12
– 1 – Werner Jank Vortrag auf dem 6. Mainzer musikpädagogischen Seminar: Elementares Musizieren (15./16. Oktober 2004) Aufbauendes Musiklernen in der Schule Ausgangspunkte – Wege – Perspektiven Meine sehr geehrten Damen und Herren, mein Vortrag gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil nenne ich vier Ausgangspunkte meiner Überlegungen, im zweiten Teil skizzie- re ich den Weg eines aufbauenden Musikunterrichts, der vom elementaren Musizieren aus- geht, in drei Praxisfeldern, und im dritten Teil deute ich mit Hilfe von zwei Aspekten Per- spektiven an. 1. Ausgangspunkte 1.1 Problemaufriss: Zur Situation des Musikunterrichts an allgemein bildenden Schu- len Für Musik stark wie für kein anderes Schulfach: Ein außerordentlich großes außerschulisches Interesse der Schülerinnen und Schüler am Gegenstand steht schroff einem Desinteresse, ja manchmal der Ablehnung des Schulfachs durch einen erheblichen Teil der Schüler gegen- über. Und in wohl kaum einem anderen Schulfach klaffen das hohe Engagement vieler Musiklehrer für ihr Fach auf der einen Seite und der tatsächliche Unterrichtserfolg und das öffentliche An- sehen des Fachs auf der anderen Seite so weit auseinander wie hier. Ich will – sicherlich un- vollständig – einige der Problemzonen des Fachs benennen: a) Stoffliche Überfüllung und Konzeptionslosigkeit In den letzten rund drei Jahrzehnten hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Inhalte des Musik- unterrichts aktueller und attraktiver zu gestalten. Das hat zu einer ungeheuren Ausweitung der Themenfelder geführt: Zu den traditionellen Inhalten aus Kunstmusik, Volkslied und Musik- theorie traten Rock, Pop, HipHop, Techno und Jazz, Videoclips, Film- und Werbemusik, Mu- sik anderer Kulturen, Musicals, Musik und Computer, Tanz bzw. Musik und Bewegung, In- strumentales Klassenmusizieren und noch vieles mehr. Auch das Methodenrepertoire der Un- terrichtsgestaltung wurde ständig erweitert. Unsere musikpädagogische Gegenwart ist daher so heterogen wie nie zuvor. An ein und der- selben Schule kann man staubtrockene, theorie- und kopflastige Musikstunden neben einem lebendigen, musikpraktischen Unterricht mit Keyboards oder Trommeln als Klasseninstru- ment erleben. Die gegenwärtige Musikdidaktik scheint beliebig ausweitbar, in ihrer Substanz aber kaum mehr zu fassen. Die Kehrseite davon ist aber: Die Schüler erkennen die patchwork-artig bunte Beliebigkeit der angebotenen Stoffe und Me- thoden. Oft stellen sie bei sich selbst wenig erkennbaren Zuwachs an musikspezifischer Kom- petenz fest. Viele Schülerinnen und Schüler nehmen daher das Fach Musik nicht recht ernst. Und oft haben sie leider Recht damit: Wir verweigern den Kindern und Jugendlichen in der Schule wirkliche musikalische Lernerfolge, indem wir sie paradoxerweise trotz unseres the- matischen Überangebots in musikalischer Hinsicht unterfordern.

Vortrag_Jank-1

Embed Size (px)

Citation preview

– 1 –

Werner Jank Vortrag auf dem 6. Mainzer musikpädagogischen Seminar: Elementares Musizieren (15./16. Oktober 2004)

Aufbauendes Musiklernen in der Schule Ausgangspunkte – Wege – Perspektiven

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

mein Vortrag gliedert sich in drei Teile:

Im ersten Teil nenne ich vier Ausgangspunkte meiner Überlegungen, im zweiten Teil skizzie-re ich den Weg eines aufbauenden Musikunterrichts, der vom elementaren Musizieren aus-geht, in drei Praxisfeldern, und im dritten Teil deute ich mit Hilfe von zwei Aspekten Per-spektiven an.

1. Ausgangspunkte

1.1 Problemaufriss: Zur Situation des Musikunterrichts an allgemein bildenden Schu-

len

Für Musik stark wie für kein anderes Schulfach: Ein außerordentlich großes außerschulisches Interesse der Schülerinnen und Schüler am Gegenstand steht schroff einem Desinteresse, ja manchmal der Ablehnung des Schulfachs durch einen erheblichen Teil der Schüler gegen-über.

Und in wohl kaum einem anderen Schulfach klaffen das hohe Engagement vieler Musiklehrer für ihr Fach auf der einen Seite und der tatsächliche Unterrichtserfolg und das öffentliche An-sehen des Fachs auf der anderen Seite so weit auseinander wie hier. Ich will – sicherlich un-vollständig – einige der Problemzonen des Fachs benennen:

a) Stoffliche Überfüllung und Konzeptionslosigkeit

In den letzten rund drei Jahrzehnten hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Inhalte des Musik-unterrichts aktueller und attraktiver zu gestalten. Das hat zu einer ungeheuren Ausweitung der Themenfelder geführt: Zu den traditionellen Inhalten aus Kunstmusik, Volkslied und Musik-theorie traten Rock, Pop, HipHop, Techno und Jazz, Videoclips, Film- und Werbemusik, Mu-sik anderer Kulturen, Musicals, Musik und Computer, Tanz bzw. Musik und Bewegung, In-strumentales Klassenmusizieren und noch vieles mehr. Auch das Methodenrepertoire der Un-terrichtsgestaltung wurde ständig erweitert.

Unsere musikpädagogische Gegenwart ist daher so heterogen wie nie zuvor. An ein und der-selben Schule kann man staubtrockene, theorie- und kopflastige Musikstunden neben einem lebendigen, musikpraktischen Unterricht mit Keyboards oder Trommeln als Klasseninstru-ment erleben. Die gegenwärtige Musikdidaktik scheint beliebig ausweitbar, in ihrer Substanz aber kaum mehr zu fassen. Die Kehrseite davon ist aber:

Die Schüler erkennen die patchwork-artig bunte Beliebigkeit der angebotenen Stoffe und Me-thoden. Oft stellen sie bei sich selbst wenig erkennbaren Zuwachs an musikspezifischer Kom-petenz fest. Viele Schülerinnen und Schüler nehmen daher das Fach Musik nicht recht ernst. Und oft haben sie leider Recht damit: Wir verweigern den Kindern und Jugendlichen in der Schule wirkliche musikalische Lernerfolge, indem wir sie paradoxerweise trotz unseres the-matischen Überangebots in musikalischer Hinsicht unterfordern.

– 2 –

Dieses kritische Bild, das ich eben gezeichnet habe, beschreibt allerdings nicht die ganze Wahrheit. Richtig ist, dass zahlreiche Musikpädagogen mit unterschiedlichsten Modellen z.B. des instrumentalen und vokalen Klassenmusizierens nach einer Neuorientierung des Faches suchen, und dies mit größtem persönlichen Einsatz und sehr guten Erfolgen. Ein Beispiel ist die Einrichtung von Streicher- und Bläserklassen, ein anderes geben die Kooperationsprojekte von Musikschulen und allgemein bildenden Schulen in Hessen, und weitere Beispiele liefern viele der Projekte, die am musikpädagogischen Wettbewerb „Elementares Musizieren“ teil-genommen haben und von denen wir morgen einige mit Preisen auszeichnen können. Aller-dings entfalten solche Ansätze nur zögerlich Breitenwirkung. Hier in Mainz und in der enge-ren Umgebung trägt man, was die Einrichtung von Streicher- und Bläserklassen betrifft, Eu-len nach Athen – aber auf die Gesamtsituation bezogen sind solche Projekte eher kleinere oder größere Inseln. Umso wichtiger ist es, sie zu stärken und deshalb ist den Organisatoren und Sponsoren des Wettbewerbs sehr zu danken für diese Initiative.

b) Zu wenig Kontinuität im Musikunterricht

In dem bisher Gesagten deutete es sich schon an: In der Schulwirklichkeit fehlt es dem Mu-sikunterricht an Kontinuität. Dies in zweifacher Hinsicht:

• Es fehlt ihm an der äußeren Kontinuität eines durchgehend erteilten Unterrichts: Der Musikunterricht in der Grundschule wird weitgehend punktuell und nur ausnahmswei-se von ausgebildeten Fachlehrerinnen erteilt oder er geht in Fächerverbunden auf (wie in Baden-Württemberg seit Beginn dieses Schuljahrs). Auf der Sekundarstufe I der verschie-denen Schulformen gibt es ebenfalls z. T. gravierenden Lehrermangel und das Gewicht des Faches in der Stundentafel sinkt; oft wird der Unterricht im halbjährlichen Wechsel mit Kunst erteilt; mancherorts kann das Fach schon ab Klasse 7 abgewählt werden. Auf der gymnasialen Oberstufe wird Musik immer weniger angewählt. Konsequent aufbauender Musikunterricht in Arbeitsfeldern wie Singen, Musizieren, Musik erfinden, Musikwissen ist auf solcher Grundlage gar nicht realisierbar. Die fachpolitische Forderung danach, ü-berhaupt erst einmal die Rahmenbedingungen für einen aufbauenden, gedeihlichen Musik-unterricht sicherzustellen, ist deshalb besonders wichtig. In Zeiten, in denen die Standards schulischen Lernens durch Output-Orientierung und Evaluation gesichert werden sollen, muss immer wieder bewusst gemacht werden, dass ohne den entsprechenden Input, näm-lich die Herstellung der notwendigen Rahmenbedingungen, der gewünschte Output Wunschdenken bleiben muss.

• Wir können aber leider nicht alles auf die zweifellos schlechten Rahmenbedingungen ab-wälzen. Es fehlt dem Musikunterricht nämlich auch an der inneren Kontinuität eines in der Sache und im Lernen Schritt für Schritt aufbauenden Unterrichts: Der Aufbau der Inhalte wird kaum irgendwo nicht fortschreitend strukturiert, wie das in Fremdsprachen, Mathematik oder naturwissenschaftlichen Fächern zumindest dem An-spruch nach der Fall ist. Arbeiten wie die von Wilfried Gruhn, der immer wieder die Not-wendigkeit eines sequentiell voranschreitenden Unterrichts lernpsychologisch untermauert hat, werden nur zögerlich wahrgenommen, so dass in der musikdidaktischen Theorie und in der Unterrichtspraxis noch weitgehend unklar ist, was ein aufbauender Musikunterricht leisten könnte und wie er im Einzelnen strukturiert sein müsste.

c) Zu wenig Musikpraxis im Musikunterricht

Zwar gibt es mittlerweile eine große Fülle an Unterrichtsmaterialien zur Musikpraxis im Klassenunterricht und ständig wird das Prinzip der Handlungsorientierung beschworen – aber es wird zu selten danach gehandelt. Musik ist dadurch auch heute noch – v. a. am Gymnasi-um, aber auch z. T. an Haupt- und Realschulen – ein recht theoretisches Fach. Das eigene

– 3 –

Musizieren spielt im Unterricht nicht die Rolle, die ihm als originärem Kern eines Unter-richtsfaches Musik zukommen müsste.

d) Zu viel theoretisches Wissen über Musik

Dies ist die Kehrseite des zuvor genannten Punkts. Schulischer Musikunterricht, vor allem am Gymnasium, ist oft analysebetont. Er vermittelt eher Wissen über Musik: Regeln und Merk-sätze über Tondauern und Intervalle, der Quintenzirkel u.a.m. werden auswendig gelernt, In-tervalle und Dreiklänge werden errechnet und formale Abläufe in Buchstabenschemata ge-fasst. Dem auf diese Weise erarbeiteten Wissen über Musik fehlt meistens eine klangliche Vorstellung. Der Musikunterricht zielt einseitig auf begriffliche Benennungen, ohne daran zu arbeiten, dass das, was benannt werden soll, vorher musikalisch verstanden werden muss. Er klebt an Begriffen, ohne das Begreifen zu befördern.

1.2 Zum entwicklungspsychologischen Rahmen

In der Entwicklungspsychologie gibt es viele offene Fragen und Unklarheiten – aber eines ist unbestritten: Der Erwerb von Fähigkeiten in einer bestimmten Domäne – wie z. B. Musik – hängt entscheidend von einer frühen Förderung ab. Eine wesentliche Aussage der musikali-schen Entwicklungspsychologie ist die folgende (Stadler Elmer 2000):

Die Entwicklung grundlegender musikalischer Fähigkeiten entfaltet sich im Zusammenspiel von • Hören, • Sich in Verbindung mit Musik bzw. Klängen bewegen und • dem Erzeugen von Lauten und Klängen (beim Vokalisieren und später beim Singen; mit

Instrumenten und Gegenständen).

Abb. 1: Drei Grundbereiche musikalischen Handelns und ihr Zusammenspiel

Diese drei Bereiche des musikalischen Handelns gehören im Kindesalter untrennbar zusam-men (Stadler Elmer 2000; vgl. auch Kleinen 2003, 158-162). Indem ein Kind Klänge und Laute erzeugt und gestaltet, vermittelt es ganz unbewusst und automatisch zwischen seiner (Selbst-)Wahrnehmung und seiner Bewegung. Erst allmählich lernen Kinder, die drei Hand-lungsbereiche bewusst voneinander getrennt wahrzunehmen und auszuüben. Der Weg bis dorthin verläuft individuell verschieden. Vielfach ist er beim Übergang in die Sekundarstufe I noch nicht abgeschlossen. Deshalb gilt für die Primarstufe, aber auch für die Sekundarstufe I:

Musikalische Lernprozesse sollen vom Zusammenspiel der drei Grundbereiche musikalischen Handelns ausgehen: Sich bewegen, Hören und Klänge erzeugen bzw. gestalten.

Sich be-

wegen

Hören Klänge

erzeugen

– 4 –

Ein solches Zusammenspiel ist z. B. möglich � in der Koordination von Musik und Bewegung beim Tanzen, � im Üben von Rhythmen mit Body Percussion, � mit Bewegungsliedern, � beim Hören von Musik mit Hörhilfen wie grafischer Notation, Zuordnungs- und Puzzle-

Spielen u. ä., � im Nachdenken über Musik (ihre Struktur, ihre Wirkung, …) ausgehend von selbst gestal-

teter (erfundener, improvisierter, arrangierter) Musik. � in der Umgestaltung von einem Ausdrucksbereich in einen anderen, etwa von Sprache in

Musik (durch die klangliche Gestaltung eines Lautgedichts) oder von Musik in ein Bild (durch das Malen von Bildern zu Musikstücken) usw.

1.3 Zum lernpsychologischen Rahmen

Célestin Freinet, der berühmte Reformpädagoge, hat sehr schön karikiert, was in der Schule oft geschieht:

„Seien wir ehrlich: Wenn man es den Pädago-gen überlassen würde, den Kindern das Fahr-radfahren beizubringen, gäbe es nicht viele Radfahrer. Bevor man auf ein Fahrrad steigt, muss man es doch kennen … Man muss die Teile, aus denen es zusammengesetzt ist, einzeln, von oben bis unten, betrachten und mit Erfolge viele Versuche mit den mechanischen Grund-lagen der Übersetzung und mit dem Gleich-gewicht absolviert haben. Danach – aber nur danach! – würde dem Kind erlaubt, auf das Fahrrad zu steigen. Oh, keine Angst vor Übereilung … Man würde es doch nicht ganz unbedacht auf einer schwierigen Straße loslassen, wo es möglicherweise die Passanten gefährdet. Die Pädagogen hätten selbst-verständlich gute Übungsfahrräder entwickelt, die auf einem Stativ befestigt sind, ins Leere drehen, und auf denen die Kinder ohne Risiko lernen können, sich auf dem Sattel zu halten … Glücklicherweise machen die Kinder solchen allzu klugen und allzu methodischen Vorhaben der Pädagogen von vornherein einen Strich durch die Rechnung. In einer Scheune entdecken sie einen alten Bock ohne Reifen und Bremse und heimlich lernen sie im Nu aufzusteigen, so wie im Übrigen alle Kinder lernen: Ohne irgendwelche Kenntnis von Regeln oder Grundsät-zen grapschen sie sich die Maschine, steuern auf den Abhang zu und … landen im Straßen-graben. Hartnäckig fangen sie von vorne an und – in einer Rekordzeit können sie Fahrrad fah-ren. Übung macht den Rest“ (Freinet 1980, S. 21).

Meine Vorstellung vom Musik-Lernen geht wie Freinet davon aus, dass das eigene Handeln die Basis und der Ausgangspunkt des Lernens und damit Grundlage der Bildung von Auffassungsschemata, Kategorien und Begriffen ist – in unserem Fach Musik deshalb ganz zentral das musikalische Handeln in Form des eigenen Musizierens der Kinder (Jank 2005). Der Weg des Lernens geht meiner Vorstellung nach aus vom eigenen Tun bzw. Handeln, das durch Übung und Wiederholung zum Können weiterentwickelt und damit zum Fundament des Wissens und Nachdenkens über Musik wird. Dieses kann nun wieder neue Möglichkeiten des Handelns erschließen.

Das richtige Bild dafür ist die Spirale.

– 5 –

Kurz gefasst: Vom Handeln zum Können, vom Können zum Wissen und vom Wissen zum Beg-riff.

Die Struktur eines solchen Lernweges bedarf unter anderem der „sequentiellen Anordnung der Lern-schritte“, wie Wilfried Gruhn erläutert hat (Gruhn 1999, S. 69).

Im zeitlichen Verlauf des Entwicklungs- und Lernprozesses zielt Musikunterricht, wie ich ihn mit vorstelle, auf die schrittweise Erweiterung der • musikalischen Handlungsfähigkeit und des

musikalischen Könnens, • musikalisch-ästhetischen Erfahrungsfähigkeit, • Kenntnisse und des Wissens über Musik.

Das Ziel ist „verständige Musikpraxis“

Mein vierter und letzter Ausgangspunkt ist die übergeordnete Aufgabe eines aufbauenden Musikunterrichts. Auf der Basis bildungstheoretischer Überlegungen hat Hermann Josef Kai-ser die Aufgabe des Musikunterrichts umschrieben als den Weg vom gewohnten, alltäglichen, oft unbedarften musikalischen Umgang der Kinder und Jugendlichen zu einem verständigen Umgang mit Musik. In seinen eigenen Worten: Aufgabe des Musikunterrichts ist „die Über-führung (…) einer … usuellen Musikpraxis (wie sie durch die Jugendlichen in die Schule hi-neingetragen wird) in eine verständige Musikpraxis.“ Kaiser ergänzt: „und dies kann nicht anders als im Medium musikalischer Tätigkeit vonstatten gehen“ (Kaiser 1999, S. 10). Dieser Formulierung der Aufgabe des Musikunterrichts kann ich nur zustimmen.

2. Wege

Vor dem Hintergrund der vier Ausgangspunkte muss ein Musikunterricht, der verständige Musikpraxis bewirken will, sich nach meinem Verständnis in drei Praxisfeldern vollziehen:

1. Praxisfeld: Vielfältiges Musizieren und musikalisches Handeln

Im Zentrum des Musikunterrichts steht das eigene Musizieren und musikalische Handeln der Schülerinnen und Schüler. Gemeinsames Singen, Bewegungsspiele, Body Percussion und Tanz sowie verschiedene Formen des Instrumentalspiels in stilistischer Vielfalt bilden Grundlagen für die Aneignung musikalischer Fähigkeiten.

2. Praxisfeld: Musikalische Fähigkeiten aufbauen

Diese werden in unmittelbarer Verknüpfung mit dem Musizieren und musikbezogenen Handeln schrittweise und gezielt gefördert und kognitiv erschlossen.

3. Praxisfeld: Kultur erschließen

Kulturelle, gesellschaftliche und ästhetische Zusammenhänge und Hintergründe der im-mer schon mitgebrachten musikalischen Erfahrungen der Schüler begleiten die beiden zu-erst genannten Praxisfelder von Anfang an. Sie werden den Schülern mit steigender Kom-petenz und zunehmender Vielfalt der erfahrenen und ausgeübten musikalischen Tätigkei-ten mehr und mehr bewusst. Sie öffnen sich auch (aber nicht nur) zu Musik als ästheti-schem Phänomen im traditionellen Sinn.

Ich will diese drei Praxisfelder kurz skizzieren.

– 6 –

1. Praxisfeld: Vielfältiges Musizieren und musikalisches Handeln

Musizieren und musikbezogenes Handeln bilden das Zentrum eines aufbauenden Musikunter-richts. Darauf sollten auf der Sekundarstufe I deutlich mehr als die Hälfte der Unterrichtszeit entfallen und auf der Sekundarstufe II nicht weniger als ein Drittel. Gemeinsam Musizieren (Musik machen) kann man auf fünf Weisen (vgl. Elliott 1995, S. 40):

� ausführen (instrumental oder vokal), � komponieren, � arrangieren, � improvisieren, � einstudieren und leiten.

Musik machen ist in der Schulklasse in vielen verschiedenen Ensembles und Stilen möglich: Klassenchor und -orchester, Streicher-, Keyboard- oder Bläserklassen, Rock und Folklore, Afrikanisches Trommeln, Musizieren mit Orff-Instrumenten oder mit Boomwhackers, Samba batucada, Mini-Musicals, Live-Arrangement usw.

Musikbezogenes Handeln geschieht im Alltag von Kindern und Jugendlichen auf vielfältige und individuell sehr verschiedene Weise: Sie hören Musik, wählen aus, stellen Bezüge her zu ihren Gefühlen und Gedanken, sie tanzen, unterhalten sich über Musik und Musiker, beschäf-tigen sich mit Liedtexten, nehmen an Karaoke-Wettbewerben teil, lesen Musikzeitschriften, verschaffen sich musikbezogene Kenntnisse, experimentieren mit Musik-Software, besuchen Konzerte und Diskotheken usw. Musikalisches Lernen ergibt sich dabei mit – es ist nicht das eigentliche Anliegen. Trotzdem kann die Entfaltung der eigenen musikalischen Gebrauchs-praxis zu hochgradigem Expertentum führen, etwa bei Break-Dancern, Turn-Tablisten oder beim Erlernen eines Instruments.

Vorhin habe ich drei Grundbereiche musikalischen Handelns unterschieden: Sich in Verbin-dung mit Musik bzw. Klängen bewegen, Hören, Klänge erzeugen und gestalten. Das Musizie-ren und musikalische Handeln setzt die ständige Wechselwirkung der drei Grundbereiche in Gang und kann so zum Motor musikalischen Lernens werden. Zugleich verweisen diese drei Bereiche und ihre Wechselwirkungen auf die Perspektive übergeordneter Ziele einer musika-lisch-ästhetischen Erziehung:

o Die Differenzie-rung des Hörens steht im größeren Zusammenhang der Wahrneh-mungsschulung,

o die Förderung der koordinierten Bewegung zu Musik oder beim Musizieren selbst unterstützt die für die gesamte Entwicklung ei-nes Menschen wichtige senso-motorische Inte-gration,

o das Gestalten von Klängen fördert die Ent-wicklung von Selbstausdruck und Kreativität.

– 7 –

Musizieren und musikbezogenes Handeln bilden so die Grundlage für musikalisch-ästhetische Erfahrungen und für die Erschließung von Musik-Kultur. Umgekehrt fördert die Erfahrung von Kunst und Kultur die Entstehung von Maßstäben für die Qualität des eigenen Musizierens und musikalischen Handelns.

2. Praxisfeld: Musikalische Fähigkeiten aufbauen

Die Entwicklung musikalischer Kompetenz für das Musizieren und musikalische Handeln im eben beschriebenen Sinn braucht eine Grundlage: Sie bedarf der schrittweise aufbauenden Differenzierung durch Übung im Musizieren, Hören und Bewegen, sowie der schrittweisen Differenzierung des Musikwissens auf der Basis der eigenen Musiziererfahrungen. „Schritt-weise aufbauend“ bedeutet die sequenzielle Anordnung von Lernschritten und Übungen in einem Lehrprozess, der diese Lernschritte ständig in den größeren Zusammenhang von selbst gespielter und gehörter Musik integriert. Dabei muss für den Einzelnen auch subjektiv ein Zuwachs von Fähigkeiten und Kenntnissen erkennbar sein. Neue Lernschritte sind erst dann sinnvoll, wenn das Vermittelte mit früher erworbenen musikalischen Grundkompetenzen ver-knüpft wird.

Ziel des Aufbaus musikalischer Fähigkeiten ist es, „Musik musikalisch zu denken“:

„Wenn wir … einen Rhythmus spielen oder ein Lied singen, sollten wir in der Lage sein, den musikalischen Sinn des Gestalteten zu denken: beispielsweise das Metrum als ordnendes und als korrelierendes Element zum eigenen Pattern o ä. Erst dann kann es uns gelingen, Musik zu denken bzw. angemessen – wir können auch sagen: künstlerisch – zu gestalten“ (Schütz 1996, S. 7).

Der Unterricht geht vom Wechselspiel der drei Grundbereiche musikalischen Handelns aus und öffnet Wege zu den wichtigsten Teildimensionen musikalischer Kompetenz:

� Die musikalischen Tätigkeiten Singen und Instrumente spielen stehen im Zentrum des Pra-xisfelds „Fähigkeiten aufbauen“. Am Beginn der Sekundarstufe I stehen das Finden der ei-genen Stimmen, das Entdecken ihrer Möglichkeiten und die Erarbeitung eines breiten, sti-listisch vielfältigen Liedrepertoires. Stimmbildung und Singen gehören grundsätzlich zu-sammen. Von dort aus führt der Weg zu siebenstufigen Tonsystemen und zu melodischen Fähigkeiten. Ein kleiner Teil der Lieder sollte durch entsprechende Auswahl im Hinblick auf Stimmumfang, Rhythmus, Melodik und Harmonik einen schrittweisen Aufbau der Fä-higkeiten ermöglichen. So oft wie möglich sollten Instrumente hinzugenommen werden. Kinder, die ein Instrument lernen, sollten regelmäßig mitspielen, und die anderen an Stab-spiele, Keyboard, Percussion usw. herangeführt werden. Metro-rhythmische Fähigkeiten werden grundsätzlich in Verbindung mit Bewegung aufgebaut. Bewegung und Tanz sollten auch darüber hinaus so oft wie möglich integriert werden.

� Ein in dieser Weise vom eigenen musikalischen Gestalten ausgehender Musikunterricht führt bei den meisten Schülern schnell zur Fähigkeit, Musik zu lesen und zu notieren, ohne dass ein umständlich-theoretischer Notenlehrgang durchgeführt werden müsste (ein Bei-spiel zum Aufbau metro-rhythmischer Fähigkeiten ist zu finden bei Bähr/Fuchs/Gallus/Jank 2004, S. 430-473). Möglichst früh sollten Möglichkeiten des Variierens und kurzer Impro-visationen einbezogen werden (z.B. ausgehend von Call-and-response-Liedern und kleinen Rondos), um Wege zum selbständigen und kreativen Bearbeiten und Erfinden zu öffnen.

� Alle diese musikalischen Tätigkeiten erfordern ein immer genaueres Hören und bilden die Basis für das zunehmend sachangemessene und die Fachsprache einbeziehende Beschrei-ben von Musik. Das Herstellen von Kontexten (Funktionsbezüge der Musik, Umgangswei-sen, kulturelle und historische Bezüge usw.) kann auf diesen Grundlagen aufbauend aus der eigenen, musikalischen Tätigkeit und Erfahrung der Kinder mit Musik heraus entwickelt werden.

– 8 –

Im Interesse aufbauender und nachhaltiger Lernfortschritte halte ich es für sinnvoll, in den Rahmen eines solchen Lernangebots systematisierte, lehrgangsähnliche Anteile einzufügen. In ihnen können abgrenzbare, grundlegende musikalische Fähigkeiten erworben werden, die beim Musizieren und musikbezogenen Handeln ständig benötigt werden: Fähigkeiten im rhythmisch-metrischen, melodischen und harmonischen Bereich in Verbindung mit Bewe-gung und Stimme, möglichst auch mit Instrumentalspiel.

Der Erwerb solcher Fähigkeiten ist eine notwendige Voraussetzung für musikalisches Gestal-ten unter dem Anspruch steigender Qualität. Er bezieht sich funktional auf das Musizieren und stellt „Werkzeuge“ zur Verfügung, mehr nicht – aber auch nicht weniger. Deshalb sollte er den Musikunterricht nicht dominieren, sondern ihn in zeitlich begrenzten Phasen begleiten. Wir schlagen vor, regelmäßig in (fast) jeder Musikstunde – oder zumindest über längere Pha-sen hinweg – einen Zeitanteil von rund zehn Minuten für die lehrgangsmäßige Erarbeitung musikalischer Fähigkeiten zu veranschlagen, um eine gemeinsame Basis für alle Kinder zu ermöglichen (Flexibilität in der Unterrichtsplanung und -gestaltung muss jedoch gewährleistet bleiben). In den höheren Klassen bis zu den Abschlussklassen sollen solche Phasen immer dann eingefügt werden, wenn der Erwerb einzelner, spezifischer Fähigkeiten zur Bewältigung von Anforderungen im Musizieren und musikbezogenen Handeln, z. B. im Rahmen eines unterrichtlichen Vorhabens oder eines Projekts, benötigt wird.

Für den Aufbau musikalischer Fähigkeiten gelten einige wesentliche Prinzipien. Vier will ich nennen:

• Hoher Stellenwert von Übung und Wiederholung

Die Eingliederung der in jedem Lernschritt vermittelten Fähigkeiten und Inhalte in die musi-kalischen Grundkompetenzen und ihre Festigung bedarf intensiven Übens, Wiederholens und Anwendens. Übungssequenzen und Wiederholungsphasen beanspruchen – wie die Festigung von Bewegungs- und Handlungsabfolgen allgemein – einen hohen Zeitanteil und müssen weitgehend angeleitet werden. Ein wichtiges Prinzip ist dabei das der variierenden Wiederho-lung bzw. Übung, weil das Besondere des jeweils aktuellen musikalischen Sachverhalts nur dadurch erfahrbar wird, dass es sich als verschieden von anderen musikalischen Sachverhal-ten abhebt (Gruhn 1999).

• Musiklernen braucht Kontinuität

Wegen des besonderen Stellenwerts der Musizierpraxis in einem solchen Konzept und der dafür notwendigen Übungs- und Anwendungsphasen ist effizienter Fortschritt nur auf der Basis von Kontinuität und Regelmäßigkeit zu erwarten. Die Umsetzung erfordert daher einer-seits Kontinuität in der Stundentafel, andererseits die regelmäßige und systematisch aufbau-ende Einbeziehung von Elementen der Vermittlung musikalischer Grundkompetenzen in den Unterricht. Der sogenannte Epochalunterricht, in dem Musik im Wechsel mit einem anderen Schulfach halbjährlich zweistündig erteilt wird anstatt durchgängig mit einer Stunde, ent-spricht nicht der hier geforderten Kontinuität und Regelmäßigkeit.

• Früher Beginn unterstützt die Nachhaltigkeit des Musiklernens

Den frühkindlichen und kindlichen Lernprozessen kommt besondere Bedeutung für das Ler-nen zu. Schon die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie legen spätestens seit Piaget na-he, von bestimmten zeitlichen „Fenstern“ bzw. kritischen Phasen auszugehen, in denen die Entwicklung des Gehirns bestimmte Lernerfahrungen in besonderer Weise fruchtbar werden lässt, während dieselben Lernerfahrungen in anderen Phasen relativ unbedeutend bleiben können. Was wir aus unserer alltäglichen Erfahrung kennen – z.B. die Leichtigkeit, mit der

– 9 –

Kinder Fremdsprachen lernen, während wir uns als Erwachsene damit abmühen –, wird von der neurobiologischen Forschung bestätigt. Die Bedingungen für den Erwerb musikbezogener mentaler Repräsentationen sind in den ersten zehn Lebensjahren günstiger als in den folgen-den Lebensjahren (vgl. etwa Gembris 1998, S. 306 und S. 402 – 404). Der Schlüssel für eine qualitative Verbesserung des Unterrichtsangebotes im Fach Musik liegt demnach in der Grundschule.

• Lernen mit allen Sinnen und der senso-motorischen Integration

Das Lernen mit allen Sinnen wird heute zunehmend zu einer selbstverständlichen Forderung, die durch Ergebnisse der Neurobiologie bekräftigt wird. „Sensorische Integration ist der Pro-zess des Ordnens und Verarbeitens sinnlicher Eindrücke (sensorischen Inputs), sodass das Gehirn eine brauchbare Körperreaktion und ebenso sinnvolle Wahrnehmungen, Gefühlsreak-tionen und Gedanken erzeugen kann. Wenn die Prozesse der Sensomotorik in den ersten sie-ben Jahren des Lebens gut geordnet worden sind, wird es das Kind später leichter haben, geis-tige und soziale Fähigkeiten zu erlernen“ (Ayres 1984, S. 47). Die enge und ursprüngliche Beziehung zwischen Musik, Körper und sinnlicher Wahrnehmung lässt die Annahme zu, dass das eigene Musizieren den Prozess der sensomotorischen Integration unterstützen und fördern kann.

3. Praxisfeld: Kultur erschließen

Musik erschließt sich erst aus dem funktionierenden Zusammenspiel aller Bereiche musikali-schen Handelns. Nur auf der Grundlage einer lebendigen Musizierpraxis kann sich musika-lisch-ästhetische Erfahrung entfalten und der Prozess der Kulturerschließung vollziehen. Zugleich hilft umgekehrt eine möglichst reiche Erfahrung von Kunst und Kultur bei der Ent-wicklung eines Bewusstseins für die Qualität musikalischen Gestaltens und seiner ästheti-schen Maßstäbe. Musikunterricht muss daher selbstverständlich auch vielfältige Angebote zur Kunst- und Kulturerfahrung machen. In der allgemein bildenden Schule wird das musikali-sche Erlebnis erst dann zur wirklichen Erfahrung, wenn die Schüler zum gedanklichen und verbalen Austausch über ihre eigenen musikalischen Gestaltungen, über die Dimensionen der Sache und der Prozesse sowie über die Umgangsweisen, Interpretationen und Bewertungen des Einzelnen kommen.

Kulturerschließung beginnt bereits bei den ersten den grundlegenden, elementaren Lernpro-zessen. Hartmut von Hentig beschreibt in seinen Beiträgen zur ästhetischen Erziehung das Wesentliche der Kunsterfahrung als die „Erkundung des Möglichen“ (von Hentig 1985). Wer im eigenen musikalischen Gestalten die Offenheit dieser Untersuchung erlebt und aushalten gelernt hat, kann sich der Erfahrung an und mit Musik in besonderer Weise öffnen. Dazu muss man Wege der Entdeckung, der Erschließung und damit des Lernens zu gehen. Der schrittweise Erwerb musikalischer Teilkompetenzen und ihre Einbettung in die ästhetische Erfahrung des eigenen Musizierens und musikalischen Handelns ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Kulturerschließung ist von Anfang an ein doppelseitiger Prozess: Es geht dar-um, einem Menschen die musikalisch-kulturelle Wirklichkeit zu erschließen, und zugleich umgekehrt darum, dass der Mensch selbst sich musizierend, hörend, untersuchend und be-schreibend der musikalisch-kulturellen Welt aufschließt.

3. Perspektiven

Aus der Vielzahl der Perspektiven, die sich daraus ergeben, will ich zwei ausgewählte Aspek-te skizzieren.

– 10 –

3.1 Artenvielfalt des Musikunterrichts

Seit rund 15 Jahren verbreiten sich in einer Art musikpädagogischer Reform „von unten“ zu-nehmend Konzepte des instrumentalen Klassenmusizierens in mehr oder weniger enger Ver-bindung mit dem Instrumentalunterricht im Klassenverband oder in Kleingruppen. Der Mu-sikunterricht in solchen Klassen konzentriert sich konsequent auf das Musizieren im En-semble. Zweifellos werden auf diese Weise musikalische Fähigkeiten aufgebaut und sehr eng mit dem eigenen Musizieren verknüpft. Die Erfahrungen mit solchen Konzepten zeigen, dass sie fast überall die Attraktivität des Musikunterrichts für die Schüler rapide wachsen lassen und das musikalische Können und das formale Wissen der Schüler über Musik dem von Schülern „normaler“ Klassen meist weit überlegen ist (vgl. die Ergebnisse empirischer Unter-suchungen von Bähr 2000; vgl. auch Bastian 2000, v. a. Kap. III.5 und III.6). Wir meinen jedoch, dass diese Konzepte einen aufbauenden Musikunterricht im beschriebenen Sinn nicht ersetzen können, weil sie in mehrfacher Hinsicht inhaltlich begrenzt bleiben: in der musizier-ten Literatur, durch die Dominanz des Instrumentalspiels gegenüber dem Singen, durch das überwiegend reproduktiv orientierte Musizieren, in dem eigenes Erfinden und Improvisieren geringen Stellenwert hat, durch die Randstellung von Musikgeschichte und vielen anderen Themenfeldern des Musikunterrichts. Manche Konzepte begrenzen sich noch weiter und bau-en eine eigene, schulische Welt musikalischer Praxis auf, die kaum mehr Bezüge zur außer-schulischen musikalischen Praxis der Schüler aufweist (Mundharmonika-Klassen, Steckbund-Monochord).

Auch die verschiedenen Methoden einer „Musikalisierung“ durch Solmisation oder andere, oft körperbetonte Methoden (für den Bereich des Metrisch-rhythmischen etwa Taketina; vgl. Gies 2001) sind jeweils auf ihre Weise mehr oder weniger eng begrenzt auf einzelne Aspekte des Musikzierens bzw. musikalischen Gestaltens. Sie können jedoch im Rahmen des Praxis-feldes „Aufbau musikalischer Fähigkeiten“ eingesetzt werden.

Solche Konzepte und Methoden können also m. E. nur einzelne, begrenzte Aufgaben des Mu-sikunterrichts abdecken – aber in solcherart begrenzten Funktionen können und sollen sie ei-nen aufbauenden Musikunterricht unterstützen und erweitern.

Als Ziel des aufbauenden Musikunterrichts habe ich vorhin genannt: Kindern und Jugendli-chen Wege zu verständiger Musikpraxis zu öffnen. Bezugspunkt muss dabei immer die Viel-falt möglicher musikalischer Umgangsweisen und Praxen sein, die wir in unserer Gesellschaft vorfinden. Diese Vielfalt und Offenheit des gesellschaftlichen Musiklebens muss sich auch in einer „Artenvielfalt“ der Organisationsstrukturen und methodischen Großformen des Musik-unterrichts niederschlagen: Aufbauender Musikunterricht kann in ganz verschiedenen Organi-sationsformen verwirklicht werden. Deshalb ist es zu begrüßen, wenn an den einzelnen Schu-len nicht alle Kinder ein und dasselbe Angebot vorfinden, sondern verschiedene Möglichkei-ten, zwischen denen sie wählen können – auch im Klassenunterricht, nicht nur im AG-Be-reich. An vielen Schulen gibt es z. B. gegenwärtig bereits für die Schüler die Wahl zwischen Instrumentalklassen und „normalem“ Unterricht oder zwischen verstärktem Musikunterricht und Unterricht mit regulärer Stundenausstattung. Die aktuelle Dynamik der Schulentwicklung (Ganztagsschule, Entwicklung von Schulcurricula usw.) gibt dem Musikunterricht die Chan-ce, aber auch die Aufgabe, vielfältige und eigenständige Strukturen und Formen für den Um-gang mit Musik in der Schule und im Musikunterricht zu entwickeln.

3.2 Musiklehrerausbildung

Die Musiklehrerausbildung für einen Musikunterricht, wie ich ihn hier skizziert habe, muss ein unterrichtspraktisches Methodenrepertoire vermitteln, das auf das eigene Musizieren der

– 11 –

Schülerinnen und Schüler und auf die Befähigung zielt, in der Schule das Musikkönnen und Musikwissen der Kinder und Jugendlichen systematisch aufzubauen.

Schulpraktisches Klavierspiel alleine, so wichtig es ist, reicht dafür bei weitem nicht aus. Wie wichtig dieses unterrichtspraktische „Know how“ ist, wird uns in den Ausbildungsinstitutio-nen zunehmend bewusst, und umso mehr fällt auf, dass das Training, das dazu vonnöten wäre, weder in der ersten noch in der zweiten Phase der Musiklehrerausbildung stattfindet. Denn in der ersten Phase wird mehr die wissenschaftliche Pädagogik und Didaktik betrieben, musik-wissenschaftlich gearbeitet und die eigene musikalisch-künstlerische Kompetenz der Studie-renden entwickelt, aber es gibt zu wenig Unterrichtslehre. Und in der zweiten Phase fällt das gezielte Training solcher unterrichtspraktischer Fähigkeiten dem Zeit- und Stoffdruck zum Opfer.

Lassen Sie mich mit meiner Vision vom Musikunterricht der Zukunft schließen.

Ich stelle mir in optimistischen, zukunftsfrohen Augenblicken einen Musikunterricht vor,

• in dem das eigene Musizieren der Schülerinnen und Schüler im Zentrum steht und in dem die Schüler vielfältige Möglichkeiten zu Musizieren vorfinden – nicht nur in Arbeitsge-meinschaften, sondern auch im Klassenunterricht und im Schulleben insgesamt.

• Einen Musikunterricht in dem das musikalische Können der Schülerinnen und Schüler kontinuierlich und Schritt für Schritt aufbauend weiterentwickelt wird,

• in dem das vielfältige eigene Musizieren das Fundament für systematisiertes und geordne-tes Musikwissen bildet.

• Ich stelle mir Musiklehrer vor, die nicht fragen, welche Defizite ihre Schülerinnen und Schüler noch aufholen müssen, sondern welche Besonderheiten, welche individuellen Lö-sungen, welche interessanten und kreativen Ideen und welche Stärken sich in der musikali-schen Persönlichkeit der Schüler zeigen. Morgen werden wir Gelegenheit haben, einige solche Lehrerinnen und Lehrer, die eine solche Haltung und Einstellung auszeichnet, durch Preise zu würdigen.

• Ich stelle mir schließlich einen Musikunterricht vor, der sich auf den außerschulischen Umgang der Schülerinnen und Schüler mit Musik bezieht, ihn aufnimmt und bereichert, und

• der die Schüler nicht nur dort stehen lässt, wo sie sich musikalisch schon befinden, sondern der ihnen auch neue musikalische Erfahrungen, bisher unvertraute Musik und bisher unbe-kannte Umgangsweisen mit ihr aufschließt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

– 12 –

Literatur:

Ayres, A. Jean: Bausteine der kindlichen Entwicklung. Die Bedeutung der Integration der Sinne für die Entwicklung des Kindes, 3. Aufl., Berlin usw. 1998

Bähr, Johannes: Zur Entwicklung musikalischer Fähigkeiten von Zehn- bis Zwölfjährigen. Evaluation eines Modellversuchs zur Kooperation von Schule und Musikschule, Göttingen 2001

Bähr, Johannes/Fuchs, Mechtild/Gallus, Hans-Ulrich, Jank, Werner: Weniger ist mehr. Über-legungen zu einem nachhaltigen Musikunterricht in den Klassen 1–6. In: Ansohn, Mein-hard/Terhag, Jürgen (Hrsg.): Musikunterricht heute, Bd. 5: Musikkulturen – fremd und vertraut. Oldershausen 2004, S. 420-442

Bähr, Johannes/Jank, Werner/Schwab, Christoph: Musikunterricht und Ensemblespiel im Rahmen der Kooperation von allgemein bildender Schule und Musikschule, in: Kraemer, Rudolf-Dieter/Rüdiger, Wolfgang (Hrsg.): Ensemblespiel und Klassenmusizieren in Schu-le und Musikschule. Ein Handbuch für die Praxis, Augsburg 2001, S. 131-154

Bähr, Johannes/Gies, Stefan/Jank, Werner/Nimczik, Ortwin: Kompetenz vermitteln – Kultur erschließen, in: Diskussion Musikpädagogik 19/2003, S. 26-39

Bastian, Hans Günther: Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen, Mainz usw. 2000

Elliott, David J.: Music matters. A New Philosophy of Music Education. New York 1995.

Freinet, Célestin: Pädagogische Texte. Mit Beispielen aus der praktischen Arbeit nach Frei-net. Reinbek bei Hamburg 1980

Gembris, Heiner: Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung, Augsburg 1998

Gies, Stefan: Alte Eisen der Musikpädagogik? Von Curwen bis Gordon: zur Aktualität histo-rischer Konzeptionen. In: Musik und Bildung 3/2001, S. 16-23

Gies, Stefan/Jank, Werner/Nimczik, Ortwin (2001): Musik lernen. Zur Neukonzeption des Musikunterrichts in den allgemein bildenden Schulen, in: Diskussion Musikpädagogik 9/2001, S. 4-22

Gruhn, Wilfried: Wie denkt, hört und lernt der „ungeschulte Kopf“?, in: Diskussion Musikpä-dagogik 2/1999, S. 60-71

Gruhn, Wilfried: Lernziel Musik. Perspektiven einer neuen theoretischen Grundlegung des Musikunterrichts, Hildesheim usw. 2003

Jank, Werner (Hrsg.): Musikdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2005 (in Vorbereitung)

Kaiser, Hermann J: Musik in der Schule?! In: AfS-Magazin 8/1999, S. 5-11

Kleinen, Günter (Hrsg.): Musik und Kind. Chancen für Begabung und Kreativität im Zeitalter der Neuen Medien, Laaber 2003

Schütz, Volker: Welchen Musikunterricht brauchen wir? In: AfS-Magazin 1/1996, S. 3-8

Stadler Elmer, Stefanie: Spiel und Nachahmung. Über die Entwicklung der elementaren mu-sikalischen Aktivitäten, Aarau 2000