 +R1U(x1, x0)).

Die Bedingung (i) ist also unabhangig von der Wahl der Fundamentalmatrix.

3. Im Fall der Anfangswertaufgabe ist R0 = I, R1 = 0 und daherdet (R0Y (x0) +R1Y (x1)) = det (Y (x0)) 6= 0 stets erfullt.

Page 168: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

168 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

Im Anschluss an Satz 2.1 diskutieren wir noch den singularen Fall

det (R0Y (x0) +R1Y (x1)) = 0, etwa

(2.8) Rang (R0Y (x0) +R1Y (x1)) = k < n.

Fur B = Bild (R0Y (x0) +R1Y (x1)) gilt dann dim B = k und furK = Kern (R0Y (x0) +R1Y (x1)) gilt dim K = n− k.Der Operator Γ aus (2.7) besitzt also den (n− k)–dimensionalem Kern

(2.9) Kern (Γ) = Y (·)c : c ∈ Kern (R0Y (x0) +R1Y (x1)).

Die Losbarkeit der inhomogenen Aufgabe (2.1), (2.2) hangt nach (2.5) davon ab, obγ − R1u(x1) ∈ B gilt oder nicht.

Fall 1: γ − R1u(x1) ∈ B.

Dann hat (2.1), (2.2) den affinen Losungsraum∼u+Kern(Γ), wobei

∼u = Y (·)∼c und ∼

c ∈ Rn

eine spezielle Losung von (2.5) ist.

Fall 2: γ − R1u(x1) /∈ B.

Dann hat (2.1), (2.2) keine Losung.

Setzen wir u gemaß (2.4) ein und benutzen

Bild (R0Y (x0) +R1Y (x1)) = Kern ((R0Y (x0) +R1Y (x1))T )⊥,

so ist die Bedingung γ − R1u(x1) ∈ B aquivalent zu

(2.10)

0 = µT (γ − R1Y (x1)

x1∫

x0

Y (ξ)−1 r(ξ) dξ)

= µTγ −x1∫

x0

(Y (ξ)T−1 Y (x1)TRT

1 µ)T r(ξ)dξ

fur alle µ ∈ Kern((R0Y (x0) +R1Y (x1))T ).

Da dim(Kern((R0Y (x0) + R1Y (x1))T )) = n − k gilt, wird durch die lineare Bedingung

(2.10) fur (r, γ) ∈ C([x0, x1],Rn)× R ein Unterraum der Kodimension n− k definiert.

Wir halten das Ergebnis fest.

Page 169: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. LINEARE RANDWERTAUFGABEN FUR SYSTEME 1. ORDNUNG 169

Folgerung 2.2 Wenn die Matrix R0Y (x0)+R1Y (x1) den Rang k hat, so hat der Rand-wertoperator Γ = (L,R) aus (2.7) einen (n−k)–dimensionalen Kern (2.9). Der Bildraumist

Bild(Γ) = (r, γ) ∈ C0([x0, x1],Rn)× R

n : (r, γ) erfullt (2.10) ,

er hat die Kodimension n− k in C0([x0, x1],Rn)× Rn.

Beispiel: Lineares System mit periodischen Randbedingungen

(2.11) u′ = Au+ r(x), x ∈ J = [x0, x1], u(x1)− u(x0) = γ.

In diesem Fall ist R0 = −I, R1 = I, Y (x) = eA(x−x0) und

(2.12) R := R0Y (x0) +R1Y (x1) = Y (x1)− Y (x0) = eA(x1−x0) − I.

R ist daher genau dann invertierbar, wenn eA(x1−x0) nicht den Eigenwert 1 besitzt.

Nach Kapitel III, Folgerung 3.6 sind die Eigenwerte µ von eA(x1−x0) von der Formµ = eλ(x1−x0), λ Eigenwert von A.

Daher ist (2.11) fur alle r ∈ C(J,Rn), γ ∈ Rn eindeutig losbar, sofern

(2.13) λ(x1 − x0) 6= 2kπi ∀ k ∈ Z, λ Eigenwert von A.

2.2 Die Greensche Matrix

Fur die Losung der halbhomogenen Randwertaufgabe

(2.14) Lu = u′ −A(x)u = r(x), x ∈ J, Ru = R0u(x0) +R1u(x1) = 0

stellen wir mit Hilfe von (2.4), (2.5) eine explizite Formel auf.

Mit R := R0Y (x0) +R1Y (x1) folgt

u(x) = u(x)− Y (x) R−1R1u(x1)

=

x∫

x0

Y (x)Y (ξ)−1r(ξ) dξ −x1∫

x0

Y (x)R−1R1Y (x1)Y (ξ)−1r(ξ) dξ

=

x∫

x0

Y (x)(I − R−1R1Y (x1))Y (ξ)−1r(ξ) dξ +

x1∫

x

Y (x)(−R−1R1Y (x1))Y (ξ)−1r(ξ) dξ

=

x1∫

x0

G(x, ξ)r(ξ) dξ,

Page 170: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

170 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

wobei G(x, ξ) definiert ist durch

(2.15) G(x, ξ) =

Y (x)(I − R−1R1Y (x1))Y (ξ)

−1 fur x0 ≤ ξ < x,

−Y (x)R−1R1Y (x1)Y (ξ)−1 fur x ≤ ξ ≤ x1.

Diese matrixwertige Funktion G : J × J → Rn,n heißt Greensche Matrix zu der Rand-wertaufgabe (3.13). Sie ist, wie man leicht sieht, von der Wahl der Fundamentalmatrix Yunabhangig. G ist auf den beiden Dreiecken

(2.16) D1 = (x, ξ) : x0 ≤ ξ < x ≤ x1, D1 = (x, ξ) : x0 ≤ x ≤ ξ ≤ x1

stetig, nicht jedoch auf der Diagonalen bei x = ξ (siehe Abbildung 2.1). Die genauenEigenschaften fasst der folgende Satz zusammen.

Satz 2.3 Das homogene Randwertproblem Lu = 0, Ru = 0 besitze nur die trivialeLosung u. Dann ist die halbhomogene Randwertaufgabe Lu = r, Ru = 0 fur jedes r ∈C(J,Rn) eindeutig losbar, und es gilt die Darstellung

(2.17) u(x) =

J

G(x, ξ) r(ξ) dξ, x ∈ J

mit der Greenschen Matrix G aus (2.15). G hat die Eigenschaften:

(G1) G ist stetig auf den Dreiecken D1, D2 und stetig fortsetzbar auf D1

(G2) G erfullt die Sprungbedingung

G(ξ + 0, ξ)−G(ξ−, ξ) = I ∀ ξ ∈ (x0, x1)

(G3) G(·, ξ) ∈ C1(J\ξ,Rn,n) fur jedes ξ ∈ J und

LG(·, ξ) = 0 in J\ξ

(G4) RG(·, ξ) = 0 fur ξ ∈ (x0, x1).

Bemerkungen:

1. Nach diesem Satz besitzt der lineare Operator

L : V = u ∈ C1(J,Rn) : Ru = 0 → C(J,Rn)

eine Inverse L−1, die sich gemaß (2.17) als Integraloperator darstellen lasst.

Page 171: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

2. LINEARE RANDWERTAUFGABEN FUR SYSTEME 1. ORDNUNG 171

2. Die Darstellung (2.15) vereinfacht sich etwas, wenn man anstelle von Y die Funda-mentalmatrix Z = Y R−1 verwendet, welche R0Z(x0) +R1Z(x1) = I erfullt:

G(x, ξ) =

Z(x)R(I − R−1R1Z(x1)R)R

−1Z(ξ)−1, ξ < x

−Z(x)R1Z(x1)RR−1Y (ξ)−1, x ≤ ξ

=

Z(x)(I − R1Z(x1)) Z(ξ)

−1, ξ < x

−Z(x)R1Z(x1)Z(ξ)−1, ξ ≥ x,

also

(2.18) G(x, ξ) =

Z(x)R0Z(x0)Z(ξ)

−1, ξ < x

−Z(x)R1Z(x1)Z(ξ)−1, ξ ≥ x.

Die Losung von Lu = r, Ru = γ hat die Form

(2.19) u(x) = Z(x)γ +

J

G(x, ξ)r(ξ) dx, x ∈ J.

Im Fall der Anfangswertaufgabe ist R0 = I, R1 = 0 und mit Z(x0) = I geht (2.18),(2.19) in die Variation der Konstanten Formel aus Kapitel III, Satz 2.2 uber.

3. Man kann zeigen, dass die Greensche Matrix durch die Eigenschaften (G1)–(G4)eindeutig bestimmt ist, siehe [wa93, § 26] .

Beweis von Satz 2.3: Die Formel (2.17) sowie (G1) ist bereits gezeigt. (G2) folgt aus

G(ξ + 0, ξ)−G(ξ − 0, 0) = Y (ξ)(I − R−1R1Y (x1))Y (ξ)−1 + Y (ξ)R−1R1Y (x1)Y (ξ)

−1.

Die Eigenschaft (G3) lasst sich ebenfalls direkt aus (2.15) ablesen, ferner gilt furx0 < ξ < x1

R0G(x0, ξ) +R1G(x1, ξ) =

[−R0Y (x0)R−1R1Y (x1) +R1Y (x1)(I − R−1R1Y (x1))]Y (ξ)−1 =

[R1Y (x1)− RR−1R1Y (x1)]Y (ξ)−1 = 0.

Beispiel: (siehe (2.11))

Hier ist Y (x) = eA(x−x0), R0 = −I, R1 = I, R = eA(x1−x0) − I.Fur Z(x) aus Bemerkung 2 erhalten wir

Z(x) = Y (x)R−1 = eAx e−Ax0(eAx1−Ax0 − I)−1 = eAx(eAx1 − eAx0)−1

Page 172: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

172 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

xx1

x1

x0

x0

ξ

D1

D2

Abbildung 2.1:

Abbildung 2.1

und damit nach (2.18)

G(x, ξ) =

−eAx (eAx1 − eAx0)−1 eAx0e−Aξ, ξ < x

−eAx(eAx1 − eAx0)−1 eAx1 e−Aξ, ξ ≥ x

= (eAx0 − eAx1)−1

eA(x0+x−ξ), ξ < x

eA(x1+x−ξ), ξ ≥ x.

3 Lineare Sturmsche Randwertaufgaben

3.1 Fredholmsche Alternative

Wir wollen die Ergebnisse aus Abschnitt 2 auf lineare Randwertaufgaben zweiter Ordnungubertragen.

(3.1) Lu = u′′ + a1(x)u′ + a0(x)u = b(x), x ∈ [x0, x1] = J

(3.2) Ru =

(α0 u(x0) + β0 u

′(x0)α1 u(x1) + β1 u

′(x1)

)= γ =

(γ0γ1

)

mit a1, a0, b ∈ C(J,R), αi, βi, γi ∈ R(i = 0, 1).

Man nennt (3.1), (3.2) eine Sturmsche Randwertaufgabe. Die Randbedingungen (3.2)werden als getrennt bezeichnet. Mit v = u′ geht (3.1), (3.2) uber in das Sytem erster

Page 173: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. LINEARE STURMSCHE RANDWERTAUFGABEN 173

Ordnung

(3.3)

(u′

v′

)=

(0 1

−a0(x) −a1(x)

)(u

v

)+

(0

b(x)

), x ∈ [x0, x1]

(3.4)

(α0 β00 0

)(u

v

)(x0) +

(0 0α1 β1

)(u

v

)(x1) =

(γ0γ1

).

Sei y1, y2 ein Fundamentalsystem von (3.1), also Y =

(y1 y2y′1 y′2

)eine Fundamentalmatrix

von (3.3).

Wir erhalten

(3.5) R = R0Y (x0) +R1Y (x1) =

(α0y1(x0) + β0y

′1(x0) α0y2(x0) + β0y

′2(x0)

α1y1(x1) + β1y′1(x1) α1y2(x1) + β1y

′2(x1).

)

Wir erhalten aus Satz 2.1 das folgende Ergebnis:

Satz 3.1 (Fredholmsche Alternative)

Sei y1(x), y2(x) ein Fundamentalsystem von (3.1). Dann sind aquivalent

(i)

0 6= det R = α0 α1

∣∣∣∣y1(x0) y2(x0)y1(x1) y2(x1)

∣∣∣∣+ β0 β1

∣∣∣∣y′1(x0) y′2(x0)y′1(x1) y′2(x1)

∣∣∣∣

+ α0 β1

∣∣∣∣y1(x0) y2(x0)y′1(x1) y′2(x1)

∣∣∣∣+ α1 β0

∣∣∣∣y′1(x0) y′2(x0)y1(x1) y2(x1)

∣∣∣∣

(ii) das RWP (3.1), 3.2) besitzt fur jedes b ∈ C(J,R), γ ∈ R2 genau eine Losungu ∈ C2(J,R)

(iii) die homogene Randwertaufgabe Lu = 0, Ru = 0 hat nur die triviale Losung.

3.2 Die Greensche Funktion

Sei nun G(x, ξ) die Greensche Matrix zu (3.3), (3.4). Dann folgt aus Satz 2.3, dass diehalbhomogene Randwertaufgabe

(3.6) Lu = b, Ru = 0

die Losungsdarstellung

(u

u′

)=

x1∫

x0

G(x, ξ)

(0

b(ξ)

)d ξ =

x1∫x0

G12(x, ξ)b(ξ) d ξ

x1∫x0

G22(x, ξ)b(ξ)dξ

Page 174: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

174 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

besitzt, insbesondere also

(3.7) u(x) =

x1∫

x0

G12(x, ξ)b(ξ)dξ, x ∈ [x0, x1].

Da G auf der Diagonalen x = ξ nur einen Sprung I hat, ist G12 stetig auf J × J . DieDarstellung (3.7) ist vollig analog zu (2.17).

Beispiel:

Lu = u′′, Ru =

(u(x0)u(x1)

), R0 =

(1 00 0

), R1 =

(0 01 0

), y1(x) =

x1−xx1−x0

, y2(x) =x−x0

x1−x0.

Z(x) = 1x1−x0

(x1 − x x− x0−1 1

)erfullt R0Z(x0) +R1Z(x1) = I.

Wir benutzen die Darstellung aus (2.18).

det Z(x) = 1, Z(ξ)−1 =

(1 x0 − ξ1 x1 − ξ

)

R0Z(x0) =

(1 00 0

), R1Z(x1) =

(0 00 1

)

G(x, ξ) =

1x1−x0

(x1 − x (x1 − x)(x0 − ξ)−1 x0 − ξ

), ξ < x

− 1x1−x0

(x− x0 (x− x0)(x1 − ξ)

1 x1 − ξ

), ξ ≥ x.

Damit erhalten wir

G12(x, ξ) =1

x1 − x0

(x1 − x)(x0 − ξ), x0 ≤ ξ < x ≤ x1

(x1 − ξ)(x0 − x), x0 ≤ x ≤ ξ ≤ x1.

Beachte G12(x, ξ) = G12(ξ, x) ≤ 0.

Page 175: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. LINEARE STURMSCHE RANDWERTAUFGABEN 175

1.0

1.25

1.5 l−0.25

1.0 1.751.25

−0.2

1.51.75x

−0.15

2.02.0

−0.1

−0.05

0.0

x

ξ

Abbildung 3.1:Greensche Funktion zu u′′ = r in [1, 2], u(1) = u(2) = 0.

Mit Hilfe von Satz 2.3 gewinnen wir die folgende Losungsdarstellung fur die halbhomogeneRandwertaufgabe (3.1), (3.2).

Satz 3.2 Unter der Voraussetzung det R 6= 0 von Satz 3.1 ist fur jedes b ∈ C(J,R) diehalbhomogene Aufgabe

(3.8) Lu = b fur J, Ru = 0

eindeutig losbar und die Losung hat die Darstellung

(3.9) u(x) =

∫ x1

x0

g(x, ξ)b(ξ) dξ.

Hierbei ist g die Greensche Funktion zu (3.8). Sie hat die folgenden Eigenschaften

(g1) g ∈ C(J×J,R), die Funktionen gx, gxx existieren und sind stetig auf den DreieckenD1 und D2 (siehe (2.16))

(g2) L g(·, ξ) = 0 in J\ξ ∀ξ ∈ J ,

(g3) R g(·, ξ) = 0 fur x0 < ξ < x1,

Page 176: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

176 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

(g4) gx(ξ + 0, ξ)− gx(ξ − 0, ξ) = 1 fur x0 < ξ < x1.

Wahlt man das Fundamentalsystem z1(x), z2(x) von L so, dass Rz1 =(10

), Rz2 =

(01

)gilt,

so hat g die Darstellung

(3.10) g(x, ξ) = − 1

W (ξ)

z1(x)z2(ξ) fur x0 ≤ ξ ≤ x ≤ x1

z2(x)z1(ξ) fur x0 ≤ x ≤ ξ ≤ x1.

mit der Wronskideterminante W (ξ) = z1(ξ)z′2(ξ)− z2(ξ)z′1(ξ).

Beweis: Es ist g(x, ξ) = G12(x, ξ) mit der Greenschen Matrix G aus Satz 2.3. Hiermitgilt (3.9). Damit liefert (2.18) die Formel (3.10); denn

Z(x) =

(z1(x) z2(x)z′1(x) z′2(x)

), R0Z(x0) =

(1 00 0

), R1Z(x1) =

(0 00 1

).

Z(ξ)−1 =1

W (ξ)

(z′2(ξ) −z2(ξ)−z′1(ξ) z1(ξ)

)

G(x, ξ) = Z(x)

R0Z(x0)Z(ξ)

−1, ξ ≤ x

−R1Z(x1)Z(ξ)−1, ξ > x.

Hieraus lesen wir ab

g(x, ξ) = G12(x, ξ) =1

W (ξ)

−z1(x)z2(ξ), ξ ≤ x

−z2(x)z1(ξ), ξ > x.

Aus dieser Darstellung sind die Eigenschaften (g1) und (g2) unmittelbar ersichtlich.Schließlich gilt auch fur x0 < ξ < x1

Rg(·, ξ) = − 1

W (ξ)

((α0z2(x0) + β0z

′2(x0))z1(ξ)

(α1z1(x1) + β1z′1(x1))z2(ξ)

)= 0

sowie

gx(ξ + 0, ξ)− gx(ξ − 0, ξ) = − 1

W (ξ)(z′1(ξ)z2(ξ)− z′2(ξ)z1(ξ)) = 1.

Bemerkung: Mit den speziellen Fundamentallosungen aus Satz 3.2 erhalt die Losungder inhomogenen Randwertaufgabe (3.1), (3.2) die Losungsdarstellung

(3.11) u(x) = γ1z1(x) + γ2z2(x) +

x1∫

x0

g(x, ξ)b(ξ)dξ, x ∈ [x0, x1].

Page 177: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

3. LINEARE STURMSCHE RANDWERTAUFGABEN 177

3.3 Sturmsche Randeigenwertaufgaben

Allgemeiner als in Abschnitt 1 diskutieren wir die Sturmsche Randeigenwertaufgabe

(3.12) Lu = λu in J, Ru = 0

mit (L,R) aus (3.1). (3.2). Man interessiert sich fur Werte λ ∈ C, fur die (3.12) einenichtriviale Losung besitzt, also die Falle, in denen

(3.13) 0 = det R(λ), R(λ) = R Y (λ)) =(Ry1(λ) Ry2(λ)

)

gilt, wobei y1(λ), y2(λ) ein Fundamentalsystem zu L− λ sei.

Nehmen wir einmal an, dass λ = 0 kein Eigenwert ist (dies kann man im Fall (α0, β0) 6=0 6= (α1, β1) immer durch eine Verschiebung von a0(x) um eine Konstante erreichen), soist (3.12) nach Satz 3.2 aquivalent zu der Operatoreigenwertaufgabe

(3.14) Tu = µu, u ∈ C(J,R)

mit µ = 1λund dem Integraloperator

(3.15) (Tu)(x) =

x1∫

x0

g(x, ξ)u(ξ) dξ, u ∈ C(J,R).

Ahnlich wie in Kapitel II, Abschnitt 4.2 kann man zeigen, dass der OperatorT : C(J,R) → C(J,R) linear und kompakt ist (d.h. T bildet beschrankte in relativkompakte Mengen ab). Die in der Funktionalanalysis entwickelte Eigenwerttheorie furkompakte Operatoren (siehe etwa [al99, Kap 9]) zeigt dann, dass es hochstens abzahlbarviele Eigenwerte µj ∈ C(j ∈ N′ ⊂ N) mit Eigenfunktionen uj ∈ C(J,C) von (3.14) gibt,die sich im unendlichen Fall (N′ = N) bei 0 haufen

limj→∞

µj = 0.

Fur die zugehorigen Eigenwerte λj = 1µj

(j ∈ N′) von (3.12) gilt dann |λj| → ∞ (man

vergleiche dazu Abschnitt 1.2).

Im Allgemeinen sind die Eigenwerte λj und Eigenfunktionen uj(j ∈ N) komplexwertig.Fur die Sturmsche Randeigenwertaufgabe (3.12) kann man jedoch zeigen, dass die Eigen-werte λj reell sind, die zugehorigen Eigenfunktionen uj reell gewahlt werden konnen undλj → −∞ fur j →∞ gilt.

Um dies zu zeigen, verwenden wir die Darstellung (3.10) der Greenschen Funktion. AusKapitel III, (4.7) folgt fur die Wronski Determinante

(3.16) W (ξ) = e−

ξ∫

x0

a1(x) dx

W (x0), ξ ∈ [x0, x1]

Page 178: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

178 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

mit W (x0) = z1(x0)z′2(x0)− z2(x0)z′1(x0) 6= 0. Daher wird fur u, v ∈ C(J,C) durch

(3.17) 〈u, v〉W =

x1∫

x0

|W (x)|−1 u(x)v(x) dx

ein inneres Produkt auf C(J,C) definiert.

Satz 3.3 Der Integraloperator T aus (3.15) ist symmetrisch im folgenden Sinne

(3.18) 〈Tu, v〉W = 〈u, Tv〉W ∀ u, v ∈ C(J,C).Jeder Eigenwert von T ist reell und besitzt eine zugehorige reelle Eigenfunktion. Eigen-funktionen zu verschiedenen Eigenwerten sind orthogonal bez. 〈·, ·〉W .

Beweis: Aus (3.10) folgt

g(x, ξ)|W (x)|−1 = g(ξ, x)|W (ξ)|−1 ∀ ξ, x ∈ J.Multiplikation mit u(ξ)v(x) und Integration uber J × J liefert mit dem Satz von Fubini

〈Tu, v〉W =

J

J

g(x, ξ)u(ξ)dξ

|W (x)|−1v(x)dx

=

J

J

g(ξ, x)|W (ξ)|−1u(ξ)v(x) dξ dx

=

J

J

g(x, ξ)v(ξ) dξ

|W (x)|−1u(x) dx = 〈u, Tv〉W .

Ist µ ∈ C Eigenwert von T mit Eigenfunktion u ∈ C(J,C), so folgt

µ〈u, u〉W = 〈µu, u〉W = 〈Tu, u〉W = 〈u, Tu〉W = 〈u, µu〉W = µ〈u, u〉Walso µ = µ. Schreiben wir u = u1 + iu2, so gilt

µ(u1 + iu2) = µu1 + iµu2 = T (u1 + iu2) = Tu1 + iTu2.

Da T ein reeller Integraloperator ist, folgt Tuj = µuj(j = 1, 2). Betrachten wir zweiEigenwerte µ1 6= µ2 von T mit Eigenvektoren v1, v2, so erhalten wir

µ1〈v1, v2〉W = 〈µ1v1, v2〉W = 〈Tv1, v2〉W = 〈v1, T v2〉W= 〈v1, µ2v2〉W = µ2〈v1, v2〉W

also 〈v1, v2〉W = 0.

Satz 3.3 stellt nur einen kleinen Ausschnitt aus der allgemeinen Spektraltheorie sog. selbst-adjungierter Operatoren dar (siehe [al99, Kap. 10]).

Page 179: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. NICHTLINEARE RANDWERTAUFGABEN 179

4 Nichtlineare Randwertaufgaben

Nach den Erfahrungen aus der linearen Theorie in Abschnitt 2 und 3 sowie aus dem nicht-linearen Beispiel in Abschnitt 1.3 konnen wir keine allgemein anwendbare Existenz– undEindeutigkeitstheorie fur nichtlineare Randwertaufgaben wie fur Anfangswertaufgabenerwarten. Wir beschranken uns daher darauf, einige Grundzuge der Theorie nichtlinearerSysteme erster Ordnung darzustellen.

4.1 Existenz und Eindeutigkeit

Betrachte eine nichtlineare Randwertaufgabe mit linearen Zweipunkt–Randbedingungen

(4.1) u′ = f(x, u), x ∈ J = [x0, x1], f ∈ C(J × Rn,Rn)

(4.2) Ru = R0u(x0) +R1u(x1) = 0, R0, R1 ∈ Rn,n.

Den Fall einer inhomogenen Randbedingung Ru = γ ∈ Rn kann man auf den homogenenFall zuruckfuhren, sofern die Matrix

(R0 R1

)∈ R

n,2n den Rang n hat. Man konstruiert

dann ein u ∈ C1(J,Rn) mit Ru = γ (Existenz von u als Ubungsaufgabe) und lost furv = u− u die homogene Randwertaufgabe

v′ = u′ − u′ = f(x, u)− u′(x) = f(x, v + u(x))− u′(x) =: g(x, v),

Rv = Ru− Ru = γ − γ = 0.

Wie im Fall der Anfangswertaufgaben formen wir (4.1), (4.2) in eine Integralgleichungum, jetzt mit Hilfe der Greenschen Matrix.

Satz 4.1 Sei A ∈ C(J,Rn,n) derart gegeben, dass die homogene Randwertaufgabe

Lv := v′ −A(·)v = 0 in J, Rv = 0

nur die triviale Losung hat und sei G(x, ξ) die zugehorige Greensche Matrix. Dann sindaquivalent

(i) u ∈ C1(J,Rn) lost die Randwertaufgabe (4.1), (4.2)

(ii) u ∈ C(J,Rn) lost die Integralgleichung

(4.3) u(x) = T (u)(x) :=

x1∫

x0

G(x, ξ)[f(ξ, u(ξ))− A(ξ)u(ξ)] dξ, x ∈ J.

Page 180: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

180 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

Beweis: (i) ⇒ (ii). Aus (4.1) folgt

Lu = u′ − A(x)u = f(x, u)− A(x)u =: r(x).

Mit Satz 2.3 und Ru = 0 erhalten wir

u(x) =

x1∫

x0

G(x, ξ)r(ξ)dξ =

x1∫

x0

G(x, ξ)[f(ξ, u(ξ))− A(ξ)u(ξ)]dξ, x ∈ J.

(ii) ⇒ (i). Fur r(ξ) = f(ξ, u(ξ))− A(ξ)u(ξ) gilt r ∈ C(J,Rn).

Satz 2.3 liefert u ∈ C1(J,Rn) sowie Ru = 0 und

Lu = r = f(x, u)−A(x)u.

Bemerkung: Da wir A(·) nur geeignet wahlen mussen, gibt es viele Moglichkeiten,(4.1), (4.2) in eine Integralgleichung aquivalent umzuformen.

Im einfachsten Fall ist A(x) = 0 ∀x und die Voraussetzung von Satz 4.1 nach Satz 2.1erfullt, sofern R = R0 + R1 invertierbar ist. In diesem Spezialfall lautet die GreenscheMatrix nach (2.15)

(4.4) G(x, ξ) =

I − R−1R1 = R−1R0, x0 ≤ ξ < x ≤ x1

−R−1R1, x0 ≤ x ≤ ξ ≤ x1.

Einen Existenz– und Eindeutigkeitssatz fur die Randwertaufgabe (4.1), 4.2) erhalten wir,wenn wir auf die aquivalente Fixpunktaufgabe

(4.5) u = T (u), u ∈ C(J,Rn)

den Kontraktionssatz bezuglich ||u||∞ = supx∈J|u(x)| anwenden. Wir betrachten den einfa-

chen Fall A(x) = 0 ∀x ∈ J und nehmen fur f eine Lipschitzbedingung an

(4.6) |f(x, v1)− f(x, v2)| ≤ K|v1 − v2| ∀x ∈ J, v1, v2 ∈ Rn.

Dann gilt fur u1, u2 ∈ C(J,Rn)

||T (u1)− T (u2)||∞ = supx∈J|∫

J

G(x, ξ)(f(ξ, u1(ξ)− f(ξ, u2(ξ)) dξ|

≤ supx∈J

J

|G(x, ξ)|K|u1(ξ)− u2(ξ)| dξ

≤ Kρ||u1 − u2||∞

Page 181: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. NICHTLINEARE RANDWERTAUFGABEN 181

mit ρ := Maxx∈J

∫J

|G(x, ξ)| dξ (entspricht der Zeilensummennorm einer Matrix). Im be-

trachteten Spezialfall ist nach (4.4)

ρ ≤ Maxx∈J

(

x∫

x0

|G(x, ξ)| dξ +x1∫

x

|G(x, ξ)| dξ) ≤ |R−1|(x1 − x0) Max(|R0|, |R1|).

Der Kontraktionssatz (Kapitel II, Satz 2.5) liefert also das folgende Ergebnis.

Satz 4.2 Die Funktion f ∈ C(J×Rn,Rn) genuge der Lipschitzbedingung (4.6), die MatrixR0 +R1 sei invertierbar und es gelte

(4.7) (x1 − x0)|(R0 +R1)−1| Max(|R0|, |R1|)K < 1.

Dann besitzt das Randwertproblem (4.1), (4.2) genau eine Losung in C1(J,Rn).

Bemerkung: Wenn R0 +R1 invertierbar, f(x, ·) Lipschitzbeschrankt und das Intervall[x0, x1] hinreichend kurz ist (siehe (4.7)), so ist die Randwertaufgabe (4.1), (4.2) immereindeutig losbar. Im Fall der Anfangswertaufgaben konnten wir durch die Wahl einergewichteten Norm ||u||p = Max

x∈J|u(x)|p(x)

auf die Kleinheitsbedingung fur x1 − x0 verzichten

(vgl. Kapitel II, (3.5)). Solche Gewichtsnormen erlauben (ebenso wie eine geschickte Wahlvon A(x)) oftmals Existenz– und Eindeutigkeitsaussagen unter schwacheren Bedingungenals (4.7).

In ahnlicher Weise wie fur Satz 4.2 kann man die Greensche Funktion fur Differentialglei-chungen hoherer Ordnung nutzen, um Existenz und Eindeutigkeitssatze fur nichtlineareRandwertaufgaben zu erhalten. Zum Beispiel ist die nichtlineare Sturmsche Randwert-aufgabe

(4.8) u′′ = f(x, u), x ∈ J, f ∈ C(J × R,R)

(4.9) Ru =

(α0u(x0) + β0u

′(x0)α1u(x1) + β!u

′(x1)

)= 0

nach Satz 3.2 aquivalent zu der Integralgleichung

(4.10) u(x) =

J

g(x, ξ)f(ξ, u(ξ))dξ, x ∈ J.

Dabei ist g die Greensche Funktion zu Lu = u′′, Ru = 0.

Auf diese Weise kann man z. B. zeigen (Ubungsaufgabe)

Page 182: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

182 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

Folgerung 4.3 Die Randwertaufgabe

(4.11) u′′ = f(x, u), x ∈ [x0, x1], u′(x0) = u(x1) = 0

besitzt unter der Lipschitzbedingung (4.6) genau eine Losung in C2(J,R), sofern gilt

(4.12) K(x1 − x0)2 < 2.

Bemerkungen:

1. Wiederum ist (4.12) fur hinreichend kleines Intervall [x0, x1] erfullt. Wir konnenFolgerung 4.3 unter der Voraussetzung p(x) = 1 auf den Eulerschen Knickstab(1.1), (1.2) anwenden. In diesem Fall gilt (4.6) mit K = λ > 0 und (4.12) lautet

(4.13) λL2 < 2.

Liegt also die Belastung λ unter 2L2 , so gibt es nur die triviale Losung, d. h. der

Stab knickt nicht um. Genauer kann man zeigen, dass dies fur λ < λkrit = π2

4L2

gilt und dass (1.1), (1.2) fur λ > λkrit nichttriviale positive Losungen besitzt, dieeinem gebogenen Zustand entsprechen. Man bezeichnet λkrit auch als EulerscheKnicklast.

2. Unter der Voraussetzung

α0α1(x1 − x0) + α0β1 − α1β0 6= 0

kann man (4.10) auch fur die allgemeinen Sturmschen Randbedingungen (4.9) dis-kutieren und erhalt eine Verallgemeinerung der Bedingung (4.12) (Ubungsaufgabe!)

Fur allgemeinere nichtlineare Aufgaben

(4.14) u′′ = f(x, u, u′), x ∈ J, f ∈ C(J × R2,R)

erhalt (4.10) die Form

(4.15) u(x) =

J

g(x, ξ)f(ξ, u(ξ), u′(ξ))dξ.

Anstelle von (4.6) setzt man die Lipschitzbedingung

(4.16) |f(x)u1, v1)− f(x, u2, v2)| ≤ K1|u1 − u2|+K2|v1 − v2|

fur x ∈ J, ui, vi ∈ R (i = 1, 2) voraus und wendet auf (4.15) den Kontraktionssatzin C1(J,R) mit der Norm ||u||1,∞ = Max|u(j)(x)| : x ∈ J, j = 0, 1 an (vgl. KapitelII, Abschnitt 2).

Page 183: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. NICHTLINEARE RANDWERTAUFGABEN 183

4.2 Regulare Losungen von Randwertaufgaben

Die Bedingungen, unter denen wir im Abschnitt 4.1 die Existenz und globale Eindeutigkeitvon Losungen zeigen konnten, sind i. A. sehr restriktiv.

Wenn man schon die Existenz einer Losung kennt, so lasst sich die lokale Eindeutigkeitunter wesentlich schwacheren Voraussetzungen sichern. Dies ist das Thema des abschlie-ßenden Abschnitts.

Wir betrachten eine allgemeine nichtlineare Randwertaufgabe

(4.17) u′ = f(x, u), x ∈ J∗ = [x0, x1]

(4.18) g(u(x0), u(x1)) = 0,

wobei wir fur ein offenes Ω ⊃ J∗ × Rn voraussetzen f ∈ C1(Ω,Rn), g ∈ C1(R2n,Rn).

Außerdem nehmen wir an, dass (4.17), (4.18) eine Losung u∗ ∈ C1(J,Rn) besitzt und wirsetzen s∗ = u∗(x0).

Nach Kapitel II, Satz 5.6 und Satz 6.1 besitzt die Anfangswertaufgabe

(4.19) u′ = f(x, u), u(x0) = s

eine maximal fortgesetzte Losung u(x, x0, s) in

(4.20) D = (x, x0, s) : (x0, s) ∈ Ω, x ∈ J(x0, s).

und u(·, ·, ·) ist in D stetig differenzierbar. Da u∗ die Aufgabe (4.19) fur s = s∗ lost, istJ∗ ⊂ J(x0, s

∗) und J∗ × x0 × s∗ ⊂ D.Wegen der Offenheit von D existiert eine Umgebung V ⊂ Rn von s∗, so dassJ∗ ⊂ J(x0, s) fur alle s ∈ V gilt, also (4.19) eine auf ganz J∗ existierende Losung besitzt.

Wir untersuchen, ob es in der Nahe von s∗ noch weitere Werte s gibt, so dass u(·, x0, s)die Randwertaufgabe (4.17), (4.18) lost. Dazu bilden wir

(4.21) F (s) := g(u(x0, x0, s), u(x1, x0, s)) = g(s, u(x1, x0, s)), s ∈ V.

Offensichtlich istF (s∗) = 0 und F ∈ C1(V,Rn) nach Kapitel II, Satz 6.1 und der Ket-tenregel. Wenn nun die totale Ableitung DF (s∗) ∈ Rn,n invertierbar ist, so liefert derUmkehrsatz aus der Analysis eine Umgebung V1 ⊂ V von s∗, in der s∗ die einzige Losungvon F (s) = 0 ist und fur die (F|V1 )

−1 stetig differenzierbar ist.

Wir setzen Y (x) := ∂u∂s(x, x0, s

∗), x ∈ J∗ und erhalten durch Differentiation von (4.21)bei s = s∗

(4.22) DF (s∗) = D1g(s∗, u∗(x1))Y (x0) +D2g(s

∗, u∗(x1))Y (x1).

Page 184: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

184 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

Nach Kapitel II, Satz 6.1 ist Y (x) Fundamentallosung des linearen Systems

(4.23) Y ′ = A(x)Y, x ∈ J∗, Y (x0) = I,

wobei A(x) = D2f(x, u∗(x)). Setzen wir noch

R0 = D1g(s∗, u∗(x1)), R1 = D2g(s

∗, u∗(x1)),

so erhalten wir

(4.24) DF (s∗) = R0Y (x0) +R1Y (x1).

Die Fredholmsche Alternative Satz 2.1 zeigt, dass die Invertierbarkeit von DF (s∗) aqui-valent dazu ist, dass die lineare homogene Randwertaufgabe

(4.25) Lu = u′ −D2f(x, u∗)u = 0

(4.26) Ru = D1g(u∗(x0), u

∗(x1))u(x0) +D2g(u∗(x0), u

∗(x1))u(x1) = 0

nur die triviale Losung besitzt.

Man bezeichnet (4.25), (4.26) auch als die Linearisierung der nichtlinearen Rand-wertaufgabe (4.17), (4.18) bei u∗.

Definition 4.4 Eine Losung u∗ ∈ C1(J∗,Rn) der nichtlinearen Randwertaufgabe (4.17),(4.18) heißt regular, falls die homogene lineare Randwertaufgabe (4.25), (4.26) nur dietriviale Losung besitzt. Anderenfalls heißt sie singular.

Satz 4.5 (i) Sei u∗ ∈ C∗(J∗,Rn) eine regulare Losung von (4.1), (4.2). Dann gibt esein ǫ > 0, so dass (4.1), (4.2) keine weitere Losung u mit ||u− u∗||∞ ≤ ǫ besitzt.

(ii) Sei u∗ ∈ C1(J∗,Rn) regulare Losung fur λ = λ∗ eines parameterabhangigen Rand-wertproblems

(4.27) u′ = f(x, u, λ) in J∗ = [x0, x1], g(u(x0), u(x1), λ) = 0

mit f ∈ C1(Ω× Λ,Rn), g ∈ C1(R2n × Λ,Rn), λ∗ ∈ Λ ⊂ Rp offen.

Dann gibt es ein ǫ > 0, so dass die Randwertaufgabe (4.27) fur |λ − λ| ≤ ǫ genaueine Losung u(x, λ), x ∈ J∗ mit ||u − u∗||∞ ≤ ǫ besitzt. Ferner ist u(x, λ) stetigdifferenzierbar bez. x ∈ J∗, λ ∈ Kǫ(λ

∗).

Page 185: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. NICHTLINEARE RANDWERTAUFGABEN 185

Bemerkung: Satz 4.5 stellt eine Verallgemeinerung von Kapitel II, Satz 6.1 fur An-fangswertaufgaben dar, wobei zu beachten ist, dass die Losungen von Anfangswertaufga-ben immer regular sind. Abbildung 4.1 zeigt die glatte Fortsetzung von u∗ fur λ 6= λ∗.

u

λ

λ∗

u∗(x)

xx0 x1

ǫ

ǫ

ǫ

Abbildung 4.1: Fortsetzung der regularen Losung einer Randwertaufgabe

Beweis:

(i) Wahle ǫ > 0, so dass Kǫ(s∗) ⊂ V1 mit der in der Voruberlegung konstruierten

Umgebung V1. Ist v(x) Losung von (4.1), (4.2) mit ||u∗ − v||∞ ≤ ǫ, so lost v auchdie Anfangswertaufgabe (4.19) mit s := v(x0). Wegen |s− s∗| ≤ ǫ folgt s ∈ V1 undsomit F (s) = 0. Mit der lokalen Eindeutigkeit der Losungen von F = 0 erhalten wirs = s∗ und v = u∗.

(ii) Wir setzen jetztF (s, λ) := g(s, u(x1, x0, s, λ), λ)

wobei u(·, x0, s, λ) die nach Kapitel II, Satz 6.1 in J∗ existierende Losung von

(4.28) u′ = f(x, u, λ), u(x0) = s

fur |λ− λ∗|, |s− s∗| hinreichend klein bezeichne. Wie oben gezeigt ist

F (s∗, λ∗) = 0, D1F (s∗, λ∗) invertierbar,

und die Behauptung des Satzes folgt aus dem Satz uber implizite Funktionen ange-wandt auf F (s, λ) = 0.

Es ist nun nicht schwierig, den Begriff der regularen Losung auf nichtlineare Randwert-aufgaben hoherer Ordnung mittels der Transformation auf ein System erster Ordnung

Page 186: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

186 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

umzuschreiben und Satz 4.5 entsprechend zu ubertragen (Ubungsaufgabe). Exemplarischbehandeln wir hier nur eine nichtlineare Sturmsche Randwertaufgabe

(4.29) u′′ = f(x, u, u′), x ∈ J∗, f ∈ C1(J × R2,R)

(4.30) g(u(x0), u′(x0), u(x1), u

′(x1)) =

(g0(u(x0), u

′(x0))g1(u(x1), u

′(x1))

)= 0

mit g0, g1 ∈ C1(R2,R).

Definition 4.6 Eine Losung u∗ ∈ C2(J∗,R) der Randwertaufgabe (4.29), (4.30) heißtregular, falls die lineare Sturmsche Randwertaufgabe

(4.31) Lu = u′′ + a1(x)u′ + a0(x)u = 0 in J∗

(4.32) Ru =

(α0u(x0) + β0u

′(x0)α1u(x1) + β1u

′(x1)

)= 0

mit a1(x) = −D3f(x, u∗(x), u∗

′(x)), a0(x) = −D2f(x, u

∗(x), u∗′(x))

αj = D1gj(u∗(xj), u

∗′(xj)), βj = D2gj(u∗(xj), u

∗′(xj)) (j = 0, 1))

nur die triviale Losung besitzt. Anderenfalls heißt sie singular.

Satz 4.7 (i) Sei u∗ ∈ C2(J∗,R) regulare Losung von (4.29), (4.30). Dann gibt es einǫ > 0, so dass (4.29), (4.30) keine weitere Losung u mit ||u− u∗||1,∞ ≤ ǫ besitzt.

(ii) Sei u∗ ∈ C2(J∗,R) regulare Losung fur λ = λ∗ eines parameterabhangigen Rand-wertproblems

(4.33) u′′ = f(x, u, u′, λ) in J∗

(4.34) g(u(x0), u′(x0), u(x1), u

′(x1), λ) =

(g0(u(x0), u

′(x0), λ)g1(u(x1), u

′(x1), λ)

)= 0

mit f ∈ C1(Ω× Λ,R), (·, u∗(·), u∗′(·)) ∈ Ω ⊂ R3 offen,

gj ∈ C1(R2 × Λ,R), λ∗ ∈ Λ ⊂ RP offen.

Dann gibt es ein ǫ > 0, so dass die Randwertaufgabe (4.33), (4.34) fur |λ− λ∗| ≤ ǫgenau eine Losung u(·, λ) ∈ C2(J∗,R) mit ||u − u∗||1,∞ ≤ ǫ besitzt. Ferner sindu(x, λ), ∂u

∂x(x, λ) stetig differenzierbar bez. x ∈ J∗, λ ∈ Kǫ(λ

∗).

Page 187: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

4. NICHTLINEARE RANDWERTAUFGABEN 187

Als Anwendung betrachten wir die in Abschnitt 1.3 explizit konstruierten Losungen von

(4.35) u′′ + λeu = 0 in [0, 1]

(4.36) u(0) = u(1) = 0

Man vergleiche (1.36) und (1.37).

Folgerung 4.8 Die Losung

(4.37) u∗(x, γ) = −2ln(1

γcosh

(√2λ

γ

2(x− 1

2)

)),

von (4.35), (4.36) zum Parameter

(4.38) λ = ℓ(γ) =8

γ2arcosh2(γ)

ist fur 1 ≤ γ < γ∗ und γ∗ < γ <∞ regular, fur γ = γ∗ aber singular.

Bemerkung: Diese Aussage spiegelt genau das in Abbildung 1.8 gezeichnete Verhaltenwieder. Wenn u∗(·, γ∗) regular ware, so wurde Satz 4.7 die glatte Fortsetzbarkeit derLosungen bez. λ in der Nahe von λ∗ = ℓ(γ∗) (siehe (1.39)) garantieren im Widerspruchdazu, dass es fur λ < λ∗, |λ − λ∗| klein stets zwei Losungen gibt, die nahe bei u∗(·, γ∗)liegen.

Beweis: Es genugt λ > 0 zu betrachten; denn fur λ = 0 = ℓ(1) ist u∗(x, 1) = 0 und dieRegularitat folgt aus der eindeutigen Losbarkeit der Randwertaufgabe

u′′ = r in [0.1], u(0) = u(1) = 0.

Fur λ > 0, γ ≥ 1 setzen wir

u(x, γ, λ) = −2ln(1

γcosh(

√2λ

γ

2(x− 1

2))

), x ∈ [0, 1],

so dass dannu∗(x, γ) = u(x, γ, ℓ(γ))

gilt. Man beachte, dass u(·, γ, λ) stets die Differentialgleichung (4.35), aber die Randbe-dingungen nur fur λ = ℓ(γ) lost

(4.39) u(0, γ, ℓ(γ)) = u(1, γ, ℓ(γ)) = 0.

Differentiation von (4.35) nach x bzw. nach γ zeigt, dass

z1(x) =∂u

∂x(x, γ, λ) und z2(x) =

∂u

∂γ(x, γ, λ)

Page 188: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

188 KAPITEL V. RANDWERTAUFGABEN

Losungen der linearisierten Gleichung

(4.40) Lz = z′′ − λeu(·,γ,λ)z = 0 in [0, 1]

sind (vgl. (4.31)). Durch Differentiation von (4.39) nach γ folgt außerdem

(4.41) 0 = z2(0) +∂u

∂λ(0, γ, ℓ(γ))ℓ′(γ) = z2(1) +

∂u

∂λ(1, γ, ℓ(γ))ℓ′(γ).

Fur γ = γ∗ ist ℓ′(γ∗) = 0, also z2(0) = z2(1) = 0. Daher ist z2(x) = ∂u∂γ

(x, γ∗, λ∗) eine

nichttriviale Losung der homogenen Randwertaufgabe (4.31), (4.32) und somit u∗(·, γ∗)singular.

Es ist u(x, γ, λ) symmetrisch bez. x = 12und daher

(4.42) z1(1− x) = −z1(x), z2(1− x) = z2(x), x ∈ [0, 1].

Hieraus folgt, dass z1, z2 ein Fundamentalsystem von (4.40) bilden. Fur die Regulariatvon u∗(x.γ) mussen wir nach Satz 3.1 zeigen (benutze (4.42))

(4.43) 0 6= det R =

∣∣∣∣z1(0) z2(0)z1(1) z2(1)

∣∣∣∣ = 2z1(0)z2(0).

Durch Differentiation nach x bzw. λ erhalten wir aus

γe−u(x,γ,λ)/2 = cosh(γ

√λ

2(x− 1

2)), x ∈ [0, 1]

die Beziehungen

1

2eu(0,γ,λ)/2 z1(0) =

√λ

2sinh

(γ√λ

2√2

),

− e−u(0,γ,λ)/2 ∂u

∂λ(0, γ, λ) =

1√2λ, sinh

(γ√λ

2√2

).

Hieraus folgt z1(0) 6= 0 sowie ∂u∂λ

(0, γ, λ) 6= 0.

Die Gleichung (4.41) liefert dann wegen ℓ′(γ) 6= 0 fur γ 6= γ∗ auch z2(0) 6= 0.

Page 189: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

Literaturverzeichnis

[al99] Alt, H. W.: Lineare Funktionalanalysis, 3. Aufl., Springer 1999.

[am95] Amann, H.: Gewohnliche Differentialgleichungen: 2. uberarb. Aufl., De Gruyter,Berlin, 1995.

[ame06] Amann, H., Escher, J.: Analysis I, II, II (mehrere Auflagen), Birkhauser Ver-lag, Basel, 2006.

[amr88] Ascher, U. M., Mattheij, R. M. M., Russell, R. D.: Numerical solution

of boundary value problems for ordinary differential equations, Prentice Hall, 1988.

[ar92 ] Arnol’d, V.I.: Ordinary differential equations, Springer, Berlin, 1992.

[ap90] Arrowsmith, D.K., Place, C.M.: Ordinary differential equations:

a qualitive approach with applications, Chapman and Hall, London, 1990.

[au97] Aulbach, B.: Gewohnliche Differentialgleichungen, 2. Auflage, Spektrum,Akad. Verl., Heidelberg, 2004.

[bo81] Bohl, E.: Finite Modelle gewohnlicher Randwertaufgaben, Teubner, 1981.

[c66] Collatz, C.: The Numerical Treatment of Differential Equations, Springer, 1966.

[ch96] Chow, S.–N., Hale, J.K.: Methods of bifurcation theory, Springer, 1996.

[br91] Braun, M.: Differentialgleichungen und ihre Anwendungen, 2. Aufl., Springer,Berlin, 1991.

[ce61] Coddington, Earl A.: An introduction to ordinary differential equations,Englewood Cliffs, N.J., Prentice–Hall, 1961.

[ha69] Hale, J.K.: Ordinary differential equations, Wiley, New York, 1969.

[ha82] Hartman, Ph.: Ordinary differential equations, 2. Ed., Birkhauser, Boston, 1982.

[he89] Heuser, H.: Gewohnliche Differentialgleichungen: Einfuhrung in Lehre und

Gebrauch, Teubner, Stuttgart, 1989.

189

Page 190: Vorlesung Sommersemester 2014 Prof. Dr. W.–J. Beyn

190 LITERATURVERZEICHNIS

[hs74] Hirsch, M.W., Smale, S.: Differential equations, dynamical systems, and linear

algebra, Acad. Press, New York, 1974.

[ku95] Kuznetsov, Y.A.: Elements of Applied Bifurcation Theory, Springer, 1995.

[kh95] Katok, A., Hasselblatt, B.: Introduction to the Modern Theory of Dynamical

Systems, Cambridge University Press, 1995.

[fh02] Fiedler, B., Hasselblatt, B. (Eds.): Handbook of Dynamical Systems, Vol. 1and 2, Elsevier, 2002.

[pe93] Perko, L.: Differential equations and dynamical systems, Springer, New York,1993.

[wa93] Walter, W.: Gewohnliche Differentialgleichungen: eine Einfuhrung, 7. Auflage,Springer, Berlin, 2000.