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1 nachdenkseiten.de „Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland by WOLFGANG LIEB 4. November 2013 um 8:21 Uhr Verantwortlich: Wolfgang Lieb Nach der Ermordung von zwei Aktivisten der rechtsextremistischen Partei Chrysi Avgi (ChA) durch unbekannte Attentäter am letzten Freitag droht die innenpolitische Situation in Griechenland in eine neue Dimension zu eskalieren. In der griechischen Öffentlichkeit wird seit einiger Zeit der Vergleich mit den „Weimarer Verhältnissen“ gezogen. Das war bislang eine relativ abgehobene „Historikerdebatte“. Jetzt wird die Angst real. „Zwölf Kugeln gegen die Demokratie“ titelt die Athener Tageszeitung Ta Nea. In anderen Blättern werden alle möglichen Theorien über die Täter erörtert, die sich meist an der cui bono-Frage orientieren. Jedoch ist es zunächst durchaus unklar, ob die Neonazis von der Tatsache profitieren werden, dass sie jetzt ihre eigenen „Opfer“ vorweisen können. Die erste Reaktion aller Parteien und politischen Kräfte war eine einhellige Verurteilung der Mordtat, gespeist aus dem Erschrecken über die möglichen Folgen. Hier eine Analyse, die lange vor dem Anschlag vom Freitag begonnen wurde. Sie will aufzeigen, was das Phänomen der Neonazi-Partei für die griechische Politik bedeutet, und vor welchen Problemen und Dilemmata sich die Regierung – und die Oppositionsparteien – bei ihrem viel zu spät erklärten Kampf gegen die ChA stehen. Von Niels Kadritzke Der viel zu späte und zögerliche Kampf gegen den griechischen Rechtsextremismus Die Entscheidung der griechischen Justizbehörden, eine strafrechtliche Verfolgung der griechischen Neonazis in die Wege zu leiten, war längst überfällig. Aber mit der Untersuchungshaft, die gegen führende Kader der Partei namens „Goldene Morgenröte“ (griechisch: Chrysi Avgi, abgekürzt: ChA) angeordnet wurde, hat die Auseinandersetzung mit dem griechischen Rechtsextremismus erst begonnen. Dieser Kampf wird nicht leicht zu gewinnen sein, weder juristisch noch politisch. Auf juristische Ebene besteht die Gefahr, dass ein fehlerhaftes und überhastetes Verfahren den Neonazis am Ende in die Hände spielt.

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nachdenkseiten.de

„Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland

by WOLFGANG LIEB

4. November 2013 um 8:21 Uhr

Verantwortlich: Wolfgang Lieb

Nach der Ermordung von zwei Aktivisten der rechtsextremistischen

Partei Chrysi Avgi (ChA) durch unbekannte Attentäter am letzten

Freitag droht die innenpolitische Situation in Griechenland in eine neue

Dimension zu eskalieren. In der griechischen Öffentlichkeit wird seit

einiger Zeit der Vergleich mit den „Weimarer Verhältnissen“ gezogen.

Das war bislang eine relativ abgehobene „Historikerdebatte“. Jetzt wird

die Angst real. „Zwölf Kugeln gegen die Demokratie“ titelt die Athener

Tageszeitung Ta Nea. In anderen Blättern werden alle möglichen

Theorien über die Täter erörtert, die sich meist an der cui bono-Frage

orientieren. Jedoch ist es zunächst durchaus unklar, ob die Neonazis von

der Tatsache profitieren werden, dass sie jetzt ihre eigenen „Opfer“

vorweisen können.

Die erste Reaktion aller Parteien und politischen Kräfte war eine

einhellige Verurteilung der Mordtat, gespeist aus dem Erschrecken über

die möglichen Folgen.

Hier eine Analyse, die lange vor dem Anschlag vom Freitag begonnen

wurde. Sie will aufzeigen, was das Phänomen der Neonazi-Partei für die

griechische Politik bedeutet, und vor welchen Problemen und

Dilemmata sich die Regierung – und die Oppositionsparteien – bei

ihrem viel zu spät erklärten Kampf gegen die ChA stehen. Von Niels

Kadritzke

Der viel zu späte und zögerliche Kampf gegen den

griechischen Rechtsextremismus

Die Entscheidung der griechischen Justizbehörden, eine strafrechtliche

Verfolgung der griechischen Neonazis in die Wege zu leiten, war längst

überfällig. Aber mit der Untersuchungshaft, die gegen führende Kader

der Partei namens „Goldene Morgenröte“ (griechisch: Chrysi Avgi,

abgekürzt: ChA) angeordnet wurde, hat die Auseinandersetzung mit

dem griechischen Rechtsextremismus erst begonnen.

Dieser Kampf wird nicht leicht zu gewinnen sein, weder juristisch noch

politisch. Auf juristische Ebene besteht die Gefahr, dass ein fehlerhaftes

und überhastetes Verfahren den Neonazis am Ende in die Hände spielt.

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Und auf politischer Ebene ist durchaus offen, ob die strafrechtliche

Verfolgung der Parteiführer – und die inzwischen beschlossene

Unterbrechung der finanziellen Zuschüsse aus der Staatskasse – die

Anziehungskraft des ChA auf die Wählerinnen und Wähler entscheidend

schwächen kann. Die ersten Meinungsumfragen nach dem Schlag gegen

die Partei wecken in dieser Hinsicht starke Zweifel. Zudem stellt sich die

Frage, welche Partei die ChA-Wähler, die nach dem Mord womöglich

abgeschreckt werden, für sich gewinnen kann und was das für die

künftige Regierbarkeit des Landes bedeuten würde.

Fragen zur politischen Bedeutung und der Besonderheiten

der griechischen Neonazis

Im Folgenden will ich versuchen, die politische Situation, die in

Griechenland seit der Ermordung des linken Aktivisten Fissas durch ein

ChA-Mitglied entstanden ist, entlang einiger systematischer Fragen

darzustellen. Über die politische Bedeutung und die Besonderheiten der

„Goldenen Morgenröte“ werde ich im jeweiligen Kontext eingehen.

Vorweg sei nur gesagt, dass eine jederzeit gewaltbereite Neonazi-

Bewegung in einem Land, das die Okkupation durch die deutschen Nazis

in ihrer bittersten Form erlebt hat, nur bedingt mit rechtsradikalen bzw.

rechtspopulistischen Partei in anderen Krisenländern (wie Frankreich,

Niederlande, Österreich) zu vergleichen ist.

Das „Phänomen Chrysi Avgi“ kann man nur zu verstehen, wenn man

drei spezifisch griechische Faktoren in Betracht zieht. Erstens die

Auswirkungen der Austeritätspolitik und der tiefen ökonomischen Krise

auf die Gesellschaft. Zweitens der Zustrom von Migranten über die

türkisch-griechische Grenze, die aufgrund der Asylpolitik der EU

(„Dublin 2“-Regelungen) in Griechenland „hängenbleiben“ und zu einer

Slumbildung in den Stadtzentren beitragen, die der fremdenfeindlichen

und rassistischen Agitation der Neonazis in die Hände spielt. Ein dritter

wichtiger Faktor ist die historische „Färbung“ der politischen Kultur –

und damit des Alltagsbewusstseins breiter Schichten – durch einen

ausgeprägten griechischen „Nationalismus“, der sich in der Rhetorik

und Praxis der ChA-Protagonisten allerdings auf besonders extreme

Weise äußert.

Vorweg noch eine Leseempfehlung: Detaillierte Informationen über

Aktivitäten und Rhetorik des ChA bieten die Berichte des griechischen

Journalisten Jiannis Papadopoulos, die in der deutschen Ausgabe der Le

Monde diplomatique (Juli 2912 und Juni 2013) erschienen sind.

Frage 1: Was war der Anlass zu dem Schlag der griechischen

Behörden gegen die Führungsgruppe der Neonazi-Partei

Chrysi Avgi?

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Der unmittelbare Auslöser war die Ermordung des linken Aktivisten und

Musikers Pavlos Fissas. Der bekannte Rapper wurde am späten Abend

des 17. September in einem Stadtteil von Piräus von einem ChA-

Mitglied erstochen. Zuvor war er vor einem Lokal von einer etwa 15-

köpfigen Gruppe von „Schwarzhemden“ attackiert worden. Die zu dem

Lokal beorderten Polizisten griffen nicht ein, weil „die Angreifer zu

zahlreich waren“, wie sie zu ihrer Verteidigung anführten.

Der geständige Täter, der LKW-Gahrer Giorgos Roupakiás, wurde noch

am Tatort festgenommen. Die von ihm zunächst geleugnete

Mitgliedschaft in der Neonazi-Partei steht inzwischen außer Zweifel. Die

Auswertung der Mobile-Verbindungen am fraglichen Abend – die auf

Anordnung der Staatsanwaltschaft ermöglicht wurde – ergab starke

Indizien dafür, dass Roupakiás zusammen mit anderen ChA-Anhängern

über die lokale Parteiorganisation für die Aktion gegen Fissas mobilisiert

wurde. Auch der Verteidiger von Roupakiás hat inzwischen bestätigt,

dass sein Mandat unmittelbar vor der Tat mit dem Leiter der örtlichen

„Zelle“ telefoniert hat. (Kathimerini vom 15. Oktober).

Diese mutmaßliche „Befehlskette“ ist zweifellos ein hinreichender

Grund, auch führende ChA-Funktionäre der Unterorganisation von

Nikaia (dem betreffenden Stadtviertel) zu verhaften. Sie reichte aber

nicht als juristische Begründung für den überraschenden Schlag gegen

die nationale Parteiführung, den die Generalstaatsanwaltschaft zehn

Tage nach dem Tod von Fissas angeordnet hat. Am Morgen des 28.

September wurden 32 Funktionäre der ChA, vorweg „Generalsekretär“

Nikos Michaloliákos und sein Stellvertreter Christos Pappás verhaftet,

die beide auch im griechischen Parlament, der Vouli sitzen. Insgesamt

wurden sechs Abgeordnete festgenommen, die ein Drittel der ChA-

Fraktion ausmachen; drei von ihnen wurden allerdings vier Tage später

– unter Auflagen – aus der Untersuchungshaft entlassen. Begründet

waren die Haftbefehle mit Artikel 187 des griechischen

Strafgesetzbuches, der sich auf die Gründung und Betätigung in einer

„kriminellen Vereinigung“ bezieht.

2. Was macht die Neonazi-Partei für die Staatsanwaltschaft zu

einer „kriminellen Vereinigung“?

In dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft waren außer dem Mord an

Fissas noch weitere zehn Fälle angeführt, in denen ChA-Mitglieder

verurteilt wurden oder noch vor Gericht stehen (wegen Mord,

Mordversuch, Bandendiebstahl, Attacken mit Explosivstoffen und

anderen Vergehen). Über diese gerichtsbekannten Fälle hinaus verweist

das Dokument auf weitere 21 Aktionen, mit denen die „kriminelle

Vereinigung“ gezeigt habe, dass sie ihre Ziele mit gewaltsamen

Methoden durchsetzen will. Ein weiterer Schlüsselsatz ist die

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Methoden durchsetzen will. Ein weiterer Schlüsselsatz ist die

Feststellung, die physische Gewalt gegen alle als „Untermenschen“

definierten Personengruppen sei für die Partei nicht Mittel zum Zweck,

sondern der Inhalt ihrer „Botschaft“.

Entscheidend für die Zurechnung der angeführten Straftaten zu der

Gesamtorganisation Chrysi Avgi bzw. zu deren exekutiver Spitze ist in

den Augen der Staatsanwaltschaft das Statut der Partei, das dem

„Generalsekretär“ Michaloliakos „gemäß des Hitler’schen

Führerprinzips“ die absolute Macht zuschreibt. Ob diese zentrale

Begründungsfigur von den Gerichten als beweiskräftig akzeptiert wird,

ist allerdings zweifelhaft. Juristische Experten gehen davon aus, dass das

Funktionieren des Führerprinzips jeweils im Einzelfall nachzuweisen

wäre. Das dürfte etwa im Fall Fissas schwierig werden. Hier ist eine

Befehlskette bis zum „Führer“ Michaloliakos bislang nicht belegbar; alle

Telefonverbindungen „nach oben“ kamen erst nach dem Zeitpunkt der

Mordtat zustande.

3. Wenn die Serie der kriminellen Handlungen von ChA-

Aktivisten die „prinzipielle Gewalttätigkeit“ der Partei belegt,

die diese zu einer „kriminellen Vereinigung“ macht, warum

wurde die Partei nicht schon früher strafrechtlich verfolgt?

Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, müssen wir uns eines

klarmachen: Es gibt in Griechenland kein Verfahren für ein

Parteiverbot, wie es in Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes der

Bundesrepublik Deutschland vorgesehen ist. Ebenso wenig gibt es ein

Pendant zum Bundesverfassungsgericht, das nach dem Grundgesetz

über die „Verfassungsfeindlichkeit“ einer Partei zu befinden hat (§ 13 in

Verbindung mit § 43ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz). Mehr noch:

Der Begriff „verfassungsfeindlich“ ist in Griechenland politisch

irrelevant, weshalb zum Beispiel nicht als anstößig gilt, wenn

Abgeordnete der orthodoxen Kommunisten (KKE) im Parlament

erklären, dass sie die griechische Verfassung einer bürgerlichen

parlamentarischen Demokratie nicht als „die ihre“ ansehen, weil sie die

Diktatur des Proletariats anstreben.

Das heißt für den Fall der Chrys Avgi: Deren offen rassistischen

Bekundungen und Aktionen, die in Deutschland für ein Dutzend

Parteiverbotsverfahren ausgereicht hätten, können nach griechischem

Recht im Grunde nur Einzeltätern zugerechnet und als Einzeldelikte

verfolgt werden. Eine verbotsähnliche Wirkung ist juristisch also nur zu

erzielen, indem man die Führung einer verfassungsfeindlichen Partei

zur „kriminellen Vereinigung“ erklärt.

Warum das nicht schon viel früher geschehen ist, wird in der

griechischen Öffentlichkeit seit dem 28. September intensiv und

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kontrovers diskutiert. Zumal man inzwischen weiß, dass die Aktivitäten

der Neonazis vom griechischen Geheimdienst EYP seit langem

beobachtet und dokumentiert werden. Nach Presseberichten hat der

EYP bereits 2010 eine eigene Abteilung für die Beobachtung des ChA

eingerichtet, die auch das Material über die illegalen Aktivitäten von

Parteimitgliedern (die Rede ist von Waffenhandel,

Schutzgelderpressungen und anderen „Unterwelt“- Aktivitäten)

gesammelt hat, das jetzt den Anklageverfahren zugrunde gelegt wird.

Die Regierung und ihre Sicherheitsapparate wussten also über die

Tätigkeiten – und die Gefährlichkeit – der Neonazis umfänglich

Bescheid. Schließlich war ja vielfach, auch in den meisten Medien

dokumentiert, dass die Partei eine paramilitärisch uniformierte Truppe

(Militärstiefel und schwarze Blusen mit Aufschrift Chrysi Avgi)

unterhält, die nicht nur nach der SA benannt ist (griechisch: tágmata

efódou), sondern auch nach Art ihres historischen Vorbilds operiert. Auf

das Konto dieser Stoßtrupps gingen zahlreiche Angriffe auf „Feinde“ wie

etwa linke Gewerkschafter und Migranten, Überfälle auf Läden von

Ausländern, oder auch die Besetzung der Ambulanz eines

Krankenhauses mit dem Ziel, die Behandlung von „Ausländern ohne

Papiere“ zu verhindern.

In mehreren Fällen maßte sich diese griechische SA in aller

Öffentlichkeit sogar Hoheitsfunktionen an: In Rafina und in

Messolonghi kontrollierten die Schwarzhemden – angeführt von drei

Parlamentsabgeordneten – die Ausweispapiere von schwarzen

Migranten, die sich in Griechenland als Straßenhändler durchschlagen.

Wenn einer von ihnen keine Gewerbelizenz vorzeigen konnte oder

wollte, wurde er verprügelt und sein Verkaufsstand demoliert. Die

Polizei griff bei diesen demonstrativen Aktionen nicht ein. Diese

generelle Zurückhaltung der Ordnungskräfte erzeugte bei den Neonazis

das Gefühl der Unantastbarkeit, was wiederum ihre Machtphantasien

beflügelte

In einigen Fällen, die jetzt von der Staatsanwaltschaft als Beleg für den

kriminellen Charakter der ChA-Führer angeführt werden, ist es nicht

einmal zu einer Anklageerhebung gekommen. Der gut vernetzte

Journalist Giorgos Papachristou erhielt von einer hochrangigen EYP-

Quelle auf seine Frage, warum der Staat trotz seiner umfassenden

„Erkenntnisse“ nicht schon früher gegen die griechischen Neonazis tätig

wurde, eine doppelte Antwort: „Weil sie zu einer legalen Partei gehören,

und weil wir keine entsprechenden Anweisungen bekamen.“ (Ta Nea

vom 30. September).

An dieser Auskunft sind beide Punkte interessant. Der „legale“ Status

der Partei war sehr viel schwerer in Frage zu stellen, nachdem diese im

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der Partei war sehr viel schwerer in Frage zu stellen, nachdem diese im

Mai 2012 ins griechische Parlament eingezogen war. Seitdem genossen

21 bzw. (nach den Wahlen vom Juni 2012) 18 ChA-Abgeordnete nicht

nur alle Privilegien (samt der stattlichen Gehälter) von

„Volksvertretern“, sondern auch eine parlamentarische Immunität, die

nach griechischer „Tradition“ nur in extremen Ausnahmefällen

aufgehoben wird. Dadurch fühlte sich die gesamte Parteispitze, die sich

hinter ihrem „Führer“ Michaloliakos die besten Listenplätze gesichert

hatte, bei ihren propagandistischen Reden im Parlament wie bei ihren

provokatorischen Aktionen auf der Straße unverwundbar gegenüber

rechtlichen Sanktionen. Auf der anderen Seite hatten die staatlichen

“Sicherheitsorgane“, die seit 2010 die Neonazis observiert und ihre

Telefone abgehört hatten, den Parteibossen jetzt die Leibwächter zu

stellen. In der Presse wurde ein EYP-Vertreter mit dem Satz zitiert: „Bis

jetzt haben wir sie überwacht, jetzt müssen wir sie bewachen.“ (Ta Nea

vom 1. Oktober)

Der neue parlamentarische Status der Parteispitze ist aber nur der eine

Teil der Erklärung, der wichtigere zweite Teil lautet: Es gab keine

Anweisungen an die Sicherheitsorgane. Dies ist, wie der britische

Griechenland-Beobachter Kevin Featherstone zu Recht bemerkt, „die

verstörendste Facette an dem ganzen Vorgang“. Für Featherstone ist es

ein unerklärliches Paradox, dass die Behörden „viel Material“ gegen die

Neonazis angesammelt haben, ohne „etwas damit zu unternehmen“.

(Kathimerini vom 8. Oktober).

4. Warum zeigte die Regierung an der Verfolgung der

Neonazis lange Zeit kein Interesse? Welche Rolle spielten

dabei die demoskopischen Umfragen, die der ChA ein

wachsendes Wählerpotential (von bis zu 15 Prozent)

bescheinigt haben?

Nach dem übereinstimmenden Befund vieler Journalisten (aus

unterschiedlichen politischen Lagern) erklärt sich die „Beißhemmung“

der Regierung aus dem politischen Dilemma der konservativen

Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) und der Taktik, die

Regierungschef Samaras und seine Berater angesichts dieser Klemme

einschlugen. Seit der Regierungsbildung im Juni 2012 – und verstärkt

seit der Reduzierung der Koalition auf das Duo von ND und Pasok durch

das Ausscheiden der linkssozialdemokratischen Dimar im Gefolge der

ERT-Krise (siehe dazu meine Darstellung vom 19. Juni und 21. Juni) –

stand die ND-Führung vor einem großen Problem: Die Umfragen

zeigten, dass ihr Wählerpotential in der Mitte des politischen Spektrums

ausgeschöpft ist, während am rechten Rand die Chrysi Avgi immer

stärker wurde. Das bedeutete, dass die ND sich keinen entscheidenden

Vorsprung vor der linken Syriza verschaffen konnte, mit dem sie sich

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seit Sommer 2012 ein demoskopisches „Kopf-an-Kopf-Rennen“ lieferte.

Aber selbst wenn die ND sich als stärkste Partei behaupten sollte, könnte

sie es niemals schaffen, den nach dem griechischen Wahlrecht

erforderlichen Prozentsatz für eine eigenständige Parlamentsmehrheit

zu erringen – es sei denn, sie würde einen wesentlichen Teil der Wähler

zurückgewinnen, die nach Auskunft der Demoskopen in wachsenden

Scharen zu der rechtsextremistischen Protestpartei abgewandert waren.

Folglich galt es, diese zu den Neonazis übergelaufenen Wähler schonend

zu behandeln. So setzte sich in den Diskussionen über die Frage, ob man

die rechtsextremistische „Konkurrenz“ politisch oder juristisch

bekämpfen solle, in den Beraterzirkeln von Samaras die Einschätzung

durch, die von einem gut informierten Journalisten so beschrieben wird:

„Eine frontale Konfrontation würde uns jene Wähler total entfremden,

die ChA gewählt haben und die wir zur ND zurückholen wollen“.

(Giorgos Terzis in der Kathimerini vom 6. Oktober). Dieser Ansicht, dass

man die alten Wähler nicht zurückholen kann, wenn man sie als

Anhänger einer kriminellen Bande „denunziert“, neigte auch

Justizminister Charalambos Athanassiou zu. Kein Wunder, dass die

(weisungsgebundene) Generalstaatsanwaltschaft nicht auf die Idee kam,

aus den strafbaren Einzelaktivitäten der Neonazis den Anfangsverdacht

auf eine „kriminelle Vereinigung“ zu begründen.

5. Gibt es in Griechenland keinen strafrechtlichen Tatbestand

wie „rassistische Hetze“, der ein Vorgehen gegen die

Neonazis, einschließlich ihrer Parlamentsabgeordneten,

ermöglicht hätte?

Anders als die meisten deutschen Medien melden, gibt es ein

griechisches Anti-Rassismus-Gesetz bereits seit 1978. Und der Schutz

vor rassistischer Verfolgung ist sogar in Artikel 5 der griechischen

Verfassung verankert. Demnach genießen nicht nur griechische

Staatsbürger, sondern alle Personen, die sich im Lande aufhalten, „ohne

Unterschied der Nationalität, der Rasse oder Sprache und religiösen

oder politischen Anschauungen den unbedingten Schutz ihres Lebens,

ihrer Ehre und ihrer Freiheit“. Gegen diesen Verfassungsartikel hat die

ChA seit ihrer Gründung systematisch und ständig verstoßen, sowohl

verbal in ihrer Propaganda, auch im Parlament, als auch in ihren

täglichen Aktionen auf den Straßen.

Umgesetzt werden sollte die Schutzgarantie der Verfassung durch ein

Anti-Rassismus-Gesetz, das allerdings kaum angewendet wurde. Das lag

vor allem an der Passivität der Justizorgane, aber auch an schwammigen

Formulierungen des Gesetzestextes. Auf die Untätigkeit der Justiz haben

griechische NGOs (organisiert im „Netzwerk für die Dokumentation

rassistischer Gewaltakte“) seit langem aufmerksam gemacht. Wobei das

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rassistischer Gewaltakte“) seit langem aufmerksam gemacht. Wobei das

Netzwerk bei jedem vierten Angriff auf Ausländer eine direkte

Beteiligung des ChA nachweisen kann. Auch im jüngsten Jahresbericht

des staatlichen Ombudsmanns vom 25. September 2013 wurden für das

vergangene Jahr 154 rassistische Übergriffe dokumentiert. In diesem

Bericht wird explizit kritisiert, dass die Polizei, die Justiz und die

Regierung nicht entschieden genug gegen solche Verbrechen vorgingen.

Damit würden „der soziale Zusammenhalt, die Werte und die

Fundamente des Rechtsstaates“ untergraben.

Nach Bildung der Drei-Parteien-Koalition unter ND-Parteichef Samaras

im Juni 2012 hat vor allem Justizminister Roumpakiotis, der von der

linkssozialdemokratischen Dimar nominiert worden war, auf eine

Novellierung des Antirassismus- Gesetzes gedrängt. Die Intention wurde

auch von der Pasok unterstützt, die beiden kleinen Koalitionspartner

scheiterten aber an der harten Linie der ND-Führung, die aus taktischen

Gründen (die ich oben dargestellt habe) keine schärferen Kurs gegen die

Rassisten fahren wollte.

Roumpakiotis hat deshalb im Mai 2013 aus Protest sein Ministeramt

aufgegeben (noch bevor die Dimar die Koalition verließ) und ist heute

der Kronzeuge für das fatale Zögern der Samaras-Regierung. In dem

Roumpakiotis-Entwurf war unter anderem vorgesehen:

den Straftatbestand der rassistischen Hetze zu erweitern und zu präzisieren, sodass erauch die bloße „Aufforderung“ zu Gewalttaten gegen Gruppen oder Menschen umfasst,die „nach ihrer Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder sexuellen Orientierungbestimmt werden“;

besondere Bestimmungen für führende Parteipolitiker nach wiederholten Verurteilungenauch die staatliche Finanzierung ihrer Partei entzogen werden soll;

Abgeordnete, die im Parlament zu Gewalttaten gegen bestimmte Gruppen oder Personenermuntern oder aufrufen, oder die faschistische Symbole (also zum Beispiel den„Hitlergruß“ zeigen) oder Nazi-Kriegsverbrechen verherrlichen, sollten automatisch dieparlamentarische Immunität verlieren; sollten sie anschließend von einem ordentlichenGericht verurteilt werden, hätten sie das Recht verloren, sich erneut für einenParlamentssitz zu bewerben;

die Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust unter Strafe zu stellen.

Diese und andere Bestimmungen eines verschärften Rassismus-Gesetzes

wären unmittelbar auf ChA-Abgeordnete anwendbar gewesen, die in der

Vouli zum Beispiel den Arm zum Hitlergruß erhoben, oder die

muslimischen Abgeordneten beleidigten oder Migranten als

„Untermenschen“ bezeichneten.

Das Scheitern seines Vorhabens erklärte Roumpakiotis gegenüber dem

TV-Sender Skai wie folgt: Die ND und Samaras hätten die politische

Atmosphäre nicht „polarisieren wollen“, um den ChA-Wählern den

Rückweg ins konservative Lager „offen zu halten“.

Es ist von makabrer Ironie, dass die Regierung nach dem Fissas-Mord

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Es ist von makabrer Ironie, dass die Regierung nach dem Fissas-Mord

einen Gesetzentwurf verabschiedet hat, der fast alle wichtigen Punkte

des Roumpakiotis-Vorschlags übernahm (Kathimerini vom 1.

November). Das Gesetz soll vom neuen Justizminister Athanassiou noch

diese Woche dem Parlament zugeleitet und zügig verabschiedet werden.

Roumpakiotis hat diesen Gesinnungswandel mit der bitteren

Bemerkung kommentiert, es habe wohl erst ein Grieche ermordet

werden müssen, ehe die ND-Führung sich zu Aktionen gegen den

Rassismus aufraffe (das erste Todesopfer der Neonazi-Gewalt war

nebenbei bemerkt im August 2012 ein Iraner).

6. Was ist von der Behauptung zu halten, die vor dem Fissas-

Mord zuweilen aus linken Kreisen zu hören war: Dass

Samaras und die ND die Neonazis deshalb geschont hätten,

weil bei einem ungünstigen Ausgang der nächsten Wahlen der

Fall eintreten könnte, dass eine Linksregierung nur noch

durch eine Koalition mit der ChA zu verhindern wäre.

Diese Vermutung ist weder durch Fakten noch durch Äußerungen aus

maßgeblichen ND-Kreisen zu belegen. Sie ist auch inhaltlich ziemlich

abwegig. Einzig der ND-Abgeordnete und ehemalige Innenminister

Vyron Polydoras hat diese Idee im Juli in einem Rundfunkinterview

vorgebracht, als er mit Hinweis auf die „eine Million Wähler“, die er der

ChA zutraute, eine „Zusammenarbeit“ im Rahmen einer „nationalen

Verteidigungsfront“ befürwortete. Aber Polydoras steht mit dieser

Meinung allein. Kein verantwortlicher ND-Politiker – und sei er noch so

rechts und nationalistisch – könnte im Ernst auf eine Bündnisstrategie

setzen, die das Land innerhalb der EU und der internationalen

Gemeinschaft völlig isolieren würde. Zudem gäbe es für eine solche

„Allianz“ bei beiden mutmaßlichen Partnern keinerlei Basis: Die ND

kooperiert seit der Regierung Samaras mit der Troika und ist damit auf

das „Memorandum“ (Sparprogramm) festgelegt; die Neonazis

bekämpfen diese Politik als „nationalen Ausverkauf“ und machen der

ND genau mit dieser Politik einen Teil ihrer Wähler abspenstig. Für die

ND ist die EU-Zugehörigkeit des Landes eine Selbstverständlichkeit, der

Verbleib in der Eurozone ein zentrales Ziel; für ChA ist beides ein Verrat

am höchsten Wert der „nationalen Souveränität“.

Im Übrigen geht der Verdacht, die ND bereite sich auf eine „heimliche

Allianz“ mit den Neonazis vor, nicht gut mit dem zentralen Vorwurf

zusammen, den die griechische Linke gegen die ND-Führung vorbringt.

Sowohl die Syriza als auch die KKE beschuldigen Samaras und vor allem

dessen „Vordenker“ Lazaridis, eine „Theorie der beiden Extreme“ zu

propagieren. Damit werde versucht, die Linke mit der extremen Rechten

gleichzusetzen und aus dem sogenannten „Verfassungsbogen“ der

demokratischen Kräfte auszugrenzen. Diese „Theorie der beiden

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Extreme“ – die innerhalb der ND übrigens sehr umstritten ist – schützt

die konservative Partei nachgerade vor dem Verdacht, sie werde am

Ende mit den einen Extremisten koalieren, um die „Machtergreifung“

der anderen Extremisten zu verhindern.

7. Was war für die Regierung der ausschlaggebende Grund,

ihre „Schontaktik“ gegenüber den Neonazis aufzugeben? Gab

es außer dem Mord an Fissas noch andere Ereignisse, die den

Staat und die Regierung Samaras zum Handeln veranlasst

haben?

Nach übereinstimmenden Medienberichten (Vima, Ta Nea, Kathimerini,

Efimerida ton Syntakton) sorgten schon vor dem Fissas-Mord zwei

Ereignisse in der Regierung für höchste Unruhe und veranlassten

Innenminister Nikos Déndias, auf eine härtere Gangart gegen die

Neonazis zu drängen. Das erste Ereignis war der Überfall eines ChA-

Rollkommandos auf eine Gruppe von KKE-Mitgliedern in Perama

(nördlich von Piräus) am 12. September.

An dem Überfall in Perama waren etwa 50 Neonazis beteiligt. Sie

attackierten eine Gruppe von Aktivisten der kommunistischen

Gewerkschaft PAME, die nachts Streikaufrufe an Hauswände klebten,

mit Holzlatten und Eisenstangen. Sechs der Gewerkschafter wurden

zum Teil schwer verletzt. Laut Zeugenaussagen rief der ChA-Anführer:

„Wir sind von Chrysi Avgi, hier haben wir das Kommando.“ Dann drohte

er den linken Gewerkschaftern, dass man in Piräus noch „historische

Rechnungen“ offen habe. Das ist als Hinweis auf den griechischen

Bürgerkrieg zu verstehen (1944 bis 1949), der mit der Niederlage der

griechischen Kommunisten endete (von denen viele ins Exil in den

Ostblockländern gingen, aus dem KKE-Mitglieder erst Anfang der

1980er-Jahre wieder nach Griechenland zurückkehren durften).

Das zweite Ereignis war das demonstrative und provokative Auftreten

einer großen Abordnung paramilitärischer ChA-Gefolgsleute bei einer

offiziellen Gedenkfeier an ein Massaker der kommunistische

dominierten Widerstandsorganisation EAM-ELAS an vermeintlichen

oder tatsächlichen Kollaborateuren mit den deutschen Besatzern am 15.

September in Meligala, nur zwei Tage vor dem Mord an Fissas.

In beiden Fällen wurde nicht nur die zunehmende Aggressivität der

Neonazis deutlich, sondern auch das Versagen bzw. stillschweigende

Wegschauen der polizeilichen Organe.

Die Gedenkfeier war stets ein Treffpunkt der „Rechten“, die auf der

Peloponnes schon immer sehr stark war. Aber es war eine „staatliche“

und kommunale Veranstaltung, die vor allem von den Familien der

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Opfer gewünscht und auch gestaltet wurde. Dieses Jahr aber hatten die

Neonazis schon im Vorfeld ihre „Truppen“ mobilisiert, mit dem

erklärten Ziel, die Veranstaltung zu „übernehmen“. Ihre Ankündigungen

hatten Innenminister Dendias derart alarmiert, dass er zwei Bataillone

der Bereitschaftspolizei entsandte, um die „Würde der Feier“ zu

schützen.

Am Abend jenes Tages konnte der Innenminister im Fernsehen

betrachten, wie die Neonazis zu Hunderten aufmarschierten waren, um

die Veranstaltung zu ihrer Kundgebung zu machen. Dem Bürgermeister

wurde das Mikrofon weggenommen, die Chrysi Avgi-Parolen übertönten

alles andere – und die Polizei griff nicht ein. Diese „paramilitärische

Machtdemonstration“ macht der schockierten griechischen

Öffentlichkeit klar, was Nikos Konstandaras in der Kathimerini (19.

September) so beschrieben hat: „Die Ironie besteht darin, dass die laxe

Haltung der staatlichen Institutionen die Chrysi Avgi- Leute in

Sicherheit gewiegt hat, sodass sie ihre empörende Arroganz und

Gewaltsamkeit ganz offen zur Schau stellten – und das gilt für die

Parteiführer im Parlament bis zu ihren Straßenkämpfern. Sie glaubten

einfach, sie könnten sich jetzt Alles erlauben.“

Die Provokation von Meligala war für die ND-Führung ein doppelter

Schock. Sie machte klar, dass die Neonazis auf ihrem erhofften Weg zur

Macht als erstes die ND als dominierende Kraft der Rechten ablösen

wollen. An diesem Tag muss Samaras und seinen Leuten die Idee, den

Rechtsextremismus durch die alte patriotische Rechte zu absorbieren,

ziemlich naiv oder gar schamlos vorgekommen sein. Denn die Neonazis

sehen es ja genau umgekehrt, und haben dabei weniger Skrupel: Am

Wallfahrtsort der alten Bürgerkriegs-Nostalgiker wollten sie zeigen, dass

sie die „wahre“ patriotische Rechte sind: „Das war Sinn und Zweck ihres

Auftretens in Melgala, wo sie einen Teil ihrer Rhetorik tatsächlich in die

Praxis umsetzten“, kommentierte Angelos Stangos in der Kathimerini

(29. September).

Es war aber nicht nur die Erkenntnis: „Die meinen ja, was sie sagen“.

Der zweite Schock war das „Versagen“ der Polizei. Spätestens an diesem

Tag muss Innenminister Dendias klar geworden sein, dass eine

gründliche „Isolierung“ der Polizei- und Sicherheitskräfte vom Einfluss

der Neonazis ohne eine Illegalisierung der Rassisten nicht möglich ist.

Auf die Rolle der Polizei bezieht sich eine weitere Frage, mit der ich

diesen Bericht über neonazistische Entwicklungen in Griechenland

demnächst fortsetzen werde.

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nachdenkseiten.de

„Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland? Teil 2

by WOLFGANG LIEB

12. November 2013 um 16:56 Uhr

„Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland? Teil 2

Verantwortlich: Wolfgang Lieb

Nach dem Überfall auf die Wachen vor dem Parteibüro der Neonazis ist

die Unsicherheit, wie es in Griechenland weitergehen soll, noch größer

geworden. Wer immer die Täter sind, sie haben den Neonazis eher einen

Dienst erwiesen. Erinnerungen an den griechischen Bürgerkrieg

kommen hoch. Was ist dran an den Berichten, dass die Neonazis über

gute Verbindungen zur Polizei verfügen? Ob das entschlossenere

Vorgehen und die Anklage gegen die Parteiführung der Chrysi Avgie

(„Goldene Morgenröte“) einen Teil ihrer Anhänger verunsichert oder

abschreckt, ist eine offene Frage. Würden bei Neuwahlen die Neonazis

zurückgedrängt und wo würden deren Anhänger bei Wahlen

hinwandern? Wie sieht die politische Strategie der Linken gegenüber der

Chrysi Avgi aus? Stehen die eingeleiteten strafrechtlichen Verfahren

gegen die ChA-Führung überhaupt auf sicherem juristischem Grund

oder steht am Ende sogar ein Propagandaerfolg der Neonazis. Es fehlt

eine Aufarbeitung mit dem ganz „alltäglichen“ griechischen

Nationalismus. Mit diesen Fragen beschäftigt sich der zweite Teil des

Beitrags über „Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland von Niels

Kadritzke.

Aktuelle Einleitung

Ehe ich auf weitere Fragen zu einem möglichen Verbot der griechischen

Neonazis eingehe, muss ich zwei Entwicklungen darstellen, die seit dem

ersten Teil dieser Analyse eingetreten sind und die miteinander

zusammen hängen: Am 7. November besetzte die griechische Polizei in

den frühen Morgenstunden den seit Juni autonom funktionierenden

ehemaligen Staatssender ERT und „säuberte“ das Gebäude von den

alten (gekündigten) Mitarbeitern, die ein Notprogramm über das

Internet ausgesendet hatten. Diesen Schlag nahm die Oppositionspartei

Syriza zum Anlass, im Parlament ein Misstrauensvotum gegen die

Regierung Samaras zu beantragen.

Die Räumung des ERT-Gebäudes wurde seit langem erwartet, was

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gewiss erklärt, warum es vor dem Gebäude zu keinen großen

Demonstrationen und zu keiner breiten Solidarisierung mit der alten

ERT-Belegschaft kam. Insofern war die Verzögerungstaktik der

Regierung erfolgreich; der autonome Sender wurde sozusagen

„ausgehungert“. Dies war nur ein weiterer Schlag der Regierung gegen

einen aus ihrer Sicht renitenten Sektor des öffentlichen Dienstes, der

deshalb als Anlass eines Misstrauensvotums selbst für griechische

Verhältnisse ziemlich weit her geholt war.

Für nicht-griechische Beobachter ist das eigentlich Erstaunliche an

diesem ganzen Vorgang, dass die Syriza nicht den eigentlichen Skandal

bei der ERT-Schließung thematisiert hat: Am 17. Juni hatte das höchste

griechische Gericht entschieden, dass der Sender weiter betrieben

werden müsse – und zwar nicht nur mit einem Notprogramm – bis die

Nachfolgeanstalt mit einer neuen Struktur (und reduziertem Personal)

auf Sendung gehen kann. Das bedeutete eine klare Anweisung an die

Regierung, mit dem alten Personal weiterzumachen – die allein einen

kontinuierlichen Sendebetrieb leisten konnte – und parallel dazu über

die neuen Strukturen zu diskutieren und rechtlich zu verankern.

Diese Auflage des höchsten Gerichts hat die Regierung fast fünf Monate

lang einfach ignoriert – und niemand fand das empörend, nicht einmal

die Oppositionsparteien oder kritische Journalisten. Die Frage spielte

auch in der Vouli bei der dreitägigen Debatte über das

Misstrauensvotum keine Rolle. Die Abstimmung endete mit einem

begrenzten „Sieg“ der Regierung, die 153 ihrer Parlamentarier gegen das

Misstrauensantrag mobilisieren konnte. Allerdings ist dabei der Pasok

ein weiterer Parlamentssitz abhandengekommen, weil eine Abgeordnete

dem Abwahlantrag der Syriza zustimmte und daraufhin sofort aus der

Fraktion ausgeschlossen wurde. Die Mehrheit der Regierung hat sich

damit auf 154 Stimmen reduziert (bei der Abstimmung vom Sonntag

fehlte ein ND-Abgeordneter krankheitshalber), das sind nur drei

Stimmen mehr als die absolute Mehrheit.

Die Syriza könnte argumentieren, dass der „Abnutzungskrieg“ gegen die

Koalition sich allmählich auszahlt. Aber so wird es im linken Lager nicht

empfunden. Auch die griechische Presse spricht weithin von einer

„Niederlage“ der Oppositionsstrategie. Das träfe allerdings nur zu, falls

die Parteiführung und Tsipras selbst tatsächlich Neuwahlen angestrebt

hätten, die bei einem Abstimmungserfolg unvermeidlich gewesen wären.

Das kann aber angesichts der Tatsache bezweifelt werden, dass knapp

die Hälfe der potentiellen Syriza-Wähler von Neuwahlen ebenso wenig

halten wie die meisten Anhänger der Regierungsparteien ND und Pasok.

Und auch viele Parteimitglieder sind sich überhaupt nicht sicher, ob die

Syriza ein Programm anbieten kann, das den Wähler eine überzeugende,

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praktisch durchsetzbare Alternative zumindest vorspiegelt. Wenige Tage

vor dem Votum hat selbst der alte, auch außerhalb der Syriza hoch

geachtete Parteiveteran Manolis Glezos Bedenken geäußert, ob die

Partei ihre reichhaltigen Wahlversprechungen realistisch

durchgerechnet hat.

Ein eindeutige Niederlage musste die Syriza jedenfalls „auf der Straße“

hinnehmen: Obwohl Tsipras seine Gefolgschaft dazu aufgerufen hatte,

während der Misstrauensdebatte in Massen vor dem Parlament zu

demonstrieren (getreu der Parole, dass nur „das Volk“ die Regierung zu

Fall bringen könne), konnte die Partei allenfalls 3000 Demonstranten

aufbieten. Das war auch für Tsipras selbst eine bittere Enttäuschung –

und gleichzeitig die Botschaft, dass der Wunsch nach Neuwahlen in der

heutigen Situation nicht besonders ausgeprägt ist. Erstaunlich ist

dennoch, dass offenbar nicht einmal der Kern der Parteimitglieder für

diese Perspektive zu mobilisieren ist.

Das hängt gewiss auch damit zusammen, dass die Syriza derzeit

keinerlei Aussagen über einen möglichen Koalitionspartner machen

kann, den sie selbst nach einem relativen Wahlsieg mit Sicherheit zum

Regieren brauchen wird. (siehe dazu meine Überlegungen vom 25. Juli

2013) Beim Misstrauensvotum stimmten zwar mehrere Parteien mit der

Syriza, aber sie alle sind als Koalitionspartner ungeeignet. Die KKE sagt

nach wie vor klar, dass sie keiner „bürgerlichen“ Regierung beitreten

wird. Die linkssozialdemokratische Dimar, die sich im Parlament

enthalten hat, kämpft um ihr Überleben und ist innerlich zerstritten.

Und die populistische Anel, die nach normalen europäischen Maßstäben

eine rechtsradikale Partei ist, verbindet mit der Syriza nur eine einzige

Forderung: Weg mit dem Memorandum. Ansonsten will sie auch die

Migranten genauso entscheiden aus dem Land vertreiben wie die

verhasste Troika. Zwar hat Anel-Chef Kammenos für die

Kommunalwahlen vom Frühjahr 2014 eine gemeinsame Liste mit der

Syriza vorgeschlagen. Aber ein solches Bündnis wäre für die Syriza eine

Sprengbombe und würde viele ihrer bisherigen Wähler abschrecken.

Wenn man sich fragt, warum Tsipras ein Misstrauensvotum

herbeigeführt hat, das mit hoher Wahrscheinlichkeit schiefgehen musste

(weil klar war, dass die Dimar sich enthalten würde), bietet sich nur eine

überzeugende Antwort an: Tsipras versucht derzeit alles, um die

zentrifugalen Kräfte seiner Partei zusammen zu halten. Nachdem er sich

eisern auf die Erhaltung der Eurozone und gegen einen Grexit festgelagt

hat, muss er den nach wie vor starken Parteiflügel besänftigen, der das

Land über das Ausscheiden aus der Eurozone und der EU retten will.

Nachdem er letzte Woche in einem Vortrag an der Universität

Austin/Texas sein Bekenntnis zum Euro erneut bekräftigt hat, musste er

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die befürchteten Reaktion von der Partei-Linken durch eine Initiative

neutralisieren, die ihn als entschlossenen Kämpfer gegen die Regierung

und für Neuwahlen beglaubigt. Doch diese parteitaktisch geprägte

Strategie ist griechischen Öffentlichkeit und bei den Wählern nicht gut

angekommen. Vor allem fragen sich viele, ob die extrem kritische Phase,

in der sich die juristische und politische Auseinandersetzung mit den

Neonazis befindet, die ideale Situation für einen „Lagerwahlkampf“ sein

kann, in der sich die Chrysi Avgi neu profilieren kann.

Damit komme ich auf die Erörterung der Fragen zurück, die mit dem

(verspäteten) Kampf der politischen Klasse mit den griechischen

Neonazis aufgeworfen sind.

Nach dem Überfall auf die Wachen vor dem Parteibüro der

Neonazis ist die Unsicherheit, wie es in Griechenland

weitergehen soll, noch größer geworden

Bei ihren Ermittlungen über den Überfall auf die Wachen vor dem

Parteibüro der Chryi Avgi im Athener Stadtteil Neo Hirakleion hat die

„Terrorismus-Abteilung“ der Polizei noch keine heiße Spur. Von den vier

Mitgliedern der Neonazi-Partei, die den Eingang des Büros bewachten,

wurden zwei getötet und einer schwer verletzt. Ein vierter konnte ins

Innere des Gebäudes flüchten. Nachdem die beiden Täter aus etwa 15

Meter Entfernung auf die Gruppe gefeuert hatten, ging einer von ihnen

auf zwei der Niedergeschossenen zu und tötete sie mit Kopfschüssen aus

einer 9-mm-Pistole. Die Art dieser „Exekution“ ist einer der Gründe,

warum die Ermittler ihren Verdacht auf – womöglich versprengte

Mitglieder – der linken terroristischen Gruppe „Sekte der

Revolutionäre“ konzentrieren, die sich zu zwei Morden in den Jahren

2009 und 2010 bekannt hat; dabei wurden ein Polizist und ein

Journalisten aus nächster Nähe erschossen. Allerdings gab es in beiden

Fällen Bekennerschreiben, die bei dem Attentat von Neo Heraklion

bislang nicht vorliegen. Die Athener Ermittler sprechen jetzt von einer

„zweiten Generation“ der Gruppe (Kathimerini vom 5. November) und

erwarten ein verspätetes Bekennerschreiben (womöglich unter anderem

Namen).

Wer immer die Täter sind, sie haben den Neonazis eher einen Dienst

erwiesen. So lautet der Tenor der griechischen Presse, der auch bei den

Stellungnahmen der linken Parteien durchklingt. Die Syriza wie die KKE

haben, wie alle politischen Parteien des Landes, den Mordanschlag von

Neo Hiraklion eindeutig und scharf verurteilt. Was das Attentat vom 1.

November verändert hat, und vor welchen Gefahren die Gesellschaft und

die politische Klasse womöglich stehen, beschreibt Nikos Konstandaras

in der Kathimerini vom 2. November:

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„Der Angriff auf das Chrysi-Avgi-Büro in Neo Hiraklion stellt für

unsere Gesellschaft, unseren Staat und unser politisches System

eine ernsthafte Herausforderung dar. Die Gefahr der Instabilität

ist groß, und um die Situation zu beherrschen, müssen wir kühlen

Kopf bewahren und uns strikt an das Gesetz und die

vorgeschriebenen institutionellen Verfahren halten.

Es ist unbedingt wichtig, dass die Polizei rasch und effektiv handelt

und die Mörder aufspürt. Je länger diese und ihre Motive im

Dunkeln bleiben, desto mehr werden sich die

Verschwörungstheorien breit machen, und der Staat wird nicht

mehr so funktionieren können, wie es zur Bekämpfung krimineller

Aktivitäten nötig ist. Sollten die Täter längere Zeit unbekannt

bleiben, wird das jetzt schon sehr ernste Thema sogar noch größere

Bedeutung bekommen.

Alle politischen Parteien, die Medien und die Gesellschaft müssen

den Überfall einhellig verurteilen, ganz ohne spitzfindige

Vorbehalte. Die Philosophie der Gewalt und ihre Anhänger an den

extremen Polen des politischen Systems können nur besiegt

werden, wenn die Gesellschaft deutlich macht, dass jedes Leben

gleich wertvoll ist.

Die Attacke rückt die Chrysi Avgi nach mehreren Wochen, in denen

die Neonazi-Organisation verunsichert und weitgehend verstummt

war, erneut ins Zentrum der politischen Bühne. Jetzt wo ihre

Führer in Haft sitzen, der Zufluss staatlicher Gelder unterbrochen

ist und ihre Parlamentarier keinen Polizeischutz mehr genießen,

könnte eine Sympathie- und Solidaritätswelle ihrer Wähler, die ihr

teilweise den Rücken gekehrt hatten, die Partei wieder auf die

Beine bringen. Der Staat muss zeigen, dass sich die

Anschuldigungen gegen die Chrysi Avgi-Führer auf mutmaßliche

kriminelle Aktivitäten und nicht auf ihre Ideen beziehen. Es ist von

höchster Bedeutung, dass das Recht erkennbar für Alle gilt, und für

ausnahmslos jeden Bürger verpflichtend ist.

Wenn Staat, Polizei und Justiz, wenn unser politisches System und

die Medien sich dieser Situation nicht gewachsen zeigen, indem sie

seriös und entschlossen reagieren, besteht die große Gefahr, dass

unsere Gesellschaft und unser politisches System weiter zerfällt.

Und vor allem, dass die Chrysi Avgi-Partei gestärkt aus ihrer Krise

herauskommen wird, weil sie sich als Opfer von Ungerechtigkeit

und politischer Gewalt darstellen kann. Dann aber wird die

Zukunft noch gefährlicher werden.“

Welche Gefahren die Zukunft den Griechen bringt, wird sich in den

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nächsten Wochen zeigen. Die öffentliche Meinung artikuliert sich

skeptisch bis ängstlich. Bei der der letzten Umfrage des Instituts GPO

von Anfang Oktober (also nach der Ermordung von Pavlos Fissas) wurde

die Frage „Steht das Land vor der Gefahr einer nationalen Spaltung?“

von 56 Prozent der Befragten mit Ja oder eher Ja, und von 44 Prozent

mit Nein oder eher Nein beantwortet. Andererseits gibt es in derselben

Umfrage auch ein starkes Zeichen der Stabilität: Die überwältigende

Mehrheit der Bevölkerung lehnt Gewalt als Mittel der politischen

Auseinandersetzung prinzipiell ab. Auf die Frage, „ob Gewaltakte, egal

welcher Art und egal aus welcher (politischen) Ecke sie kommen, von

der Gesellschaft verurteilt werden müssen“, antworteten 95 Prozent der

Befragten mit Ja und nur 4,1 Prozent mit Nein. Nach dem Mord an den

„rechten“ ChA-Mitgliedern dürfte sich der Prozentsatz derer, die diese

Meinung teilen, eher noch erhöht haben.

Dennoch: Die politische Situation ist mehr denn je durch große

Ungewissheit gekennzeichnet. Noch nie seit Beginn der Krisenjahre

habe ich in Griechenland eine so fundamentale Unsicherheit bei der

Einschätzung der politischen Zukunft erlebt, auch bei den Freunden und

Bekannten, auf deren „Durchblick“ ich mich häufig verlassen konnte

und von denen ich viel gelernt habe. Jetzt höre ich immer wieder den

Stoßseufzer: „Ich weiß einfach nicht, wie es weitergeht, wie es

weitergehen soll oder kann.“

Traumatische Erinnerungen an den Bürgerkrieg – Die

Machtdemonstration der griechischen Rechten beim „Festival

des Hasses“ in Meligala

Unter diesem generellen Vorbehalt soll im Folgenden versucht werden,

weitere Fragen über die Zukunft der griechischen Neonazis zu

beantworten, aber auch über die politischen – und die juristischen –

Probleme der politischen Klasse im Umgang mit dem hausgemachten

Rechtsextremismus. Dabei muss ich zunächst, mit Blick auf das

Mordattentat auf die ChA-Wachen, noch einmal auf das Stichwort

Meligala und den griechischen Bürgerkrieg zurückkommen. Denn die

Angst, dass ein Attentat auf Rechtsextremisten von Tätern mit

„linksterroristischem“ Hintergrund der Auftakt zu weiteren

„Abrechnungen“ sein könnte, weckt in der Tat Erinnerungen an den

Bürgerkrieg, die für ältere Griechen immer noch traumatisch ist.

Dass gerade die Neonazis an diese historische Polarisierung – die guten

patriotische Griechen gegen die böse vaterlandslose Linke – anknüpfen

und dieses Klima wiederbeleben wollen, hat ihr Auftritt in Meligala

gezeigt. Der Ortsname der großen Landgemeinde im Zentrum der

Peloponnes ist allen Griechen ein Begriff. Hier haben im September

1944, gleich nach dem Abzug der deutschen Besatzungstruppen, lokale

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1944, gleich nach dem Abzug der deutschen Besatzungstruppen, lokale

Führer der kommunistisch dominierten Widerstandsorganisation EAM-

ELAS ein Massaker unter ihren einheimischen Gegnern angerichtet.

Dabei wurden Hunderte Mitglieder der rechten „Sicherheitsbataillone“

(Tagmata Asfalias) und anderer Gruppen exekutiert, die mit der

deutschen Okkupationsmacht (in unterschiedlichem Grade) kollaboriert

hatten. Die Zahl der Toten wird, je nach Quelle, zwischen 800 und 1144

angegeben. Die Leichen der Opfer wurden in einen Brunnen am Rand

von Meligala geworfen, der fortan zum Wallfahrtsort der griechischen

Rechten wurde. Alle Schulbücher der Nachkriegszeit präsentierten

Meligala und den Brunnen voller Schädel als Beweis für die Grausamkeit

der „vaterlandslosen Kommunisten“, die man im Bürgerkrieg besiegt

und vertrieben hatte.

Über die Rolle der Nazi-Kollaborateure war in diesen Büchern nichts zu

lesen. Der formelle Grund der Exekutionen war die Weigerung der

„Asfalites“, ihre Waffen abzugeben. Aber wie immer in solchen

Situationen war ein wichtiges Motiv auch die „Rache“ am politischen

Gegner, wobei der Übergang zur „persönlichen“ Abrechnung und

Familienfehden häufig fließend war. Selbst wenn man die chaotische

Lage auf der Peloponnes in den Tagen nach dem Abzug der deutschen

Besetzung berücksichtigt, war das Massaker von Meligala ein

scheußliches Verbrechen. Als solches wurde es auch von der Führung

der EAM-ELAS verurteilt. Nachdem sie das Ereignis anfangs noch

geleugnet hatte, belastete sie später die regionalen Kommandeure mit

der Verantwortung für das Massaker, das den moralischen Anspruch der

ELAS schwer beschädigt hat.

Von den heutigen griechischen Linksparteien wird das schreckliche

Geschehen in Meligala nicht geleugnet, aber auch nicht als wichtiges

historisches Thema gesehen. In linksradikalen Studentengruppen fand

man es in den 1980er-Jahren sogar lustig, bei Demonstrationen die

„rechten“ Mitbürger mit der rhythmischen Parole „EAM-ELAS –

Meligalas“ zu erschrecken. Das war auch eine Reaktion auf das

alljährliche „Festival des Hasses“, das die „guten Griechen“ jedes Jahr an

ihren Wallfahrtsort veranstalteten. Dieses Festival diente zugleich als

Machtdemonstration der jeweils herrschenden Rechten. Das war in der

Nachkriegsära bis zum Beginn der Militärdiktatur (1967) das Lager der

patriotischen und königstreuen Antikommunisten, danach die Obristen

der Junta (bis 1974) und nach dem Fall der Junta die neue reche

Sammlungspartei Nea Dimokratia. Diese war gerade auf der Peloponnes

(der politischen Heimat von Samaras) durchaus rechtsradikal

durchsetzt, was sich auch in den Meligala-Auftritten der lokalen ND-

Politiker niederschlug. Bis eben dieses Jahr die Neonazis das Hass-

Festival als Podium für die Demonstration ihrer Machtambitionen

ausnutzten und sich dabei ganz offen als wahre Erben der Nazi-

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ausnutzten und sich dabei ganz offen als wahre Erben der Nazi-

Kollaborateure aufspielten.

Der verspätete Kampf gegen die Neonazis

Als kleiner Exkurs eine aktuelle Information: Am 6. November hob das

griechische Parlament die Immunität von vier weiteren ChA-

Abgeordneten auf (für drei Abgeordnete erfolgte dies bereits zwei

Wochen zuvor). Dabei wurde der Antrag im Fall von Elias Kasidiáris und

Elias Panagiótaros mit der Anklage wegen „illegaler Gewaltakte“ in

Meligala begründet. Das wirft natürlich zwei Fragen auf: Warum erfolgte

diese Anklage nicht unmittelbar nach der Machtdemonstration der

Neonazis am 17. September, sondern erst nach dem Fissas-Mord und

dem Beginn der Ermittlungen gegen die ChA wegen Gründung einer

kriminellen Vereinigung? Noch wichtiger ist die zweite Frage: Wenn

dieser Aufmarsch der ChA-Truppen den Anfangsverdacht auf „illegale

Gewaltakte“ begründet, warum ist die massiv anwesende Polizei nicht

schon vor Ort eingeschritten? Damit sind wir bei der Frage, mit der ich

an den ersten Teil dieser Analyse (1. November) anknüpfe.

Frage 8: War das Nichteingreifen der Polizei in Meligala

symptomatisch? Was ist dran an den Berichten, dass die

Neonazis über gute Verbindungen zur Polizei verfügen und

überproportional viele Sympathisanten generell bei den

Sicherheitskräften haben?

Nach Meinung vieler Beobachter hat die griechische Polizei (Elliniki

Astinomia, abgekürzt EL.AS.) eine so starke Affinität zu Chrysi Avgi

entwickelt, dass sie kein verlässliches Instrument zum Kampf gegen die

Neonazis mehr darstellt. Das musste nach dem Fissas-Mord selbst

Innenminister Nikos Dendias einräumen, als er zu einer

„Selbstreinigung“ der Polizei- und Sicherheitskräfte aufrief. Dabei gehe

es darum, „die ganz wenigen notorischen Eidbrüchigen zu entfernen, die

unter dem Einfluss des Neonazismus das Bild und die Ehre der

Griechischen Polizei beschmutzen“ (zitiert nach Ta Nea vom 20.

September).

Um den Willen zur „Säuberung“ von diesen „ganz wenigen“ Sündern zu

demonstrieren, musste der Innenminister allerdings den „Rücktritt“ der

beiden höchsten Polizei-Offiziere erwirken und für weitere acht hohe

Offiziere eine Strafversetzung auf andere Positionen verfügen. Zu diesen

versetzten Leuten gehörten die Leiter der Abteilungen „Sondereinsätze“

und „organisierte Kriminalität“, aber auch der der Abteilung

„Explosivstoffe“. Diese letzte Versetzung verweist auf die Befürchtung

des Innenministers, dass die ChA-Kader sich womöglich aus dem

Arsenal der Polizei bewaffnen konnten.

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Auch auf lokaler Ebene wurden Polizeioffiziere suspendiert, die sich bei

Einsätzen gegen ChA-Demonstrationen auffällig zurückgehalten hatten.

Ein Kommentar auf dem Blog Macropolis (24.September) bewertete die

Maßnahmen von Dendias als Anzeichen für „den Grad der Besorgnis

darüber, wie stark die rechtsradikale Chrysi Avgi die Polizeikräfte

infiltriert hat“. Zugleich wollte man damit der Öffentlichkeit

demonstrieren, dass die Regierung endlich gegen die illegalen

Aktivitäten der Neonazis vorgeht, „nachdem sie vorher eher

weggeschaut hatte“. Dieser Vorwurf wird erhärtet durch die Erklärung

von Christos Fotopoulos, Vorsitzender des Verbands griechischer

Polizeioffiziere, gegenüber dem TV-Sender Skai: In den vergangenen

drei Jahre habe es „viele Fälle“ gegeben, in denen seine Kollegen bei

Gewaltakten von ChA-Mitgliedern übermäßig viel „Toleranz gezeigt

haben“. Sein Verband habe solche Fälle bei den Polizeichefs und auch im

Ministerium gemeldet, aber es habe darauf kaum Reaktionen gegeben

(zitiert nach Kathimerini vom 24. September).

Für die „Infiltration“ bzw. die Offenheit der Polizeikräfte für Avancen

der Neonazis gibt es deutliche Anhaltspunkte auf drei Ebenen.

Informanten für die ChA im Polizeiapparat

In den letzten beiden Jahren kam es immer wieder vor, dass ChA-

Aktivisten über Aktionen der Polizei vorab gewarnt wurden. Es muss

also ein festes Netz von Informanten innerhalb der Polizei-Hierarchie

geben. Auch bei den Ermittlungen zum Mordfall Fissas wurden solche

Verbindungskanäle aufgedeckt. Wie ein (anonymes) Ex-Parteimitglied

gegenüber der Athener Zeitung Ethnos erklärte, hat ein Polizeioffizier

der Polizeireviers Nikaia regelmäßig Informationen über

bevorstehende Aktionen an das lokale Parteibüro der Chrysi Avgi

weitergegeben. Solche Verbindungen der Neonazis mit dem

Polizeiapparat reichen übrigens weit zurück: Schon 1999 vermerkte

der Bericht einer polizeiinternen Untersuchungsgruppe: „Die

Organisation unterhält sehr gute Beziehungen und Kontakte mit

aktiven und pensionierten EL.AS.-Offizieren, aber auch mit einfachen

Polizisten.“ (Anmerkung: EL.AS.: Griechische Polizei, nicht zu

verwechseln mit der im 2. Weltkrieg und oben erwähnten aktiven

paramilitärischen Partisanen- bzw. Widerstandsorganisation ELAS.)

Bei Demonstrationen linker und anarchistischer Gruppen habe die

Polizei sogar Funkgeräte und Schlagstöcke an ChA-Mitglieder verteilt,

die dann als „empörte Bürger“ gegen die Linken auftraten (zitiert in Ta

Nea vom 24. September).

Gegenüber dem Guardian (vom 26. Oktober) hat ein hoher Ex-

Polizeioffizier (anonym) ausgesagt, dass die Athener Regierung wie die

EL.AS.-Spitze seit Jahren von „Nestern des Faschismus“ innerhalb der

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Polizei wissen, aber bewusst darauf verzichtet haben, diese Gruppen

zu isolieren und zu entfernen. Der Staat habe diese Elemente bewusst

„in Reserve gehalten“, um sie für seine eigenen Zwecke zu nutzen, zum

Beispiel als „agents provocateurs“ gegen linke Demonstrationen.

Natürlich wurden die Existenz von faschistischen „Nestern“ vom

Sprecher der Polizeiführung empört zurückgewiesen, und zwar mit der

interessanten Begründung, es gebe allenfalls „Einzelfälle, wie sie

überall und an jedem Arbeitsplatz zu finden sind“.

Wählerrückhalt für die ChA bei den Ordnungskräften

Auf einer zweiten Ebene ist die Affinität noch klarer nachzuweisen. Bei

den beiden Parlamentswahlen vom Mai und vom Juni 2012 lag der

Stimmanteil für die Neonazis in Wahlbezirken, in denen besonders

viele Sicherheits- und Polizeikräfte abstimmten, bis um das Dreifache

über dem nationalen wie auch dem Durchschnitt der umliegenden

Bezirke. Zur Erklärung: Es handelt sich um Wahllokale im Raum

Athen/Piräus, in deren Nähe das Hauptquartier der

Bereitschaftspolizei bzw. ein großes Gefängnis liegt. Hier konnten am

jeweiligen Wahlsonntag die Dienst schiebenden Polizeikräfte bzw.

Gefängnisangestellten ihre Stimme abgeben. In Wahllokalen im

Umkreis des Polizeipräsidiums von Attika (GADA) gewann die ChA

zwischen 17 und 23, 8 Prozent der Stimmen (bei einem nationalen

Ergebnis von 6.9 Prozent). In einem Stimmbezirk in der Nähe des

Athener Korydallou-Gefängnisses kam die Partei sogar auf 27 Prozent.

(Daten nach Ta Nea vom 24. September).

Der Politologe Dimitris Chistópoulos, Vizepräsident der Griechischen

Liga für Menschenrechte und Mitbegründer des Forschungszentrums

für Minderheitengruppen (KEMO), zitiert in der Wochenzeitung To

Vima vom 29. September „Einschätzungen“ von Politologen, die den

Stimmanteil für die ChA bei der Polizei auf etwa ein Drittel, bei der

Bereitschaftspolizei sogar auf 50 Prozent bemessen. Diese Zahlen

scheinen mir methodisch nicht gesichert und mögen übertrieben sein,

aber eine weitere beunruhigende Feststellung von Christópoulos ist

durch viele Zeugnisse bestätigt: Am anfälligsten für die Ideologie der

Neonazis sind bei allen Sicherheitsorganen (Polizei und Armee) die

jüngeren Jahrgänge und die niedrigeren Dienstgrade. Das gilt noch

verstärkt für die Bereitschaftspolizei (MAT genannt, die Abkürzung für

„Einheiten zur Wiederherstellung der Ordnung“), die fast

ausschließlich für die „Kontrolle von Demonstrationen“ ausgebildet

ist. Für viele MAT-Polizisten stellt die Sympathie mit der ChA

offensichtlich eine Art Ausweg aus ihrem beruflichen

Grundwiderspruch dar. Dieser Widerspruch besteht darin, dass die

martialisch ausgerüsteten „matatsides“ den Staat, also

Regierungsgebäude und Parlament, immer wieder gegen

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Demonstranten schützen müssen, deren Wut über die Sparpolitik sie

eigentlich teilen, weil sie selbst ebenfalls zu den Opfern dieser Politik

gehören. Wer für 700 Euro seinen Kopf (wenn auch behelmt) für die

Herrschenden hinhalten soll, kann leicht das Bedürfnis entwickeln,

seine eigene Verbitterung wenigstens als – anonymer – Wähler als

Denkzettel in der Wahlurne abzugeben.

Affinität des ChA-Milieus mit dem beruflichen Milieu der Sicherheitsorgane

Es wäre aber eine Verharmlosung, die für ChA-Propaganda anfälligen

Polizisten lediglich als irregeleitete „Wutwähler“ zu sehen. Damit

würde man die dritte Dimension der Beziehungen zwischen

griechischen Neonazis und Polizei/Militär unterschätzen: die Affinität

zwischen ChA und den staatlichen Ordnungskräften, die beim harten

Kern der Partei und zumal bei ihren paramilitärischen Schutz- und

Stoßtrupps besonders sichtbar ist. Die ChA ist eine klassische

Milizpartei (im Sinne der Definition des ehrwürdigen

Parteisoziologien Maurice Duverger), die nicht auf Machterwerb

mittels des parlamentarischen Systems orientiert ist, sondern die die

Machtfrage letztlich „auf der Straße“ entscheiden will. Eine solche

Partei wird immer versucht sein, ihren Anhang gezielt unter

„Gewaltprofis“ zu rekrutieren. Umgekehrt fühlen sich diese Profis von

einer Partei angezogen, die ihre besonderen Fähigkeiten zu schätzen

weiß und mit Karriereversprechen – welcher Art auch immer –

belohnt.

Diese wechselseitige Affinität erklärt, warum bei den Wach- und

Kampftruppen der ChA überproportional viele Ex-Polizisten und -

Soldaten vertreten sind, von denen viele natürlich noch Verbindungen

zu ihren Kollegen im aktiven Polizeidienst oder beim Militär halten.

Oft waren oder sind diese ausgebildeten Gewaltspezialisten nach

ihrem Ausscheiden aus dem Militär oder Polizeidienst bei privaten

Sicherheitsfirmen tätig, aber auch als Türwärter in Bars und Discos

oder als Rausschmeißer in Nachtlokalen. Viele aus diesem

Berufsmilieu haben auch in der kleinkriminellen Szene angedockt,

etwa im Bereich der Prostitution oder bei der Schutzgeldmafia. Aus

diesem Milieu stammen auffällig viele der ChA-

Parlamentsabgeordneten, deren Auftreten im Plenarsaal auch immer

wieder an diese Herkunft aus der Halb- und Unterwelt erinnert. Das

erklärt auch die physische Erscheinung vieler ChA-Kader (und ihrer

Leibwächter), deren „aufgepumpte“ Körper ein optischer Beleg für die

enge Verbindung zur Bodybuilding-Szene ist. Diese Szene ist in

Griechenland noch stärker als anderswo in den Handel mit Anabolika

und anderen Körperdrogen involviert und unterhält entsprechenden

Verbindungen zum kriminellen Milieu.

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Ein klarer Hinweis auf die Verschmelzung der beiden Milieus ist dem

bereits zitierten Report der Ombudsmann-Behörde (Punkt 5 im ersten

Teil dieser Analyse vom 4. November) zu entnehmen. Nach dem

Bericht der Ombudsfrau Kalliope Spanou lassen sich von den 281

rassistischen Angriffen, die im Zeitraum Januar 2012 bis April 2013

registriert wurden, 71 direkt den Neonazis zuordnen, während in 47

Fällen aktive Polizisten beteiligt waren. Deshalb wird in dem Report

explizit gefordert, die vielen Beschwerden “über rassistisches

Verhalten von Polizeibeamten oder deren Beteiligung an rassistischen

Überfällen umgehend, in vollem Umfang und auf transparente Weise

zu untersuchen“ (die Schlussfolgerungen des Reports in englischer

Fassung [PDF - 29.9 KB])

Angesichts all dessen erinnern wir uns an eine Frage, die sieben

Wochen nach dem Mord an Fissas immer noch nicht geklärt ist:

Hätten die Polizeikräfte, die bei dem Überfall der ChA-Schläger auf

den linken Rapper direkt vor Ort waren, die Mordtat durch ihr

Eingreifen verhindern können? Die Freundin von Fissas hat

angegeben, dass die anwesende Polizeistreife weder eingegriffen noch

Verstärkung angefordert hat. Immerhin hat die EL.AS.- Abteilung für

„innere Kontrolle“ eine Untersuchung über das Verhalten dieser

Polizisten eingeleitet.

Frage 9: Lässt sich schon abschätzen, ob das entschlossenere

Vorgehen und die Anklage gegen die Parteiführung der ChA

einen Teil ihrer Anhänger verunsichert oder abschreckt?

Die ersten Umfragen nach dem Fissas-Mord zeigen eine beträchtliche

Verunsicherung der potentiellen ChA-Wähler an. In der schon zitierten

GPO-Umfrage von Anfang Oktober, die schon die Reaktion auf die

Verhaftung der Parteispitze wiederspiegelt, liegt die Neonazi-Partei in

der Sonntagsfrage bei knapp 8 Prozent. Das würde einerseits einen

Rückgang der Wählerattraktion um mindestens ein Drittel anzeigen (in

mehreren Umfragen vom September lag die Zustimmung zur ChA bei 13

bis 15 Prozent). Andererseits aber würde die Partei damit immer noch

besser abschneiden als bei den Wahlen von 2012. Sie könnte also statt

ihrer bisher 18 Parlamentssitze deutlich mehr als 20 Sitze erringen. Ob

die beiden Todesopfer von Neo Heraklion die Sympathien mit den

Neonazis verstärkt oder reaktiviert, lässt sich heute noch nicht absehen.

Wahrscheinlich ist allerdings, dass potentielle Wähler, die durch die

Kriminalisierung der Parteiführung verschreckt wurden, sich jetzt

wieder eher zu einer Proteststimme gegen die „Verfolgung“ ihrer Idole

entschließen.

In jedem Fall ist die aktuelle Parteiführung erkennbar darum bemüht,

13

die paramilitärischen Kräfte und den harten Kern ihrer Anhänger von

extremen Reaktionen abzuhalten, um die schwankende Wähler bei der

Stange zu halten. Dabei spielt sie sogar gezielt die „legalistische Karte“

aus, indem sie sich als „Opfer“ von Rechtsverletzungen und

Rechtsbeugungen darstellt. Mit Sicherheit wird sie mit dieser Taktik in

den nächsten Tagen einen Teilerfolg erringen: Nach dem tödlichen

Anschlag auf ihr Parteibüro fordert sie die Regierung auf, für die ChA-

Parlamentarier wieder die Leibwächter abzustellen, die man ihnen nach

Verabschiedung der Gesetzesänderungen zum Parteiengesetz entzogen

hatte (zum Parteiengesetz mehr im Kontext der Frage 13). Der

Innenminister hat bereits erklärt, dass er diese Forderung erfüllen

werde.

Eine realistische Einschätzung der Möglichkeit, die griechischen

Neonazis von der politischen Bühne zu „beseitigen“ – was Samaras als

Ziel seiner Regierung formuliert hat – gibt die Kathimerini in einem

Kommentar vom 6. November: „Der Angriff auf die Goldene Morgenröte

und ihre Kennzeichnung als kriminelle Organisation hat sich nicht

wirklich ausgezahlt. Die Tötung von zwei Parteimitgliedern durch

Terroristen hat die negativen Folgen (für die Partei) abgeschwächt, die

der Mord an Pavlos Fissas durch ein Mitglied der Neonazi-Partei

zunächst gehabt hat.“

Frage 10: Gibt es in dieser Situation die Möglichkeit oder den

Wunsch, die Neonazis mittels Neuwahlen zurückzudrängen?

Die Antwort auf diese Frage ergibt sich großenteils aus der

Einschätzung, dass die ChA bei Neuwahlen mindestens so gut

abschneiden würde wie im Juni 2012. Zudem würden alle Parteien –

einschließlich der Syriza, die (siehe das oben erwähnte

Misstrauensvotum) zumindest durch Reden und Handeln auf

Neuwahlen drängt – einen Wahlkampf unter den aktuellen Umständen

lieber vermeiden, denn nicht nur die Gefahr von Zusammenstößen

zwischen den politischen Lagern auf der Straße und bei Kundgebungen

würde sich deutlich erhöhen. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor wäre der

ungeklärte Status der ChA-Führung. Mit Sicherheit käme es zu

gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Frage, ob ihre inhaftierten

oder angeklagten Parlamentsmitglieder erneut kandidieren dürften.

Dabei wäre durchaus denkbar, dass ChA-Kandidaten vor Gericht sogar

obsiegten, was der Parteiführung zusätzlichen moralischen und

politischen Auftrieb geben könnte.

Auch die öffentliche Meinung ist stärker als je zuvor gegen Neuwahlen.

Bei der GPO-Umfrage von Anfang Oktober verneinten fast 70 Prozent

die Frage, ob „eine Lösung der aktuellen Probleme“ über vorzeitige

Neuwahlen angestrebt werden müsse (bei einer Umfrage Anfang

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Neuwahlen angestrebt werden müsse (bei einer Umfrage Anfang

September waren nur knapp 60 Prozent gegen Neuwahlen). Diese

Abneigung gegen einen Wahlkampf in einer verunsicherten politischen

Landschaft dürfte sich inzwischen eher noch verstärkt haben.

Unabhängig von dieser Stimmungslage haben natürlich die beiden

Regierungsparteien das geringste Interesse, ihre Koalition durch

Neuwahlen zu gefährden. So gesehen kommt die Zuspitzung der

Auseinandersetzung um die Neonazis der Regierung Samaras gar nicht

ungelegen. Würden allerdings die Umfragen zeigen, dass die Neonazis

den größeren Teil ihrer Stimmen verlieren, sähe die taktische

Kalkulation für die ND schon anders aus. Dann könnte sich die

Samaras-Partei ausrechnen, dass sie trotz einer erstarkten Syriza wieder

stärkste Partei werden könnte. Aber diese politische Überlebensgarantie

geben die aktuellen Umfragezahlen nicht her, und für die Pasok würden

Neuwahlen ohnehin einen weiteren Bedeutungsverlust bringen, da sich

nach den Umfrageergebnissen die Zahl ihrer Parlamentsmandate etwa

halbieren würde.

Frage 11: Wo würden die heimatlos gewordenen ChA-Wähler

hinwandern?

Ein Teil der griechischen Wähler, die in Umfragen der letzten Monate

(vor dem Fissas-Mord) ihre Präferenz für die Neonazis erklärt haben,

würden zweifellos ND wählen. Wenn aber die ChA genauso abschneiden

würde wie im Juni 2012, könnte die ND am rechten Rand des

Wählerspektrums kaum Stimmen (gegenüber den letzten Wahlen) dazu

gewinnen. Zudem gehen die meisten Wahlforscher davon aus, dass ein

größerer Teil der verschreckten ChA-Sympathisanten eher die

rechtspopulistische Partei der „Unabhängigen Hellenen“ (Anel)

bevorzugen würden. Die Anel hat in vieler Hinsicht ganz ähnliche

Positionen wie die Neonazi-Partei, das gilt vor allem in zwei für

rechtsradikale Wähler entscheidenden Fragen: Auch die Anel fordert

schärfere Maßnahmen gegen illegale Migranten bzw. ihre radikale

Abschiebung; und auch sie betrachtet die Troika in rhetorischer

Angleichung an die ChA als „Besatzungsmacht“ und will ihre

Repräsentanten (samt der Task-Force der EU-Kommission) des Landes

verweisen. Im Übrigen zeigen alle Umfragen über die Meinungen der

Wählergruppen bei fast allen wichtigen Themen, dass die Anel-Wähler

in ihrem Meinungsprofil deutlich mehr Sympathie mit der ChA zeigen

als die Anhänger aller anderen Parteien. Dazu ein Beispiel: Während 77

Prozent aller Befragten die Verhaftung der ChA-Führer für richtig

halten, sind es bei den Anel-Wählern nur 58 Prozent. Und während 73

Prozent in den Neonazis eine „Bedrohung der Demokratie“ sehen, sind

es bei den Anel-Wählern nur 52 Prozent.

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Auch auf der personellen Ebene bieten die „Unabhängigen Hellenen“ für

ChA-Wähler die „zweitbeste“ Lösung. Anel-Chef Panos Kammenos ist

ein ähnlicher rhetorischer Rabauke wie ChA-Chef Michaloliakos und

bedient sich in vielen Fragen derselben Rhetorik wie die Neonazis: etwa

wenn er gegen die Migranten hetzt oder die Regierungspolitiker als

„Volksverräter“ qualifiziert. Im Übrigen ist die Demagogie, die der aus

dem Stalle der ND entlaufene Kammenos fast täglich demonstriert,

manchmal noch bizarrer als die Hetze der Neonazis. Zum Beispiel hat er

nach der Anklage gegen die ChA-Führung vorgeschlagen, auch die

Führer der Pasok wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“

anzuklagen. Das ist für die allermeisten Griechen, bei aller Kritik an der

Korruption der Pasok-Regierungen, dann doch zu starker Tobak.

Auch zur Frage der Gewalt hat der Anel-Chef ein ähnlich lockeres

Verhältnis wie die Neonazis. Nachdem er die Bevölkerung eines

Städtischen in Nordgriechenland, wo ein kanadisches Unternehmen eine

umweltschädliche Art der Goldförderung plant, zum „Lynchen“ ihres

Bürgermeisters aufgefordert hat, läuft auch gegen Kammenos ein

Ermittlungsverfahren wegen Aufforderung zu Gewalttaten.

Übrigens halten manche Beobachter halten Kammenos, der in seinem

früheren politischen Leben nachweislich für den griechischen

Geheimdienst tätig war, ohnehin für einen politischen Provokateur mit

eigener Agenda, die letztlich stets die Linke schwächen soll. Dies zeigt

sich neuerdings auch in der Taktik, die Erfolgsaussichten und die

Glaubwürdigkeit der Syriza dadurch zu beeinträchtigen, dass er in

boshafter Weise den Linkssozialisten ein politisches Bündnis vorschlägt.

Bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2014 will er sogar eine

gemeinsame Liste Syriza-Anel aufstellen, um eine Front der „Anti-

Memorandum-Kräfte“ zu bilden. Seine Behauptung, dass darüber

bereits Kontakte mit dem Syriza-Vorsitzenden Tsipras laufen, ist nichts

anderes als ein Sprengsatz, den er ins Lager der Linken schleudert. Denn

für den größten Teil der Syriza ist ein Bündnis mit Kammenos und

seiner Anel völlig undenkbar, weil die Rechtspopulisten nicht nur

rassistisch gegen Migranten polemisieren, sondern auch eine

nationalistische Außenpolitik und dazu noch eine extrem neoliberale

Wirtschaftspolitik propagieren.

Frage 12: Wie sieht die politische Strategie der Linken

gegenüber der Chrysi Avgi aus. Haben linke Parteien oder

Gruppen vor dem Fissas-Mord jemals eine strafrechtliche

Verfolgung oder ein Parteiverbot gefordert?

Ein Parteiverbot war für die linken Kräfte nie ein Thema. Das ist auch

kein Wunder angesichts der griechischen Geschichte, da die Staatsmacht

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immer nur linke Parteien illegalisiert hat. Die Legalisierung der

kommunistischen KKE, die 1974 nach dem Fall der Militärjunta durch

die Regierung von Konstantin Karamanlis erfolgte, gilt als eine große

demokratische Errungenschaften, die entscheidend zur „Aussöhnung“

der griechischen Gesellschaft und zur Heilung der tiefen Wunden des

Bürgerkriegs beigetragen hat. Da sich die KKE nun aber in ihrem

Parteiprogramm noch streng marxistisch-leninistisch zur Diktatur des

Proletariats bekennt, würde das Kriterium der „Verfassungstreue“ unter

griechischen Verhältnissen für die gesamte Linke ein Problem

darstellen. In der Tat wäre es auch völlig absurd, eine Partei zu

verbieten, die trotz ihres revolutionären Lippenbekenntnisses eine

überaus anpasserische politische Kraft ist, die sich damit begnügt, bei

Wahlen ihre Schäfchen zusammen zu halten, und deren Führung nicht

im Traum daran denkt, auch nur einen konkreten praktischen Schritt in

Richtung der von ihr verbal propagierten „Revolution“ in Erwägung zu

ziehen.

Am konsequentesten in ihrem Engagement gegen die Neonazis zeigt sich

die Dimar. Sie wollte als Koalitionspartner der ersten Samaras-

Regierung durch ihren Justizminister ein neues, verschärftes

Antirassismus-Gesetz durchsetzen, und blieb auch nach ihrem

Ausscheiden aus der Regierung (aus Protest gegen die Abschaffung der

staatlichen Fernsehanstalt ERT) die lauteste Stimme gegen die

Neonazis. Zusammen mit der oben erwähnten Griechischen Vereinigung

für Menschenrechte haben die Dimar-Abgeordneten beharrlich

gefordert, die Gewaltakte, aber auch schon die öffentlichen Aufrufe der

Neonazis zu Gewalttaten strafrechtlich zu verfolgen. Aber auch für die

Dimar war das Instrument des Parteiverbots aus den oben dargelegten

Gründen ein Tabu.

Die Linke wird sich gründlich überlegen müssen, ob sie nicht ein

Parteiengesetz anstreben sollte, das ein reguläres Verfahren für die

Illegalisierung einer Partei vorsieht. Das würde allerdings auch eine

juristische Instanz erfordern, also etwa ein Verfassungsgericht, dass es

in Griechenland noch nicht gibt. Beide Schritte würden in jedem Fall

eine Änderung/Erweiterung der Verfassung voraussetzen, wären also

nur im Rahmen einer größeren Verfassungsreform denkbar, die in

Zeiten der ökonomischen Überlebenskrise kaum eine Chance hätte.

Sollte sich allerdings heraus stellen, dass der jetzt eingeschlagene Weg,

eine fraglos verfassungsfeindliche Partei über die Definition als

„kriminelle Vereinigung“ zu illegalisieren, auf juristischem Weg

scheitert, würde diese Frage automatisch wieder auf die Tagesordnung

kommen.

Frage 13: Stehen die eingeleiteten strafrechtlichen Verfahren

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Frage 13: Stehen die eingeleiteten strafrechtlichen Verfahren

gegen die ChA-Führung auf sicherem juristischen Grund? Und

wie gerichtsfest sind die weiteren Maßnahmen, die inzwischen

gegen die Partei der Neonazis eingeleitet wurden und zum

Beispiel deren Finanzierung aus staatlichen Geldern

betreffen?

Unsichere Beweislage

Inzwischen laufen Ermittlungsverfahren gegen neun Abgeordnete und

zahlreiche weitere Parteifunktionäre, die sich auf ganz

unterschiedliche Tatbestände beziehen (von Beteiligung am Fissas-

Mord bis hin zu Geldwäsche und illegalem Betrieb einer

Rundfunkstation). Diese einzelnen Fälle können völlig unterschiedlich

ausgehen. Für eine Verurteilung wegen Gründung einer „kriminellen

Vereinigung“, die der engeren Parteiführung droht, werden zwei

Fragen entscheidend sein, nämlich ob sich einerseits die einzelnen

strafrechtlichen Vorwürfe sich zu einer systematischen kriminellen

Betätigung summieren lassen und ob andererseits bei mehreren

Einzelfällen eine durchgehende Befehlsstruktur bis hin zu Parteichef

Michaloliakos nachzuweisen ist. Dass die Staatsanwaltschaft derzeit

zuversichtlich ist, die nötigen Beweise zusammen tragen zu können,

sagt noch nichts über die Erfolgsaussichten ihrer Anträge vor den

Gerichten. Die Schwierigkeiten mit einer solchen Beweisführung

werden sich bereits im Mordfall Fissas zeigen, der wahrscheinlich am

schnellsten vor einem Gericht landen wird. Was die anderen

Ermittlungen betrifft, so wird es sehr auf die Qualität der Zeugen und

Beweismittel ankommen. Nach den Presseberichten, die bislang über

die potentiellen Zeugen publiziert wurden, sind dabei einige Zweifel

angebracht. Demnach scheinen sich die Ermittler in erheblichem

Umfang auf Aussagen von Ex-Mitgliedern der ChA zu stützen, die in

ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurden. Deren in einigen

Zeitungen dokumentierten wörtlichen Aussagen lassen erkennen

(vorausgesetzt sie sind echt), dass sich solche Zeugen sehr auf das

Hörensagen berufen können; ein hoch in der Parteihierarchie

platzierter „whistleblower“ scheint den Ermittlungsbehörden

jedenfalls noch nicht zugelaufen zu sein.

Rechtsstaatlich bedenkliches Parteiengesetz

Ein juristisch unanfechtbares Urteil gegen die Parteispitze wäre nicht

nur wichtig, um die Existenz einer „kriminellen Vereinigung“

nachzuweisen, worauf das ganze Vorgehen gegen die Neonazis basiert.

Es wäre vor allem auch die Voraussetzung dafür, dass die bereits

erfolgten politischen Maßnahmen gegen die ChA-Parlamentsfraktion

durchgehalten werden könnten. Das betrifft vor allem die Änderung

des Parteiengesetzes, die vom Parlament am 23. Oktober mit großer

Mehrheit (235 von 300 Stimmen) beschlossen wurde. Dadurch wurde

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es möglich, die Auszahlung von 873.000 Euro an staatlichen Geldern,

die den Neonazis nach Maßgabe ihrer Wählerstimmen jährlich

zustehen, unverzüglich zu stoppen. Die ChA-Fraktion zog vor der

Abstimmung aus dem Plenum aus. Die Abgeordneten der KKE

enthielten sich der Stimme ebenso wie die der rechtspopulistischen

Anel. Für die Regierungsvorlage stimmten (fast) die gesamte Syriza-

Fraktion, obwohl die Parteiführung zunächst wesentliche Änderungen

an der Vorlage verlangt hatte.

Die beschlossene Gesetzesänderung sieht vor, dass die staatlichen

Zuwendungen an eine Partei ausgesetzt werden können, wenn „die

Führung“ einer Partei oder mindestens zehn Prozent ihrer

Abgeordneten wegen Beteiligung an einer „kriminellen Vereinigung“

oder wegen „terroristischer Akte“ unter Anklage stehen. Die Syriza

hatte zunächst verlangt, dass diese Voraussetzungen strikter gefasst

werden: Zum einen dürfe eine bloße Anklage nicht ausreichen,

vielmehr müsse eine gerichtliche Verurteilung vorliegen; zum anderen

wollte sie die Zahl der inkriminierten Abgeordneten von einem

Zehntel auf ein Fünftel der jeweiligen Fraktion anheben. In beiden

Punkten gab die Syriza nach. Eine Änderung der Regierungsvorlage

konnte sie nur in einem dritten Punkt durchsetzen: Der Gesetzestext

stellt jetzt klar, dass sich die Anklagen auf Vergehen beziehen müssen,

die „im Kontext von Parteiaktivitäten oder im Namen der Partei“

begangen wurden (was im Grunde eine Selbstverständlichkeit ist).

Die Zustimmung der Syriza war innerparteilich sehr umstritten; im

höchsten Parteigremium sollen über ein Drittel dagegen gewesen sein.

Dabei wurden auch rechtliche Einwände vorgebracht, die durchaus

plausibel klingen: Im extremen Fall reicht ein „wildgewordener“

Staatsanwalt – oder eine willkürlich agierende Regierung – aus, um

durch Erhebung unbegründeter Anklagen den politischen Gegner

finanziell zu schädigen (etwa zu Wahlkampfzeiten). Um solchen

Missbrauch zu verhindern, wäre die rechtliche Voraussetzung einer

Verurteilung (zumindest in erster Instanz) weitaus angemessener.

Die Zustimmung der Syriza-Fraktion (die nur von einer Abgeordneten

verweigert wurde) erklärt sich zweifellos aus dem Wunsch der

Parteiführung, in dieser Frage unbedingt in den „Verfassungsbogen“

der demokratischen Kräfte eingeschlossen zu sein – selbst unter

Aufgabe rechtsstaatlicher Vorbehalte. Das machte Fraktionssprecher

Dimitris Papadimoulis deutlich, als er vor der Abstimmung erklärte,

entscheidend sei für die Syriza „die politische Symbolik und die

politische Botschaft, die von dem Gesetz ausgeht“. Damit ist zugleich

benannt, was die zustimmenden Parteien mit der Gesetzesänderung

bewirken wollen – aber eben auf Kosten der rechtsstaatlichen

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bewirken wollen – aber eben auf Kosten der rechtsstaatlichen

Substanz.

Am Ende könnte ein Propagandaerfolg der Neonazis stehen

Nach dieser Abstimmung ist die Lage so: Die wahrlich absurde

Finanzierung der verfassungsfeindlichen Neonazis aus der

griechischen Staatskasse ist zunächst tatsächlich gestoppt, aber wenn

die ChA-Führung gute Anwälte findet, hat sie alle Chancen, die neuen

Bestimmungen des Parteiengesetzes erfolgreich anzufechten. Ein

Propagandaerfolg könnte sich allerdings schon früher einstellen, wenn

nämlich die Anklagen gegen die Parteiführung oder gegen ChA-

Parlamentarier nicht mit der Verurteilung einer ausreichenden Zahl

der Angeklagten enden. Dann müsste die Staatsfinanzierung der

Partei sofort wieder einsetzen, womöglich mit Nachzahlungen

inklusive entgangener Zinsen.

An dieser Stelle zeigt sich erneut, dass die fatale Kurzatmigkeit, die die

Reaktion der politischen Klasse auch auf vielen anderen Gebieten

kennzeichnet und solide durchdachte und rechtsstaatlich abgesicherte

Regelungen gerade verhindert. Und nicht nur das: Wenn zu hektische

ad-hoc-Maßnahmen sich als juristisch nicht durchsetzbar erweisen

sollten, können die Neonazis nachträglich billige Triumphe feiern.

Schon jetzt beklagt sich die ChA darüber, dass ihre Parteizentrale von

der Finanzpolizei durchsucht wurde, um Belege für einen Missbrauch

der Staatsgelder oder für eine unzureichende Buchführung zu finden,

während die anderen Parteien in dieser Hinsicht völlig unbehelligt

blieben. Und dies, obwohl es klare Anzeichen für finanzielle

„Misswirtschaft“ auch bei der Pasok und der ND gibt, die im Übrigen

bei den (staatlich kontrollierten) Banken hoch verschuldet sind, ohne

in den letzten Jahren auch nur die Zinsen bedient zu haben. Die

Gefahr, dass sich die Neonazis erfolgreich als Opfer des verfaulten

politischen Systems darstellen können, hat sich darüber hinaus mit

der Ermordung der jungen ChA-Aktivisten deutlich erhöht.

Es fehlt eine Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Rechtsextremismus

Angesichts dieser Gefahr müsste sich die politische Klasse und vor

allem die griechische Bevölkerung endlich darüber verständigen, wie

sie sich auf juristischer wie auf politischer Ebene mit dem

Rechtsextremismus in der eigenen Gesellschaft auseinandersetzt. Auf

juristischer Ebene ist wiegesagt eine Diskussion über ein

„ordentliches“ Parteiverbotsverfahren nach einwandfrei

rechtsstaatlichen Regeln unabdingbar. Das aber ist aus zwei Gründen

in der jetzigen Situation besonders schwierig: eine „rationale“

Auseinandersetzung über die Wurzeln des ChA-Rassismus und –

Chauvnismus in der eigenen Gesellschaft wird zum einen durch die

rapide materielle Verelendung blockiert. Zum anderen behindert der

seit Beginn der Krise vorherrschenden Diskurs über die zweifellos

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seit Beginn der Krise vorherrschenden Diskurs über die zweifellos

vorhandene „Schuld“ der anderen (Troika, Merkel) die Reflexion über

den eigenen Anteil an der griechischen Misere. Und damit auch die

selbstkritische Reflexion über den ganz „alltäglichen“ Nationalismus

oder „Patriotismus“, der ein fruchtbarer Wurzelgrund für die

Sympathien – aber auch für die frühere Toleranz – gegenüber dem

griechischen Rechtsextremismus ist.

Der „alltägliche“ griechische Nationalismus

Dieses Thema ist ein weites Feld, das ich an dieser Stelle nur mit

wenigen Pflöcken abstecken kann. Ich habe bereits darauf hingewiesen,

welche bedenkliche Nähe die Partei der „Unabhängigen Hellenen“

(Anel) und vor allem die Positionen des Parteichefs Kammenos

gegenüber den Neonazis aufweist, insbesondere in der Frage der

„Lösung“ des Migrantenproblems und bei der Definition der

internationalen „Feinde“ Griechenlands. In vieler Hinsicht hat die Anel

das politische Erbe inzwischen abgestorbenen rechtsradikalen Partei

„Laos“ angetreten, die sich erst 2000 als rechtsradikale „Rippe“ aus der

rechten Hüfte der Nea Dimokratia verselbständigt hat. Wobei auch die

Partei, die in derselben Zeit vom heutigen Regierungschef Samaras aus

Protest gegen die „verweichlichte“ Außenpolitik der damaligen ND-

Führung gegründet wurde, im politischen Spektrum auf dem extremen

rechten Flügel angesiedelt war.

Es gibt also starke Affinitäten – man könnte auch von einer

verschwiemelten „Grauzone“ sprechen – zwischen dem rechtsradikalen

Milieu und dem rechten Flügel der heutigen Nea Dimokratia. So gesehen

ist sehr verständlich, warum Samaras und die ND-Führung so lange

gezögert haben, das Anti-Rassismus-Gesetz zu verschärfen und zum

strafrechtlichen Instrument gegen die Neonazis auszubauen. Und

warum noch im März 2013 die ND-Fraktion gegen die Aufhebung der

parlamentarischen Immunität des ChA-Abgeordneten stimmte, der in

einer Fernsehdiskussion auf zwei Abgeordnete (der KKE und der Syriza)

eingeprügelt hatte. Für diese Affinität will gibt es viele Beispiele, auf die

ich in einem späteren Beitrag zurückkommen werde. An dieser Stelle

will ich mich auf eine exemplarische Begebenheit beschränken.

Am 19. September kam es bei der Debatte im Parlament über den Fissas-

Mord zu einem denkwürdigen Dialog. Der ND-Fraktionsvorsitzende

Makis Voridis wurde von ChA-Fraktionssprecher Christos Papas daran

erinnert, dass er in den 1980er-Jahren in der rechtsradikalen Szene

verwurzelt war und enge Kontakte mit dem heutigen ChA-Chef

Michaloliakos pflegte. Voridis entgegnete knapp, man solle sich nicht

mit den alten Zeiten beschäftigen. Die Chance, ein selbstkritisches Wort

über seine persönliche Vergangenheit zu sagen, nutzte er nicht. Dabei

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könnte es durchaus sein, dass Voridis seine schmähliche

propagandistische Tätigkeit in der rechtsradikalen Laos heute kritisch

sieht. Aber bezeichnend für die Haltung dieser womöglich „geläuterten“

ND-Politiker ist, dass sie ihren Lernprozess keineswegs als Bruch

empfinden. In der offiziellen Selbstdarstellung des ND-Parlamentariers,

der von Samaras immerhin zum Fraktionschef gemacht wurde, ist noch

heute folgender Satz nachzulesen: „Voridis hat sich seit seiner

Schülerzeit mit der Politik beschäftigt, und das stets innerhalb des

Rahmens der patriotischen Bewegung.“ Die Mitarbeit in einer Gruppe

wie der antisemitischen und rassistischen Laos-Partei ist offenbar bis

heute keine „Vergangenheit“, derer sich ein „patriotischer“ ND-Politiker

zu schämen hätte.

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