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DIE WELT SAMSTAG, 2. NOVEMBER 2019 SEITE 22 WISSEN C aptain Nemo hat genug vom Leben an Land. In seinem Hightech-U- Boot „Nautilus“ sucht er Vergessen in den Tiefen der Ozeane. Energie und Nahrung? Die gewinnen Cap- tain Nemo und seine Besatzung aus dem Meer. Dort haben sie ihre neue Heimat gefunden. In seinem Klassiker „20.000 Meilen unter dem Meer“ ersann Jules Verne die Vision von einem dauerhaften Leben im Meer. 150 Jahre später tre- ten die Visionäre Patri Friedman und Joe Quirk in die Fußstapfen von Captain Nemo. Die beiden wollen künstliche Inselstädte bauen, die soge- nannten Seasteads. Auf ihnen sollen Menschen leben und sich selbst mit Energie, Trinkwasser und Nahrung versorgen. Vor allem sollen sie frei sein und selbst beschließen, in welcher Staats- form sie leben wollen. VON JENS LUBBADEH Die Menschheit, so glauben Friedman und Quirk, ist reif für die Insel(n). Die landbasierten Staaten hätten bewiesen, dass sie nicht in der La- ge seien, große Probleme wie Klimawandel, Ar- mut, Umweltzerstörung und Korruption zu lö- sen. Diese Herausforderungen sollen die Sea- steader besser meistern, auf den Inseln können die Aquapreneure frei von Regulierung und Bü- rokratie nach Herzenslust neue Technologien, Therapien und Staatsformen entwickeln und tes- ten, zum Wohle der Menschheit. Die kann das gebrauchen. Der Weltklimarat rechnet mit einem Meeresspiegelanstieg um rund drei Meter bis zum Ende des 21. Jahrhun- derts. Das Meer wird Inseln und Küsten überflu- ten, Megastädte wie Hongkong, Jakarta, New York bedrohen. Bis zum Jahr 2100 könnten nach Berechnungen der Nichtregierungsorganisation Climate Central bis zu 250 Millionen Menschen ihre Heimat verlieren. Wenn dann noch zugleich die Erdbevölkerung nach Prognosen der Verein- ten Nationen auf elf Milliarden Menschen an- wächst, ist klar: An Land wird es ungemütlich. Der Schritt hinaus aufs Meer könnte zur Not- wendigkeit werden. Platz genug ist theoretisch vorhanden: Nur 30 Prozent der Erdoberfläche sind Land, der Rest Ozean, der niemandem ge- hört, denn jenseits der 200-Meilen-Zone endet die Hoheitsgewalt der Landstaaten. Das machen sich schon jetzt manche zunutze: Die Non-Pro- fit-Organisation „Women on Waves“ führt bei- spielsweise seit 2001 auf einem Schiff in interna- tionalen Gewässern Schwangerschaftsabbrüche für Frauen aus Ländern mit restriktivem Abtrei- bungsrecht durch. „Mehr als die Hälfte der Erd- oberfläche ist herrenlos“, sagt Quirk, Präsident des Seasteading Institute, der Vereinigung, die den Traum von den künstlichen Inselstädten wahr werden lassen will. „Das ist die Fläche, die wir für die Seasteads beanspruchen.“ Die Idee dazu hatte erstmals der Amerikaner Wayne Gramlich. 1998 ersann er eine künstliche Insel aus PET-Flaschen. Die Vision begeisterte Patri Friedman, Enkel des Wirtschaftswissen- schaftlers Milton Friedman. Wie sein Großvater ist Friedman Anhänger des Libertarismus, einer Bewegung für die Befreiung des Individuums, das nur einem Minimum an staatlicher Regulie- rung unterworfen sein soll. „Erwachsene Men- schen sollen frei entscheiden, wie sie zusammen- leben möchten“, sagt Friedman. Und wem es auf einer Stead nicht gefällt, der siedelt eben auf eine andere um. Friedman kündigte seinen Job bei Google und gründete 2008 mit Silicon-Valley-Le- gende Peter Thiel, der 1,7 Millionen Dollar in die Idee steckte, das Seasteading Institute. Der Flaschenphase ist die Initiative mittler- weile längst entwachsen. Etliche Vorschläge für schwimmenden Städte wurden bereits angefer- tigt: Die Sparvariante wäre ein umgebautes Kreuzfahrtschiff oder eine ausrangierte Ölplatt- form. Ausgefeiltere Varianten aber könnten aus- sehen wie „Artisanopolis“, eine schwimmende Stadt, die aus der Luft aussieht wie eine fein ver- ästelte Schneeflocke, bestehend aus vielen klei- nen Inseln, auf denen Menschen wohnen, in kup- pelförmigen Gewächshäusern Nahrung anbauen und ihren Abfall recyclen. Die Inseleinheiten können flexibel umarrangiert werden. Umgeben ist „Artisanopolis“ von einem gigantischen Ring, der die Stadt vor großen Wellen schützt und zu- gleich deren Kraft in Energie umwandelt. Auch der Seastead-Entwurf „Oceanix“ besteht aus modular vernetzbaren Einheiten, jede Mini- Insel ist zwei Hektar groß, beherbergt 300 Be- wohner und hat ein Dach aus Solarpaneelen. Nach der Vorstellung der Designer können sechs dieser Einheiten sich ringförmig um einen zen- tralen Hafen zu einem „Dorf“ zusammenschlie- ßen. Sechs Dörfer wiederum können eine Stadt bilden. So soll die autarke Seegemeinschaft orga- nisch wachsen. Doch wie autark ist sie wirklich? Kann das Meer alles liefern, was Menschen zum Überleben brauchen? An Land stellen Getreide und Reis die Nahrungsgrundversorgung. Auf dem Meer müss- ten das Algen leisten. In schwimmenden Farmen müssten die Seasteader Algen heranziehen – ei- nerseits als Grundnahrungsmittel, andererseits als Rohstoff für die Weiterverarbeitung. Ricardo Radulovich, Professor für Biosystem-Ingenieurs- wesen an der Universität von Costa Rica, hat günstige Konzepte für die Züchtung von Großal- gen, auch Seetang genannt, entwickelt. An einfa- chen Seilen wachsen die Algenpflanzen schnell in die Tiefe. Sie brauchen keinen Dünger, nur Son- nenlicht und nährstoffreiches Wasser, nebenbei entziehen sie dem Ozean auch noch CO2, das kli- mawandelbedingt derzeit die Meere versauert. Die Algen kann man verzehren, aus ihnen kann man aber auch Öl gewinnen, Treibstoff herstel- len, oder man nutzt sie als Futtermittel für Fisch- oder Muschelzuchten, die die Seasteader natürlich auch schwimmend installieren könn- ten. Den großflächigen Aufbau von Algenfarmen sieht so mancher schon jetzt – auch ohne Seaste- ads – als Notwendigkeit an, um den Hunger der stetig wachsenden Menschheit zu stillen. Fischzucht und Gemüseanbau lassen sich in Aquaponik-Anlagen sogar in einem Kreislaufsys- tem kombinieren. Das Wasser mit den Ausschei- dungen der Fische dient als Dünger für die Pflan- zen, die wiederum das Wasser filtern, das zurück ins Fischbecken fließt. Trinkwasser für die künstlichen Inseln soll in Entsalzungsanlagen produziert werden, die dafür notwendige Elek- trizität könnte aus Fotovoltaik und Wellengene- ratoren kommen. Auch diese Technologie ist er- probt, beliebig skalierbar und seit vielen Jahren erfolgreich im Einsatz. Die deutsche Firma ECF Farm Berlin beispielsweise entwirft und baut Aquaponik-Anlagen und produziert mitten in Berlin-Schöneberg frischen Barsch und frisches Basilikum. Welche Technologien sich einmal auf dem Ozean am besten bewähren, wird der Pra- xistest zeigen. Das Gute: Die modularen Insel- konzepte erlauben schnelle und flexible Anpas- sungen und Umgestaltungen. Quirk und Friedman sehen die künstlichen In- seln daher auch als Innovationsplattformen für neue Technologien und neue Medikamente – frei von jeglicher überflüssiger Regulierung und lästi- ger Bürokratie. Ja, sogar neue Staatsformen sol- len auf den künstlichen Inseln ausprobiert wer- den: „Ein Staatssystem ist wie eine Technologie“, sagt Friedman. Das Problem: Wenn diese Tech- nologie nicht gut funktioniert, was in der Ge- schichte der Menschheit ja fast immer der Fall sei – siehe Diktatur, Korruption, Kriege und Ar- mut –, dann blieben nur drei Optionen: langsame Reformen, schnelle Revolution oder Flucht. Die erste Option sei oft zu langsam oder gar Verschlimmbesserung. Die beiden anderen seien ohnehin schlechte Optionen, denn bei Revolutio- nen sterben häufig Menschen und bei Migration verlieren sie all ihr Hab und Gut – sofern Migrati- on überhaupt möglich ist, Stichwort Flüchtlings- krise. Schlechte Staatstechnologie erzeuge also Leiden. Und anders als im Technologiesektor ge- be es nach Ansicht von Friedman keinen echten Wettbewerb, da Menschen nicht frei einfach von Land zu Land wechseln könnten. Die Seasteads sollen das ändern. Wie man auf der Insel zusammenleben möchte, ist freigestellt: Ob Mo- narchie, Demokratie oder Anarchie oder etwas gänzlich anderes – alles ist erlaubt. Und jedem ist es möglich, jederzeit von einer Insel auf die ande- re zu wechseln. Die erfolgreichste Inselstaats- form, so Friedmans und Quirks marktwirtschaft- liches Kalkül, werde sich am Ende im großen ozeanischen Wettbewerb der Seasteads durchset- zen, weil sie die meisten Bewohner anziehen wird. Noch aber ist die Anziehungskraft der Idee zu schwach. Investor Thiel hat sich aus dem Projekt zurückgezogen und geht auf Abstand: Die Seasteads, so Thiel, seien noch nicht so weit und lägen in der fernen Zukunft. Auch die Bewohner Französisch-Polynesiens waren skeptisch, ob- wohl alles erst so gut angelaufen war: 2017 hatte das Seasteading Institute mit dem Inselstaat ein Absichtsabkommen unterzeichnet, dort die erste Seastead zu bauen. Nicht auf hoher See, sondern in einer tahitianischen Lagune sollte eine Insel- kolonie aus Hotels, Büros und Restaurants ent- stehen und 250 Menschen beherbergen. Neben Vermietungen sollte auch eine eigene Krypto- währung, „Varyon“, Geld einbringen. Franzö- sisch-Polynesien versprach, die Seastead – ob- wohl in deren Hoheitsgebiet gelegen – weder rechtlich noch steuerlich zu belangen. Die Seas- teader freuten sich schon auf ihre erste Insel, doch dann machten die Bewohner Polynesiens ihnen einen Strich durch die Rechnung: Sie be- fürchteten, dass vor ihrer Haustür nur eine wei- tere Steueroase für amerikanische Superreiche entstehen würde, und protestierten. Die Regie- rung ließ den Deal schließlich auslaufen. Die Vision der künstlichen Insel bleibt also noch Science-Fiction, jedenfalls so, wie Quirk und Friedman sie sich vorstellen. Denn in gewis- ser Weise gibt es schon die ersten Seasteads. Sie tragen klangvolle Namen wie „Symphony of the Seas“ oder „Queen Mary II“. Das größte Kreuz- fahrtschiff der Welt, die „Symphony of the Seas“ überragt den Eiffelturm und beherbergt 9000 Menschen. Die ersten Seasteader gibt es auch schon: Die 90-jährige Lee Wachtstetter aus Flori- da hat ihre schwimmende Heimat, die „Crystal Serenity“, seit Jahren nur für Tagesausflüge ver- lassen. Warum auch nicht? Das Leben an Bord ist in etwa so teuer wie eine Seniorenresidenz, Le- bensqualität und medizinische Versorgung sind jedoch viel besser. Reedereien wie „Cruise Reti- rement“ und „Ted Cruises“ arbeiten bereits an schwimmenden Altersheimen. Vielleicht heißen sie ja „Nautilus“? Auf solchen kleinen Inseln könnten Menschen wohnen, Energie und Nahrung erzeugen – so die Vision Neue HEIMAT auf dem Meer Im Zuge des Klimawandels werden die Meeresspiegel steigen und Inseln und Küsten überflutet. Ein paar Visionäre sehen das Wasser aber nicht als Feind, sondern als neue Chance: Auf den Ozeanen wollen sie schwimmende Städte bauen, in denen Menschen sich selbst versorgen und neue Gesellschaftsformen ausprobieren können Ein gigantischer Ring könnte die schwimmende Stadt vor großen Wellen schützen SEASTEADING INSTITUTE/GABRIEL SCHEARE, LUKE CROWLEY, LOURDES CROWLEY,PATRICK WHITE (2) WISSENSCHAFTSREDAKTION: TELEFON: 030 – 2591 719 50 | E-MAIL: [email protected] | INTERNET: WELT.DE/WISSENSCHAFT

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22 02.11.19 Samstag, 2. November 2019 DWBE-HPBelichterfreigabe: --Zeit:::Belichter: Farbe:

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DIE WELT SAMSTAG, 2. NOVEMBER 2019 SEITE 22

WISSEN

C aptain Nemo hat genug vom Lebenan Land. In seinem Hightech-U-Boot „Nautilus“ sucht er Vergessenin den Tiefen der Ozeane. Energieund Nahrung? Die gewinnen Cap-

tain Nemo und seine Besatzung aus dem Meer.Dort haben sie ihre neue Heimat gefunden.

In seinem Klassiker „20.000 Meilen unter demMeer“ ersann Jules Verne die Vision von einemdauerhaften Leben im Meer. 150 Jahre später tre-ten die Visionäre Patri Friedman und Joe Quirkin die Fußstapfen von Captain Nemo. Die beidenwollen künstliche Inselstädte bauen, die soge-nannten Seasteads. Auf ihnen sollen Menschenleben und sich selbst mit Energie, Trinkwasserund Nahrung versorgen. Vor allem sollen sie freisein und selbst beschließen, in welcher Staats-form sie leben wollen.

VON JENS LUBBADEH

Die Menschheit, so glauben Friedman undQuirk, ist reif für die Insel(n). Die landbasiertenStaaten hätten bewiesen, dass sie nicht in der La-ge seien, große Probleme wie Klimawandel, Ar-mut, Umweltzerstörung und Korruption zu lö-sen. Diese Herausforderungen sollen die Sea-steader besser meistern, auf den Inseln könnendie Aquapreneure frei von Regulierung und Bü-rokratie nach Herzenslust neue Technologien,Therapien und Staatsformen entwickeln und tes-ten, zum Wohle der Menschheit.

Die kann das gebrauchen. Der Weltklimaratrechnet mit einem Meeresspiegelanstieg umrund drei Meter bis zum Ende des 21. Jahrhun-derts. Das Meer wird Inseln und Küsten überflu-ten, Megastädte wie Hongkong, Jakarta, NewYork bedrohen. Bis zum Jahr 2100 könnten nachBerechnungen der NichtregierungsorganisationClimate Central bis zu 250 Millionen Menschenihre Heimat verlieren. Wenn dann noch zugleichdie Erdbevölkerung nach Prognosen der Verein-ten Nationen auf elf Milliarden Menschen an-wächst, ist klar: An Land wird es ungemütlich.

Der Schritt hinaus aufs Meer könnte zur Not-wendigkeit werden. Platz genug ist theoretischvorhanden: Nur 30 Prozent der Erdoberflächesind Land, der Rest Ozean, der niemandem ge-hört, denn jenseits der 200-Meilen-Zone endetdie Hoheitsgewalt der Landstaaten. Das machensich schon jetzt manche zunutze: Die Non-Pro-fit-Organisation „Women on Waves“ führt bei-spielsweise seit 2001 auf einem Schiff in interna-tionalen Gewässern Schwangerschaftsabbrüchefür Frauen aus Ländern mit restriktivem Abtrei-bungsrecht durch. „Mehr als die Hälfte der Erd-oberfläche ist herrenlos“, sagt Quirk, Präsidentdes Seasteading Institute, der Vereinigung, dieden Traum von den künstlichen Inselstädtenwahr werden lassen will. „Das ist die Fläche, diewir für die Seasteads beanspruchen.“

Die Idee dazu hatte erstmals der AmerikanerWayne Gramlich. 1998 ersann er eine künstlicheInsel aus PET-Flaschen. Die Vision begeistertePatri Friedman, Enkel des Wirtschaftswissen-

schaftlers Milton Friedman. Wie sein Großvaterist Friedman Anhänger des Libertarismus, einerBewegung für die Befreiung des Individuums,das nur einem Minimum an staatlicher Regulie-rung unterworfen sein soll. „Erwachsene Men-schen sollen frei entscheiden, wie sie zusammen-leben möchten“, sagt Friedman. Und wem es aufeiner Stead nicht gefällt, der siedelt eben auf eineandere um. Friedman kündigte seinen Job beiGoogle und gründete 2008 mit Silicon-Valley-Le-gende Peter Thiel, der 1,7 Millionen Dollar in dieIdee steckte, das Seasteading Institute.

Der Flaschenphase ist die Initiative mittler-weile längst entwachsen. Etliche Vorschläge fürschwimmenden Städte wurden bereits angefer-tigt: Die Sparvariante wäre ein umgebautes

Kreuzfahrtschiff oder eine ausrangierte Ölplatt-form. Ausgefeiltere Varianten aber könnten aus-sehen wie „Artisanopolis“, eine schwimmendeStadt, die aus der Luft aussieht wie eine fein ver-ästelte Schneeflocke, bestehend aus vielen klei-nen Inseln, auf denen Menschen wohnen, in kup-pelförmigen Gewächshäusern Nahrung anbauenund ihren Abfall recyclen. Die Inseleinheitenkönnen flexibel umarrangiert werden. Umgebenist „Artisanopolis“ von einem gigantischen Ring,der die Stadt vor großen Wellen schützt und zu-gleich deren Kraft in Energie umwandelt.

Auch der Seastead-Entwurf „Oceanix“ bestehtaus modular vernetzbaren Einheiten, jede Mini-Insel ist zwei Hektar groß, beherbergt 300 Be-wohner und hat ein Dach aus Solarpaneelen.

Nach der Vorstellung der Designer können sechsdieser Einheiten sich ringförmig um einen zen-tralen Hafen zu einem „Dorf“ zusammenschlie-ßen. Sechs Dörfer wiederum können eine Stadtbilden. So soll die autarke Seegemeinschaft orga-nisch wachsen.

Doch wie autark ist sie wirklich? Kann dasMeer alles liefern, was Menschen zum Überlebenbrauchen? An Land stellen Getreide und Reis dieNahrungsgrundversorgung. Auf dem Meer müss-ten das Algen leisten. In schwimmenden Farmenmüssten die Seasteader Algen heranziehen – ei-nerseits als Grundnahrungsmittel, andererseitsals Rohstoff für die Weiterverarbeitung. RicardoRadulovich, Professor für Biosystem-Ingenieurs-wesen an der Universität von Costa Rica, hatgünstige Konzepte für die Züchtung von Großal-gen, auch Seetang genannt, entwickelt. An einfa-chen Seilen wachsen die Algenpflanzen schnell indie Tiefe. Sie brauchen keinen Dünger, nur Son-nenlicht und nährstoffreiches Wasser, nebenbeientziehen sie dem Ozean auch noch CO2, das kli-mawandelbedingt derzeit die Meere versauert.Die Algen kann man verzehren, aus ihnen kannman aber auch Öl gewinnen, Treibstoff herstel-len, oder man nutzt sie als Futtermittel fürFisch- oder Muschelzuchten, die die Seasteadernatürlich auch schwimmend installieren könn-ten. Den großflächigen Aufbau von Algenfarmensieht so mancher schon jetzt – auch ohne Seaste-ads – als Notwendigkeit an, um den Hunger derstetig wachsenden Menschheit zu stillen.

Fischzucht und Gemüseanbau lassen sich inAquaponik-Anlagen sogar in einem Kreislaufsys-tem kombinieren. Das Wasser mit den Ausschei-dungen der Fische dient als Dünger für die Pflan-zen, die wiederum das Wasser filtern, das zurückins Fischbecken fließt. Trinkwasser für diekünstlichen Inseln soll in Entsalzungsanlagenproduziert werden, die dafür notwendige Elek-trizität könnte aus Fotovoltaik und Wellengene-ratoren kommen. Auch diese Technologie ist er-probt, beliebig skalierbar und seit vielen Jahrenerfolgreich im Einsatz. Die deutsche Firma ECFFarm Berlin beispielsweise entwirft und bautAquaponik-Anlagen und produziert mitten inBerlin-Schöneberg frischen Barsch und frischesBasilikum. Welche Technologien sich einmal aufdem Ozean am besten bewähren, wird der Pra-xistest zeigen. Das Gute: Die modularen Insel-konzepte erlauben schnelle und flexible Anpas-sungen und Umgestaltungen.

Quirk und Friedman sehen die künstlichen In-seln daher auch als Innovationsplattformen fürneue Technologien und neue Medikamente – freivon jeglicher überflüssiger Regulierung und lästi-ger Bürokratie. Ja, sogar neue Staatsformen sol-len auf den künstlichen Inseln ausprobiert wer-den: „Ein Staatssystem ist wie eine Technologie“,sagt Friedman. Das Problem: Wenn diese Tech-nologie nicht gut funktioniert, was in der Ge-schichte der Menschheit ja fast immer der Fallsei – siehe Diktatur, Korruption, Kriege und Ar-mut –, dann blieben nur drei Optionen: langsameReformen, schnelle Revolution oder Flucht.

Die erste Option sei oft zu langsam oder garVerschlimmbesserung. Die beiden anderen seienohnehin schlechte Optionen, denn bei Revolutio-nen sterben häufig Menschen und bei Migrationverlieren sie all ihr Hab und Gut – sofern Migrati-on überhaupt möglich ist, Stichwort Flüchtlings-krise. Schlechte Staatstechnologie erzeuge alsoLeiden. Und anders als im Technologiesektor ge-be es nach Ansicht von Friedman keinen echtenWettbewerb, da Menschen nicht frei einfach vonLand zu Land wechseln könnten. Die Seasteadssollen das ändern. Wie man auf der Inselzusammenleben möchte, ist freigestellt: Ob Mo-narchie, Demokratie oder Anarchie oder etwasgänzlich anderes – alles ist erlaubt. Und jedem istes möglich, jederzeit von einer Insel auf die ande-re zu wechseln. Die erfolgreichste Inselstaats-form, so Friedmans und Quirks marktwirtschaft-liches Kalkül, werde sich am Ende im großenozeanischen Wettbewerb der Seasteads durchset-zen, weil sie die meisten Bewohner anziehen wird.

Noch aber ist die Anziehungskraft der Idee zuschwach. Investor Thiel hat sich aus dem Projektzurückgezogen und geht auf Abstand: DieSeasteads, so Thiel, seien noch nicht so weit undlägen in der fernen Zukunft. Auch die BewohnerFranzösisch-Polynesiens waren skeptisch, ob-wohl alles erst so gut angelaufen war: 2017 hattedas Seasteading Institute mit dem Inselstaat einAbsichtsabkommen unterzeichnet, dort die ersteSeastead zu bauen. Nicht auf hoher See, sondernin einer tahitianischen Lagune sollte eine Insel-kolonie aus Hotels, Büros und Restaurants ent-stehen und 250 Menschen beherbergen. NebenVermietungen sollte auch eine eigene Krypto-währung, „Varyon“, Geld einbringen. Franzö-sisch-Polynesien versprach, die Seastead – ob-wohl in deren Hoheitsgebiet gelegen – wederrechtlich noch steuerlich zu belangen. Die Seas-teader freuten sich schon auf ihre erste Insel,doch dann machten die Bewohner Polynesiensihnen einen Strich durch die Rechnung: Sie be-fürchteten, dass vor ihrer Haustür nur eine wei-tere Steueroase für amerikanische Superreicheentstehen würde, und protestierten. Die Regie-rung ließ den Deal schließlich auslaufen.

Die Vision der künstlichen Insel bleibt alsonoch Science-Fiction, jedenfalls so, wie Quirkund Friedman sie sich vorstellen. Denn in gewis-ser Weise gibt es schon die ersten Seasteads. Sietragen klangvolle Namen wie „Symphony of theSeas“ oder „Queen Mary II“. Das größte Kreuz-fahrtschiff der Welt, die „Symphony of the Seas“überragt den Eiffelturm und beherbergt 9000Menschen. Die ersten Seasteader gibt es auchschon: Die 90-jährige Lee Wachtstetter aus Flori-da hat ihre schwimmende Heimat, die „CrystalSerenity“, seit Jahren nur für Tagesausflüge ver-lassen. Warum auch nicht? Das Leben an Bord istin etwa so teuer wie eine Seniorenresidenz, Le-bensqualität und medizinische Versorgung sindjedoch viel besser. Reedereien wie „Cruise Reti-rement“ und „Ted Cruises“ arbeiten bereits anschwimmenden Altersheimen. Vielleicht heißensie ja „Nautilus“?

Auf solchen kleinen Inseln könnten Menschen wohnen, Energie und Nahrung erzeugen – so die Vision

Neue HEIMATauf dem MeerIm Zuge des Klimawandels werden die Meeresspiegelsteigen und Inseln und Küsten überflutet. Ein paarVisionäre sehen das Wasser aber nicht als Feind,sondern als neue Chance: Auf den Ozeanen wollen sie schwimmende Städte bauen, in denen Menschensich selbst versorgen und neue Gesellschaftsformenausprobieren können

Ein gigantischer Ring könnte die schwimmende Stadt vor großen Wellen schützen

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