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Ist eine interkulturelle Öffnung der Suchthilfe
erforderlich? Drogenkonferenz 2016: Suchthilfe im
KontextMainz, 6. Juni 2016
Prof. Dr. Eckhardt KochMigrations- und Ethikbeauftragter Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen-MarburgMigrationsbeauftragter Vitos HoldingInstitut für Europäische Ethnologie/Kulturwissen-schaft der Philipps-Universität Marburg
Sucht und Migration
Sucht und Migration: Situation in D• Bundesweite epidemiologische Untersuchungen fehlen• Einstiegsalter bei einigen Migrantengruppen höher• Migranten sind in Suchteinrichtungen unterrepräsentiert• Je spezialisierter das Angebet, desto geringer der Anteil von
Migranten• Beispiel Hamburg: Migranten in Drogenszene 33-35%Migranten in amb. oder stat. Suchthilfe 5-10% (Haasen et al. 2001)• Wer in Beratung, ist sozial und/oder familiär noch integriert• Süchtige Migranten haben stärkere Integration in Familie als Deutsche
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Sucht und Migration
Substanzbezogene Epidemiologie: Alkohol• In GB Zunahme von 121% seit 1951. Zwischen 1970 und
2000 verfünffachte sich der Konsum. In GB steigt derKonsum vor allem bei Frauen und Jugendlichen, britischeTeenager gehören zu den stärksten Konsumenten weltweit(Crome IB, Bloor R 2008). • Zum Vergleich wird in Afrika, Asien oder dem MittlerenOsten weniger als 1 Liter reiner Alkohol pro Kopf und Jahrkonsumiert (Murrey et al. 2000).
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Sucht und Migration
Pro-Kopf-Konsum von reinem Alkohol pro Jahr (nur über 15-Jährige), modifiziert nach WHO (2004)Region Alkoholkonsum (Liter) Standardabweichung MedianAfrika 1,37 0,02–7,72 0,95Amerika 6,98 1,66–14,03 5,74Europa 8,60 0,85–15,12 8,26Mittl. Osten 0,30 0,05–10 0,53Asien 1,15 0,01–8,64 0,99Westl. Pazifik 5,54 0,34–18,39 1,95
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Sucht und Migration
Alkoholkonsum in Russland• Der Alkoholkonsum in den beiden Herkunftsländern der
wichtigsten Migrationsgruppen in Deutschland – Türkei und Russland – zeigt deutliche Unterschiede zum Alkoholkonsum in Deutschland. • In Russland ist die epidemiologische Datenlage unzureichend, auch aufgrund der weit verbreiteten Selbstbrennerei, so dass das Ausmaß des Alkoholkonsums geschätzt werden muss: Anders als die offizielle Statistik (10,6 Liter pro Kopf und Jahr) wird von Experten der Pro-Kopf-Konsum von reinem Alkohol auf 13–15 Liter geschätzt, mit steigender Tendenz seit den 1990er Jahren (WHO 2004, Malyutina et al. 2004). • Angaben über den Anteil der abstinenten oder abhängigen Personen sind ungenau.
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Sucht und Migration
Alkoholkonsum in der Türkei und muslimischen Ländern
• In der Türkei war die Jahresprävalenz für Alkoholkonsum mit 19,6% sehr viel geringer als in allen anderen europäischen Ländern, der Anteil von Personen mit einer Alkoholabhängigkeit lag mit 1,3% ebenfalls sehr niedrig (WHO 2004). • Der Alkoholkonsum in muslimischen Ländern variiert von 0,5% in Ägypten bis 35,6% im Libanon, der Anteil der Personen mit Alkoholabhängigkeit von 0,2% in Ägypten bis 7,3% im Iran – in europäischen Ländern liegen diese Prävalenzen bei 62–97,5% und 2,2–12,2% (WHO 2004).
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Sucht und Migration
Substanzbezogene Epidemiologie: Störungen durch Tabak und Nikotin (Bobak et al. 2006)
Deutschland M 35,8% W 27,8 %
Türkei M ˃ 50% W 10%
Russland M 63% W 16%
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Sucht und Migration
BDK-Umfrage 2008: Bettenzahl und Migrantenanteilnach Art der Einrichtung aufgeschlüsselt
kein MH MH % MHKPP, Forensik 254 69 27,2 %KPP, Abt. f. Abh. 284 62 21,8 %Suchtreha 123 14 11,4 %KPP, Abt. Allg.Psychiatrie 656 121 18,4 %Universitäts-Psychiatrie 148 26 17,6 %Abteilungspsychiatrie an Allg.krh. 123 21 17,1 %KPP, Gerontopsychiatrie 238 22 9,2 %Kinder-u. Jugend-Psychiatrie 341 39 11,4 %Psychosomatik/Psychotherapie 44 2 4,5 %Gesamt 2211 365 17,4 %
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Sucht und Migration
Pilotstudie der Arbeitsgruppe Migration der BDK: Spätaussiedler (N=82) Türkische Migranten (N=114)
hyperkinetische StrgPersönlichkeitsstrg.Anpassungs- und Bela
affektive Störungen
schizophr/wahnhaft
Sucht (polytoxikoman
Sucht (i llegale Drog
Sucht (Alkohol)dementielle Erkranku
hyperkinetische StrgEntwicklungsstörungeStrg. der GeschlechtImpulsstrg.Persönlichkeitsstrg.Essstörungen
Anpassungs- und Bela
Angsstörungen
affektive Störungen
schizophrene/wahnh.
Sucht (polytox.)
Sucht (il legale DrogSucht (Alkohol)
dementiel le Erkranku
Sucht und Migration
Diagnoseverteilung von Patienten mit und ohne Migrationshintergrund Vitos KPP Gießen-Marburg (2012)kein MH = deutsche Patienten, MH alle = Migrationshintergrund (Gesamtgruppe); FSU = Gebiete der früheren Sowjetunion; Andere = andere Länder
0%10%20%30%40%50%60%
kein MH(n=255) MH alle (n=68) Türkei(n=18) FSU(n=18) Andere (n=32)
F0 Organische psychische Störungen F1 AbhängigkeitserkrankungenF2 SchizophrenienF3 Affektive StörungenF4/5 Angst- und BelastungsstörungenF6/7Persönlichkeitsstörungen
ICD-10: Störungsgruppen
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Angaben zur Krankheitsgeschichte
* MH = Migrationshintergrund
Vitosweite Umfrage 2014: Hauptdiagnose-Gruppen KPP (Nicht-Migranten vs. Migranten)
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Beispiel Hamburg (Haasen et al. 2001):Psychosoziale Aspekte bei Heroinabhängigkeit
• 51 Suchtmittelabhängige Migranten (8 W)• Altersdurchschnitt 26,7 Jahre• Durchschnittlich seit 9,3 J. in D.• 1/3 lebt in Partnerschaft, hat mind. 1 Kind• Große Mehrheit lebt bei Familie• Kontakt mit Drogen später als bei Deutschen • D: fließend 15,7%, gut 43%, mäßig 41,2, schlecht 13,8% • Schweregrad der Sucht hochsignifikant mit sozialen Problemen und fehlender Berufsausbildung korreliert, bei guten Sprachkenntnissen geringer
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Sucht und Migration
Erlernte Sucht und StressbelastungAlkoholabhängigkeit wird auf der anderen Seite als erlerntesVerhalten angesehen. Ein wichtiger Faktor ist das Kopierenelterlicher Verhaltensweisen. Die Bewältigungsstrategien von Eltern haben großen Einfluss auf das Verhalten der Kinder. Ein weiterer soziobiologischer Aspekt ist der Effekt von Stress alsFaktor für vermehrten Alkoholgenuss oder Substanzmissbrauch. Migranten sind mit risikobehafteten life events konfrontiert, habenoft traumatische Erfahrungen oder belastende Lebensumstände, müssen mit Sprachproblemen, ökonomischen Schwierigkeitenoder sozialer Ausgrenzung umgehen. All diese Faktoren erhöhendas Stressniveau. Abstinente Abhängige mit hoher Belastung durch Stress entwickelnein höheres Rückfallrisiko.
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Sucht und Migration
Stärkere Gefährdung von Migranten für Abhängigkeit gegenüber Nichtmigranten (Biffl, 2007)
• Sozio-ökonomische Benachteiligung• Fehlende Perspektiven• Ausgrenzung• Negative Migrationserfahrungen (z. B. Traumatisierung)• Sprachprobleme• Geringes Informationsniveau u.a.
Diese Faktoren sind nicht notwendigerweise kultur- oder migrationsspezifisch
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Sucht und Migration
Migrationsbezogene Stressoren bei Patienten mit und ohne Migrationshintergrund
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60%Verständnisprobleme
FamilienunstimmigkeitenSchwierigkeiten bei Migration/Wegzug
StatusverlustSchamgefühleSchuldgefühle
Eingeschränkte Partnerwahl …Heimweh …
Erlebte DiskriminierungMH (n=68)kein MH (n=255)
P < 0.001
P < 0.001
P < 0.001P < 0.01
P < 0.01
Sucht und Migration
Soziale Interaktion (1)Kurz nach der Migration neigen russische Migranten zu unrealistischhohen Erwartungen an die Lebensqualität in Deutschland. Aber die Erfahrungen von Arbeitslosigkeit und Verständigungsproblemen sindstressvolle life events.
Einerseits können schwierige Familienkonstellationen bestehen, andererseits besteht ein enger familiärer Zusammenhalt. Substanzmissbrauch steht in Zusammenhang mit den Interaktionsstilen der Familien (Kimil A, Salman R 2010).
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Soziale Interaktion (2)Zunächst hat in Migrantenfamilien häufgig die Abhängigkeiteines Indexpatienten einen stabilisierenden Effekt auf den familiären Zusammenhalt und kann helfen, emotionale, traumatische oder finanzielle Konflikte zu überdecken.Gerade familienorientierte Kulturen tendieren zu Kohäsion in der Kernfamilie. Dadurch soll der Verlust von Ansehen in derethnischen Gruppe vermieden werden, da Abhängigkeit in vielen Kulturen negativ gesehen wird. Außerdem kann soziale Unterstützung durch die Familienegative Konsequenzen für Abhängige über längere Zeitvermindern, obwohl am Ende der Verlust von Selbstkontrollemeist sozialen Ausschluss bewirkt.
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Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen• Studien bezüglich Alkoholkonsums bei Hispanics in den USA
zeigen unterschiedliche Muster bezogen auf Geschlecht, Herkunftsland und ökonomischem Status. • So findet sich seltenerer Konsum von höheren Mengen von Alkohol bei Mexicanischen und Puerto-Ricanischen Männern imVergleich zu weißen Amerikanern.• Cubanische Amerikaner trinken im Vergleich zu weißenAmerikanern moderater.• In die USA eingewanderte Frauen aus Mexiko, Cuba und Puerto Rico haben geringeren Alkoholkonsum als weißeAmerikanerinnen. Dieser nimmt mit steigender Akkulturation aberzu (Randolph WM, Stroup-Benham C, Black SA, MarkidesKS1998).
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Unterscheidung nach Ethnien• Ethnokulturelle Differenzierung von abhängigen Migranten
ist problematisch und basiert auf klinischen Eindrücken, nicht auf systematischer Forschung und muss daher mitVorsicht betrachtet werden.• Eine Betrachtung unter religiösen Aspekten muss das Alkohol- und Drogenverbot der Muslime berücksichtigen. In traditionellen Familien ist eine hierarchische Eltern-Kind-Beziehung üblich. Probleme werden häufig mit Repression und Sanktionen angegangen und es handelt sich meist um untere oder mittlere soziale Schichten (Boos-Nünning U, Siefen R, Kirkcaldy B, Otyakmaz BÖ et al. 2002)
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Normenkonflikte• Jeglicher Substanzgebrauch kann als soziale Abweichung
für das Individuum gewertet werden. Normenkonfliktekönnen aktualisiert werden, wenn Idealvorstellungen und Alltagswirklichkeit in einer Kultur auseinander klaffen. Obwohl eigentlich ein totales Verbot existiert, kann es bei derjüngeren Generation sogar üblich sein, Substanzen zukonsumieren (Westermeyer 2004). • So verwundert es nicht, dass junge Menschen mit türkischenWurzeln in ihren Familien und der ethnischen Community nach Hilfe suchen und wenig über Beratungsangebotewissen (Penka S, Heimann H, Heinz A, Schouler-Ocak M 2008).
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Sucht und Migration
Zugangsbarrieren 1 (Penka et al. 2013)• Bundesweite Daten zur Inanspruchnahme von
Suchthilfeeinrichtungen fehlen• Kommunikationsbarrieren sprachlich und kulturell• Unzureichendes Wissen über Drogen und Abhängigkeit• Geringe Kenntnis von Hilfsangeboten• Assoziation von Therapie mit Schwäche• Schlechte Erfahrungen mit Ämtern werden auf das Suchthilfesystem übertragen• Angst vor aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen
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Zugangsbarrieren 2 (Penka et al. 2013)• Angst vor Stigmatisierung durch Psychiatrie• Unzureichende Prävention• Innerfamiliäre Tabuisierung• Gefühl vermeintlicher Stärke und Kontrollfähigkeit steht
Wunsch nach Hilfe entgegen• Erfahrungen von Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung im Alltag• Fehlende Motivation zur Beendigung des Drogenkonsums• Fehlende interkulturelle Kompetenz und versteckte Vorurteile in Institutionen
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Prävention alkoholbezogener Störungen bei älteren Migranten 1 (Bermejo et al. 2011, 2013)
• Alkoholkonsum bei Pers. Mit MH liegt mit 18,8% unter dem Einheimischer (26,1%)• Alkohol wird bei Migranten über 50 J. immer häufiger zu einem Problem• 9% von N=364 berichteten riskanten Konsum: 11,4% Aussiedler vs. 5,3% türk. MH• Aber: höchster Wert für riskanten Konsum bei nichtabstinenten Personen in türkischer Gruppe • Diese Gruppe wird durch alkoholbezogene Präventionsmaßnahmen kaum erreicht:
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Prävention alkoholbezogener Störungen bei älteren Migranten 2 (Bermejo et al. 2011, 2013)
Entwicklung und Evaluation eines transkulturellen Präventionskonzeptes:• spezifische migrationssensitive Präventionsveranstaltungen (N=342)• kultur- und sprachsensitives Informationsmaterial• Kontrollgruppe mit Materialien der DHS und deutscher BroschüreErgebnisse:• 73,2% lasen migrationssensitive Broschüre (21,2% Kontrollgruppe)• 67,8% gaben migrationss. Br. weiter (20% Kontrollgruppe)• Nach 6 Mon. Alkoholkonsum reduziert oder eingestellt 49,4% (Kontrolle in 83,3% keine Änderung)• Auch Mitarbeiter bewerteten das transkulturelle Konzept besser
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Gibt es Effekte von Akkulturation auf Alkoholmißbrauch? (1)
• Eine Untersuchung an 50 afghanischen Einwanderern in Deutschland mit Alkoholproblemen zeigte signifikanteKorrelationen zwischen Akkulturationsstress, psychischerBelastung und starkem Alkoholkonsum, unabhängig von früherem Alkoholgebrauch im Heimatland (Haasen C, SinaaM, Reimer J 2008).• Menge und Häufigkeit von Alkoholkonsum war unter Männernmit geringer Akkulturation und Frauen mit mittlerer Akkulturationerhöht. Unter der zweiten Generation mit geringer Akkulturationbestand der höchste Konsum (Neff JA, Hoppe SK1992).
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Gibt es Effekte von Akkulturation auf Alkoholmißbrauch? (2)
• Kulturell vorgeschriebenes Geschlechtsverhalten kannvor Alkoholmissbrauch schützen. Gering akkulturiertemexikanische Studenten in Amerika hatten niedrigereScores aggressiver Maskulinität als weiße Amerikaner und gering akkulturierte mexikanische Frauen hatten die niedrigsten Scores aggressiver Maskulinität (Kulis S, Marsiglia FF, Hurdle D 2003)• Akkulturation ist mit niedrigerem Alkolkonsum beiMännern und höherem bei Frauen verbunden (Caetano R, Ramisetty-Mikler S, Wallisch LS, McGrath C et al. 2008).
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Grundlagen interkulturell-therapeutischer Kompetenz (Kraus und Koch 2006 in Anlehnung an Kirmayer 2001)
Interesse und Wertschätzung als Basis Biographie beachten Kenntnis der eigenen kulturellen Identität Arbeit mit Kulturvermittlern, die auch qualifiziert dolmetschen Krankheitsverständnis des Pat. beachten Beachten von individuellen Erklärungsmodellen und Ausarbeiten kulturell passender Erklärungen und Behandlungsangebote Reflektion der anfangs häufig negativen Gegenübertragung von der ersten Begegnung an (Teamsitzungen, Supervision) Soziales Netz stärken (Kooperation mit Suchtberatung)
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit