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Universität LeipzigPhilologische FakultätInstitut für GermanistikSeminar „Lyrik im Deutschunterricht“ Leitung: Prof. Dr. Anja Saupe Sommersemester 2015
Was kann Lyrik bewirken? Unterrichtsmaterial für die 8. Klasse
von Julian Fuhrmann
Was kann Lyrik bewirken?
1 Das Bild von Robert Koehler aus dem Jahr 1886 heißt „Der Streik“. Es wurde in
einer Zeit gemalt, in der durch die Errungenschaften der Technik auch
Massenarmut, Hunger und großes Leid verursacht wurden.
Betrachtet das Bild zu zweit und beschreibt:
• Was wird hier dargestellt?
• Wer steht sich hier gegenüber?
• Welche Atmosphäre und welche Stimmungen findet ihr in diesem Bild?
2 Lies das Gedicht Arbeiterlied auf der nächsten Seite mehrmals still und für dich
allein. Bereite dich dann individuell fünf Minuten auf eine Rezitation vor.
Überlege dir, wie die Stimme eingesetzt werden kann, um den Vortrag
besonders packend zu gestalten. Wer möchte, kann seine Version vortragen.
3 Beschreibt, wie das Arbeiterlied auf euch gewirkt hat:
• Welche Eindrücke und Gefühle hat das Gedicht bei euch ausgelöst?
Sammelt eure Gedanken zu zweit in einer Mind-Map.
• Erklärt, wie es zu diesen Wirkungen eurer Meinung nach kommt.
Untersucht dafür unter anderem die Wortwahl und den Satzbau des
Gedichtes! Tragt eure Ergebnisse auch in die Mind-Map ein.
4 Stell dir vor, das Gedicht Arbeiterlied würde in der auf dem Gemälde
dargestellten Szene plötzlich laut, kraftvoll und aggressiv von einem der
Streikenden vorgetragen werden. Was könnte passieren?
• Versetze dich in die Lage einer Person, die auf dem Bild dargestellt wird.
Schreibe einen Tagebucheintrag, den diese Person am Abend nach dem
Streik verfasst.
• Folgende Fragen können dir dabei helfen:
Was ist passiert?
Welche Gedanken gehen der Person seitdem nicht mehr aus dem Kopf?
Was ist durch den Vortrag des Gedichts geschehen?
• Wenn du mehr Hintergrundinformationen zum Thema Industrialisierung
und Arbeiterbewegung benötigst, kannst du z. B. dein Geschichtsbuch
verwenden!
Adolph Strodtmann:Arbeiterlied (1870)
Zu Schmerz und Not aus dunkler Nacht entsprossen,
Das Auge hell, die Stirne hoch und frei:
So bricht, das Schwert von starker Faust umschlossen,
Der Arbeitsmann sein Sklavenjoch entzwei!
Auf, laßt die Banner fliegen!
Es gilt ein letztes Kriegen!
Hinaus zum Kampf! Die Freiheit führt uns an!
Fortan gehört die Welt dem Arbeitsmann!
1 Tragt einen kleinen Wettbewerb in der Klasse aus, indem ihr das Gedicht so
fehlerfrei und flüssig wie nur möglich vor den anderen vorlest!
2 Welche Bilder entstehen in deinem Kopf, wenn du das Gedicht hörst und liest?
Mal diese Bilder auf! Vergleicht eure Zeichnungen in der Klasse und erklärt sie
euch gegenseitig. Untersucht, ob sich Gemeinsamkeiten feststellen lassen.
3 Stell dir vor, ein Freund fragt dich nach dem Sinn von Das große Lalula. Da er
den Inhalt nicht versteht, fragt er dich auch, ob es sich überhaupt um ein Gedicht
handelt. Du versprichst ihm, ein Gedicht-Gutachten zu verfassen, um seine
Fragen zu beantworten. Gehe so vor:
• Untersuche zuerst, ob du die typischen Merkmale eines Gedichts findest.
• Beschreibe dann, welche Gedanken und Ideen dir beim Hören/Lesen des
Gedichts in den Sinn kamen.
• Lege dar, welche Probleme auftreten, wenn versucht wird, eine
nachvollziehbare Interpretation von Das große Lalula zu finden.
Christian Morgenstern:DAS GROSSE LALULA (1905)
Kroklokwafzi? Semememi! Seiokronto – prafriplo: Bifzi, bafzi; hulalemi: Quasti basti bo... Lalu lalu lalu lalu la!
Hontraruru miromente Zasku zes rü rü? Entepente, leiolente Klekwapufzi lü? Lalu lalu lalu lalu la!
Simarar kos malzipempu Silzuzankunkrei (;)! Marjomar dos: Quempu Lempu Siri Suri Sei [ ]! Lalu lalu lalu lalu la!
1 Lies das Gedicht zuerst für dich. Sammle deine Gedanken, Emotionen und
Eindrücke, die dir dabei in den Sinn kommen, in einer Mind-Map.
2 Überlegt und besprecht im Plenum,...
a) welches Thema hier behandelt wird.
b) in welchem Verhältnis das lyrische Ich zu der angesprochenen Person steht.
c) welche Gefühle das lyrische Ich empfindet.
3 Wie könnte das „Du“ aus dem Gedicht reagieren? Welche Gefühle gehen ihm
durch den Kopf? Verfasse ein Gedicht aus der Position des Gegenübers! Nutze
auch deine Mind-Map aus Aufgabe 1!
Carl Zuckmayer:Eines Tages (1966)
Eines Tages bin ich nicht mehr da Und ich wünsche Du wirst es erleben Dann spürst Du noch eine Zeitlang ganz nah Mich durch offene Türen schweben.
Dann geh ich noch eine Zeitlang um Man hört mich reden, lachen Dann wird die Stimme stumm Und die Züge verflachen.
Langsam löschen sie aus Du kannst sie nicht bannen. Leer ist das Haus. Bald gehst auch Du von dannen
Abschluss
Stell dir vor, du liest folgende Kommentare unter einem Youtube-Video, in dem jemand
ein Gedicht rezitiert:
Tim: Gedichte sind ja mal ganz nett anzuhören, aber was bringt mir das jetzt? Da
schaue ich mir lieber etwas Sinnvolles an...
Hanna: Naja... Also alleine lese ich die nicht. Aber so mit anderen darüber zu reden,
dass finde ich eigentlich immer echt interessant.
Caro: Ich liebe Gedichte!!! Das ist manchmal so krass, wenn sie genau die Situation
beschreiben, die ich gerade selber erlebt habe...
Lisa: Ich finde, Tim hat Recht. Lyrik ist öde. Ich glaube, dass so was früher viel
wichtiger für die Menschen war als heute.
Ole: @Lisa: Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass viele total bekannte,
beliebte und einflussreiche Lieder auch Gedichte sind? Die sind nämlich auch in Versen
geschrieben!
1 Was würdest du darauf antworten? Verfasse einen Kommentar! Beziehe darin
begründet Stellung dazu, was Lyrik deiner Meinung nach bewirken kann.
2 Diskutiert eure Meinung im Plenum. Bezieht auch die zuvor analysierten
Gedichte mit ein!
Reflexion
Dass Lyrik vielgestaltige Wirkungen entfalten kann, ist m. E. häufig nicht im Blick. Natürlich,
fast jede/r dürfte der Liebeslyrik eine gewisse Wirksamkeit zusprechen. Aber darüber hinaus?
Kann Lyrik den Menschen auch in anderen Bereichen seines Lebens anstoßen, beeinflussen oder
anregen? Ja, das kann Lyrik. Sie kann aufrütteln, anstacheln, nachdenklich machen, erschüttern
und vieles mehr bewirken. Exemplarisch möchte ich das mit der vorliegenden Einheit vor Augen
führen.
Ich stelle drei Gedichte vor, die ganz unterschiedliche Wirkungen mit sich bringen. Das
Arbeiterlied möchte den Leser zu konkreten Taten bewegen, der Ruf nach Kampf und Freiheit
wird in ihm laut. Eines Tages kann zu der individuellen Auseinandersetzung mit dem Thema
Abschied führen. Das große Lalula ist aufgrund seiner nicht eindeutig zu klärenden Bedeutung
recht verwirrend. Wir werden vermutlich nie ganz sicher sein können, was es wirklich bedeutet.
Die größte Gemeinsamkeit der ausgewählten Gedichte ist somit ihre starke Wirkung in jeweils
eine bestimmte Richtung. Der Leser dürfte bemerken, wie diese Gedichte „etwas mit ihm
machen“.
Die Botschaft des Arbeiterliedes ist klar ersichtlich: Es ruft zu einer Revolution der Arbeiter
auf – es will mobilisieren. Einleitend wird dafür der von „Schmerz und Not“ gezeichnete
Arbeiter geschildert. Er ist bei klarem Verstand und weiß, was er will und zu tun bereit ist. Es
folgen knappe, klare Imperative, die durch die zwei nacheinander betonten Silben „Auf, laßt...“
vorbereitet werden. Diese kurzen Sätze untermalen wie Paukenschläge die Gesamtbotschaft des
Arbeiterliedes: „Hinaus zum Kampf!“ Die Freiheit führt die Arbeiter in den Krieg gegen die,
welche ihnen das „Sklavenjoch“ auferlegten. Strodtmanns eingängige Verse sind von
zahlreichen, kriegerischen Nomen wie Kampf, Faust und Schwert geprägt. So entfaltet dieses
kurze Lied mit wenigen Worten ein äußerst aufwiegelndes Potenzial.
Es stand für mich von Anfang an fest, dass ich zeigen wollte, wie aktivierend Lyrik mitunter
wirkt. Sie kann nicht nur anrühren, sie kann (bzw. konnte?), wie im vorliegenden Gedicht aus
dem 19. Jahrhundert sehr gut deutlich wird, „anstacheln“ und etwa eine starke Gemeinschaft
angesichts des Feindes heraufbeschwören. Ist Schülerinnen und Schülern dieses Phänomen heute
bisweilen eher fremd, diese besondere Lyrik wirkt auch heute noch, wenn wir sie zur Sprache
kommen lassen und darüber reflektieren, was sie ins uns auslöst. Das Arbeiterlied ist m. E. ein
gutes Beispiel dafür. Man spürt in diesem Lied den Drang nach Befreiung von der Knechtschaft.
Ein Problem der politisch genutzten Lyrik ist meiner Meinung nach, dass sie auch in dem
Kontext ihrer Zeit gesehen und verstanden werden muss, möchte man ihre meist klare,
eindeutige Intention vollständig nachvollziehen. Das vorliegende Beispiel wirkt m. E. auch ohne
den dazugehörigen Kontext appellativ. Um aber wirklich nachvollziehen zu können, welche
konkreten Bedürfnisse und Verlangen hier artikuliert werden, ist eine zeitliche und soziale
Verortung vorteilhaft. Deswegen steht am Anfang der Einheit eine Bildbetrachtung von Der
Streik, die einen möglichen, besonders reizvollen Ort für das Arbeiterlied aufzeigt: eine Gruppe
von Streikenden, die mit ihrem Fabrikbesitzer verhandeln, weil sie nicht mehr bereit sind, all die
Mühen und extremen Belastungen auf sich zu nehmen, die das Zeitalter der Industrialisierung
mit sich brachte. Ich würde das vorliegende Unterrichtmaterial für die achte Klasse empfehlen,
sodass auf zusätzliches Wissen aus dem Geschichtsunterricht zurückgegriffen werden und diese
fächerübergreifende Komponente nach Bedarf stärker betont werden kann. Optional können
Recherchearbeiten zum historischen Hintergrund ein tieferes Verständnis ermöglichen. Von Der
Streik ausgehend erarbeiten die Schülerinnen und Schüler das Gedicht, indem sie dieses auch
gezielt in den Kontext des Bildes setzen (Aufgabe 4). Was würde mit der Menge passieren, wenn
jemand überraschend das Arbeiterlied anstimmen würde? Hier kann probe- und versuchsweise
nachvollzogen werden, welche Sprengkraft Lyrik im späten 19. Jahrhundert gezeigt haben
könnte. Doch war es mir auch wichtig, deutlich zu machen, wie der Text auch noch in unserer
Zeit lebendig und anstoßend wirkt, etwa beim lauten Lesen. Aus diesem Grund wurde die dritte
Aufgabe konzipiert.
Statt ganz konkrete Anweisungen zu geben und Botschaften zu verbreiten, kann Lyrik aber
auch überraschend verwirrend sein. Morgensterns Das große Lalula ist ein grandioses Beispiel
dafür. Wir finden als Leser keine endgültige Möglichkeit, den Wortformen eine
konventionalisierte Bedeutung zukommen zu lassen. Bestätigung finden wir nicht, und so endet
der Leser vielleicht in der völligen Ratlosigkeit: Was soll denn das bitte bedeuten? Bis zum
heutigen Tag (und bestimmt darüber hinaus) bleiben diese Verse ein wunderbares Rätsel. Sie
bleiben ein „Lalula“, das einfach wirr und vielleicht sogar verstörend wirken kann.
Nichtsdestotrotz handelt es sich zweifellos um ein Gedicht: Es ist in drei Strophen von je fünf
Versen aufgeteilt, die durch den Endkehrreim, welcher den Paarreim unterbricht, verknüpft sind.
Damit überhaupt klar wird, dass es sich eindeutig um ein Gedicht handelt, sollen in Aufgabe 3
diese gängigen Kennzeichen herausgestellt werden. Spannend ist hier eben gerade die Tatsache,
dass zwar die Merkmale eines Gedichts und die prinzipielle Möglichkeit zur Deutung gegeben
sind, aber eine Bestätigung von Interpretationen ausbleiben muss. Mit dem Gedicht Das große
Lalula soll auch gezeigt werden, wie viel Freude Lyrik mit sich bringen kann, selbst wenn ein
Inhalt im klassischen Sinne fehlt. Das laute Vorlesen dürfte leicht für allgemeine Erheiterung und
Lachen sorgen, kann damit eine emotionale Beteiligung am Text mit sich bringen und die
individuelle Vorstellungsbildung anregen. Es bietet sich an, die Schülerinnen und Schüler durch
das Gedicht ausgelöste Eindrücke und Bilder zeichnen zu lassen. Welche Wörter und Verse des
Gedichts finden sich auf dem Papier wieder? Gibt es Gemeinsamkeiten in der Klasse? Schon an
dieser Stelle könnte durch sehr unterschiedliche Zeichnungen mit individuellen Motiven die
diffuse Wirkung des „Lalulas“ deutlich werden. Lyrik – so sollen die Schüler erfahren – kann für
Verwirrung sorgen und zugleich (oder gerade deshalb) belustigen.
Lyrik kann noch etwas besonders gut, nämlich nachdenklich stimmen. Sie ermöglicht dem
aufmerksamen Leser, subjektive Entwürfe über die Welt und den Menschen kennen zu lernen. So
können auch schwierige Themen wie Tod, Abschied und Trauer besprochen werden. Eben dies
geschieht in Eines Tages von Carl Zuckmayer.
Es bespricht in einfacher, nüchterner Sprache, in welcher Gestalt die totale physische
Abwesenheit eines Angehörigen erlebt werden kann: Das lyrische Ich, also die verlorene Person,
wird zuerst noch allgegenwärtig erscheinen. In den Räumen „spürt“ und „hört“ man Spuren des
Verstorbenen. Dann verhallen auch diese letzten Manifestationen. Schließlich wird davon
gesprochen, dass auch die angesprochene Person, das Du, „von dannen“ geht. Eines Tages
schafft es, kurz und prägnant zwei Abschiede und einen dazwischen liegenden Zustand der
Trauer des einen um den anderen in Worte zu fassen. Meines Erachtens bietet dieses Gedicht mit
nur drei Strophen eine gute Möglichkeit, eine Sichtweise auf den Komplex Abschied und Trauer
einzunehmen. Es bewegt eigene Gedanken und regt zur individuellen Vorstellungsbildung an.
Hat man tatsächlich nach dem Verlust eines lieben Menschen das Gefühl, dieser müsse noch
immer durch das Haus gehen wie früher? Wo ist die andere Person jetzt? Wenn jemand „von
dannen geht“, muss er dann nicht auch irgendwo hingehen?
Die Behandlung des sensiblen Themas Abschied und Trauer erfordert eine gewisse
Behutsamkeit. Welche persönlichen Erfahrungen wurden durch die Schülerinnen und Schüler
schon gemacht? Mir ist es deshalb wichtig, an dieser Stelle zuerst in einer Einzelarbeit
Eindrücke, Emotionen und Gedanken sammeln zu lassen und diese später in Aufgabe 3 auch zu
verwenden – die Ergebnisse müssen aber nicht präsentiert werden. Gemeinsam im Plenum kann
über Eines Tages gesprochen und die gut zu verstehende Struktur erarbeitet werden. Auf der
Grundlage dieses Verständnisses sollte es für die Schülerinnen und Schüler dann möglich sein,
eine Antwort für das lyrische Ich aus Eines Tages in Gedichtform zu verfassen. Hierin kann
deutlich werden, was durch das Gedicht angestoßen wurde und welche Entwürfe und
Sichtweisen zu Trauer, Abschied und Tod in der Klasse vorhanden sind.
Abschließend möchte ich den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geben, auf mehrere
persönliche Stellungnahmen hin zu reagieren, die unterschiedliche Aspekte der Wirkung von
Lyrik ansprechen. Es kann im Gespräch summierend deutlich werden, was durch die Behandlung
der drei gegensätzlichen Gedichte angestoßen wurde. Ist Lyrik für die Schülerinnen und Schüler
relevant? Kann sie etwas im Menschen auslösen? Und wenn ja, wie erreicht sie das?
Erklärung
Ich versichere eidesstattlich, die vorliegende Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen als
die angegebenen Quellen benutzt zu haben. Alle wörtlichen und sinngemäßen Entlehnungen sind
unter genauer Angabe der Quelle kenntlich gemacht.
Die Satzung der Universität Leipzig zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis vom 17. April
2015 habe ich zur Kenntnis genommen und bei der Erstellung dieser Arbeit beachtet.
Leipzig, den 06.08.2015
Julian Fuhrmann