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Weihnachtsfest 1.8. 01.08.2006 15:10 Uhr Seite 1...Kate Wilhelm WARUM DIE NADELBÄUME NADELN HABEN E s war einmal ein kleiner Kobold, der ganz tief im Wald lebte. Jeden Winter, wenn

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  • Weihnachtsfest 1.8. 01.08.2006 15:10 Uhr Seite 1

  • Weihnachtsfest 1.8. 01.08.2006 15:10 Uhr Seite 2

  • Zum WeihnachtsfestGESCHICHTEN MIT HINTERGEDANKEN

    ausgesucht von Dagmar Berghoff

    Gütersloher Verlagshaus

    Weihnachtsfest 1.8. 01.08.2006 15:10 Uhr Seite 3

  • Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Gewidmet all denen, die mit ihrer Spende und Hilfe den Orgelbau- und Förderverein St. Ansgar/Kleiner Michel e.V.unterstützen – mit besonderem Dank an Dagmar Berghoff

    und Norbert Wieh für seine Unterstützung bei der Redaktion und Herausgabe.

    1. AuflageCopyright © 2006 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

    Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des

    Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässigund strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,

    Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung undVerarbeitung in elektronischen Systemen.

    Umschlaggestaltung: schwecke.mueller Werbeagentur GmbH,München, unter Verwendung eines Fotos von Dagmar Berghoff;

    Fotograf: Andreas Garrels, © Norddeutscher RundfunkSatz: Katja Rediske, Landesbergen

    Druck und Einband: CPI Moravia Books, KorneuburgPrinted in Czech Republic

    ISBN-13: 978-3-579-07208-1ISBN-10: 3-579-07208-0

    www.gtvh.de

    Weihnachtsfest 1.8. 01.08.2006 15:10 Uhr Seite 4

  • Inhalt

    9Vorwort

    11Glaubwürdigkeit

    »Wie man zum Engel wird« Ruth Schmidt-Mumm

    16Wagemut

    Warum die Nadelbäume Nadeln haben Kate Wilhelm

    20Respekt

    Audienz Jules Supervielle

    25Nächstenliebe

    Jesses Geschenk

    37Tradition

    Unter dem Schornstein Rudolf Kinau

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  • 43Gerechtigkeit

    Das Paket des lieben Gottes Bertolt Brecht

    50Bescheidenheit

    Der Weihnachtstraum Paulo Coelho

    54Gelassenheit

    Mein Leben als Tor Roger Willemsen

    55Staunen

    Die Entdeckung des WeihnachtssternsManfred Hausmann

    61Mut

    Janine feiert Weihnachten Werner Wollenberger

    67Glück annehmen

    Wenn man Jesus heißt Hans-Martin Große-Oetringhaus

    72Weisheit

    Schwarze Weihnacht Birgit Rabisch

    6

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  • 75Ehrlichkeit

    Weihnachten, alles inklusive …? Ferdinand Linzenich

    81Konzentration

    Zu viel Weihnachten Dino Buzzati

    87Dankbarkeit

    Die Lampe Max Bolliger

    90Disziplin

    Die Leihgabe Wolfdietrich Schnurre

    104Freiheit

    Überredung zum Feiertag Martin Walser

    108Patriotismus

    Kaschubisches Weihnachtslied Werner Bergengruen

    110Zeit

    Gibt es einen Weihnachtsmann?Francis P. Church / Virginia O’Hanlon

    7

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  • 113Freundschaft

    Vanessas Traum Beate Werst

    121Toleranz

    Falls wir uns nicht mehr sehen sollten …Rainer Burmeister

    124Neugier

    Hilfssheriff Kerstin Riege

    129Treue

    Der weiße Elefant Thomas Fröhling

    134Schmerz

    Die Steinpalme

    143Quellennachweis

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  • VORWORT

    Liebe Leserinnen und liebe Leser,

    in unserer schnelllebigen, von Technik undComputern, von Werbung, Jugendwahn, Pro-fit und Rücksichtslosigkeit bestimmten Welt voll-zieht sich gerade ein Wandel.

    Nach einer Zeit, in der Werte wie Respekt,Selbstdisziplin, Achtsamkeit, Treue oder Beschei-denheit anscheinend in Vergessenheit geratenwaren, beschäftigen sich inzwischen Politikerund Medien mit diesen so genannten »alten Wer-ten und Tugenden« und bekennen sich zu ihnenals Grundlage für eine funktionierende Ge-sellschaft.

    Viele Menschen wünschen sich eine Besin-nung auf alte Traditionen, die das Zusammen-leben leichter gemacht haben, in unserer Erin-nerung oft auch sehr viel glücklicher.

    Wir können die Zeit nicht zurückdrehen,aber wir können uns in die Verantwortung neh-men lassen, können unsere Einstellung zu die-sen alten Werten überprüfen und überlegen, wiewir sie trotz des stressigen Alltags leben kön-nen, um dadurch zu einem menschlicheren Mit-einander beizutragen.

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  • Diese besonderen und vielleicht nachdenkens-werten Weihnachtsgeschichten habe ich für Sieausgesucht, um verschiedene alte Werte undTugenden darzustellen.

    Viel Freude beim Lesen!

    Im Herbst 2006 Ihre Dagmar Berghoff

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  • Glaubwürdigkeit

    »Man kann sich verstellen, wie man will, man wird

    doch ein bestimmter Mensch bleiben. Dazulernen

    bedeutet nicht, sich zu verbiegen.«

    Ruth Schmidt-Mumm

    »WIE MAN ZUM ENGEL WIRD«

    Wie jedes Jahr sollte auch in diesem die sechs-te Klasse das weihnachtliche Krippenspiel auf-führen. Mitte November begann Lehrer Lars-sen mit den Vorbereitungen, wobei zunächst dieverschiedenen Rollen mit begabten Schauspie-lern besetzt werden mussten.

    Thomas, der für sein Alter hoch aufge-schossen war und als Ältester von vier Ge-schwistern häufig ein ernstes Betragen an denTag legte, sollte den Joseph spielen, Tinchen,die lange Zöpfe hatte und veilchenblaue Augen,wurde einstimmig zur Maria gewählt, und soging es weiter, bis alle Rollen verteilt waren, –bis auf die des engherzigen Wirts, der Mariaund Joseph, die beiden Obdach Suchenden, von

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  • seiner Tür weisen sollte. Es war kein Junge mehrübrig. Die beiden Schülerinnen, die ohne Rolleausgegangen waren, zogen es vor, sich für »wich-tige Arbeiten hinter der Bühne« zu melden.

    Joseph, alias Thomas, hatte den rettendenEinfall. Sein kleiner Bruder würde durchaus inder Lage sein, diese unbedeutende Rolle zu über-nehmen, für die ja nicht mehr zu lernen war alsein einziger Satz, nämlich im rechten Augen-blick zu sagen, dass kein Zimmer frei sei.

    Lehrer Larssen stimmte zu, dem kleinenTim eine Chance zu geben. Also erschien Tho-mas zur nächsten Probe mit Tim an der Hand,der keinerlei Furcht zeigte. Er wollte den Wirtgerne spielen. Mit Wirten hatte er gute Erfah-rungen gemacht, wenn die Familie in den Ferienverreiste.

    Er bekam eine blaue Mütze auf den Kopfund eine Latzschürze umgebunden; die Herber-ge selbst war, wie alle anderen Kulissen, nochnicht fertig. Tim stand also mitten auf der leerenBühne, und es fiel ihm leicht zu sagen, nein, erhabe nichts, – als Joseph ihn drehbuchgetreu mitMaria an der Hand nach einem Zimmer fragte.

    Wenige Tage darauf legte Tim sich mitMasern ins Bett und es war reines Glück, dasser zum Aufführungstag gerade noch rechtzeitigwieder auf die Beine kam.

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  • In der Schule herrschten Hektik und Fest-stimmung, als er mit seinem großen Bruder eineStunde vor Beginn der Weihnachtsfeier erschien.Auf der Bühne hinter dem zugezogenen Vor-hang blieb er überwältigt vor der Attrappe sei-ner Herberge stehen: sie hatte ein vorstehendesDach, eine aufgemalte Laterne und ein Fenster,das sich aufklappen ließ. Thomas zeigte ihm,wie er auf das Klopfzeichen von Joseph dieLäden aufstoßen sollte. Die Vorstellung begann.Joseph und Maria betraten die Bühne, wander-ten schleppenden Schrittes zur Herberge undklopften an. Die Fensterläden öffneten sich undheraus schaute Tim unter seiner großen Wirts-mütze. »Habt Ihr ein Zimmer frei?«, fragteJoseph mit müder Stimme. »Ja, gerne«, ant-wortete Tim freundlich.

    Schweigen breitete sich aus im Saal underst recht auf der Bühne. Joseph versuchte ver-geblich irgendwo zwischen den Kulissen Leh-rer Larssen mit einem Hilfezeichen zu entde-cken. Maria blickte auf ihre Schuhe.

    »Ich, ich, ich glaube, Sie lügen«, entrang essich schließlich Josephs Mund. Die Antwort ausder Herberge war ein unüberhörbares »Nein«.

    Dass die Vorstellung dennoch weiterging,war Josephs Geistesgegenwart zu verdanken.Nach einer weiteren Schrecksekunde nahm er

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  • Maria an der Hand und wanderte ungeachtetdes Angebotes weiter bis zum Stall.

    Hinter der Bühne waren inzwischen allemit dem kleinen Tim beschäftigt. Lehrer Lars-sen hatte ihn zunächst vor dem Zorn der ande-ren Schauspieler in Schutz nehmen müssen,bevor er ihn zur Rede stellte. Tim erklärte, dassJoseph eine so traurige Stimme gehabt hätte, dahätte er nicht nein sagen können, und zu Hausehätten sie auch immer Platz für alle, notfalls aufder Luftmatratze.

    Herr Larssen zeigte Mitgefühl und Ver-ständnis. Dies sei doch eine »Geschichte«, erklär-te er, und die müsse man genauso spielen, wiesie aufgeschrieben sei – oder würde Tim zumBeispiel seiner Mutter erlauben, dasselbe Mär-chen einmal so und dann wieder ganz anderszu erzählen, etwa mit einem lieben Wolf undeinem bösen Rotkäppchen?

    Nein, – das wollte Tim nicht, und bei dernächsten Aufführung wollte er sich Mühe geben,ein böser Wirt zu sein; er versprach es dem Leh-rer in die Hand.

    Die zweite Aufführung fand im Gemein-desaal der Kirche statt und war, wenn überhauptmöglich, für alle Beteiligten noch aufregender.

    Unter ärgsten Androhungen hatte Thomasseinem kleinen Bruder eingebläut, dieses Mal

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  • auf Josephs Anfrage mit einem klaren »Nein«zu antworten.

    Der große Saal war voll bis zum letztenSitzplatz. Dann ging der Vorhang auf, das hei-lige Paar erschien und wanderte – wie es aus-sah etwas zögerlich – auf die Herberge zu.Joseph klopfte an die Läden, aber alles bliebstill. Er pochte erneut, aber sie öffneten sichnicht. Maria entrang sich ein Schluchzen.

    Schließlich rief Joseph mit lauter Stimme:»Hier ist wohl kein Zimmer frei?« In die schwei-gende Stille, in der man eine Nadel hätte fallenhören, ertönte ein leises, aber deutliches »Doch«!

    Für die dritte und letzte Aufführung desKrippenspiels in diesem Jahr wurde Tim seinerRolle als böser Wirt enthoben. Er bekam Stoff-flügel und wurde zu den Engeln im Stall ver-setzt.

    Sein »Halleluja« war unüberhörbar, und esbestand kein Zweifel, dass er endlich am rich-tigen Platz war.

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  • Wagemut

    »Manchmal ist es nötig, über sich hinauszuwach-sen, schwierigen Situationen nicht auszuweichen.Meistens erreicht man mehr, als man sich zutraut.«

    Kate Wilhelm

    WARUM DIE NADELBÄUMENADELN HABEN

    Es war einmal ein kleiner Kobold, der ganztief im Wald lebte. Jeden Winter, wenn es kaltwurde, fror er fast zu Tode. Er wurde vom eis-kalten Regen durchnässt und vom Schneebedeckt. Und er hatte überhaupt nichts zu essen.Er lebte ja von Blättern, und die waren mittler-weile alle von den Bäumen gefallen.

    Eines Tages hatte er eine Idee. Er unterhieltsich darüber mit der Kiefer, und zuerst wolltedie nicht mitmachen. Aber dann überlegte sie essich. Was hatte sie schon zu verlieren? Und soließ sie den kleinen Kobold anfangen. Tag fürTag arbeitete er an den Blättern und rollte unddrückte sie zu Nadeln. Und einige Nadeln

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  • benutzte er, um damit die anderen ganz fest andie Äste anzunähen. Schließlich war er fertig.Übermütig kletterte er hoch hinauf zur Spitzeder Kiefer und rief nach dem Eiswind, der ihnso oft geärgert hatte. Jetzt konnte der ihm nichtsmehr anhaben, denn er hatte endlich ein Heimund genug zu essen für den ganzen Winter.

    Natürlich hörten die anderen Bäume ihn,lachten ihn aus und erzählten einander von demverrückten kleinen Kobold, der den Eiswindherausgefordert hatte. Schließlich hörte der letz-te Baum – dort, wo die Bäume aufhören undder Schnee beginnt – die Geschichte. Er lachte,bis seine Blätter sich schüttelten.

    Das hörte der Eiswind und kam herbeige-weht. Er stürmte und warf um sich mit Eis undwollte wissen, was denn so lustig sei. So erfuhrer von dem Ahorn, dass dieser verrückte kleineKobold ihn, den Eiswind und seine Macht, dieBlätter von den Bäumen zu schütteln, heraus-gefordert hätte.

    Das machte den Eiswind furchtbar wütend.Er stürmte los, so dass die Ahornblätter rot undgolden vor lauter Furcht wurden und zu Bodenfielen. Zuletzt stand der Baum ganz nackt vordem Wind. Der Eiswind aber zog fauchend nachSüden, und die anderen Bäume erzitterten undverfärbten sich und ließen ihre Blätter fallen.

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  • Endlich kam er zu der Kiefer und rief, dassder kleine Kobold herauskommen solle. Aberder hatte sich tief im Geäst zwischen den Nadelnversteckt, wo der Eiswind ihn weder sehen nochberühren konnte. Da blies der Eiswind stärker,und die Kiefer zitterte und fröstelte, doch dieNadeln hielten alles fest und veränderten ihreFarbe nicht.

    Nun rief der Eiswind seinen Freund, denEisregen, um Hilfe. Der bedeckte die Kiefer mitEiszapfen, aber die Nadeln hielten fest. Eiswindund Eisregen wurden ganz fürchterlich wütendund riefen den Schnee hinzu. Es schneite undschneite, bis die Kiefer wie ein Schneeberg aus-sah; aber tief im Innern, nahe am Baumstamm,hockte der kleine Kobold warm und zufrieden.Bald schüttelte die Kiefer sich, und der Schneefiel ab. Da wusste sie, dass ihr der Eisregen end-lich nicht mehr schaden konnte.

    Den ganzen Winter heulte der Eiswind umden Baum herum, aber die Nadeln hielten fest.Und der kleine Kobold war glücklich. Die Kie-fer vergab ihm, wenn er ab und zu an einerNadel kaute. Schließlich waren sie jetzt Freun-de.

    Endlich kam der Frühling. Die anderenBäume baten alle den kleinen Kobold, auch ihreBlätter zu Nadeln zu machen. Der kleine

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  • Kobold stimmte zu. Aber er machte es nur beiden Bäumen, die nicht über ihn gelacht hatten.

    Und das ist der Grund, warum nur dieNadelbäume Nadeln haben.

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  • Respekt

    »Respekt vor Alter, vor Leistung, vor Tier undNatur ist grundlegend für unser Zusammen-leben.«

    Jules Supervielle

    AUDIENZ

    Mehrere Tiere baten, Ochs und Esel als Mitt-ler, das Jesuskind sehen zu dürfen. Und einesschönen Tages wurde, nachdem Joseph zuge-stimmt hatte, ein Pferd, als zutunlich und schnellbekannt, vom Ochsen bestimmt, vom folgen-den Tage an alle einzuladen, die kommen moch-ten.

    Ochs und Esel fragten sich allerdings, obman wilde Tiere zulassen dürfe, und auch Dro-medare, Kamele, Elefanten: alles Tiere, die einbisschen verdächtig sind vor lauter Buckel, Rüs-sel, Bein und Fleisch.

    Dasselbe galt für Abscheu erregende Tiere,Insekten wie die Skorpione, Taranteln, die Rie-senspinne, die Schlangen, alle, die Gift in ihrenDrüsen entstehen lassen, tags und nachts, selbst

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  • morgens, wenn alles noch rein ist. Die Jungfrauzögerte nicht.

    »Ihr könnt alle kommen lassen, mein Kindist so sicher in seiner Krippe, als sei es im höchs-ten Himmel.«

    »Aber eins nach dem andern«, meinteJoseph in fast militärischem Ton, »es dürfennicht zwei Tiere auf einmal durch die Tür, sonstfindet man sich ja gar nicht mehr zurecht.«

    Mit den giftigen Tieren fing man an: jederhatte das Gefühl, dass man ihnen so genugtunmüsse. Bemerkenswert war der Takt der Schlan-gen, die es vermieden, die Jungfrau direkt anzu-sehen, und ihr weit aus dem Wege gingen. Dannschieden sie mit so viel verhaltener Würde, alsseien sie Flamingos.

    Die Hunde konnten sich nicht enthalten,ihr Wundern zu zeigen: sie nämlich durftennicht im Stall wohnen wie Ochs und Esel. Jederaber – anstatt ihnen Bescheid zu geben – strei-chelte sie, und so gingen sie wieder, voll sicht-lichen Danks.

    Und trotzdem, als man in seinem »Geruch«den Löwen kommen spürte, wurden Ochs undEsel unruhig. Umso mehr, als dieser Geruchunbekümmert Weihrauch, Myrren und die an-deren Düfte durchdrang, die die Könige reich-lich verbreitet hatten.

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  • Der Ochs würdigte die hochherzigen Grün-de, aus denen das Vertrauen der Jungfrau undJosephs kam. Aber ein solches Kind, solch einzartes Fünkchen an ein Tier zu bringen, das esmit einem einzigen Atemzug auszulöschen ver-mochte … also …

    Der Löwe kam mit seiner Mähne, die nieeiner gekämmt hatte, außer dem Wüstenwind,und mit melancholischen Augen, die sagten:»Ich bin der Löwe, was kann ich denn dafür,ich bin nur der König der Tiere.«

    Dann sah man, dass seine größte Sorge war,möglichst wenig Platz im Stall einzunehmen,was nicht leicht war, und zu atmen, ohne etwasin Unordnung zu bringen, und seine Krallen zuvergessen und die mit fürchterlichen Muskelnversehenen Kinnbacken. Er kam mit gesenktenLidern und verbarg sein wunderschönes Gebisswie eine hässliche Krankheit; kam mit so vielBescheidenheit, dass er augenscheinlich denLöwen zuzurechnen war, die sich eines Tagesweigerten, die heilige Blandine zu fressen. DieJungfrau hatte Mitleid und wollte ihn beruhi-gen mit einem Lächeln, wie es sie sonst nur fürdas Kind übrig hatte. Der Löwe blickte gerade-aus, mit einer Miene, als sage er in noch ver-zweifelterem Ton als vorher:

    »Was habe ich denn getan, dass ich so groß

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