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Vortrag
der Bundesministerin für Bildung und Forschung,
Dr. Annette Schavan, MdB,
zum Thema „Der Sinn von Politik ist Freiheit“
anlässlich
der Hannah-Arendt-Tage 2006
am
14. Oktober 2006 in Hannover
Es gilt das gesprochene Wort!
I.
Hannah Arendt war 1955 zu einem Besuch in Deutschland. Ihr Verleger Klaus Piper schlug ihr
vor, eine „Einführung in die Politik“ zu schreiben. Sie stimmte zu und schrieb in einem Brief an
den Verleger, sie habe nicht vor, eine Einführung in die Politik als Wissenschaft zu schreiben. Es
ging ihr um eine Einführung in das, was Politik eigentlich ist und mit welchen Grundbedingungen
menschlichen Daseins das Politische zu tun hat.1
Es kam zwar zum Vertragsabschluss, doch erschien ihre „Einführung in die Politik“ nie, weil sie
durch andere Projekte beansprucht war.
Was Hannah Arendt unter Politik verstanden wissen wollte, erschließt sich uns deshalb aus ihren
anderen Schriften sowie aus Fragmenten, die aus ihrem Nachlass 1993 unter dem Titel „Was ist
Politik?“ von Ursula Lutz veröffentlicht wurden.
Damals wie heute haben ihre Gedanken wenig Bezug zur Praxis der Politik. Hannah Arendt
interessierte sich nicht für die Frage, wie zu regieren sei, und lag mit ihrem Verständnis von
Politik auch quer zu gängigen politischen Theorien. Das macht ihre Originalität als politische
Denkerin aus. Die einen bewerten ihre Aussagen als „apolitischen Begriff des Politischen2;
1
Hannah Arendt: Was ist Politik? Aus dem Nachlass. Hrsg. von Ursula Lutz. München 1993. S. 137 2
Otfried Höffe: Politische
Ethik im Gespräch mit Hannah Arendt. In: Die Zukunft des Politischen. Ausblicke auf Hannah Arendt. Frankfurt 1993. S. 32
andere sehen in ihren Gedanken zwar keine taugliche Einführung in die Politik, gleichwohl aber ein
wichtiges Korrektiv zur Politik.3
Herrschaft war für Hannah Arendt das Gegenteil von Politik. Deshalb bedeutete Totalitarismus in ihrem
Verständnis das Ende aller Politik.
Ihre Frage nach dem Sinn von Politik war eine nahezu verzweifelte Frage nach dem positiven Sinn des
Politischen, ausgehend von zwei Grunderfahrungen im zwanzigsten Jahrhundert: „Von der Entstehung
totalitärer Systeme in Gestalt des Nationalsozialismus und des Kommunismus und von der Tatsache,
dass die Politik heute, in Gestalt der Atombombe über die Technik verfügt, die Menschheit und damit jede
Art von Politik auszulöschen.“4
Ausgangspunkt ihres politischen Denkens waren Erfahrungen ihrer Zeit mit Politik, die so heillos waren,
dass man am Sinn jeglicher Politik verzweifeln könne. „Kriege und Revolutionen, nicht das Funktionieren
parlamentarischer Regierungen und demokratischer Parteiapparate, bilden die politischen
Grunderfahrungen unseres Jahrhunderts.“5
Vor dem Hintergrund der Perversion des Politischen und einer Herrschaft der Ideologie, die jeden
Widerstand unmöglich macht, erinnert Hannah Arendt an die Idee des Politischen in der griechischen
Polis, die mit Freiheit identisch ist.
Auf die konkrete Frage danach, was Politik sei, antwortet sie: „Politik beruht auf der Tatsache der
Pluralität der Menschen. Gott hat den Menschen geschaffen, die Menschen sind ein menschliches,
irdisches Produkt, das Produkt der menschlichen Natur.“6
Dem wissenschaftlichen Denken in Philosophie und Theologie wirft sie vor, deshalb keine gültige Antwort
auf die Frage nach der Politik gefunden zu haben, weil sie sich ausschließlich mit dem Menschen
beschäftigen. Politik hingegen handle vom „Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen“.
Anders als Aristoteles geht Hannah Arendt nicht vom Menschen als zoon politikon aus, vielmehr davon,
dass Politik zwischen den Menschen entsteht. Freiheit und Spontaneität unterschiedlicher Menschen sind
nach Hannah Arendt die notwendige Voraussetzung für die Entstehung eines zwischenmenschlichen
Raumes, in dem Politik erst wirklich möglich wird. In diesem Zusammenhang steht der zentrale Satz: „Der
Sinn von Politik ist Freiheit.“7
3
Erhard Eppler: Die Wiederkehr der Politik. Frankfurt und Leipzig 1998. S. 45 4
Kurt Sontheimer: Hannah Arendt. München 2005.
S. 96 5
Hannah Arendt: Was ist Politik? S. 124 6
ebd. S. 9 7
ebd. S. 28
Hannah Arendt wählt letztlich einen anthropologischen Ansatz zum Verständnis der Sinnhaftigkeit des
Politischen.
Politik soll danach Raum schaffen für die Freiheit und Spontaneität der Menschen. Dahinter steckt ein
anthropologischer Optimismus: Menschen können handeln, Initiativen ergreifen, einen neuen Anfang
setzen. „Das Wunder der Freiheit liegt in diesem Anfangen-Können beschlossen, das seinerseits
wiederum in dem Faktum beschlossen liegt, dass jeder Mensch, sofern er durch Geburt in die Welt
gekommen ist, die vor ihm da war und nach ihm weitergeht, selber ein neuer Anfang ist.“8
Natalität, die menschliche Fähigkeit zum Anfangen-Können, weil er selber Anfang ist, begründet den Sinn
des Politischen.
II.
Öffentlichkeit ist für Hannah Arendt ein Raum der Freiheit, in dem Menschen frei miteinander reden und
untereinander handeln. Margaret Canovan deutet diesen Gedanken so:
„Als Menschen haben wir die Gabe der Eigeninitiative und Pluralität; deshalb sind wir in der Lage,
zwischen uns einen Raum zu gestalten, in dem eine humane Welt entstehen kann… Durch
Vereinbarungen miteinander können wir innerhalb dieses Raumes Macht und Autorität entfalten. Wir
können uns gegenseitig Rechte verleihen und so ein gewisses Maß an Stabilität erreichen, um unser
sterbliches Leben zu schützen. In anderen Worten: Es ist allein die Politik, welche uns die Möglichkeit
gibt, eine gesetzlose Wüste menschlich zu gestalten.“9
Hannah Arendt glaubte nicht, dass Politik Freiheit und Gerechtigkeit schaffen oder moralischen Zielen
dienen kann. Für ihr Verständnis des Politischen ist die fundamentale menschliche Bedingtheit der
Pluralität grundlegend. Indem wir die Tatsache akzeptieren, dass wir die Erde mit anderen teilen, die uns
gleichen und wiederum nicht gleichen, schaffen wir die Grundlage für ein solides Zusammenleben der
Menschen, das vor Totalitarismus schützt.
Eine ihrer wichtigsten Beiträge zur politischen Philosophie ist, den zentralen Stellenwert der Herstellung
von Öffentlichkeit bewusst gemacht zu haben.
8
ebd. S. 24 9
Margaret Canovan: Hannah Arendt. A reinterpretation of her political thought. Cambridge Univ. Press. 1992. S.
Ich komme noch einmal auf die Freiheit zurück. Nach Hannah Arendt ist Freiheit nicht Zweck der Politik.
Politik findet nicht statt, damit Freiheit möglich wird. Vielmehr ereignet sich menschliche Freiheit im
politischen Handeln. Damit meint sie die Freiheit, „einen neuen Anfang zu setzen, etwas Neues zu
beginnen.“10
Quer zu den gängigen politischen Theorien liegt bei Hannah Arendt vor allem die Annahme, dass Politik
nicht die Sorge um die Güter des Lebens wie Wirtschaft und Arbeit betrifft, vielmehr von all dem losgelöst
sein soll. Im Mittelpunkt der Politik steht dann nicht die Sorge um die Welt, sondern um den einzelnen
Menschen. Das ist dann wohl auch der Grund, warum von Kritikern ein eher apolitischer Begriff des
Politischen bei ihr angenommen wird. Manche sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer
„normativen Lücke“.11
Dieser Vorwurf bezieht sich darauf, dass Hannah Arendt skeptisch sei, dass
moralische Überzeugungen und Grundsätze die Politik bändigen können, ihr eine Richtung geben oder
sie kontrollieren können.
Hannah Arendt beschäftigt sich also weder mit den uns bekannten Sorgen und Aufgaben realer Politik
noch mit Grundfragen des Parlamentarismus oder der Arbeitsweise von Verwaltungen. Es interessiert sie
nicht, wie regiert wird. Wir verstehen sie nur, wenn wir den anthropologischen Wurzeln ihres Denkens
nachspüren. Sie hat letztlich einen existenziellen Ansatz gewählt. Sie orientiert sich nicht an
Notwendigkeiten, sondern sieht die Bewährung politischen Handelns gerade da, wo Entwicklungen und
vermeintliche Notwendigkeiten nicht einfach hingenommen werden.
„Wenn der Sinn von Politik Freiheit ist, so heißt dies, dass wir in diesem Raum – und in keinem anderen –
in der Tat das Recht haben, Wunder zu erwarten.“12
Sie spricht dem Menschen die Fähigkeit zu, das Unwahrscheinliche und Unerrechenbare leisten zu
können.
Damit formuliert sie eine heilende Gegenposition zu der in der Entwicklung der Moderne zutage
getretenen Gefahr und Bedrohung - eine heilende Gegenposition, die durch angemessenes Handeln
entsteht. Der handelnde Mensch erweist seine Politikfähigkeit in der Akzeptanz von Pluralität und der
Gestaltung einer Öffentlichkeit gegen jede totalitäre Gefahr.
Zu ihrem Vermächtnis gehört von daher auch das Plädoyer für die Bedeutung des Handelns. Der Bürger
soll handeln, es nicht anderen überlassen, vielmehr persönliche Verantwortung übernehmen.
10
ebd. S. 34 11
Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Hamburg 1998. S. 302 12
ebd. S. 35
Erhard Eppler bewertet das politische Denken Hannah Arendts so: „Hannah Arendt hat versucht, der
Politik ihre Würde zurückzugeben, nach all der Perversion und Vernichtung des Politischen, die sie erlebt
und erlitten hatte.“13
Allerdings weist auch er darauf hin, dass sie Politik jenseits „der materiellen Notwendigkeiten“ ansiedelt.
Dabei kann davon ausgegangen werden, dass sie um diese materiellen Notwendigkeiten und die Fakten
des politischen Alltags sehr wohl wusste. Dennoch konzentriert sie sich auf die Fähigkeit des Menschen,
in der Gestaltung der Beziehungen von Menschen, in der Schaffung eines Raums der Öffentlichkeit die
eigentlich Freiheit stiftende Fähigkeit in einem demokratischen Gemeinwesen als das Herzstück und die
Konstituierung von Politik zu sehen.
Im April 1975 erhält Hannah Arendt in Kopenhagen den Sonnig-Preis. Dabei spricht sie von ihrer Sorge
über die modernen Staaten: „Diese entwickeln sich zu Bürokratien, das heißt zu einer Herrschaft weder
von Gesetzen noch von Menschen, sondern von anonymen Büros oder Computern, deren völlig
entpersonalisierte Übermacht sich als eine größere Bedrohung der Freiheit herausstellen mag als die
empörendste Willkür von Tyrannen in der Vergangenheit.“14
Wo das Öffentliche und Politische dem Menschen in so beschriebener Weise gegenübertritt, sieht sie die
Gefahr der Entpersonalisierung und damit eine Gefahr für die Freiheit. Immer schwingt dann aber auch
ihre Hoffnung und ihr Vertrauen auf die menschliche Kraft zu unterbrechen und neu anzufangen und eben
das Recht auf ein Wunder zu haben mit. Neu beginnen zu können, macht den Menschen unabhängig von
den Sachzwängen und materiellen Notwendigkeiten.
Hannah Arendt wollte sich nicht mit der Politik als Wissenschaft beschäftigen. Die Originalität
ihres Denkens besteht in der Überzeugung, im freien Handeln zusammenlebender Menschen die
Kraft zur Unterbrechung und zum Neubeginn zu sehen. Um die Stärkung dieser Kraft ging es ihr
– eben als heilende Gegenposition gegen den Totalitarismus. Aus dieser Kraft heraus wächst
Freiheit und erschließt sich das Verständnis ihres Satzes: „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“
13
Erhad Eppler: Die Wiederkehr der Politik. S. 43 14
Reinhard Kahl: Zur Aktualität von Hannah Arendt, die vor 100 Jahren geboren
wurde. NDR Kultur. Kulturforum am 10. Oktober 2006
III.
Auf das politische Denken von Hannah Arendt gibt es vor allem zwei Reaktionen: Zum einen ein
regelrechter Hannah- Arendt-Kult, der übersieht, dass mit ihrer Konzentration auf die von ihr
beschriebenen anthropologischen Wurzeln noch längst nicht Politik in ihrer Realität beschrieben ist. Die
Erwartungen an Politik beziehen sich eben nicht nur auf die Möglichkeiten des einzelnen Menschen
gegen alles Totalitäre, sondern auch auf die öffentlichen Güter und ihre gerechte Verteilung, auf
Daseinssorge und die funktionierende Unterscheidung der Legislative von der Exekutive; sie beziehen
sich auf die Sorge um die Welt. Politik jenseits der materiellen Notwendigkeiten anzusiedeln, bedeutet,
diese Erwartungen auszublenden. Auf der anderen Seite wird ihr vorgeworfen, eine „demokratische
Extremistin“ zu sein.15
Damit wird unterschätzt, dass mit der von ihr beschriebenen Fähigkeit des
Menschen zur Unterbrechung bestehender Entwicklungen und zum Anfangen-Können auch ausgesagt
ist, „dass Menschen nicht die Gefangenen ihrer Herkunft und des großen Ganzen sein müssen.“16
Das ist
nicht wenig.
Wir beschäftigen uns mit Hannah Arendt anlässlich ihres 100. Geburtstages in einer Zeit, in der viel von
den Überforderungen der Politik gesprochen wird. In der Tat ist die Bürokratie in Deutschland seit über 30
Jahren rasant gestiegen. Zugleich ist der Eindruck entstanden, dass alles Wünschbare in einen
Rechtsanspruch umgewandelt wird. Politik wird mit immer neuen Ansprüchen konfrontiert und wirkt
zugleich unverständlich und anonym. Die Akteure der Politik verweisen regelmäßig auf Sachzwänge und
darauf, dass sie schwerlich anders handeln können, als sie es tun, weil die Lage ist, wie sie ist. Die
dramatische Lage der öffentlichen Haushalte, die instabile Situation der sozialen Sicherungssysteme, die
vielen gesetzlichen Ansprüche und Fördertatbestände, an die wir uns gewöhnt haben – all das sind
Hinweise, die gegeben werden und einerseits als Ergebnis bisherigen Interessenausgleichs gewertet
werden, zugleich aber als veränderungsbedürftig gelten. Die Veränderung ist jeweils mit schmerzhaften
Debatten und gegenseitigen Vorwürfen der Parteien verbunden, die dazu führen, dass die einen finden,
es geschehe zu wenig, den anderen aber die Veränderungen bereits zu weit gehen.
Es entsteht der Eindruck, es geschehe entweder nichts, Probleme würden nicht gelöst oder aber, wo sich
Problemlösungen anbahnen, seien es die falschen Lösungen. In solcher Lage kann sehr wohl an die Kraft
der Freiheit erinnert werden. Udo di Fabio tut dies, indem er darauf hinweist:
15
Gerhard Besier: Demokratische Extremistin. Die Welt. 12. Oktober 2006 16
Thomas Schmid: Der Sinn von Politik ist Freiheit. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
8. Oktober 2006. Nr. 40. S. 15
„Die tiefste und folgenreichste Setzung unseres Menschenbildes, das auch die Vorstellung der richtigen
Gesellschaft beherrscht, ist die des Menschen als freies und selbstverantwortliches Subjekt. Wir stellen
uns dem Menschen, den seine Würde nicht genommen wird, als den Citoyen vor: mit aufrechtem Gang,
selbstbewusst, frei, für sich verantwortlich.“17
Genau darüber, dass das Bewusstsein des Citoyen in unserer Gesellschaft allzu sehr verloren gegangen
sei, wird heute viel diskutiert. Auch darüber, dass es eine neue Bürgerlichkeit geben müsse, die auch
dazu führe, dass sich die Gesellschaft als relevante Größe wieder entdecken müsse, deren Bürgerinnen
und Bürger ihre Gestaltungskraft ernst nehmen und sich als politische Subjekte verstehen.
Entwicklungen zu unterbrechen, anfangen zu können, setzt Selbstbewusstsein der Bürgerinnen und
Bürger voraus.
Diese Kraft einzusetzen, setzt eine Mentalität voraus, die nicht vorrangig im Bisherigen Sicherheit zu
erkennen vermag. Sie setzt Risikobereitschaft voraus. Sie braucht die Bereitschaft zum Wagnis. Wo
bestehendes Regelwerk zwar kritisiert, zugleich aber als Faustpfand in der Hand gehalten wird, weil nicht
sicher ist, welche Konsequenzen das Anfangen-Können in sich birgt, da wird eben jene Kraft, die Hannah
Arendt dem Menschen zuschreibt, schwerlich entfaltet werden können.
Man kann aus guten Gründen sagen, dass Hannah Arendt das Ganze der politischen Kultur nicht im Blick
hatte. Ebenso richtig ist die Feststellung, dass staatliches Handeln nicht schon das Ganze der politischen
Kultur ausmacht. Beides gehört zu einer lebendigen Demokratie und zur Zukunftsfähigkeit eines Landes:
Die Kraft zu Freiheit und individueller Verantwortung einerseits und die Fähigkeit zu einem
Interessenausgleich, der nicht Stillstand verursacht, sondern überzeugende Wege in die Zukunft
ermöglicht.
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen:
Wenn wir in Deutschland an soziale Sicherheit denken, dann denken wir automatisch an die sozialen
Sicherungssysteme. Natürlich dürfen wir sie nicht unterschätzen. Zugleich sprechen wir in der Politik von
Nachhaltigkeit. Sie betrifft eine Verantwortung, die über die je aktuelle Generation hinausgeht. Damit ist
die Frage nach der Sicherheit für künftige Generationen zu berücksichtigen. Wer heute in Deutschland
und in Europa an Zukunftsfähigkeit, an künftigen geistigen und materiellen Wohlstand denkt, der kann
nicht nur an soziale Sicherungssysteme denken.
17
Udo de Fabio: Die kulturelle Freiheit. München 2005. S. 70
Der muss sich mit den Voraussetzungen von Innovationsfähigkeit beschäftigen. Deshalb misst die
Bundesregierung der Innovationsfähigkeit und den damit verbundenen Investitionen in Forschung und
Entwicklung eine besondere Bedeutung bei. Erhebliche zusätzliche Investitionen in Höhe von sechs
Milliarden Euro sind für diese Legislaturperiode vorgesehen. Das ist ein Signal an jene in unserer
Gesellschaft, die in Hochschulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und innovativen
Unternehmen neue Ideen entwickeln und sie in neue Produkte, neue Dienstleistungen und Verfahren
umsetzen. Forschung und Entwicklung sind die klassischen Felder, in denen Neues entsteht, in denen
Unvorhergesehenes möglich ist, in denen Forscherinnen und Forscher sich nicht mit bisherigen
Erkenntnissen zufrieden geben, ihr Ethos vielmehr darin besteht, Neues, bislang nicht Dagewesenes, zu
erreichen. Unmögliches möglich machen, heißt ihr Ziel.
Öffentliche Diskussionen zeigen gleichwohl, dass das Bewusstsein für die Kraft und die Möglichkeiten, die
in mehr Innovationsfähigkeit für unsere Gesellschaft liegen, noch längst nicht erkannt sind.
Hannah Arendt kann uns stärken in dem Bewusstsein, dass menschliche Kraft und der Wille zur Freiheit
mehr möglich macht, als wir annehmen. Sie kann uns bestärken in dem Selbstbewusstsein, dass Zukunft
nicht schon das Ergebnis von Bürokratie und dichtem Regelwerk ist. Ihr politisches Denken ist nicht
zuletzt der Appell, nicht einzig auf Institutionen zu setzen, sondern individuelle Verantwortung
wahrzunehmen. Es ist der Appell, Freiheit zu mögen und zu wollen, die sich ereignet, wenn politische
Öffentlichkeit entsteht.
Ein solcher Appell kommt zur rechten Zeit – auch heute. Der Glaube an die Institutionen und ihre
Wirkmechanismen ist überdimensional gewachsen. Im gleichen Maße schwindet das Bewusstsein dafür,
dass individuelle Verantwortung Wirklichkeit verändert. Selbst zu handeln, das Handeln nicht anderen zu
überlassen, auch das haben wir als Appell von Hannah Arendt wahrgenommen. Das ist ein sehr
realitätsnaher Appell, der keineswegs jenseits materieller Notwendigkeiten anzusetzen ist, der sich
vielmehr letztlich bezieht auf die Zukunftsfähigkeit unseres Landes und darauf, inwieweit es uns gelingt,
heute Voraussetzungen zu schaffen, die künftigen Generationen eben jene Freiräume zum Handeln und
jene Stabilität ermöglichen, die wir für uns beanspruchen.