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www.diam-training.at /Weltenraum / Erleben und Sprache Vorlesung von Peter Bieri. - 1 - Was wäre ein selbstbestimmtes Leben? Mitschrift einer Vorlesung von Peter Bieri, gehalten an der Akademie Graz: 21. bis 23. März. 2011, jeweils 19 Uhr im Stadtmuseum Graz. Verfasserin: Mag a . Gerlinde Knaus Wir wollen über unser Leben selbst bestimmen. Davon hängen unsere Würde und unser Glück ab. Doch was genau bedeutet das? Unser Denken, Fühlen und Tun ergibt sich aus den Bedingungen einer Lebensgeschichte. Wie können wir trotzdem Einfluss auf unser Leben nehmen, so dass es uns nicht einfach nur zustößt? Was für eine Rolle spielt dabei Selbsterkenntnis? Wann sind die Anderen eine Hilfe für Selbstbestimmung, und wann ein Hindernis? Wie hängen Selbstbestimmung und kulturelle Identität zusammen? Und welche Bedeutung hat dabei die Literatur? Peter Bieri ist Philosoph und Schriftsteller, der unter dem Namen Pascal Mercier publiziert. Er war bis vor kurzem Professor für analytische Philosophie an der Freien Universität Berlin; zuvor Professor in Heidelberg, Bielefeld und Marburg. Promotion und Habilitation in Heidelberg, Forschungsaufenthalte in Berkeley und Harvard. Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften, Auszeichnung mit der Lichtenberg-Medaille, Ehrendoktor der Universität Luzern. Unter dem Namen Pascal Mercier Autor von vier Romanen, darunter „Nachtzug nach Lissabon“ und „Lea“. Für das literarische Werk ausgezeichnet mit dem Marie-Luise-Kaschnitz Preis und dem Premio Grinzane Cavour. Gerlinde Knaus schreibt diese Zeilen, um sie zu begreifen und besser zu verstehen Sie möchte – so wie andere auch – über ihr Leben selbst bestimmen. Auf Basis ihrer ganz eigenen Geschichte. Trotzdem und gerade deswegen. Gerlinde Knaus besuchte die Vorlesung „Was wäre ein selbstbestimmtes Leben?“ von Peter Bieri, weil sie von seinem Buch „Nachtzug nach Lissabon“ angetan war. Sie erkannte sich im Gelesenen selbst. Im Stolpern und Gelingen. Im Fallen und Aufstehen. Die Vorlesung empfand sie als sehr anregend und aufschlussreich.

Was wäre ein selbstbestimmtes Leben? - diam-training.at · Drama. Und wir können nicht nach Belieben, ohne Vorbedingungen und aus dem Und wir können nicht nach Belieben, ohne Vorbedingungen

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Was wäre ein selbstbestimmtes Leben?

Mitschrift einer Vorlesung von Peter Bieri,

gehalten an der Akademie Graz: 21. bis 23. März. 2011, jeweils 19 Uhr im

Stadtmuseum Graz.

Verfasserin: Maga. Gerlinde Knaus

Wir wollen über unser Leben selbst bestimmen. Davon hängen unsere Würde und

unser Glück ab. Doch was genau bedeutet das? Unser Denken, Fühlen und Tun

ergibt sich aus den Bedingungen einer Lebensgeschichte. Wie können wir

trotzdem Einfluss auf unser Leben nehmen, so dass es uns nicht einfach nur

zustößt? Was für eine Rolle spielt dabei Selbsterkenntnis? Wann sind die Anderen

eine Hilfe für Selbstbestimmung, und wann ein Hindernis? Wie hängen

Selbstbestimmung und kulturelle Identität zusammen? Und welche Bedeutung

hat dabei die Literatur?

Peter Bieri ist Philosoph und Schriftsteller, der unter dem Namen Pascal Mercier

publiziert.

Er war bis vor kurzem Professor für analytische Philosophie an der Freien

Universität Berlin; zuvor Professor in Heidelberg, Bielefeld und Marburg.

Promotion und Habilitation in Heidelberg, Forschungsaufenthalte in Berkeley und

Harvard. Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften, Auszeichnung mit

der Lichtenberg-Medaille, Ehrendoktor der Universität Luzern.

Unter dem Namen Pascal Mercier Autor von vier Romanen, darunter „Nachtzug

nach Lissabon“ und „Lea“. Für das literarische Werk ausgezeichnet mit dem

Marie-Luise-Kaschnitz Preis und dem Premio Grinzane Cavour.

Gerlinde Knaus schreibt diese Zeilen, um sie zu begreifen und besser zu

verstehen Sie möchte – so wie andere auch – über ihr Leben selbst bestimmen.

Auf Basis ihrer ganz eigenen Geschichte. Trotzdem und gerade deswegen.

Gerlinde Knaus besuchte die Vorlesung „Was wäre ein selbstbestimmtes Leben?“

von Peter Bieri, weil sie von seinem Buch „Nachtzug nach Lissabon“ angetan war.

Sie erkannte sich im Gelesenen selbst. Im Stolpern und Gelingen. Im Fallen und

Aufstehen. Die Vorlesung empfand sie als sehr anregend und aufschlussreich.

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Das Gehörte und Geschriebene setzte einen (Schreib)-Prozess in Gang, der es ihr

ermöglicht, sich selbst besser kennen zu lernen und ehrlicher mit sich selbst

umzugehen. Dafür ist sie Peter Bieri und Alfred Mörx sehr dankbar.

Die Vorlesung bestand aus drei Teilen an drei Abenden: „Selbstbestimmung“,

„Selbsterkenntnis“ und „kulturelle Identität“.

Peter Bieri nahm sich nach jeder Vorlesung Zeit für kontinuierliche Gespräche mit

den TeilnehmerInnen. Das sei wichtig für Denkprozesse und für Erkenntniswege,

die sich etwa so vollziehen: Gestern stellte sich eine Frage, heute ist die Antwort

da, durch Verdichtung. Dichten sei Verdichten, ein Geflecht von Überlegungen.

Das sei etwas Einfaches und zugleich Kompliziertes. Das Einfache ist das „Nicht-

Neue“ (eine Art Erinnerung an Dinge, die fragmentarisch aufleuchten, die

scheinbar in Vergessenheit geraten sind). Bieri’s Vortrag zeichnete sich durch

eine genaue Sprache, die nahezu ohne Fremdwörter auskam, aus. Auf diese Art

und Weise kamen komplexe Sachverhalte verständlich und transparent bei den

TeilnehmerInnen an.

Das Neue in der Lektüre vollzieht sich im komplexen Bereich der Erfahrungen.

Dieser Erkenntnis-Prozess vollzieht sich nicht automatisch und setzt voraus, dass

die Lektüre mit dem Leben in Beziehung gesetzt wird. Bieri lehrt Philosophie und

zeigt auf, dass Dinge miteinander verflochten sind. Durch die neuen Erfahrungen

der Lektüre lichtet sich Nebel im Kopf. Die Wittgenstein Metapher von der

Landkarte, die Zusammenhänge aufzeigt, macht diesen Vorgang verständlicher.

Die Stadt erscheint uns verwinkelt, unübersichtlich, manchmal stolpert man

durch Gassen, verläuft sich. Peter Bieri zeichnete eine Landkarte dieser Stadt,

die aufzeigen soll, wie Dinge, wie etwa Selbstbestimmung und kulturelle Identität

zusammenhängen.

1. Tag: „Selbstbestimmung“

Wir wollen unser Leben selbst bestimmen. Was bedeutet das? Das sind Worte,

die leidenschaftliche Zustimmung finden, und wir haben den Eindruck, dass sie

von den beiden wichtigsten Dingen handeln, die wir kennen: von unserer Würde

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und unserem Glück. Doch was bedeuten die Worte eigentlich? In welchem Sinn

kann ich über mein Leben bestimmen? Was ist das für eine Idee von Bestimmen

und von Selbständigkeit? Wie kann man die Idee entfalten, und was kommt da

alles zum Vorschein?

Philosophie benützt Begriffe, redet über Begriffe. Philosophie ist Nachdenken

über Denken. Philosophie ist Disziplin zweiter Ordnung. Erste Ordnung: Welt,

Natur, Gesetze, Recht, Kunstwerke. Ein Beispiel für Philosophie als Disziplin

„zweiter Ordnung“: Wie reden wir über Welt in der Naturwissenschaft?

Was heißt Selbstbestimmung? Nach einer ersten Lesart ist etwas Einfaches,

Geradliniges gemeint: Wir wollen in Einklang mit unseren eigenen Gedanken,

Gefühlen und Wünschen leben. Wir möchten nicht, dass uns jemand vorschreibt,

was wir zu denken, zu sagen und zu tun haben. Keine Bevormundung durch die

Eltern, keine verschwiegene Tyrannei durch Lebensgefährten, keine Drohungen

von Arbeitgebern und Vermietern, keine politische Unterdrückung. Niemand, der

uns zu tun nötigt, was wir von uns aus nicht möchten. Keine äußere Tyrannei

und keine Erpressung, aber auch nicht Krankheit und Armut, die uns verbauen,

was wir erleben und tun möchten.

Das ist nicht mit dem Wunsch zu verwechseln, ohne Rücksicht auf andere die

eigenen Interessen durchzusetzen. Zwar kann man – ganz formal betrachtet –

Selbstbestimmung auch so lesen. Doch dann ist sie nicht das, was die meisten

von uns im Auge haben: ein selbständiges Leben in einer Gemeinschaft, die

durch rechtliche und moralische Regeln bestimmt ist – Regeln, die soziale

Identitäten definieren, ohne die es ebenfalls keine Würde und kein Glück gibt.

Was wir nach dieser ersten Lesart der Idee meinen, ist ein Leben, das im

Rahmen dieser Regeln frei von äußeren Zwängen wäre, und ein Leben, in dem

wir mit darüber bestimmen können, welche Regeln gelten sollen.

Das ist eine relativ einfache, transparente Idee, die keine grundsätzlichen

gedanklichen Probleme aufwirft. Viel komplizierter wird die Idee der

Selbstbestimmung nach der zweiten Lesart. Danach geht es nicht mehr um die

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Unabhängigkeit den Anderen gegenüber, sondern um die Fähigkeit der

Selbstbestimmung. Nun ist nicht mehr die Rede davon, über mein Leben Regie

zu führen, indem ich mich gegen die Tyrannei der Außenwelt wehre. Jetzt geht

es darum, in einem noch ganz anderen Sinne der Autor und das Subjekt meines

Lebens zu werden: indem ich Einfluss auf meine Innenwelt nehme, auf die

Dimension meines Denkens, Wollens und Erlebens, aus der heraus sich meine

Handlungen ergeben. Wie kann man sich diesen Einfluss, diese innere

Lebensregie, vorstellen?

Wir sind nicht die unbewegten Beweger unseres Wollens und Denkens. Wir sitzen

nicht als stille Regisseure im Dunkeln und ziehen die Fäden in unserem inneren

Drama. Und wir können nicht nach Belieben, ohne Vorbedingungen und aus dem

Nichts heraus, darüber bestimmen, was wir denken, fühlen und wollen.

Selbstbestimmung in dieser zweiten Lesart bedeutet weder eine innere

Verdoppelung der Person durch einen stillen Homunculus, noch eine Wahl von

einem imaginären Nullpunkt aus. Bevor wir soweit sind uns zu fragen, wie wir

leben möchten, sind tausendfach Dinge auf uns eingestürzt und haben uns

geprägt.

Diese Prägungen bilden den Sockel für alles weitere, und über diesen Sockel

können wir nicht bestimmen. Doch das macht nichts, denn das Gegenteil wäre

ohnehin nicht denkbar: Derjenige, der am Nullpunkt stünde, könnte sich nicht

selbst bestimmen, denn er hätte noch keinen Maßstab. Damit unser Wille und

unser Erleben die unseren sind als Teil der persönlichen Identität, müssen sie in

eine Lebensgeschichte eingebettet und durch sie bedingt sein, und wenn es da

Selbstbestimmung gibt, dann nur als Einflussnahme im Rahmen einer solchen

Geschichte, die auch eine kausale Geschichte ist, eine Geschichte von

Vorbedingungen.

Ist diese Einsicht nicht gefährlich? Unser Erleben ist mit dem Rest der Person

kausal – durch Beziehungen der Bedingtheit – verflochten. Doch die Dinge in

uns, aus denen es sich ergibt, werden ihrerseits kausal von der Welt draußen

bestimmt. Werden mein Denken, Wollen und Fühlen damit nicht zum bloßen

Spielball des Weltgeschehens, so dass es ein Hohn ist, davon zu sprechen, dass

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ich über sie bestimmen kann? Macht uns das als Denkende und Wollende nicht

zu bloßem Treibsand? Vieles, was ich will, geht darauf zurück, dass andere mir

etwas gesagt und auf diese Weise dafür gesorgt haben, dass ich bestimmte

Dinge glaube, fühle und will. Die anderen setzen Kausalketten in Gang, an deren

Ende sich mein Erleben und dann mein Tun verändern. Werde ich dadurch nicht

zum bloßen Instrument und Spielzeug der anderen, zu einer Art Marionette?

Wenn ich mich in jedem Moment in einem kausalen Kräftefeld von eigener

Vergangenheit und fremdem Einfluss befinde: Wie kann da im Ernst noch von

Selbstbestimmung die Rede sein? Ist das nicht bloß ein rhetorisches Manöver des

Selbstbetrugs?

Doch so ist es nicht. Auch wenn meine Innenwelt eng verflochten ist mit dem

Rest der Welt, so gibt es doch einen gewaltigen Unterschied zwischen einem

Leben, in dem jemand sich so um sein Denken, Fühlen und Wollen kümmert,

dass er in einem emphatischen Sinne sein Autor und sein Subjekt ist, und einem

anderen Leben, das der Person nur zustößt und von dessen Erleben sie wehrlos

überwältigt wird, so dass statt von einem Subjekt nur von einem Schauplatz des

Erlebens die Rede sein kann. Selbstbestimmung zu verstehen, heißt, diesen

Unterschied auf den Begriff zu bringen.

Am Anfang steht eine Beobachtung von großer Tragweite: Es kennzeichnet uns

Menschen, dass wir, was unsere Meinungen, Wünsche und Emotionen anlangt,

nicht nur blind vor uns hin leben und uns treiben lassen müssen, sondern dass

wir uns in unserem Erleben zum Thema werden und uns um uns selbst kümmern

können. Das ist die Fähigkeit, einen Schritt hinter sich selbst zurückzutreten und

einen inneren Abstand zum eigenen Erleben aufzubauen.

Diese Distanz zu sich selbst gibt es in zwei Varianten. Die eine ist eine Distanz

des Erkennens und Verstehens. Was ist es eigentlich, was ich denke, fühle und

will? Und wie ist es zu diesen Gedanken, Gefühlen und Wünschen gekommen? Zu

dieser reflektierenden Einstellung gehört implizit ein wichtiger Gedanke: Es wäre

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auch möglich, etwas anderes zu denken, zu fühlen und zu wollen. Für Wesen wie

uns, denen es um Selbstbestimmung gehen kann, ist die Kategorie des

Möglichen von großer Bedeutung: der Gedanke, dass es nicht nur die eine, die

eigene Weise gibt, ein menschliches Leben zu führen, sondern viele und ganz

verschiedene. Selbstbestimmung verlangt einen Sinn für das Mögliche, also

Einbildungskraft, Fantasie.

Noch deutlicher zeigt sich das bei der zweiten Variante der inneren Distanz, wo

es um die Bewertung des eigenen Erlebens geht: Bin ich eigentlich zufrieden mit

meiner gewohnten gedanklichen Sicht auf die Dinge, oder überzeugt sie mich

nicht mehr? Finde ich meine Angst, meinen Neid und meinen Hass angemessen?

Möchte ich wirklich einer sein, der diesen überkommenen Hass weiter trägt und

diese Angst meiner Eltern weiterschreibt? Oder würde ich mich lieber als eine/n

erleben, der/die der Versöhnung und Gelassenheit fähig ist? Und entsprechende

Fragen können meinen Wünschen und meinem Willen gelten: Ist mir eigentlich

wohl mit meinem Willen, der immer noch mehr Geld und Macht anstrebt? Möchte

ich wirklich eine/r sein, der/die stets das Rampenlicht und den Lärm des Erfolgs

sucht? Oder möchte ich lieber eine/r sein, der in der Stille von Klostergärten zu

Hause ist?

Es ist nichts mysteriös an diesem erkennenden und bewertenden Abstand, den

wir zu uns selbst aufbauen können. Er bedeutet keine heimliche Verdoppelung

der Person. Er besteht einfach in der Fähigkeit, Gedanken, Emotionen und

Wünsche zweiter Ordnung zu entwickeln, die sich auf diejenigen erster Ordnung

richten. Aus dieser Fähigkeit heraus entsteht etwas, was für die Erfahrung von

gelingender und scheiternder Selbstbestimmung von entscheidender Bedeutung

ist: unser Selbstbild, unsere Vorstellung davon, wie wir sein möchten. Was wir

jetzt sagen können, ist: selbstbestimmt ist unser Leben, wenn es uns gelingt, es

innen und außen in Einklang mit unserem Selbstbild zu leben – wenn es uns

gelingt, im Handeln, im Denken, Fühlen und Wollen der/die zu sein, der wir sein

möchten. Und umgekehrt: Die Selbstbestimmung gerät an ihre Grenzen oder

scheitert ganz, wenn zwischen Selbstbild und Wirklichkeit eine Kluft bleibt.

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Doch der Gedanke klingt einfacher, als er ist. Denn woher kommt das Selbstbild,

und wie hat man sich den Prozess vorzustellen, durch den ich mit mir selbst zur

Deckung kommen und mich mit dem Drama meiner Innenwelt identifizieren

kann?

Der innere Umbau, in dem diese Art von Selbstbestimmung besteht, geschieht

nicht von einem inneren Hochsitz aus, der den Fluss des seelischen Lebens hoch

und unberührbar überragte. Der Standpunkt, von dem aus ich mich beurteile, ist

Teil dieses Flusses und beruht selbst wieder auf bestimmten Gedanken,

Wünschen und Gefühlen. Und der Maßstab des Selbstbilds ist nicht unantastbar:

Manchmal geht es nicht darum, sich einem solchen Bild zu beugen, sondern eine

versklavende Vorstellung von sich selbst über Bord zu werfen. Und auch die

Einflussnahme darf man nicht falsch deuten: Die innere Umgestaltung kann nicht

einfach beschlossen und durch seelische Alchemie verwirklicht werden. Viele

äußere Umwege sind nötig: Kulissenwechsel, neue Erfahrungen, neue

Beziehungen, die Arbeit mit Trainern und Therapeuten. Das Ganze ist ein Kampf

gegen die innere Monotonie, gegen eine Starrheit des Erlebens und Wollens.

Die beste Chance, den Kampf zu gewinnen, liegt in der Selbsterkenntnis. Wenn

wir eine hartnäckige Zerrissenheit erleben, weil wir so ganz anders sind, als wir

gerne sein möchten, dann geht es darum, den Quellen nachzugehen, aus denen

sich sowohl das Selbstbild als auch das widerspenstige Erleben und Wollen

speisen. Es kommt darauf an, denjenigen Unterströmungen des Fühlens und

Wünschens auf die Spur zu kommen, die uns lenken, ohne dass wir es wissen

und verstehen. Selbstbestimmung hat sehr viel damit zu tun, dass wir uns selbst

verstehen. Jedes Leben ist viel reicher an Gedanken, Gefühlen und Fantasien, als

die äußere Biographie zeigt. Und auch, als die innere, bewusste Biographie zeigt.

Wer zu einem realistischen Selbstbild gelangen und mit ihm zur Deckung

kommen will, muss versuchen, die Logik seines weniger bewussten Lebens zu

durchschauen. Nur so lassen sich innere Zwänge und diejenigen

Selbsttäuschungen auflösen, die der Selbstbestimmung im Wege stehen.

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Selbsterkenntnis ist dasjenige, was dazu führt, dass wir eine transparente

seelische Identität ausbilden und dadurch in einem emphatischen Sinne zum

Autor und Subjekt unseres Lebens werden können. Sie ist also kein frei

schwebender Luxus und kein abstraktes philosophisches Ideal, sondern eine sehr

konkrete Bedingung für ein selbstbestimmtes Leben und damit für Würde und

Glück.

Doch wie genau machen wir das: uns befragen, uns verstehen, uns verändern?

Es hat viel mit Sprache zu tun – mit dem Finden der richtigen Worte für das, was

wir denken und erleben. Über sich selbst zu bestimmen, kann heißen, sich im

eigenen Denken zu orientieren und seine Überzeugungen auf den Prüfstand zu

stellen. Stimmt es eigentlich, was ich über dieses Land, diese

Wirtschaftentwicklung, diese Partei, diese Freundschaft und diese Ehe denke?

Indem ich nach Belegen für oder gegen gewohnte Überzeugungen suche, eröffne

ich einen inneren Prozess, in dessen Verlauf sich diese Überzeugungen ändern

können. Und wenn dieser Prozess weitläufig genug ist, kann das zu einer

Umgestaltung meines ganzen Meinungsprofils führen, zu einer Veränderung

meiner gedanklichen Identität. Deshalb ist der Prozess der Aufklärung über eine

wichtige Sache ein Akt der Selbstbestimmung. Jemand mag eine Partei gewählt,

sich zu einer Religion bekannt und gegen Abtreibung demonstriert haben, weil

das in der Familie seit Generationen so war. Er war ein gedanklicher Mitläufer.

Bis es ihm gelang, durch kritisches Nachfragen eine innere Distanz zu seinen

Meinungsgewohnheiten aufzubauen und im Prozess des Nachprüfens selbst die

Regie über sein Denken zu übernehmen. Und das hat viel mit kritischer Distanz

auch gegenüber den eigenen sprachlichen Gewohnheiten zu tun. Vieles, was wir

zu denken und zu wissen meinen, ist dadurch entstanden, dass wir die

Muttersprache nachgeplappert haben: Es sind Dinge, die man eben so sagt. Im

Denken selbständiger, mündiger zu werden, bedeutet auch, wacher zu werden

gegenüber blinden sprachlichen Gewohnheiten, die uns nur vorgaukeln, dass wir

etwas denken.

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Diese Wachheit kommt in zwei Fragen zum Ausdruck: Was genau bedeutet das?

Und: Woher eigentlich weiß ich das? Es gehört zu einem selbstbestimmten

Leben, dass einem diese Fragen zur zweiten Natur werden, wenn von wichtigen

Dingen die Rede ist wie etwa: Freiheit, Gerechtigkeit, Patriotismus, Würde, Gut

und Böse. Über sich selbst zu bestimmen, heißt, unnachgiebig und

leidenschaftlich zu sein in der Suche nach Klarheit und gedanklicher Übersicht.

Diese Leidenschaft ist der platonischen, philosophischen Leidenschaft verwandt.

Etwas kühn könnte man den methodischen Grundgedanken der platonischen

Dialoge so formulieren: Man sollte sich hüten zu meinen, dass jeder grammatisch

wohlgeformte Satz auch einen Gedanken ausdrückt; es gibt ungezählte Sätze,

die an der Oberfläche in Ordnung sind, aber keinen echten gedanklichen Gehalt

haben und eigentlich nur Geschwätz darstellen. Das ist es, was sich zeigt, wenn

Sokrates die geläufigen Auskünfte über Gerechtigkeit, Bedeutung, Wahrheit und

dergleichen auf den Prüfstand stellt und seine Gesprächspartner entdecken lässt,

dass sie keine Ahnung hatten, wovon sie redeten. Die Gesprächspartner sind am

Ende wacher als zuvor, wacher und misstrauischer gegenüber vertrauten, aber

gedanklich leeren Redeweisen. Deshalb pflegte ich meinen Studenten zu sagen:

Philosophie ist diejenige Disziplin, in der die Idee des Gedankens ernster

genommen wird als in jeder anderen. Und damit eben auch die Idee der

Selbstbestimmung.

Doch sprachliche Wachheit und Genauigkeit sind nicht nur dort entscheidend, wo

es um unsere gedankliche Identität geht. Entscheidend sind sie auch, wenn wir

nach unseren Wünschen und Affekten fragen und versuchen, sie zu verstehen

und im Sinne der Selbstbestimmung zu beeinflussen. In den meisten Fällen

beeinflusst das, was wir über eine Sache sagen, diese Sache nicht. Anders

verhält es sich, wenn wir uns selbst zu erkennen und zu verstehen versuchen,

indem wir das Erleben in Worte fassen. Wir haben gesehen: Wenn wir uns

fragen, was wir über eine Sache denken, und uns dazu die Belege für die

vermeintliche Überzeugung ansehen, so kann sich diese Überzeugung gerade

dadurch, dass sie untersucht und besprochen wird, verändern. Man könnte

sagen: Dann schafft das Erkennen das Erkannte, oder auch: Dann formt das

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Besprechen das Besprochene. Auch im Fall von Empfindungen und Wünschen

gibt es einen solchen Zusammenhang, aber dort ist er komplizierter und

unübersichtlicher. Vieles, was wir fühlen und wünschen, ist für uns zunächst

undurchsichtig und diffus. Der Prozess der Klärung, in dem wir uns die Situation

und die Geschichte des Erlebens vor Augen führen, macht auch hier etwas mit

dem Gegenstand: Indem wir die Gefühle und Wünsche identifizieren, beschreiben

und von anderen unterscheiden lernen, wandeln sie sich zu etwas, das genauere

Erlebniskonturen hat als vorher. Aus Gefühlschaos etwa kann durch sprachliche

Artikulation emotionale Bestimmtheit werden. Und das kann man

verallgemeinern: Wenn unsere Sprache des Erlebens differenzierter wird, wird es

auch das Erleben selbst. Das ist mit dem Ausdruck éducation sentimentale

gemeint.

Über solche Prozesse, in denen das Beschreiben und Verstehen unserer selbst

nicht in einer einflusslosen Bestandsaufnahme besteht, sondern auch eine innere

Umgestaltung mit sich bringt, könnte man sagen: Wir arbeiten durch

Selbstbeschreibung an unserer persönlichen Identität. Das tun wir auch, wenn

wir Unbewusstes in Bewusstes überführen, indem wir es zur Sprache bringen.

Wenn wir eine neue Beschreibung für ein Erleben finden und nun beispielsweise

wissen, dass es nicht nur Neid ist, was wir jemandem gegenüber fühlen, sondern

auch Missgunst, ist bei dieser Sache ein neuer Grad an Bewusstheit erreicht. Es

kann dann, indem wir uns die fragliche Beziehung und ihre Geschichte ansehen,

zu der Einsicht kommen, dass die missgünstige Empfindung in einer Kränkung

begründet sein muss, die wir weggeschoben und in den Untergrund verbannt

hatten – eine Demütigung vielleicht, die einen verleugneten Hass hatte

entstehen lassen. Und dann kann diese hypothetische Einsicht kausale Kraft

entfalten, die Macht der Zensur brechen und uns helfen, das verleugnete Gefühl

endlich in vollem Umfang und voller Klarheit zu erleben. So kann aus

Unbewusstem durch sprachliche Artikulation Bewusstes werden.

Sprache hilft Erinnerung zu ordnen. Auch das Erinnern wird durch Sprache

geprägt. Natürlich haben auch Wesen, die nicht über Sprache verfügen,

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Erinnerungen. Aber sie können unter ihnen nicht die Art von Zusammenhang

herstellen und erleben, die im sprachlich verfassten Erinnern möglich wird. Wenn

sprechende Wesen sich an etwas erinnern, bleibt es selten beim isolierten

Aufblitzen einer vergangenen Episode. Meist wird die Episode als Teil einer

Geschichte gesehen: Sich erinnern heißt, die erlebte Vergangenheit zu erzählen.

In diesem Prozess bildet sich unsere seelische Identität heraus. Ein Selbst ist ein

Zentrum erzählerischer Schwerkraft: Ich bin derjenige, um den sich all meine

Erzählungen der erlebten Vergangenheit drehen.

Erlebte Vergangenheit wird – zum Selbstbild passend – selektiv bewertend

erzählt. Fabulierende Elemente werden verwendet, um Stimmigkeit

herbeizuführen.

Im Selbstbild soll ein Sinn erkennbar sein, um weitermachen zu können. Ein

Beispiel ist, wenn wir im Zug einem Fremden begegnen und wir ihm unser

Selbstbild offenbaren. Wir erfinden uns, lügen, täuschen, spielen.

Ein wichtiger Aspekt der Selbstbestimmung ist die Zeiterfahrung. Erinnerungen

können ein Kerker sein, sie können uns gegen unseren Willen überwältigen.

Wichtig ist für den eigenen Entwurf, dass das Selbstbild in einem stimmigen

Zusammenhang mit der Vergangenheit steht. Die Vergangenheit kann in Form

eines sich erinnernden Wesens zur Sprache gebracht werden, um mit dem

Tyrannen zu brechen. Das erinnernde Wesen ist nicht länger wehrloses Opfer,

das in die Zukunft hineinstolpert, wenn die Erinnerung in die Geschichte

eingebunden wird.

Selbstbestimmung bedeutet, dass wir sie uns anhand der eigenen Geschichte

oder/und durch Literatur aneignen. Die Aneignung eröffnet ein Spektrum von

Möglichkeiten. Der Radius unserer Fantasie wird größer, es ergeben sich mehr

Spielarten in menschlichen Beziehungen. Erzählen schafft ein Konstrukt der

Selbstbestimmung. Das Schreiben trägt dazu bei, Identität zu verändern. Ohne

unbewusste Fantasie des Erzählers ist das Erzählte flach. Schreiben heißt, die

innere Zensur zu lockern und das zur Sprache bringen, was dunkel eingefärbt ist.

Nach einem Roman ist man nicht mehr derselbe wie vorher. Die Literatur ist die

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kunstvolle Sprache der Vergegenwärtigung von Erfahrung. Dabei ist es wichtig,

die eigene Stimme, die eigene Melodie zu finden. Es ist so, als würde man sich

die eigene Sprache noch einmal neu aneignen. Dabei stellt sich die Frage, welche

Wörter passen, welche nicht und wie man klingt.

Eine starke Erinnerung aus der Kindheit war, dass Erwachsene stundenlang ruhig

da lagen, mit einem Buch in der Hand, das sie nur ab und zu umblätterten.

Ich habe als Jugendlicher im verdunkelten Zimmer Karl May gelesen und das

Mittagslicht gescheut, da ich es als zu veräußerlichend empfand. Winnetou kann

man nicht in der Sonne lesen, die Geschichte von der silbernen Büchse muss im

Dunklen gelesen werden. Die Einbildungskraft und die Fantasie sind wichtig. Ich

hasste die Unterbrechungen, wie etwa im Kino, wo der Eisverkäufer kam oder die

Stimme der Mutter, die zum Essen rief.

Welche Rolle spielen dabei andere Menschen. Selbstbestimmung hat viel mit

anderen Menschen zu tun, wir sind keine Inseln, die aus Gedanken, Gefühlen und

Wünschen bestehen. Die Einflüsse von Menschen können uns in punkto

Selbstbestimmung hindern oder fördern. Wenn wir auf unsere Wünsche

zugunsten anderer verzichten. Sind wir noch selbstbestimmt, wenn wir auf

andere Rücksicht nehmen oder von fremden Interessen beeinflusst werden?

Kommt es zu einem Verlust der Selbstbestimmung? Diese Fragen bergen

Konflikte und haben enorme Sprengkraft. Das moralische Bewusstsein, das aus

Angst und Pflichterfüllung besteht, lässt uns zu Knechten werden. Wir sind

Wesen mit einer moralischen Identität, die sich um sich selbst kümmern können.

Wir sind fähig, uns moralisch zu erinnern. Tiere sind zu moralischen Erfahrungen

nicht fähig. Die Anderen können auch eine Gefahr für die Selbstbestimmung.

Sein. Wenn wir die meiste Zeit unter dem Blick des Anderen leben - wenn wir

das ständig tun - führt uns das in ein entfremdetes Leben. Wir leben nach den

Erwartungen anderer. Das Glück liegt dann außerhalb von uns selbst. Es ist

wichtig, den Abstand aufzubringen, um sich nicht ersticken zu lassen. Wenn wir

die Bestätigung brauchen in dem, was wir sind und tun und die Anerkennung

ausbleibt. Missachtung und Verachtung führt zur Vernichtung des Selbstbildes.

Wir brauchen einen Schutz davor, dass andere Macht über uns haben. Aber wir

können uns nicht einmauern, um nicht verletzt zu werden. Selbstbestimmung

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heißt, den Blick begegnen und stand halten zu können. Die Entstehung und

Gültigkeit des Selbstbildes in Unabhängigkeit von anderen gibt es nicht. Das ist

eine vertrackte Situation.

Was sehen andere, was ich nicht selber sehe? Der fremde Blick sieht etwas, was

ich nicht sehe. Wenn die Anerkennung ausbleibt und der Blick auf uns lastet, der

verächtliche und urteilende Blick des Anderen. Scham und die Fremdheit

aushalten. Weglaufen geht nicht, um mehr Selbstbestimmung zu finden. Wir

lassen uns von anderen verführen, durch Hypnose, Werbung, Ausnützen der

Gefühle, Gehirnwäsche, Manipulation. Wenn wir keine Kontrolle über unser

Selbstbild haben, führt das zur inneren Zerrissenheit, zum Verlust an Würde. Es

gibt viele Arten über die Welt zu reden, die Selbstbestimmung verhindert:

Fernsehen, Zeitungen, Mitläufertum. Wir können diesen Formen die Wachheit

entgegensetzen: Durch die eigene Stimme, die auf Echtheit, Authentizität beruht

und wenn wir das leben, was der Logik der eigenen Biografie entspricht.

Das also sind zwei Weisen, in denen wir durch sprachliche Artikulation Einfluss

auf unsere Affekte nehmen und den Radius der Selbstbestimmung nach innen

ausweiten können: Differenzierung von bewusstem Erleben auf der einen Seite,

Erschließen von Unbewusstem auf der anderen. Beide Prozesse tragen dazu bei,

ein realistisches Selbstbild zu entwickeln, von dem aus wir zu unseren

Empfindungen stehen und sie in unsere affektive Identität integrieren können.

Und eine solche Integration ist, wie mir scheint, das einzige, was

Selbstbestimmung hier heißen kann. Denn Affekte können weder ein- und

ausgeschaltet noch einfach abgeschafft werden, und gegen den Versuch, sie

durch stoischen Gleichmut außer Kraft zu setzen, spricht einfach dieses: Wir

wollen sie ja leben, die Affekte, nicht zuletzt deshalb, weil sie uns darüber

belehren, was uns wichtig ist. Worauf es ankommt, ist, nicht ihr ohnmächtiger

Spielball zu sein und sie nicht als Kräfte erleben zu müssen, die fremd in uns

toben, sondern als bejahten Teil unserer seelischen Identität.

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2. Tag: „Selbsterkenntnis“

Wiederholung:Es gibt zwei Formen, über sich selbst zu bestimmen. Nach der

einen Lesart ist gemeint, dass wir unser Leben in Einklang mit unseren

Gedanken, Gefühlen und Wünschen leben können, also ohne äußere Tyrannei.

Nach der anderen, dass wir so weit Einfluss auf unser Erleben nehmen können,

dass es in Einklang steht mit der Vorstellung davon, wie wir sein möchten. Im

Zusammenhang mit der zweiten Form ist es sehr wichtig, uns selbst zu kennen

und zu verstehen.

Was bedeutet es, sich selbst zu erkennen? Selbsterkenntnis ist ein großes Wort.

Was hat es mit uns zu tun.

1. Beobachten. Wir tun keinen einzigen Schritt, ohne zu wissen, warum. Wir

gehen weiter, bleiben stehen. Wenn wir das Ziel verloren haben, machen wir

ziellose Bewegungen, wir bleiben stehen. Die Philosophie befasst sich mit

Themen, die uns betreffen, um sie mit uns in Beziehung zu setzen. Ich verwende

gerne die Wittgensteins Methapher der gedanklichen Landkarte mit der

verwinkelten Stadt.

Zwei wichtige Themen sind Handeln und Erkennen. Es gibt kein Handeln ohne

eigenes Ziel. Ob es sich dabei um die Fahrt zur Arbeit, um den Weg ins Kino oder

um einen anderen Lebensabschnitt geht – wir können nur solange weitermachen,

solange Ziele dahinterstecken. Sonst kommt es zum Stillstand, zur Lebenskrise.

Das Leben braucht eine Richtung, damit wir wissen, wer wir sind. Wenn das

gewohnte Selbstverständnis nicht trägt, muss man sich grundsätzliche Fragen

stellen. Wie bin ich hierher gelangt? Passen meine Wünsche zu meinem Leben?

Wie sind Gedanken, Gefühle beschaffen? Habe ich mich getäuscht? Es erfolgt die

Suche nach Selbsterkenntnis im emphatischen Sinne, eine Prüfung, um

herauszufinden, wer wir sind. Wie kann das geschehen? Nach Innen blicken, die

Augen schließen und sich konzentrieren, nützt nichts. Es gibt kein inneres Auge,

keinen abgekapselten Bereich oder ein innere Gesetz. Wie denken wir darüber?

Es ist wichtig, nach Außen auf die Dinge zu schauen. Wie Fremde schauen wir

auf unser Tun und betrachten es von Außen. Schauen wir im Verborgenen nach

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Außen – auch wenn es intuitiv anders zu sein scheint. Die Metapher vom inneren

Blick ist irreführend. Das bedeutet nicht, dass es die introspektive

Selbsterkenntnis nicht gibt. Durch Steigerung der Achtsamkeit lernen wir zu

spüren, wie uns zumute ist. Wir nehmen körperliche Empfindungen deutlicher

wahr. Tagträumen. Fantasie und die Achtsamkeit für momentane

Gemütsverfassung. Mit der gesteigerten Aufmerksamkeit beginnt die

Selbsterkenntnis. Die Konzentration schafft Verständnis für Gegenwart. Der Grad

der Einsicht zeigt große Unterschiede. Warum haben wir den Brief nicht

beantwortet? Warum? Wenn wir in größere Tiefen gehen, hilft Achtsamkeit nicht

mehr viel.

Wichtig ist, die Vergewisserung über tiefer liegende Überzeugungen und den

Blick in die Vergangenheit zu werfen, auf das Entstehen Fühlen, Denken, Wollen.

Wie bin ich geworden wie ich bin? Welche Traumata,

Stimmigkeit/Unstimmigkeiten haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin?

Diese Fragen lassen sich mit dem Blick nach Außen beantworten.

Ähnlich ist es mit der Zukunft. Wie stehe ich zur Zukunft, was strebe ich an,

hoffe und fürchte ich? Dadurch werden Muster vergegenwärtigt.

Introspektion ist der Anfang der Berichterstattung meines Bewusstseins. Der

Blick in die Außenwelt zeigt, wo die Autorität des Erkennens liegt.

Mit sich selbst verbringt man am meisten Zeit. Es ist oft notwendig, unser

Selbstbild zu korrigieren. Wir irren uns, in dem was wir glauben. Wir halten uns

für liberal, obwohl wir chauvinistische Neigungen haben. Wir sind sprechende

Tiere. Wir reden und reden und halten das Gesagte für Überzeugungen. Es gibt

eine Kluft zwischen Rhetorik und Wirklichkeit. Wir können Opfer der eigenen

Rhetorik sein. Wir erliegen Selbsttäuschungen und sind oft im Irrtum über uns

selbst.

Wir belügen uns selbst, gehen in den Widerstand, wenn ein anderer uns

aufdeckt. Selbsterkenntnis ist eng verwoben mit Selbstbestimmung. Denken ist

ein komplexe Gebilde von Gedanken. Der Gedanke ist, was er ist. Gedanken sind

komplexe Gebilde. Wenn wir Licht in die Gedankenwelt bringen wollen, wenn wir

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sie wirklich erkennen wollen, müssen wir wissen, wie gut sie begründet sind. Es

geht um das Wissen, wie man sie begründen kann.

Das kann weitreichende Folgen haben. Wie sieht das erkannte ein Bild über den

Lybien-Einsatz aus. Was denken Sie? Wir schauen nach Lybien. Was passiert

dort. Wir schauen in die Türkei. Dazu denkt man sich verschiedene Dinge. Wer

tut was? Was sagen andere? Daraus ergibt sich ein Netzwerk von Gedanken. Die

Meinung, ob es richtig ist, ist gefährlich am Ende, weil wir was anderes deuten.

Die Aufklärung sieht so aus, dass man sich in Gedanken erkennt und eingreift.

Was glaube ich? Es erscheint undurchsichtig, diffus, was wir uns wünschen und

was wir wollen - durch die Begrifflichkeit kommt es zur Differenzierung. Was

steckt hinter den drei Begriffen Beklommenheit, Ärger, Wut? Wichtig ist, mehr

Klarheit über Empfindungen zu bekommen. Beim Lampenfieber zum Beispiel.

Dahinter steckt Angst vor Versagen. Angst ist eine unterdrückte Emotion.

Gegen wen sind Wut und Ärger gerichtet? Was steckt hinter der Geltungssucht

oder dem Wunsch nach Glamour? Oft ist es eine tiefe Sehnsucht nach

Anerkennung. Erkennen bedeutet eingreifen und das innere Drama nicht länger

verschleiern; es bedeutet, das innere Drama begrifflich transparenter zu machen.

Das „Erkennen“ ist verwoben mit der Fähigkeit, das Drama differenziert

beschreiben zu können. Dadurch kann sich eine neue Dynamik entfalten.

Seelische Entwicklung findet statt, erstarrte Strukturen werden aufgelöst.

Selbsterkenntnis wird zur Selbstbestimmung. Selbsterkenntnis bedeutet,

Unbewusstes in Bewusstes zu überführen.

Gestern war von Begriffen die Rede, von der „Philosophie als Disziplin zweiter

Ordnung“. Es ist Denken über Denken. Heute geht es um Bewusstes und

Unbewusstes. Das kann Verschiedenes bedeuten. 1. Die Wachsamkeit wächst

gegenüber Erlebnissen. Bewusstwerdung geht mit gesteigerter konzentrierter

Aufmerksamkeit des eigenen Erlebens einher – wie etwa bei der Psychotherapie,

wo wir lernen zu spüren, wie es uns geht. Das allein bewirkt gesteigerte

Aufmerksamkeit, verschärft aber noch nicht die begriffliche Artikulation. Es geht

um das Verstehen der inneren Lebensgeschichte, um verborgene Verfehlungen,

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die in den seelischen Untergrund geschickt worden sind. Durch Selbsterkenntnis

schätzen wir die fragliche Tat neu ein und lernen, sie anzunehmen. Die

Selbsterkenntnis kann uns verändern, da eine innere Umgestaltung stattfindet.

Die Selbsterkenntnis schafft intellektuelle Identität. Globale Armut,

Steuergerechtigkeit, Todesangst werden in Verbindung zum Eigenen gebracht.

Worum soll es in unserer Zukunft gehen? Zitat von Max Frisch, sinngemäß: Wer

nicht schreibt, weiß nicht einmal, wer er nicht ist. Wie ist das gemeint? Wer sich

nicht in dem, was er ist, ausdrückt, verpasst die Chance, zu erkennen, wer er ist.

Die Zeichen meines Ausdrucks sind meine Identität. Das geht nicht über einen

versiegelten Innenraum, sondern über die Außenwelt. Die Formen des Ausdrucks

sind sehr unterschiedlich: Töne, Pinselstriche, Tanzen, Gartenarbeit – all das

kann eine Quelle der Selbsterkenntnis sein. So bin ich. Ohne Fantasie entwickelt

sich kein eigener Stil. Den eigenen Ausdruck erkennen, sich in der Fantasie, in

der Einbildungskraft erkennen. Nach Max Frisch ist ein literarischer Text eine

kunstvolle Begegnung mit sich selbst. Der Autor erzählt in einer fiktiven

Geschichte, wie genau er die Welt und sich selbst erlebt.

Fiktion und wirkliches Erleben ist nur scheinbar paradox. Dichtung ist

Verdichtung von Erfahrung; einen realen Strom des realen Lebens gibt es selten.

Fiktion ist dichter als das gewöhnliche Leben. Es ist nicht paradox, wenn ein

Fremder erfunden wird, um sich selbst zu verstehen. Wir können sogar mehr

über die Innenwelt erfahren, weil das Erzählen verdichtet ist.

Als Kind war ich verblüfft, als ich Leute stundenlang im Sessel sitzen sah und

jene nur ab und zu die Seiten des Buches wendeten. Das eigene Erleben wird mit

dem dichten Erleben der Figuren überprüft. Bin ich so, anders? Das ist

aufregender als das, was wir äußerlich tun. Es handelt von erlebter Identität.

Einen Roman in versunkener Weise zu lesen ohne auszudrücken, wie man selber

dazu steht, geht nicht. Sonst klappt man das Buch zu. Man wird durch die

Geschichte in den Selbsterkenntnisprozess hineingezogen.

Schreiben ist die Quelle der Selbsterkenntnis. Man lernt viel über sich selbst.

Auch die Wahl des Themas sagt viel aus. Man braucht enorme seelische Energie,

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um eine Geschichte zu schreiben. Der Stoff muss die Tiefe berühren, sonst

kommt die Energie nicht. Man verrät sich auch – wenn man das Geschriebene

anderen zu lesen gibt. Der Schreibende entdeckt sich selbst. Die Wahl des

Themas ist spannend und die anderen entdecken oft mehr als der Autor selbst.

Es ist gefährlich, das Geschriebene zu veröffentlichen.

Literatur entsteht durch die Art und Weise, wie das Thema behandelt wird. Die

Wahl der Erzählperspektive (dritte Person oder Ich-Perspektive). Die Wahl der

Erzählperspektive, der Stilebene belehrt mich über mich selbst. Wählt man kurze

oder lange Sätze, ist die Sprache verwickelt oder einfach? Wie ist die

Zeichensetzung? Ist die Ich-Perspektive – weil das kennt man ja – einfacher? Bei

der Ich-Form spricht nicht der Autor, sondern die Figur. Es geht um die eigene

Diktion, die Wortwohl, den Klang. Es ist schwierig, aus der Distanz zwischen sich

und den Figuren heraus zu schreiben. Die schriftstellerische Leistung ist umso

größer, je größer der Abstand zwischen den Figuren und dem Autor ist.

Wichtig für die eigene Stimme ist, zu wissen, welche Wörter gehören zu mir und

welche nicht. Ich habe zwei Listen mit Wörtern erstellt, welche passen und

welche nicht. Die passenden Worte stehen nicht immer spontan zur Verfügung.

Ein Beispiel, das aufzeigt, wie wichtig die Sprache für die Selbsterkenntnis ist, ist

das Lesen von alten Briefen. Die damalige Wortwahl empfindet man rückblickend

vielleicht pathetisch, umständlich oder man hatte damals mehr Metaphern zur

Verfügung, die einem abhanden gekommen sind. Alte Briefe sind eine reiche

Quelle für die Selbsterkenntnis. Interessant kann es sein, alte Briefe noch einmal

abzuschreiben. Bei manchen Worten erlebt man gerdezu eine „motorische

Sperre“, weil sie nicht mehr passen.

Selbsterkenntnis heißt Selbsttäuschungen aufzudecken und Tatsachen frei zu

legen. „Erkennen“ heißt: Tatsachen frei zu legen. Dahinter steckt das Bedürfnis

nach Wahrhaftigkeit, das ein Leben mit Täuschungen und Selbstbetrug nicht

zulässt.

Wir täuschen uns, betrügen uns, wenn wir uns nicht selbst achten, sondern

verachten und der Wahrheit ausweichen. Würde hat mit Wahrheit zu tun, die uns

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selbst betrifft. Es heißt aufzuhören, nach der Meinung der anderen zu schielen

und dazu zu stehen, wie ich bin. Wenn wir uns selbst richtig verstehen, kommen

wir dem Ideal des selbstbestimmten Lebens näher.

Erst das Erkennen der inneren Zwänge ermöglicht Freiheit, Glück. Traumatische

Erinnerungen können dazu führen, dass wir rückwärts leben. Wichtig ist, zu

erkennen, woher die Tyrannei kommt. Unbewusste Entwürfe, die auf Leistung

beruhen (nur wenn ich etwas leiste, mag man mich), können ein Kerker sein.

Der Leistungswille lässt uns durchs Leben hetzen.

Die bereits angesprochene „moralische Identität“ hat etwas mit der Erwartung zu

tun, dass ich das, was ich für andere tue, die anderen auch für mich tun. Um den

Anderen als Anderen zu erkennen, setzt voraus, dass ich erkenne, wer ich selbst

bin. Den Anderenund mich selbst erkennen. Das scheitert oft an Blindheit und

führt dazu, dass man moralisch verkrüppelt und durchs Leben stolpert.

Grausamkeit, unbewusster Neid, Hass, Schadensfreude, verleugneter Hass, all

das geschieht, weil ich nicht lernen will, mich selbst zu erkennen. Wenn ich lerne,

die eigenen Projektionen zu durchschauen, kann ich die Projektionen der anderen

erkennen. Menschen, die sich mit sich selbst auskennen, wissen, dass

Selbsterkenntnis ein hohes Gut ist.

Schreiben lockert die innere Zensur, das ist wichtig für die Selbsterkenntnis. Ich

empfehle zwei Bücher (Suhrkamp-Verlag) über Schreiben. „Briefe an einen

jungen Schriftsteller“, wie man Romane schreibt und „Geschichte der Entstehung

eines Romans“.

Jede Geschichtsschreibung ist eine „Verdichtung“. Jeder, der Geschichte erzählt,

trifft von Beginn an tausende Entscheidungen gegen Dinge, die er nicht erzählt

und weglässt.

Es gibt keine Geschichte ohne Motiv, schon gar nicht eine Familiengeschichte.

Das Motiv ist die Energie – die uns das tun bzw. Schreiben lässt. Jede Geschichte

dient demjenigen, der sie erzählt.

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Erzählen heißt, verzerren, verdichten, selektieren. Auch Fakten können falsch

verdichtet sein. Welche sind relevant? Das hat mit dem Interesse desjenigen zu

tun, der die Geschichte erzählt. Figuren werden entwickelt und dabei werden

tausend Dinge nicht erzählt. Verdichtungsleistung heißt auch: Was wird nicht

gesagt.

3. Tag: „Kulturelle Identität“

Wiederholung: Was haben die beiden Begriffe Selbsterkenntnis und

Selbstbestimmung miteinander zu tun? Wie sind sie miteinander verschränkt?

Dabei ging es um die Erkenntnis in bezug auf Emotionen, Gedanken. Erkennen

und Eingreifen werden als Form der Selbstbestimmung gesehen.

Selbstbestimmung und Selbsterkenntnis sind wichtige Begriffe.

Dazu kommt ein weiterer Begriff, die Bildung. Gemeint ist hier nicht das Wort

Bildung im Sinne von Ausbildung, das „Know-How“ vermittelt als neoliberale

Neuerfindung der Universität, um bestimmte Kompetenzen zu vermitteln.

Heute geht um Bildung im emphatischen Sinne des Wortes. Im Prozess der

Bildung wird kulturelle Identität ausgebildet. Der Begriff „Kulturelle Identität“

fragt danach, wie der einzelne Mensch kulturelle Identität erlangt. Die

Selbsterkenntnis spielt dabei eine große Rolle. Menschen haben kulturelle

Identität. Wie hängen Kultur, Bildung, kulturelle Identität zusammen? Bildung ist

als kritische Aneignung von Kultur zu verstehen. Die Aneignung erfolgt, indem

sich jemand kulturelle Identität schafft. Der Aufbau dieser Vorlesung verdeutlicht

den Zusammenhang von kultureller Identität, Bildung und Sprache: Warum?

Die Sprache macht uns zu Wesen, die des Verstehens fähig sind. Bevor wir über

Worte und Sätze verfügen, sind wir blind den kausalen Kräften der Welt

ausgesetzt und werden von ihnen herumgestoßen. Mit dem Erlernen von Sprache

ändert sich das grundlegend: Weil wir auf die Welt nun mit einem System von

Symbolen reagieren können, wird sie zu einer verständlichen Welt, die wir uns

gedanklich anzueignen vermögen.

Sprache gibt uns eine begriffliche Organisation von Erfahrung. Begriffe sind

Prädikate, also Wörter in Aktion. Sie helfen uns, das Erfahrene zu klassifizieren.

Anschauung ohne Begriffe und also ohne Sprache ist blind. Erst wenn wir ein

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Repertoire von Prädikaten haben, können wir etwas als etwas sehen und

verstehen: als Maschine, als Geld, als Revolution. Sprache gibt uns ein System

von Kategorien, das gedankliches Licht auf die Dinge wirft.

(http://www.zeit.de/2007/52/Peter-Bieri-6)

Sprache erlaubt es uns nachzudenken, zu klassifizieren, etwas zu verstehen. Wir

sind Mitglieder einer Gemeinschaft, die über Symbolsysteme verfügt. Wir haben

eine Reihe von Regeln, um Planetenbahnen beschreiben zu können. Es handelt

sich dabei um konventionelle Regeln, die gesetzt werden. Sprache steht in enger

Beziehung mit Konvention. Das Wort „Baum“ hätte auch „Haus“ bedeuten

können. Das sind konventionelle Regeln. Mit den Regeln geht der richtige und

falsche Gebrauch einher. Idee der konventionellen Regeln. Die Begriffe gründen

auf einer Gemeinschaft. Nur als Mitglied einer Gemeinschaft können begriffliche

Perspektiven entwickelt werden, um die Welt zu verstehen.

Auch für das Verstehen anderer Menschen ist Sprache entscheidend. Einmal die

eigene, in der wir uns die Gründe ihres Tuns zurechtlegen, dann aber auch die

der Anderen, in der sie uns bestätigen oder korrigieren können. Sprache ist

sowohl Ausdruck eines eigenen Geistes als auch Brücke zu einem fremden Geist.

Dabei sind wir auf Erzählungen angewiesen, auf die sprachliche

Vergegenwärtigung einer Situation und ihrer Entstehungsgeschichte. Das

Verstehen eines Naturphänomens besteht darin, dass ich es als Fall eines

Naturgesetzes darstellen kann. Anders bei Handlungen und ihren Gründen: Hier

geht es nicht um die Anwendung von Gesetzen, sondern darum, die Handlung

und ihre Gründe aus einer konkreten Situation heraus verständlich zu machen.

Was kann es heißen, sich Sprache anzueignen?

1. Stufe: Aneignen. Nachplappern, Abrichten, Belohnung, Korrektur, so

gebrauchen, Regeln durch blindes Befolgen.

2. Stufe. Aneignung von Sprache ist die ausdrückliche Beschäftigung. Es geht um

ein Besprechen der gelernten Sprache und um das Entdecken von Synonymen.

In der Sprache kann ich auch über die Sprache sprechen. Wie entwickelt sich

Sprache? Bildung ist immer auch historisches Bewusstsein. Ich möchte wissen,

wie früher Zeitung geklungen hat, frühere Worte.

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3. Stufe: Sprache als Ausdruck der Mentalität, des Geistes. Sprachliche Identität

und geistige Identität. Verstehen vertieft sich noch, wenn wir fremde Sprachen

betrachten.

4. Stufe: Kommt durch Vergleich zustande. Ärgerlich ist in bezug auf das

Erlernen der Fremdsprachen. Es wird damit argumentiert, dass man die fremde

Sprache für den Job lernt und sich dadurch berufliche Vorteile schafft. Eine

Fremdsprache zu erlernen, hat viel mit Selbsterkenntnis zu tun, weil die

Fremdheit, die Sprache der Anderen, es uns ermöglicht, einen anderen, fremden

Geist kennenzulernen. Es ist wichtig, andere Arten des eigenen und fremden

Lebens kennen. Andere Melodien kennenzulernen. Es fühlt sich anders an, in der

Welt zu sein.

Ähnlich wie ein fremdes Land: Das Licht ist anders, Dinge schmecken anders. Die

Melodie des Lebens ist eine andere. Der Gruß „buona sera eröffnet einen anderen

Raum als „gute Nacht. Das Kennenlernen des Anderen, das vom Bekannten

abweicht, bringt Einsicht in die Kontingenz. Es ist wie ein trotziger Aufstand von

Freude und echte Toleranz.

Die vierte und letzte Stufe ist der höchste Grad an Bildung und meint die

Entwicklung der eigenen Stimme in der gewählten Sprache. Wenn man sich

bewusst für eine Sprache entscheidet und sich bewusst damit identifiziert. Ich

identifziere mich mit der Muttersprache. Das bedeutet etwas anderes, als wenn

ich erschöpft vom Fremden ins Gewohnte zurückfallen müsste. Meistens ist die

gewählte Sprache in der Literatur die Muttersprache.

Samuel Beckett’s Muttersprache war Englisch und er wählte Französisch als die

Sprache, in der er seine Melodie entwickeln konnte – und das ist eine

unglaubliche Leistung.

Die letzte Stufe ist die eigene Stimme zu finden. Hier ist die Aneignung von

Sprache gemeint, die über das Nachplappern hinausgeht. Wir eignen uns die

Sprache an, indem wir sie lernen und die Wahrheit erhalten bleibt.

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Für die kulturelle Identität ist die Gemeinschaft entscheidend. Das Erlernen der

Sprache erfolgt zunächst durch Nachplappern, dann erfolgt auf der zweiten Stufe

die Aneignung.

Was für Bildung typisch ist, Vertrautes zu verfremden, um es aus der Routine

heraustreten zu lassen. Es kommt zu einem Zuwachs an gedanklicher

Tansparenz. Es erfolgt die aneignende Identifikation.

Wissen unabhängig von Erfahrung? Wissenschaft als Autorität und Historisches

Bewusstsein. Die heutige Wissenschaft als Wissenschaft der Natur. Das Wissen

um Seele, Geist und Psyche. Was bedeutet es, für unsere Art in der Welt zu sein?

Der Prozess der Aufklärung. Was weiß und versteh ich wirklich? Was steht auf

wackligen Füßen? Was ist eine echte Erklärung im Unterschied zur

Scheinerklärung?

Magisches Denken ist in machen Kulturen wichtig. Das mag uns unvernünftig

vorkommen. Was versteckt und offenbart wird, ist in Kulturen unterschiedlich.

Wie erleben und begegnen wir die Nähe und Entfernungen von Anderen. Körper,

Nacktheit, erotische Anziehung. Unterschied zwischen Privaten und Öffentlichen.

Keine seelische Identität ist ohne Geheimnisse.

Sprache, Geheimnis, Identität. Wie hängt es zusammen? Der Schritt der

Aneignung ist kompliziert. Wie stehen wir zum Anderen, wenn wir Grenzen zur

Intimität überschreiten? Erfahrung, Beschämung, Nacktheit – Empfinden und

Verhalten überdenken. Angesichts der fremden Muster, die uns geprägt haben.

Würde ist ein vielschichtiger Begriff und komplexer als man gewöhnlich denkt.

Würde bezeichnet die Einstellung, das Muster, die Selbstachtung. Die Vorstellung

im Bereich der Bildung, was Würde und würdelos ist, klingt etwa so: Was haben

wir für eine Einstellung zu uns selbst und zu den Anderen? Ist sie leidenschaftlich

oder beschwerlich? Oft ist im Zusammenhang mit Arbeit und Geld von verlorener

Würde die Rede. Was ist Demütigung im Rahmen der Würde? Die Würde hat viel

mit Selbstbestimmung zu tun. Wenn man Menschen übersieht, entmündigt,

verlieren sie ihre Würde, wenn sie hörig oder süchtig werden. Im Sinne der

Selbstbestimmung verliert man dadurch die Autonomie.

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Was wird in der Kultur unter Freiheit verstanden? Wenn man sich mit der Firma

identifiziert, mit der Religion. Selbstbestimmung und Würde hat damit etwas zu

tun, wer man sein möchte. Wie stehe ich zur Meinung der Anderen, wenn es

Konflikte gibt? Wir leben in einer kühlen Kultur, die eine Auseinandersetzung des

Einzelnen mit Themen wie Manipulation, Interessen der anderen, Verzichten auf

Eigenes erfordert. Die Auseindersetzung mit dem moralischen Empfinden, mit

der moralischen Scham.

In einer Kultur gibt es verschiedene Auffassungen von Grausamkeit. Heiligt der

gute Zweck die Mittel? Darf man foltern, um zu retten? Das sind Schlüsselfragen.

Die moralische Identität beinhaltet die Vorstellungen davon. Wichtig für die

moralische Identität sind Literatur, Dokumentarfilme und Reisen. Folter,

Todesstrafe sind moralisch indiskutabel und nicht verhandelbar – entsprechen

der Logik einer moralischen Überzeugung. Diese Überzeugung ist absolut.

Todesstrafe und Folter sind nach meiner moralischen Überzeugung unmöglich.

Das geht für mich nicht! Es entspricht nicht dem Denken, das etwa so lautet:

„Ich persönlich sehe es so, mische mich nicht ein, weil es eine andere Kultur ist.“

Es ist wichtig, sich einzumischen, wenn man von Grausamkeit erfährt. Es gibt

hier einen inneren Widerspruch. Diese Grausamkeiten aufgrund der historischen

Bedingtheit zu relativieren, führt zur Unglaubwürdigkeit. Deshalb ist es

notwendig, die Überzeugung in bezug auf Grausamkeiten absolut zu setzen,

sonst geht die Ernsthaftigkeit verloren.

Kulturelle Identität kann Tod bedeuten. Kulturelle Identität kann Tod, Steinigung,

grausame Bestrafungsformen, wie Abhacken von Händen, elektrischer Stuhl - all

das ist nicht akzeptabel. Die Überzeugung: „Naja, es handelt sich um andere

kulturelle Identitäten, das ist kulturspezifisch zu sehen, so machen die das

eben“, geht gegen das eigene Empfinden, das mir sagt: Das geht nicht!

Der Empörung Ausdruck zu verleihen, muss aber nicht bedeuten, einzuschreiten.

Wenn man könnte, würde man die Grausamkeit beseitigen. Es ist wichtig, die

Grausamkeit zu bekämpfen. Es gibt keine moralische Relativierung.

Auch die religiöse Identität spielt eine Rolle. Hier gibt es drei Komponenten:

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1. Auskunft, Ursprung, Welt.

2. Vorstellung moralische Integrität.

3. Umgang mit Erfahrungen (Schmerz, Einsamkeit).

Welche Überzeugungen gibt es in einer religiös geprägten Kultur? Wie wird die

religiöse Welt gedeutet und definiert? Glaube ich an die Schöpfung? Verlasse ich

mich auf eine göttliche Autorität? Auf wen höre ich? Gibt es einen stimmigen

Zusammenhang von religiösen Verboten, Geboten oder gerate ich in einen

Konflikt?

Wir wachsen in einem Sammelsurium von Geboten und Verboten auf, die nicht

zusammenpassen. Um Stimmigkeit zu erreichen, ist es notwendig, sich für und

gegen bestimmte Elemente zu entscheiden.

Wie hänt die kulturelle Identität mit Sinn, Glück und religiöser Identität

zusammen? Gibt es die Vorstellung von Sinn und Glück von Außen kommend,

von einer kirchlichen Institution herleitend, von einer größeren Ordnung, die ich

nicht selbst entworfen habe? In der säkularen Welt gibt es keinen

übergeordneten Sinn, keinen Maßstab, keine Logik meines seelischen Lebens,

keine Autorität, die mich belehren könnte (Sinn).

Jede Kultur hat eine Definition von dem, was wichtig ist. Durch religiöse Führer

und Texte entsteht oft eine Kluft zwischen dem, was mir wichtig ist und was

Instanzen für wichtig halten. In der säkularen Kultur gibt es keine höhere

Instanz, die für Sinn und Glück verantwortlich ist. Es ist leicht und schwer

zugleich, sich keinen fremden Vorstellungen zu unterwerfen. Wir brauchen dafür

die Selbsterkenntnis als wesentlichen Bestandteil von Bildung. Das ist ein

schwieriger Prozess, der ein Leben lang dauert. Es geht um das Herausfinden,

wer wir sind – durch das Spiegeln, Identifizieren oder Abgrenzen.

Bloßes Verstehen genügt nicht, es geht um die Aneignung. Wenn eine eigene

Sprache durch Lesen selbständig wird, ist etwas mit mir geschehen. Die Lektüre

ist eine Bildungserfahrung. Das eigene Empfinden erhält klare Konturen, die mich

spürbar verändern, sonst bin ich noch nicht beim Bildungsprozess angekommen.

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Es reicht nicht, sie zu kennen. Es geht darum, die eigene Stimme zu finden.

Durch Aneignung werde ich wacher, weil die Transparenz und die Übersicht

größer werden. Der Prozess der Bildung und des Erwachens im Zusammenhang

mit den Fragen, wer wir sind und was wichtig ist, ist nie abgeschlossen. Bildung

ist der komplizierte Prozess bei dem es um die Beantwortung dieser Fragen geht.

Impressum:

Herausgeber und Verleger: Verlag diam-publish, Pretschgasse 21/2/10, 1110 Wien

Inhaber und Verlagsleiter:Eur.-Phys. Dipl.-Ing. Alfred Mörx; E-Mail: [email protected]

Verfasserin (Urheberin) der Mitschrift: Maga. phil. Gerlinde Knaus; Schreiben. Muße-Kunst. Kernstockgasse 11/2/38; A-8020 Graz. E-Mail: [email protected].

Die vorliegende Publikation stellt keine wortwörtliche Mitschrift der Vorlesungen von Prof. Peter Bieri dar; sie wurde auch nicht unter Zuhilfenahme eines Tonband- oder Video-Mitschnittes erstellt.

Datum der Veröffentlichung: 21. Mai 2011