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MITTWOCH, 18. JANUAR 2012 regionalkultur 44 KULTUR IN DER REGION Von letzten Lieben lesen WINTERTHUR. Zehn Erzählungen von Jürg Amann, die zärtlich, ver- blüffend und eindringlich davon künden, dass mit der Liebe jeder- zeit und überall zu rechnen ist: etwa mitten im Winter an einem See. Da steht eine Frau am Ende des Piers. Was macht sie da? Will sie springen? Ins Wasser gehen? Was wäre zu tun? Ihr nach? Oder in einer Theaterkantine, wo die ver- ehrte Schauspielerin plötzlich vor dem Erzähler steht, mit zwei Glä- sern Rotwein und einer vermeint- lich eindeutigen Absicht. Sogar beim Bungee-Sprung von einer Eisenbahnbrücke – in der Sekun- de, in der das Seil reisst. Mi 18.1., 20.00, Coalmine Bookbar Beethoven und Bart ´ ok KREUZLINGEN. Am ersten Phil- harmonischen Konzert der Süd- westdeutschen Philharmonie im neuen Jahr ist neben den Klassi- kern Coriolan-Ouvertüre und Kla- vierkonzert Nr. 3 von Beethoven das folkloristisch-virtuose Diver- timento für Streichorchester von ela Bart´ ok zu hören. Solist ist Andrea Lucchesini, Leiter der in Konstanz gut bekannte Günter Pichler, dem ehemaligen Prima- rius des Alban-Berg-Quartetts. Do 19.1., 20.00, Dreispitz; 19.15 Werkeinführung Jazz, Punk und Indisch KREUZLINGEN. Im Caf´ e Out of Bounds treten «Doroth´ ee et Sa- muel Hilbert» auf, ein französi- sches Geschwisterpaar mit Akkor- deon, Cello und Chanson. Ver- schiedenste Einflüsse wie Jazz, Punk und indische 12-Ton-Musik sind in ihrem experimentellen Spiel hörbar. Do 19.1., 20.00 Swing and more ARBON. Die Jazzsängerin Natha- lie Maerten singt sich als Gast des Stickerei Jazz Trio durchs Ameri- can Songbook. Do 19.1., 20.30, Hotel Wunderbar Bass und Loops FRAUENFELD. Sir Webbster, Sän- ger und Bassist der Rockband thE DorKs, kreiert mit Kontrabass, Loop-Gerät und Stimme sphäri- sche Soundcollagen. Do 19.1., 20.15, Eisenbeiz Bild: pd/Michael Steiner Suchen nach und warten auf den Hund: Geschäftsfrau Ingrid (Cathrin Störmer) und Hundesitter Tom im Park auf der Sitzbank. Warten auf den Hund Hund Auf die Umlaufbahn um einen Hund hat sich die Berner Theater-Compagnie fünfnachbusch im Eisenwerk Frauenfeld gespielt. Geschrieben hat «Hund Hund» die Thurgauerin Sabine Wang. MATHIAS FREI FRAUENFELD. «Steht einfach so da, der Koffer. Mitten auf meiner Umlaufbahn», stellt Micheline – gespielt von Marie Hiller – ver- gnüglich emotionslos fest. Im klei- nen schwarzen Rollkoffer finden sich Fragmente dreier Geschich- ten: Hundesitter Tom, Geschäfts- frau Ingrid und Micheline. Dekon- struiert um der fragilen Rekon- struktion willen. Fehlendes und Unfertiges Ingrid macht sich auf die Suche nach einem Hund, der keinen Namen trägt, der einfach nur Hund gerufen wird, «Hund Hund». Aber eigentlich ist es viel- mehr ein Warten, auf dass das Zwangsläufige eintritt. Das von Beatrix Bühler insze- nierte Stück hat die aus dem Thur- gau stammende Sabine Wen- Chin Wang (unter anderem «Spin- nen» des Freien Theaters Thur- gau) in einer reduziert verdichte- ten Alltagssprache niederge- schrieben. Was fehlt, unfertig ist und interpoliert werden muss, ist bei Wang und auch im Spiel von Marie Hiller, Cathrin Störmer (Ingrid) und Julius Griesenberg (Tom) mindestens genauso wich- tig wie das Ausgesprochene, das Gezeigte. Terra incognita bleibt so oder so zurück. 70 Minuten und 21 Szenen spä- ter: Die drei isoliert wirkenden, urbanen Stereotypen haben an den zwei leider schwach bis durchschnittlich besuchten Abenden im Vorstadttheater so interagiert, dass es zu Ende gehen kann, nicht muss. Micheline tritt als unverbindlicher Gegenpart in das Leben von Tom und Ingrid. Weil der ihr unbekannten Miche- line Geld und Papiere abhanden gekommen sind, sie deshalb hier aus dem Zug gestiegen ist, bringt Geschäftsfrau Ingrid die junge Reisende für eine Nacht bei ihr unter. Instabile Geschichte zerspringt Micheline findet Ingrids Sofa schön. Sie bleibt: länger, als es Ingrid lieb ist. Anfangs entschul- digt sich Micheline für das Licht, das brennt, Ingrid sich für das Wecken am Morgen. Sie schauen am blickdichten Fenster einen Film ohne Ton. Dann gibt sich Micheline als Ingrid aus, geht erst, als die instabile Dreiergeschichte zerspringt, wie ihr Gesicht nur im Spiegel zerspringen könnte. Hundesitter Tom – beruflich nur eine Übergangslösung – kennt Micheline von irgendwoher, lernt dann Micheline als Ingrid kennen und recherchiert in Ingrids Auf- trag Michelines Biographie als Ingrid. Tom ist Mittel zum Zweck des Geschichten-Samplings. Den Unterbau bildet das Bild – kein Schnappschuss – eines Hun- des im Koffer. Tom erzählt Miche- line als Ingrid im Park, der nicht mehr ist als eine übriggebliebene Lücke in der Landschaft, von der älteren Dame mit dem ungelieb- ten Hund namens Hund. Miche- line schreibt diese Geschichte für sich weiter. Sie wird zum Findel- kind, gefunden vom Hund Hund. Aber Toms Hund Hund ist ebenso tot wie Michelines. Das Ausharren war vergebens. NACHGEFRAGT «Ich wünsche mir mehr Neugier» Die Kulturstiftung wünscht sich eine Theaterszene, in der ver- mehrt interessante Stücke in den Thurgau geholt werden und in der der Thurgau mit interessanten Stücken den engen Rahmen ver- lässt. Felix Rutishauser bringt drei Produktionen ins Vorstadttheater: «Stosszeit» (2.12.), «Hund Hund» (siehe Haupttext), «Keine Aussicht auf ein gutes Ende» (10.2.). Was ist besonders daran? Es sind neue Texte, die noch nie im Thurgau zu hören waren; es sind lauter Texte von zeitgenössischen Schweizer Autoren; es sind frische Produktionen mit Schauspielpro- fis aus Luzern, Bern, Zürich. Das Vorstadttheater fährt auf vier Schienen. Macht das Sinn? Poetry-Slams und Comedy füllen unser Haus, Kindertheater bringt neues, anderes Publikum. Ernstes Schauspiel wird querfinanziert. Reines Schauspieltheater können wir uns nicht leisten. Die Frauenfelder gehen gern nach Zürich oder Winterthur. Was unternehmen Sie? Die Qualität beim Schauspiel ist unbestritten, aber schwer zu ver- mitteln. Ein Stücktitel wie «Hund Hund» sagt wenig aus, die Leute schielen nach bekannten Namen. Neues Publikum zu erreichen ist schwierig. Und braucht Zeit. Sinken Ihre Zuschauerzahlen? Sie bleiben, mit Wellen, konstant. Wollen Sie ein anderes Publikum? Ich wünsche mir mehr Neugier. Braucht es mehr Vermittlung? Unsere Flyer enthalten Informa- tionen zu den Stücken. Bei neuen Texten gibt es wenig Sekundärlite- ratur. Unsere Art von Vermittlung sind die gutbesuchten Kurse für Jugendliche und Erwachsene. Und was noch? Die Unterstützung durch die Stadt ist spürbar besser geworden. Auch die neue Diskussionskultur mit der Kulturstiftung ist motivierend. Und Theater lebt auch von den Widersprüchen. (dl) Aber Toms Hund Hund ist ebenso tot wie Michelines. Das Ausharren war vergebens. Emotionslos fest- gestellt: Steht einfach so da, der Koffer. Mitten auf meiner Umlaufbahn. Eine starke Verbindung Nora Gerber und Jacques Schedler verband vieles: Die gemeinsame Arbeit als Grafiker, das Aquarellieren in der Landschaft, die Liebe. Frauenfelds Stadtgalerie Baliere widmet den beiden Künstlern eine Ausstellung – die erste unter Kuratorin Barbara Fatzer. LUCIA ANGELA CAVEGN FRAUENFELD. Mit der Präsenta- tion von Nora Gerber und Jacques Schedler wagt Barbara Fatzer als neue Programmleiterin der Stadt- galerie Baliere einen gegenläufi- gen Schritt zu sonst: Sie blättert einige Seiten in der Thurgauer Kunstgeschichte zurück und ruft mit Jacques Schedler einen loka- len Künstler in Erinnerung, der zu Lebzeiten kaum der Nachfrage nachzukommen vermochte, des- sen Namen man jedoch heute an Auktionen und in öffentlichen Sammlungen vergeblich sucht. Patrik Schedler, Sohn und Verwal- ter des künstlerischen Nachlasses, wies in seiner Eröffnungsrede dar- aufhin, dass sich sein Vater in ers- ter Linie nicht als Künstler ver- stand, sondern als ein Maler, der sein Handwerk beherrschte. Vielseitiges Schaffen Jacques Schedler (1927–89) war ein begnadeter Zeichner (1972 etwa gab der Huber-Verlag das Buch «Thurgau, gezeichnet von Jacques Schedler» heraus), ein talentierter Aquarellist, ein ge- fragter Grafiker und ein geübter Maler. Allerdings fand Schedler in dieser Disziplin erst spät seinen Stil. Er war kein Pionier. Er schulte sich an seinen Vorbildern Derain, Matisse, Picasso und schuf in den Fünfzigerjahren einerseits farb- kräftige Stillleben im dekorativen Flächenstil (durchaus eigenstän- dige, ausgewogene Kompositio- nen) und anderseits Landschaf- ten, die zu Beginn noch der Wie- dergabe des Atmosphärischen verpflichtet sind. Einzelne Bilder wie «Kumpel» (1952) und das her- vorragende «Golgotha» (1958) fal- len durch ihre Expressivität auf, andere – wie die Flaschenstudien – durch ihre Belanglosigkeit. Mit seinen späten Stillleben gelingen Schedler einige bravouröse Schöpfungen. Im Gegensatz zu ihrem Lehrer, Förderer und späteren Lebens- partner hat Nora Gerber (*1936) vor allem auf Papier gearbeitet. Als gelernte Modegrafikerin arbeitete sie in den Fünfzigerjahren für Jel- moli, als die Kataloge die neueste Mode noch mit Zeichnungen prä- sentierten. Dann gründete sie eine Familie. 1967 belegte sie einen Kurs bei Jacques Schedler an der Migros- Klubschule. Er erkannte ihr Talent und übertrug ihr bald Aufträge für Inserate-Illustrationen. In ihrer Freizeit begann sie im Freien zu aquarellieren, nicht etwa auf der Staffelei, sondern mit einem Brett auf den Knien. Sie habe jede freie Minute genutzt. Wie viele Werke sie geschaffen hat, weiss sie nicht. Über tausend, vermutet sie. Nora Gerber erfasst die Natur in gross- zügigen, weichen Pinselstrichen. In der Reduktion der Formen geht sie weniger weit als ihr Mentor. Ihre bevorzugten Motive sind na- turalistische Landschaftsaus- schnitte und Blumenstillleben. Daneben hat sie auch Gouachen, Farbstiftzeichnungen und Radie- rungen geschaffen, von denen ein paar wenige in der Ausstellung hängen. Magie des Augenblicks Patrik Schedler verwies in sei- ner Rede auf die Magie des Augen- blicks, die dem Schaffen des Künstlerpaars innewohnt. In der Tat gibt es wohl kein anderes künstlerisches Medium als das Aquarell, das geeigneter wäre, den unmittelbaren Moment einzufan- gen – notabene den glücklichen Moment, wenn das Gefühl der Eins-Werdung mit der Umgebung eintritt. Jacques Schedler und Nora Gerber vermitteln mit ihren Bildern dieses Gefühl. Ungeachtet der Diskussion darüber, ob sie nun Kunst geschaffen haben oder einfach schöne Bilder, nehmen sie einen prominenten Platz in der Thurgauer Kultur ein. Im Rahmen der Neupositionie- rung der Stadtgalerie Baliere will Barbara Fatzer jedes Jahr eine dokumentarische Ausstellung mit Rückblick auf frühere Positionen organisieren. Man ist gespannt, welches Kapitel sie als nächstes aufschlagen wird. Stadtgalerie Baliere, bis 19.1.; Fr 17–20, Sa/So 14–17 Uhr oder nach Vereinbarung Trachtenbilder Jacques Schedlers Trachten- bilder samt Landschafts- und Gebäudebilder (TZ vom 13.1.) hat nicht die Stadt Frauenfeld erworben, wie Hans Brunschweiler mit- teilt. Das OK des Eidg. Jodler- festes 1999 hat sie von der Erbengemeinschaft erwor- ben, gerahmt – und der Stadt zum Dank für die Unterstüt- zung geschenkt. (red.) Bild: Nana do Carmo Patrik Schedler erklärt Vernissagebesuchern Bilder aus den Ateliers von Jacques Schedler und Nora Gerber.

WartenaufdenHundHund - Kunstweise ten: Hundesitter Tom, Geschäfts-frauIngridundMicheline.Dekon-struiertumder fragilen Rekon-struktionwillen. Fehlendes und Unfertiges IngridmachtsichaufdieSuche

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Page 1: WartenaufdenHundHund - Kunstweise ten: Hundesitter Tom, Geschäfts-frauIngridundMicheline.Dekon-struiertumder fragilen Rekon-struktionwillen. Fehlendes und Unfertiges IngridmachtsichaufdieSuche

MITTWOCH, 18. JANUAR 2012 regionalkultur 44

KULTUR IN DER REGION

Von letzten Lieben lesenWINTERTHUR. Zehn Erzählungenvon Jürg Amann, die zärtlich, ver-blüffend und eindringlich davonkünden, dass mit der Liebe jeder-zeit und überall zu rechnen ist:etwa mitten im Winter an einemSee. Da steht eine Frau am Endedes Piers. Was macht sie da? Willsie springen? Ins Wasser gehen?Was wäre zu tun? Ihr nach? Oder ineiner Theaterkantine, wo die ver-ehrte Schauspielerin plötzlich vordem Erzähler steht, mit zwei Glä-sern Rotwein und einer vermeint-lich eindeutigen Absicht. Sogarbeim Bungee-Sprung von einerEisenbahnbrücke – in der Sekun-de, in der das Seil reisst.Mi 18.1., 20.00, Coalmine Bookbar

Beethoven und BartokKREUZLINGEN. Am ersten Phil-harmonischen Konzert der Süd-westdeutschen Philharmonie imneuen Jahr ist neben den Klassi-kern Coriolan-Ouvertüre und Kla-vierkonzert Nr. 3 von Beethovendas folkloristisch-virtuose Diver-timento für Streichorchester vonBela Bartok zu hören. Solist istAndrea Lucchesini, Leiter der inKonstanz gut bekannte GünterPichler, dem ehemaligen Prima-rius des Alban-Berg-Quartetts.Do 19.1., 20.00, Dreispitz;19.15 Werkeinführung

Jazz, Punk und IndischKREUZLINGEN. Im Cafe Out ofBounds treten «Dorothee et Sa-muel Hilbert» auf, ein französi-sches Geschwisterpaar mit Akkor-deon, Cello und Chanson. Ver-schiedenste Einflüsse wie Jazz,Punk und indische 12-Ton-Musiksind in ihrem experimentellenSpiel hörbar.Do 19.1., 20.00

Swing and moreARBON. Die Jazzsängerin Natha-lie Maerten singt sich als Gast desStickerei Jazz Trio durchs Ameri-can Songbook.Do 19.1., 20.30, Hotel Wunderbar

Bass und LoopsFRAUENFELD. Sir Webbster, Sän-ger und Bassist der Rockband thEDorKs, kreiert mit Kontrabass,Loop-Gerät und Stimme sphäri-sche Soundcollagen.Do 19.1., 20.15, Eisenbeiz

Bild: pd/Michael Steiner

Suchen nach und warten auf den Hund: Geschäftsfrau Ingrid (Cathrin Störmer) und Hundesitter Tom im Park auf der Sitzbank.

Warten auf den Hund HundAuf die Umlaufbahn um einen Hund hat sich die Berner Theater-Compagnie fünfnachbusch imEisenwerk Frauenfeld gespielt. Geschrieben hat «Hund Hund» die Thurgauerin Sabine Wang.

MATHIAS FREI

FRAUENFELD. «Steht einfach soda, der Koffer. Mitten auf meinerUmlaufbahn», stellt Micheline –gespielt von Marie Hiller – ver-gnüglich emotionslos fest. Im klei-nen schwarzen Rollkoffer findensich Fragmente dreier Geschich-ten: Hundesitter Tom, Geschäfts-frau Ingrid und Micheline. Dekon-struiert um der fragilen Rekon-struktion willen.

Fehlendes und Unfertiges

Ingrid macht sich auf die Suchenach einem Hund, der keinenNamen trägt, der einfach nurHund gerufen wird, «HundHund». Aber eigentlich ist es viel-mehr ein Warten, auf dass dasZwangsläufige eintritt.

Das von Beatrix Bühler insze-nierte Stück hat die aus dem Thur-gau stammende Sabine Wen-Chin Wang (unter anderem «Spin-nen» des Freien Theaters Thur-gau) in einer reduziert verdichte-

ten Alltagssprache niederge-schrieben. Was fehlt, unfertig istund interpoliert werden muss, istbei Wang und auch im Spiel vonMarie Hiller, Cathrin Störmer

(Ingrid) und Julius Griesenberg(Tom) mindestens genauso wich-tig wie das Ausgesprochene, dasGezeigte. Terra incognita bleibt sooder so zurück.

70 Minuten und 21 Szenen spä-ter: Die drei isoliert wirkenden,urbanen Stereotypen haben anden zwei leider schwach bisdurchschnittlich besuchtenAbenden im Vorstadttheater sointeragiert, dass es zu Ende gehenkann, nicht muss. Micheline tritt

als unverbindlicher Gegenpart indas Leben von Tom und Ingrid.Weil der ihr unbekannten Miche-line Geld und Papiere abhandengekommen sind, sie deshalb hieraus dem Zug gestiegen ist, bringtGeschäftsfrau Ingrid die jungeReisende für eine Nacht bei ihrunter.

Instabile Geschichte zerspringt

Micheline findet Ingrids Sofaschön. Sie bleibt: länger, als esIngrid lieb ist. Anfangs entschul-digt sich Micheline für das Licht,das brennt, Ingrid sich für dasWecken am Morgen. Sie schauenam blickdichten Fenster einenFilm ohne Ton. Dann gibt sichMicheline als Ingrid aus, geht erst,als die instabile Dreiergeschichtezerspringt, wie ihr Gesicht nur imSpiegel zerspringen könnte.

Hundesitter Tom – beruflichnur eine Übergangslösung – kenntMicheline von irgendwoher, lerntdann Micheline als Ingrid kennen

und recherchiert in Ingrids Auf-trag Michelines Biographie alsIngrid. Tom ist Mittel zum Zweckdes Geschichten-Samplings.

Den Unterbau bildet das Bild –kein Schnappschuss – eines Hun-des im Koffer. Tom erzählt Miche-line als Ingrid im Park, der nichtmehr ist als eine übriggebliebeneLücke in der Landschaft, von derälteren Dame mit dem ungelieb-

ten Hund namens Hund. Miche-line schreibt diese Geschichte fürsich weiter. Sie wird zum Findel-kind, gefunden vom Hund Hund.Aber Toms Hund Hund ist ebensotot wie Michelines. Das Ausharrenwar vergebens.

NACHGEFRAGT

«Ich wünsche mirmehr Neugier»Die Kulturstiftung wünscht sicheine Theaterszene, in der ver-mehrt interessante Stücke in denThurgau geholt werden und in derder Thurgau mit interessantenStücken den engen Rahmen ver-lässt. Felix Rutishauser bringt dreiProduktionen ins Vorstadttheater:«Stosszeit» (2.12.), «Hund Hund»(siehe Haupttext), «Keine Aussichtauf ein gutes Ende» (10.2.).

Was ist besonders daran?

Es sind neue Texte, die noch nie imThurgau zu hören waren; es sindlauter Texte von zeitgenössischenSchweizer Autoren; es sind frischeProduktionen mit Schauspielpro-fis aus Luzern, Bern, Zürich.

Das Vorstadttheater fährt auf vierSchienen. Macht das Sinn?

Poetry-Slams und Comedy füllenunser Haus, Kindertheater bringtneues, anderes Publikum. ErnstesSchauspiel wird querfinanziert.Reines Schauspieltheater könnenwir uns nicht leisten.

Die Frauenfelder gehen gern nachZürich oder Winterthur. Wasunternehmen Sie?

Die Qualität beim Schauspiel istunbestritten, aber schwer zu ver-mitteln. Ein Stücktitel wie «HundHund» sagt wenig aus, die Leuteschielen nach bekannten Namen.Neues Publikum zu erreichen istschwierig. Und braucht Zeit.

Sinken Ihre Zuschauerzahlen?

Sie bleiben, mit Wellen, konstant.

Wollen Sie ein anderes Publikum?

Ich wünsche mir mehr Neugier.

Braucht es mehr Vermittlung?

Unsere Flyer enthalten Informa-tionen zu den Stücken. Bei neuenTexten gibt es wenig Sekundärlite-ratur. Unsere Art von Vermittlungsind die gutbesuchten Kurse fürJugendliche und Erwachsene.

Und was noch?

Die Unterstützung durch die Stadtist spürbar besser geworden. Auchdie neue Diskussionskultur mitder Kulturstiftung ist motivierend.Und Theater lebt auch von denWidersprüchen. (dl)

Aber Toms HundHund ist ebenso totwie Michelines. Das

Ausharren warvergebens.

Emotionslos fest-gestellt: Steht

einfach so da, derKoffer. Mitten auf

meiner Umlaufbahn.

Eine starke VerbindungNora Gerber und Jacques Schedler verband vieles: Die gemeinsame Arbeit als Grafiker, das Aquarellieren in der Landschaft, die Liebe.Frauenfelds Stadtgalerie Baliere widmet den beiden Künstlern eine Ausstellung – die erste unter Kuratorin Barbara Fatzer.

LUCIA ANGELA CAVEGN

FRAUENFELD. Mit der Präsenta-tion von Nora Gerber und JacquesSchedler wagt Barbara Fatzer alsneue Programmleiterin der Stadt-galerie Baliere einen gegenläufi-gen Schritt zu sonst: Sie blätterteinige Seiten in der ThurgauerKunstgeschichte zurück und ruftmit Jacques Schedler einen loka-len Künstler in Erinnerung, der zuLebzeiten kaum der Nachfragenachzukommen vermochte, des-sen Namen man jedoch heute anAuktionen und in öffentlichenSammlungen vergeblich sucht.Patrik Schedler, Sohn und Verwal-ter des künstlerischen Nachlasses,wies in seiner Eröffnungsrede dar-aufhin, dass sich sein Vater in ers-ter Linie nicht als Künstler ver-stand, sondern als ein Maler, dersein Handwerk beherrschte.

Vielseitiges Schaffen

Jacques Schedler (1927–89) warein begnadeter Zeichner (1972etwa gab der Huber-Verlag dasBuch «Thurgau, gezeichnet vonJacques Schedler» heraus), eintalentierter Aquarellist, ein ge-fragter Grafiker und ein geübter

Maler. Allerdings fand Schedler indieser Disziplin erst spät seinenStil. Er war kein Pionier. Er schultesich an seinen Vorbildern Derain,Matisse, Picasso und schuf in denFünfzigerjahren einerseits farb-kräftige Stillleben im dekorativenFlächenstil (durchaus eigenstän-dige, ausgewogene Kompositio-nen) und anderseits Landschaf-ten, die zu Beginn noch der Wie-dergabe des Atmosphärischenverpflichtet sind. Einzelne Bilderwie «Kumpel» (1952) und das her-

vorragende «Golgotha» (1958) fal-len durch ihre Expressivität auf,andere – wie die Flaschenstudien– durch ihre Belanglosigkeit. Mitseinen späten Stillleben gelingenSchedler einige bravouröseSchöpfungen.

Im Gegensatz zu ihrem Lehrer,Förderer und späteren Lebens-partner hat Nora Gerber (*1936)vor allem auf Papier gearbeitet. Alsgelernte Modegrafikerin arbeitetesie in den Fünfzigerjahren für Jel-moli, als die Kataloge die neueste

Mode noch mit Zeichnungen prä-sentierten. Dann gründete sieeine Familie.

1967 belegte sie einen Kurs beiJacques Schedler an der Migros-Klubschule. Er erkannte ihr Talentund übertrug ihr bald Aufträge fürInserate-Illustrationen. In ihrerFreizeit begann sie im Freien zuaquarellieren, nicht etwa auf derStaffelei, sondern mit einem Brettauf den Knien. Sie habe jede freieMinute genutzt. Wie viele Werkesie geschaffen hat, weiss sie nicht.

Über tausend, vermutet sie. NoraGerber erfasst die Natur in gross-zügigen, weichen Pinselstrichen.In der Reduktion der Formen gehtsie weniger weit als ihr Mentor.Ihre bevorzugten Motive sind na-turalistische Landschaftsaus-schnitte und Blumenstillleben.Daneben hat sie auch Gouachen,Farbstiftzeichnungen und Radie-rungen geschaffen, von denen einpaar wenige in der Ausstellunghängen.

Magie des Augenblicks

Patrik Schedler verwies in sei-ner Rede auf die Magie des Augen-blicks, die dem Schaffen desKünstlerpaars innewohnt. In derTat gibt es wohl kein andereskünstlerisches Medium als dasAquarell, das geeigneter wäre, denunmittelbaren Moment einzufan-gen – notabene den glücklichenMoment, wenn das Gefühl derEins-Werdung mit der Umgebungeintritt. Jacques Schedler undNora Gerber vermitteln mit ihrenBildern dieses Gefühl. Ungeachtetder Diskussion darüber, ob sienun Kunst geschaffen haben odereinfach schöne Bilder, nehmen sie

einen prominenten Platz in derThurgauer Kultur ein.

Im Rahmen der Neupositionie-rung der Stadtgalerie Baliere willBarbara Fatzer jedes Jahr einedokumentarische Ausstellung mitRückblick auf frühere Positionenorganisieren. Man ist gespannt,welches Kapitel sie als nächstesaufschlagen wird.

Stadtgalerie Baliere, bis 19.1.;Fr 17–20, Sa/So 14–17 Uhr odernach Vereinbarung

TrachtenbilderJacques Schedlers Trachten-bilder samt Landschafts-und Gebäudebilder (TZ vom13.1.) hat nicht die StadtFrauenfeld erworben, wieHans Brunschweiler mit-teilt. Das OK des Eidg. Jodler-festes 1999 hat sie von derErbengemeinschaft erwor-ben, gerahmt – und der Stadtzum Dank für die Unterstüt-zung geschenkt. (red.)Bild: Nana do Carmo

Patrik Schedler erklärt Vernissagebesuchern Bilder aus den Ateliers von Jacques Schedler und Nora Gerber.