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Adam Tooze WELT IM LOCKDOWN UNKORRIGIERTE LESEPROBE Sperrfrist für Rezensionen: 16. September 2021 Die Veröffentlichung einer Rezension vor Ablauf der Sperrfrist ist nur mit vorheriger schriftlicher Genemigung des Verlags C.H.Beck erlaubt.

WELT IM LOCKDOWN - C.H.BECK

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Adam Tooze

WELT IM

LOCKDOWN

UNKORRIGIERTE LESEPROBE

Sperrfrist für Rezensionen: 16. September 2021 

Die Veröff entlichung einer Rezension vor Ablauf der Sperrfrist ist nur mit vorheriger schriftlicher Genemigung des Verlags C.H.Beck erlaubt.

Adam Tooze

WELT IM

LOCKDOWNDIE GLOBALE KRISE UND IHRE FOLGEN

Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn

C.H.Beck

Titel der englischen Originalausgabe: «Shutdown. How Covid shook the world’s economy» Erscheint 2021 bei Allen Lane, London, einem Imprint von Penguin Random House UK. © Adam Tooze, 2021

Für die deutsche Ausgabe: © Verlag C.H.Beck oHG, München 2021www.chbeck.deUmschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, HamburgSatz: Janß GmbH, PfungstadtDruck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza GmbHGedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier(hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff )Printed in GermanyWerbemittel-Nummer 258085

klimaneutral produziertwww.beck.de/nachhaltig

INHALT

Einleitung 000

TEIL I

KRANKHEIT X

000

1. Organisierte Unverantwortlichkeit 000

2. Wuhan, nicht Tschernobyl 000

3. Februar: Zeitverschwendung 000

4. März: Weltweiter Lockdown 000

TEIL II

EINE GLOBALE KRISE OHNE BEISPIEL

000

5. Im freien Fall 000

6. Noch einmal: «Whatever it takes» 000

7. Die Wirtschaft auf der Intensivstation 000

8. Der Werkzeugkasten 000

TEIL III

EIN HEISSER SOMMER

000

9. NextGenerationEU 000

10. China: Das Momentum 000

11. Amerikas nationale Krise 000

TEIL IV

INTERREGNUM

000

12. Wettlauf um den Impfstoff 000

13. Schuldenerlass 000

14. Fortgeschrittene Volkswirtschaften: Geldhähne auf! 000

Schluss 000

ANHANG

Danksagung 000

Anmerkungen 000

Register 000

ZUM BUCH

«Während der Klimawandel uns dazu veranlasste, unseren Geist auf pla-netarische Dimension auszudehnen und eine Agenda in Form von Jahr-zehnten aufzustellen, war das Virus mikroskopisch klein, allgegenwärtig und bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von Tagen und Wochen. Es betraf nicht nur Gletscher und Meeresfl uten, sondern unsere Körper. Es wurde mit unserem Atem übertragen. Es sollte nicht nur einzelne Volks-wirtschaften, sondern die gesamte Weltwirtschaft in Frage stellen.»

Adam Tooze erzählt in seinem atemberaubenden Buch die Geschichte der zwölf Monate vom Januar 2020 bis Januar 2021. Am Anfang gibt Xi Jinping der Weltöff entlichkeit bekannt, dass sich in China ein tödliches neues Virus ausbreitet. Am Ende zieht Joe Biden als Nachfolger von Donald Trump ins Weiße Haus ein. Dazwischen liegen die Schock-wellen einer verheerenden Pandemie, die keinen Kontinent, kein Land und keine Bevölkerung ungeschoren lässt. Doch der brillante Wirt-schaftshistoriker schildert nicht nur sehr präzise, wie und warum Staaten und nationale Ökonomien auf jeweils eigene Weise und mit sehr unter-schiedlichen Resultaten auf das Geschehen reagiert haben. Er tut etwas, das neu ist: Er analysiert die Pandemie im Kontext der anderen großen Krisen unserer Zeit, von der weiter schwelenden Finanzkrise über die Klimakrise bis zur Flüchtlingskrise. «Welt im Lockdown» ist eine tiefen-scharfe Diagnose der Gegenwart und ein Buch, aus dem man lernen kann, wie die globalisierte Welt funktioniert, in der wir heute leben.

© mauritius images / Iain Masterton / Alamy

ÜBER DEN AUTOR

Adam Tooze wurde in London geboren und wuchs zwischen England und Heidelberg auf. Er ist Autor der vielgepriesenen Bücher «Ökonomie der Zerstörung», «Sintfl ut» und «Crashed» und gilt als einer der führen-den Wirtschaftshistoriker unserer Zeit. Nach Stationen in Cambridge und Yale lehrt er heute als Professor für Geschichte an der Columbia University in New York. Seine Arbeiten wurden mehrfach preisgekrönt, u. a. mit dem renommierten Wolfson Preis für Geschichte sowie dem Preis «Das Historische Buch» von H-Soz-Kult. Seine Bücher wurden in elf Sprachen übersetzt.

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EINLEITUNG

Wenn es ein Wort gibt, das die Erfahrung des Jahres 2020 zusammen-fasst, dann ist es Ungläubigkeit.

Zwischen Xi Jinpings öff entlichem Eingeständnis des Coronavirus-Ausbruchs am 20. Januar 2020 und Joseph Bidens Amtseinführung als 46. Präsident der Vereinigten Staaten genau ein Jahr später, am 20. Januar 2021, wurde die Welt von einer Krankheit erschüttert, die innerhalb von zwölf Monaten mehr als 2,2 Millionen Menschen tötete und Dutzende Millionen schwer krank machte. Die Gefahr, die von ihr ausging, störte die tägliche Routine praktisch aller Menschen auf dem Planeten, brachte einen Großteil des öff entlichen Lebens zum Erliegen, führte zu Schul-schließungen, trennte Familien, unterbrach den Reiseverkehr innerhalb und zwischen Ländern und brachte die Weltwirtschaft ins Wanken. Um die Auswirkungen einzudämmen, nahm die staatliche Unterstützung für Haushalte, Unternehmen und Märkte Ausmaße an, wie es sie außerhalb von Kriegszeiten noch nicht gegeben hatte. Es handelte sich nicht nur um die bei weitem schärfste wirtschaftliche Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg, sie war auch qualitativ einzigartig. Nie zuvor hatte es eine kol-lektive Entscheidung gegeben, wie zufällig und ungleichmäßig sie auch ausfallen mochte, große Teile der Weltwirtschaft stillzulegen. Es war, wie es der Internationale Währungsfonds (IWF) ausdrückte, «eine Krise ohne Beispiel».1

Das Virus war der Auslöser. Aber noch bevor wir wussten, was uns da ereilen würde, gab es durchaus Grund zu der Annahme, dass das Jahr 2020 stürmisch werden könnte. Der Konfl ikt zwischen China und den USA kochte hoch.2 Ein «neuer Kalter Krieg» lag in der Luft. Das globale Wachstum hatte sich 2019 stark verlangsamt. Der IWF sorgte sich um die destabilisierende Wirkung, die geopolitische Spannungen auf die hoch verschuldete Weltwirtschaft haben konnten.3 Ökonomen entwickel-ten neue statistische Indikatoren, um die Unsicherheit zu erfassen, die Investitionen hemmte.4 Die Daten deuteten stark darauf hin, dass die

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Ursache der Probleme im Weißen Haus lag.5 Der 45. amerikanische Prä-sident, Donald Trump, hatte es geschaff t, sich zu einer ungesunden glo-balen Obsession zu entwickeln. Er stand im November zur Wiederwahl und schien den Wahlvorgang unter allen Umständen diskreditieren zu wollen, selbst wenn er zu einem Sieg führen sollte. Nicht umsonst lau-tete das Motto der Münchner Sicherheitskonferenz  – dem Davos für nationale Sicherheitsleute – 2020 «Westlessness».6

Neben den Sorgen um Washington lief die Uhr für die endlosen Brexit-Verhandlungen ab. Noch beunruhigender für Europa war gleich zu Beginn des Jahres 2020 die Aussicht auf eine neue Flüchtlingskrise.7 Im Hintergrund lauerten sowohl die Gefahr einer endgültigen grau-samen Eskalation des syrischen Bürgerkriegs als auch das immer drän-gendere Problem der Unterentwicklung. Die einzige Möglichkeit, dies zu beheben, bestand darin, Investitionen und Wachstum im globalen Süden anzukurbeln. Der Kapitalfl uss war jedoch sowohl instabil als auch ungleich verteilt. Ende 2019 stand die Hälfte der Kreditnehmer mit den niedrigsten Einkommen in Afrika südlich der Sahara bereits kurz vor der Zahlungsunfähigkeit.8

Und mehr Wachstum war kein Allheilmittel. Es brachte mehr Um-weltbelastungen mit sich. 2020 sollte ein entscheidendes Jahr in der Kli-mapolitik werden. Die UN-Klimakonferenz COP26 sollte nur wenige Tage nach der US-Wahl in Glasgow tagen.9 Sie sollte den fünften Jahres-tag des Pariser Klimaabkommens markieren. Sollte Trump gewinnen, was zu Beginn des Jahres durchaus möglich schien, würde die Zukunft des Planeten auf dem Spiel stehen.

Das allgegenwärtige Gefühl von Risiko und Angst, das die Weltwirt-schaft umgab, bedeutete eine bemerkenswerte Umkehrung. Noch vor nicht allzu langer Zeit schienen der scheinbare Triumph des Westens im Kalten Krieg, der Aufstieg der Finanzmärkte, die Wunder der Informa-tionstechnologie und der sich ausweitende Orbit des Wirtschaftswachs-tums die Stellung der kapitalistischen Wirtschaft als alles erobernder Triebkraft der modernen Geschichte zu zementieren.10 In den 1990er Jahren war die Antwort auf die meisten politischen Fragen scheinbar einfach gewesen: «It’s the economy, stupid!»11 Da das Wirtschaftswachs-tum das Leben von Milliarden von Menschen veränderte, gab es, wie Margaret Th atcher zu sagen pfl egte, «keine Alternative». Das heißt, es gab keine Alternative zu einer Ordnung, die auf Privatisierung, dezenter

13

Regulierung und der Freiheit des Kapital- und Warenverkehrs basierte. Noch im Jahr 2005 konnte Großbritanniens Premierminister Tony Blair erklären, über die Globalisierung zu streiten sei genauso sinnvoll wie darüber, ob auf den Sommer der Herbst folgen sollte.12

Im Jahr 2020 standen sowohl die Globalisierung als auch die Jahres-zeiten dezidiert in Frage. Die Wirtschaft war nun nicht mehr die Antwort, sondern die Frage. Die off ensichtliche Antwort auf «It’s the economy, stupid!» war «Whose economy?», «Which economy?» oder sogar «What’s the economy?». Eine Reihe tiefgreifender Krisen – beginnend in Asien in den späten 1990er Jahren über das atlantische Finanzsystem im Jahr 2008 und die Eurozone im Jahr 2010 bis zu den globalen Rohstoff produzenten im Jahr 2014 – hatte das Vertrauen in die Marktwirtschaft erschüttert.13 All diese Krisen wurden überwunden, allerdings mittels Staatsausgaben und Interventionen der Zentralbanken, die fest ver ankerte Grundsätze über «small government» und «unabhängige» Zentralbanken auf den Kopf stellten. Und wer profi tierte davon? Während die Gewinne in pri-vate Taschen fl ossen, wurden die Verluste sozialisiert. Die Krisen waren durch Spekulation ausgelöst worden. Das Ausmaß der Interventionen, die notwendig waren, um sie zu stabilisieren, war historisch. Dennoch wuchs der Reichtum der globalen Elite weiter an. Wen konnte es überraschen, so die mittlerweile gängige Frage, wenn die wachsende Ungleichheit zu populistischen Unruhen führte?14 Viele Brexiteers und Trump-Wähler wollten einfach nur «ihre» Volkswirtschaft zurückhaben.

Unterdessen raubte Chinas spektakulärer Aufstieg dem Wirtschafts-wachstum in einem anderen Sinne seine Unschuld. Es war nicht mehr klar, dass die großen Götter des Wachstums auf der Seite des Westens standen. Das, so stellte sich heraus, brachte eine zentrale Annahme ins Wanken, auf der der Washington-Konsens beruhte. Bald würde Amerika nicht mehr die Nummer eins sein. Tatsächlich wurde immer deutlicher, dass die Götter, zumindest die Naturgöttin Gaia, mit dem Wirtschafts-wachstum ganz und gar nicht einverstanden waren.15 Der Klimawandel, der einst nur die Umweltbewegung beschäftigt hatte, wurde zum Sinn-bild für ein umfassenderes Ungleichgewicht zwischen Natur und Mensch-heit. Das Gerede von «Green Deals» und gerechten Energiewenden war allgegenwärtig.

Dann, im Januar 2020, kam die Nachricht aus Peking. China sah sich mit einer ausgewachsenen Epidemie eines neuartigen Coronavirus

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konfrontiert. Zu diesem Zeitpunkt war die Sache bereits schlimmer als der Ausbruch von SARS, der einem 2003 Schauer über den Rücken ge-jagt hatte. Es war der natürliche «Blowback», vor dem Umweltschützer schon lange gewarnt hatten, aber während der Klimawandel uns dazu veranlasste, unseren Geist auf planetarische Dimensionen auszudehnen und eine Agenda in Form von Jahrzehnten aufzustellen, war das Virus mikroskopisch klein, allgegenwärtig und bewegte sich mit einer Ge-schwindigkeit von Tagen und Wochen. Es betraf nicht Gletscher und Meeresfl uten, sondern unsere Körper. Es wurde mit unserem Atem übertragen. Es sollte nicht nur einzelne Volkswirtschaften, sondern die gesamte Weltwirtschaft in Frage stellen.

I.

Das Virus, das im Januar 2020 die Bezeichnung SARS-CoV-2 erhalten sollte, war kein schwarzer Schwan, kein radikal unerwartetes, unwahr-scheinliches Ereignis. Es war vielmehr ein graues Nashorn, ein Risiko, das so selbstverständlich geworden ist, dass es unterschätzt wird.16 Als es aus dem Schatten auftauchte, hatte das graue Nashorn SARS-CoV-2 das Aussehen einer prognostizierten Katastrophe. Es war genau die Art von hochansteckender, grippeähnlicher Infektion, die Virologen vorher-gesagt hatten. Es kam von einem der Orte, die sie als Ausgangspunkt erwartet hatten  – der Fledermausregion, die sich über Ostasien er-streckt.17 Es verbreitete sich, wie vorherzusehen war, über die globalen Verkehrs- und Kommunikationskanäle. Es hatte off en gesagt ohnehin ziemlich lange gedauert.

In den Wirtschaftswissenschaften ist viel über den «China-Schock» diskutiert worden – die Auswirkungen der Globalisierung und des plötz-lichen Anstiegs der Importe aus China in den frühen 2000er Jahren auf die westlichen Arbeitsmärkte.18 SARS-CoV-2 war ein «China-Schock», und zwar ein ziemlich heftiger. Schon zu Zeiten der Seidenstraße waren Infektionskrankheiten quer durch Eurasien von Ost nach West gereist. In früheren Zeiten war ihre Ausbreitung durch das langsame Reisetempo be-grenzt gewesen. Im Zeitalter der Segelschiff fahrt starben die Krankheits-überträger meist schon unterwegs. Im Jahr 2020 bewegte sich das Corona-

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virus mit der Geschwindigkeit des Jets und des Hochgeschwindigkeitszugs. Das Wuhan des Jahres 2020 war eine wohlhabende Metropole mit vielen erst jüngst zugewanderten Bewohnern. Die Hälfte der Bevölkerung wollte die Stadt verlassen, um das chinesische Neujahrsfest zu feiern. SARS-CoV2 brauchte nur wenige Wochen, um sich von Wuhan aus in ganz China und in weiten Teilen der übrigen Welt zu verbreiten.

Ein Jahr später, Ende Januar 2021, waren mehr als 2,2 Millionen Menschen tot und die Weltwirtschaft hatte einen Zusammenbruch erlit-ten, wie wir ihn noch nie zuvor erlebt haben. In der Geschichte des modernen Kapitalismus hat es noch nie einen Moment gegeben, in dem fast 95 % der Volkswirtschaften auf der Welt gleichzeitig einen Rückgang des Pro-Kopf-BIP zu verkraften hatten, wie es in der ersten Hälfte des Jahres 2020 der Fall war.

Mehr als drei Milliarden Erwerbstätige im Erwachsenenalter wur-den in Zwangsurlaub geschickt oder mussten von zu Hause aus arbei-

Grafi k 1Ökonomien mit Schrumpfungen beim BIP pro Kopf

Hinweis: Anteil von Volkswirtschaften mit einem jährlichen Rückgang beim Pro-Kopf-BIP. Schattierte Bereiche verweisen auf eine globale Rezession. Die Zahlen für 2020 /21 sind Prognosen.Quelle: A. Kose / N. Sugawara, Understanding the depth of the 2020 global recession in 5 charts, World Bank Blogs, 15. Juni 2020.

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ten.19 Fast 1,6 Milliarden junge Menschen auf der ganzen Welt mussten ihre Ausbildung unterbrechen.20 Ganz abgesehen von der beispiellosen Erschütterung des Familienlebens schätzte die Weltbank, dass sich der Verlust an Lebenseinkommen aufgrund des entgangenen Humankapi-tals auf 10 Billionen US-Dollar belaufen könnte.21 Die Tatsache, dass die Welt kollektiv diesen Stillstand gewollt hat, unterscheidet diese Rezes-sion grundlegend von allen vorherigen. Nachzuzeichnen, wer wo und unter welchen Bedingungen die Entscheidungen getroff en hat, ist eine wichtige Aufgabe dieses Buches.

Es war, wie wir alle erfahren mussten, eine Erschütterung, die weit über alles hinausging, was sich in Statistiken über BIP, Handel und Arbeitslosigkeit erfassen lässt. Die meisten Menschen hatten noch nie eine so schwerwiegende Unterbrechung ihres Alltagslebens erlebt. Sie verursachte Stress, Depressionen und psychische Ängste. Ende 2020 widmete sich der größte Teil der wissenschaftlichen Forschung zum Th ema COVID den Auswirkungen auf die psychische Gesundheit.22

Wie die Krise erlebt wurde, hing vom jeweiligen Standort und der Nationalität ab. In Großbritannien und den USA wurde das Jahr 2020 nicht nur als Notstand im Gesundheitswesen oder als schwere Rezession erlebt, sondern als Höhepunkt einer ganzen Periode eskalierender natio-naler Krisen, die sich in die Begriff e «Trump» und «Brexit» fassen ließen. Wie konnten Länder, die sich einst der globalen Hegemonie rühmten und in Sachen öff entliche Gesundheit unangefochten führend waren, bei der Bewältigung der Pandemie so sehr versagen? Das musste Aus-druck einer tiefer liegenden Krankheit sein.23 Vielleicht war es ihre ge-meinsame Begeisterung für den Neoliberalismus? Oder die Kulmination eines jahrzehntelangen Niedergangsprozesses? Oder die Insellage ihrer politischen Kulturen?24

In der EU ist «Polykrise» ein Begriff , der im letzten Jahrzehnt in Gebrauch gekommen ist. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Jun-cker entlehnte ihn von dem französischen Komplexitätstheoretiker Edgar Morin.25 Juncker wollte damit die Krisenkonvergenz zwischen 2010 und 2016 bezeichnen, die Krise der Eurozone, den Konfl ikt in der Ukraine, die Flüchtlingskrise, den Brexit und den europaweiten Aufstieg des nationalistischen Populismus.26

Der Begriff der Polykrise erfasst das Zusammentreff en verschiedener Krisen recht genau, sagt aber nicht viel darüber aus, auf welche Weise sie

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zusammenwirken.27 Im Januar 2019 hielt Chinas Präsident Xi Jinping eine viel beachtete Rede über die Pfl icht der Kader der Kommunis-tischen Partei Chinas (KPCh), sowohl schwarze Schwäne als auch graue Nashörner zu antizipieren.28 Im selben Sommer veröff entlichten Study Times und Qiushi, die beiden Zeitschriften, über die die KPCh ihren eher intellektuellen Kadern doktrinäre Erläuterungen übermittelt, einen Aufsatz von Chen Yixin, der Xis aphoristische Beobachtungen näher er-läuterte. Chen ist ein Protegé von Xi Jinping und wurde während der Corona-Krise dazu auserkoren, die Aufräumarbeiten der Partei in der Provinz Hubei zu leiten.29 In seinem Aufsatz von 2019 stellte Chen die Frage: Wie wirkten die Risiken zusammen? Wie verwandelten sich wirt-schaftliche und fi nanzielle Risiken in politische und soziale Risiken? Wie haben sich «Cyberspace-Risiken» zu «tatsächlichen sozialen Risiken» zusammengebraut? Wie wurden externe Risiken internalisiert?

Um zu verstehen, wie sich Polykrisen entwickeln, schlug Chen vor, dass sich Chinas Sicherheitsverantwortliche auf «sechs Haupteff ekte» konzentrieren sollten.

Da China ins Zentrum der Weltbühne gerückt sei, sollten sie sich vor einem «Rückfl uss» von Interaktionen mit der Außenwelt schützen.

Gleichzeitig sollten sie auf die «Konvergenz» von oberfl ächlich be-trachtet unterschiedlichen Bedrohungen zu einer einzigen neuen Bedro-hung achten. Die Unterschiede zwischen innen und außen, neu und alt könnten leicht verschwimmen.

Neben der «Konvergenz» müsse man sich auch mit dem «Schich-tungseff ekt» auseinandersetzen, bei dem «sich die Forderungen von Inte-ressengruppen aus verschiedenen Gemeinschaften überlagern und auf diese Weise geschichtete soziale Probleme schaff en: aktuelle Probleme mit historischen Problemen, konkrete Interessenprobleme mit ideolo-gischen Problemen, politische Probleme mit unpolitischen Problemen – sie alle überschneiden und überlagern sich».

Da die Kommunikation rund um die Welt immer einfacher werde, könnten daraus «Verknüpfungseff ekte» resultieren. Gemeinschaften wür-den sich «über Entfernungen hinweg miteinander verständigen und sich gegenseitig bestärken».

Das Internet ermögliche nicht nur Rückfl uss und Verknüpfung, sondern auch die plötzliche Verstärkung von Nachrichten. Die KPCh, so warnte Chen, müsse mit dem «Vergrößerungseff ekt» rechnen, bei dem

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«jede Kleinigkeit zu einem … Strudel werden kann; ein paar Gerüchte … können leicht einen ‹Sturm im Wasserglas› erzeugen und unvermittelt einen echten ‹Tornado› in der Gesellschaft hervorrufen».

Schließlich gebe es den «Induktionseff ekt», durch den Probleme in einer Region indirekt eine wohlwollende Reaktion und Nachahmung in einer anderen Region hervorriefen, wobei sich diese Reaktion oft aus bereits bestehenden ungelösten Problemen speise.30

Wenngleich im hölzernen Stil der Kommunistischen Partei Chinas präsentiert, passt Chens Liste auf fast unheimliche Weise zu den Erfah-rungen des Jahres 2020. Das Virus war ein Beispiel für einen Rückfl uss in riesigem Ausmaß, vom ländlichen China in die Stadt Wuhan, von Wuhan in den Rest der Welt. Politiker im Westen wie auch in China hatten mit Konvergenz, Schichtung und Verknüpfung zu kämpfen. Die Black-Lives-Matter-Protestbewegung, die auf der ganzen Welt Resonanz fand, war eine gigantische Demonstration der Macht, die Vergrößerung und Induktion besitzen.31

Wenn man den ursprünglichen Kontext außer Acht lässt, könnte man Chens Checkliste für die Parteikader tatsächlich als Leitfaden für unser Privatleben lesen, als eine Selbsthilfeanleitung für die Corona-Krise. Wie viele Familien, wie viele Paare, wie viele von uns, die wir durch Quaran-täne eingeschlossen und isoliert waren, waren gegen Vergrößerungs- und Induktionseff ekte gefeit? Manchmal hatte man das Gefühl, als würde die unsichtbare Bedrohung durch das Virus die schwächsten Teile unserer Persönlichkeiten und unsere intimsten Beziehungen strapazieren.

II.

Es hat schon weitaus tödlichere Pandemien gegeben. Was im Falle von Corona 2020 dramatisch neu war, war das Ausmaß der Reaktion. Und das wirft eine Frage auf. Der Chefkommentator der Financial Times, Martin Wolf, hat sie so formuliert:

«Warum … ist der wirtschaftliche Schaden einer solchen vergleichsweise milden Pandemie so groß? Die Antwort lautet: Weil es möglich war. Wohl-habende Menschen können leicht auf einen großen Teil ihrer normalen

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täglichen Ausgaben verzichten, während ihre Regierungen betroff ene Men-schen und Unternehmen in großem Umfang unterstützen können. Das ist auch das, was die Menschen von Regierungen erwarten. Die Reaktion auf die Pandemie ist ein Spiegelbild der heutigen wirtschaftlichen Möglich-keiten und gesellschaftlichen Werte, zumindest in den reichen Ländern. Wir sind bereit, einen enormen Preis zu zahlen, um Pandemien einzu-dämmen.»32

Tatsächlich ist eines der bemerkenswerten Dinge im Jahr 2020, dass auch die Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen bereit waren, einen hohen Preis zu zahlen. Anfang April war der Großteil der Welt außerhalb Chinas, wo das Virus bereits eingedämmt war, an einer beispiellosen Anstrengung beteiligt, das Virus zu stoppen. Ein hager aus-sehender Lenín Moreno, Präsident von Ecuador, einem der am stärksten betroff enen Länder, hat das so ausgedrückt: «Das ist der echte erste Weltkrieg. … Die anderen Weltkriege fanden auf [einigen] Kontinenten mit sehr wenig Beteiligung von anderen Kontinenten statt … aber das hier betriff t alle. Es ist nicht lokal begrenzt. Es ist ein Krieg, dem man nicht entkommen kann.»33

Wenn es ein Krieg war, dem man nicht entkommen konnte, so war es doch ein Krieg, für den man sich entscheiden musste. Und genau das rechtfertigt es tatsächlich, das Jahr 2020 als eine Krise zu bezeichnen. In seiner ursprünglichen Bedeutung beschreibt Krise oder krisis (griechisch) einen kritischen Wendepunkt im Verlauf einer Krankheit. Sie steht mit dem Wort krino in Verbindung, das «trennen», «entscheiden» oder «be-urteilen» bedeutet, wovon wir die Wörter Kritik und Kriterium, den Maßstab für ein Urteil, ableiten.34 Es scheint daher ein doppelt passen-der Ausdruck zu sein, um die Auswirkungen eines Virus zu beschreiben, das den Menschen, den Organisationen, den Regierungen auf allen Ebenen, überall auf der Welt, eine Reihe von gewaltigen und äußerst schwierigen Entscheidungen aufzwingt.

Lockdown ist der Begriff , der sich eingebürgert hat, um unsere kol-lektive Reaktion zu beschreiben. Das Wort selbst ist umstritten. Denn Lockdown suggeriert Zwang. Vor 2020 war es ein Begriff , der mit kol-lektiver Bestrafung in Gefängnissen assoziiert wurde. Es gab Momente und Orte, an denen das eine zutreff ende Beschreibung für die Reaktion auf COVID war. In Delhi, in Durban, in Paris patrouillierten bewaff -

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nete Polizisten durch die Straßen, nahmen Namen und Nummern auf und bestraften diejenigen, die gegen die Ausgangssperre verstießen.35 In der Dominikanischen Republik wurden erstaunliche 85 000 Menschen, fast ein Prozent der Bevölkerung, wegen Verstößen gegen den Lockdown verhaftet.36

Selbst wenn keine Zwangsgewalt im Spiel war, konnte eine von der Regierung verordnete Schließung aller Lokale und Bars für deren Be-sitzer und Kunden repressiv wirken. Verfolgt man jedoch den weiteren Verlauf der Ereignisse und konzentriert sich, wie in diesem Buch, auf die wirtschaftliche Reaktion auf die Pandemie, so scheint Lockdown eine einseitige Beschreibung der Reaktion auf Corona zu sein. Die Mobilität nahm schlagartig ab, lange bevor die Regierung Anordnungen erließ. Das ist wörtlich und metaphorisch gemeint. Auf den Finanzmärkten be-gann die Flucht in die Sicherheit bereits Ende Februar. Es gab keinen Gefängniswärter, der die Tür zuschlug und den Schlüssel umdrehte. Die Investoren gingen in Deckung. Die Verbraucher blieben zu Hause. Un-ternehmen schlossen oder verlegten sich auf Heimarbeit. Textilarbeite-rinnen in Bangladesch wurden von ihren Arbeitsplätzen ausgesperrt, bevor sie angewiesen wurden, zu Hause zu bleiben. Manchmal folgten staatliche Maßnahmen auf private Entscheidungen. Manchmal nahmen sie diese vorweg. Mitte März handelte die ganze Welt unter dem Zwang der gegenseitigen Beobachtung und Nachahmung. Das Herunterfahren, der Shutdown wurde zur Norm. Diejenigen, die sich außerhalb des natio nalen Territorialraums befanden, wie Hunderttausende von See-leuten, fanden sich in einen schwimmenden Schwebezustand verbannt.

Wenn ich hier den Begriff «Shutdown» verwende, will ich damit die Frage, wer was wo und wie entschieden hat und wer wem was auferlegt hat, off en halten. Der Verzicht auf den Begriff «Lockdown» soll nicht bedeuten, dass der Prozess freiwillig oder eine Angelegenheit des indivi-duellen freien Willens war, denn das war er sicherlich nicht. Ziel dieses Buches ist es, die Interaktion zwischen erzwungenen Entscheidungen nachzuzeichnen, die im wirtschaftlichen Bereich unter Bedingungen enormer Ungewissheit auf verschiedenen Ebenen überall auf der Welt getroff en wurden, von den Einkaufsstraßen bis zu den Zentralbanken, von Familien bis zu Fabriken, von Favelas bis zu Tradern, die gestresst an improvisierten Arbeitsplätzen in ihrem Vorstadthaus hockten. Entschei-dungen waren von Angst getrieben oder wurden durch wissenschaftliche

21

Vorhersagen erzwungen. Sie wurden durch staatliche Anordnungen oder soziale Konventionen erforderlich. Aber sie konnten auch durch die Be-wegung von Hunderten von Milliarden Dollar motiviert sein, die durch winzige, fl ackernde Bewegungen bei den Zinssätzen angetrieben wurde.

Die weit verbreitete Verwendung des Begriff s «Lockdown» ist ein Indiz dafür, als wie umstritten sich die Politik des Virus erweisen sollte. Gesellschaften, Gemeinschaften, Familien stritten erbittert über Ge-sichtsmasken, Social Distancing und Quarantäne. Dabei ging es oftmals scheinbar oder tatsächlich um existenzielle Dinge. Es war schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden. Das Ganze war ein Beispiel im gro-ßen Stil für das, was der Soziologe Ulrich Beck in den 1980er Jahren als «Risikogesellschaft» bezeichnet hat.37 Als Folge der Entwicklung der modernen Gesellschaft sahen wir uns kollektiv von einer unsichtbaren, nur für die Wissenschaft sichtbaren Bedrohung verfolgt, einem Risiko, das so lange abstrakt und immateriell blieb, bis man erkrankte und die, die Pech hatten, an der sich in der Lunge ansammelnden Flüssigkeit erstickten.

Eine Möglichkeit, auf eine solche Risikosituation zu reagieren, ist der Rückzug in die Leugnung. Das kann durchaus funktionieren. Es wäre naiv, etwas anderes zu glauben. Es gibt viele allgegenwärtige Krank-heiten und soziale Übel, darunter viele, die in großem Umfang Leben kosten, die ignoriert und naturalisiert, als «Tatsachen des Lebens» be-handelt werden. Mit Blick auf die größten Umweltrisiken, insbesondere den Klimawandel, könnte man sagen, dass unsere normale Herangehens-weise Leugnung und vorsätzliche Ignoranz im großen Stil sind.38 Selbst dringende medizinische Notfälle wie Pandemien, bei denen es um Le-ben und Tod geht, werden durch Politik und Macht gefi ltert. Angesichts von Corona hätten einige eindeutig eine Strategie der Leugnung bevor-zugt. Das hat etwas von einem Glücksspiel. Es riskiert eine plötzliche, skandalöse Politisierung. Das Für und Wider wurde immer wieder ab-gewogen. Oftmals erklärten sich die Befürworter des «Aussitzens» und «Durchstehens» gerne zu Verteidigern des gesunden Menschenverstan-des und des Realismus, nur um dann festzustellen, dass ihre kaltblütige Abgeklärtheit in der Th eorie überzeugender war als in der Praxis.

Sich der Pandemie zu stellen war das, was die große Mehrheit der Menschen auf der ganzen Welt zu tun versuchte. Das Problem aber ist, wie Beck betonte, dass es leichter gesagt als getan ist, mit modernen

22

Makrorisiken fertigzuwerden.39 Es erfordert eine Verständigung darüber, was das Risiko ist, das die Wissenschaft in unsere Auseinandersetzungen verstrickt und uns übrige mit der Ungewissheit der Wissenschaft belas-tet.40 Es erfordert auch eine selbstrefl exive kritische Auseinandersetzung mit unserem eigenen Verhalten und mit der gesellschaftlichen Ordnung, zu der es gehört. Es erfordert die Bereitschaft, sich mit politischen Ent-scheidungen auseinanderzusetzen, mit Entscheidungen über die Vertei-lung von Ressourcen und Prioritäten auf allen Ebenen. Das läuft dem in den letzten vierzig Jahren vorherrschenden Wunsch zuwider, genau das zu vermeiden, zu entpolitisieren, Märkte oder das Gesetz zu nutzen, um solchen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen.41 Das ist die grund-legende Stoßrichtung hinter dem, was wir als «Neoliberalismus» oder Marktrevolution kennen  – Verteilungsfragen zu entpolitisieren, ein-schließlich der sehr ungleichen Folgen gesellschaftlicher Risiken, egal ob diese auf strukturelle Veränderungen in der globalen Arbeitsteilung, Umweltschäden oder Krankheiten zurückzuführen sind.42

Corona entlarvte grell unseren institutionellen Mangel an Vorberei-tung, das, was Beck unsere «organisierte Unverantwortlichkeit» genannt hat. Es off enbarte die Schwäche grundlegender staatlicher Verwaltungs-apparate, wie etwa aktueller Einwohnerregister und staatlicher Daten-banken. Um der Krise zu begegnen, bedurften wir einer Gesellschaft, die der Fürsorge einen viel höheren Stellenwert einräumt.43 Von unerwar-teter Seite wurde lautstark nach einem «neuen Gesellschaftsvertrag» ge-rufen, der die unverzichtbaren Arbeitskräfte angemessen würdigen und die Risiken berücksichtigen sollte, die der globalisierte Lebensstil der Wohlhabendsten mit sich bringt.44 Wie die Programme für einen Green New Deal, die seit Beginn des Jahrtausends immer wieder auftauchten, sollten solche großen Entwürfe inspirierend wirken.45 Sie sollten mobili-sieren. Sie warfen die Machtfrage auf. Wenn es einen neuen Gesellschafts-vertrag geben sollte, wer sollte ihn schließen?

23

III.

Viele der Rufe nach großen gesellschaftlichen Reformen hatten 2020 einen seltsamen Beigeschmack. Als die Corona-Krise über uns herein-brach, war die Linke auf beiden Seiten des Atlantiks, zumindest der Teil, der von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders befeuert worden war, gerade dabei, eine Niederlage zu erleiden. Das Versprechen einer radikalisierten und wiedererstarkten Linken, die sich um die Idee des Green New Deal herum organisierte, schien sich in der Pandemie aufzulösen. Es fi el den Regierungen vor allem der Mitte und der Rechten zu, der Krise zu be-gegnen. Sie bildeten eine seltsame Truppe. Jair Bolsonaro in Brasilien, Donald Trump in den Vereinigten Staaten und Andrés Manuel López Obrador (gerne abgekürzt AMLO) in Mexiko versuchten es mit Leug-nung. Für sie gingen Klimawandelskepsis und Virusskepsis Hand in Hand. Nationalistische Machthaber wie Rodrigo Duterte auf den Philip-pinen, Narendra Modi in Indien, Wladimir Putin in Russland und Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei leugneten das Virus nicht, sondern ver-trauten vor allem auf ihren Appell an nationale Gefühle und ihre Ein-schüchterungstaktik, um sich durchzusetzen. Es waren die gemäßigten Führungspersönlichkeiten der politischen Mitte, die am meisten unter Druck standen. Figuren wie Nancy Pelosi und Chuck Schumer in den USA oder Sebastián Piñera in Chile, Cyril Ramaphosa in Südafrika, Emmanuel Macron, Angela Merkel, Ursula von der Leyen und ihres-gleichen in Europa. Sie akzeptierten die Wissenschaft. Leugnen war für sie keine Option. Sie wollten unbedingt zeigen, dass sie besser waren als die «Populisten». Um der Krise zu begegnen, taten ganz gewöhnliche Politiker am Ende sehr radikale Dinge. Das meiste davon war Improvi-sation und Kompromiss, aber soweit es ihnen gelang, ihren Antworten einen programmatischen Anstrich zu geben – sei es in Form des Next-Gen-Programms der EU oder Bidens «Build Back Better»-Programms im Jahr 2020 –, stammten sie aus dem Repertoire der grünen Moder-nisierung, der nachhaltigen Entwicklung und des Green New Deal.

Das Ergebnis war eine bittere historische Ironie. Während die Ver-fechter des Green New Deal eine politische Niederlage einstecken muss-ten, bestätigte das Jahr 2020 auf durchschlagende Weise den Realismus ihrer Diagnose. Es war der Green New Deal, der die Dringlichkeit enor-mer ökologischer Herausforderungen direkt adressiert und sie mit Fra-

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gen extremer sozialer Ungleichheit verknüpft hatte. Es war der Green New Deal, der darauf bestand, dass sich Demokratien bei der Bewälti-gung dieser Herausforderungen nicht von konservativen fi nanz- und geldpolitischen Doktrinen lähmen lassen durften, die aus den längst ver-gangenen Schlachten der 1970er Jahre stammten und durch die Finanz-krise von 2008 diskreditiert worden waren. Es war der Green New Deal, der tatkräftige, engagierte, zukunftsorientierte, junge Bürger mobilisiert hatte, von denen die Demokratie eindeutig abhing, wenn sie eine hoff -nungsvolle Zukunft haben sollte. Der Green New Deal hatte natürlich auch gefordert, dass ein System, das Ungleichheit, Instabilität und Kri-sen produzierte und reproduzierte, radikal reformiert werden sollte, an-statt unablässig daran herumzufl icken. Für die Politiker der Mitte war das eine Herausforderung. Aber ein Reiz der Krise bestand darin, dass man langfristige Zukunftsfragen beiseiteschieben konnte. 2020 ging es einzig und allein ums Überleben.

Die unmittelbare wirtschaftspolitische Reaktion auf den Corona-Schock knüpfte direkt an die Lehren von 2008 an. Die Fiskalpolitik war noch umfangreicher und schneller. Die Interventionen der Zentral-banken fi elen noch spektakulärer aus. Wenn man beides gedanklich mit-einander verknüpfte  – Fiskal- und Geldpolitik  –, bestätigte es die wesentlichen Einsichten ökonomischer Doktrinen, die einst von radi-kalen Keynesianern vertreten worden waren und von Lehren wie der Modern Monetary Th eory (MMT) neu in Mode gebracht wurden.46 Die Staatsfi nanzen sind nicht wie die eines Haushalts begrenzt. Wenn ein monetärer Souverän die Frage, wie die Finanzierung zu organisieren ist, als etwas behandelt, das mehr ist als eine technische Angelegenheit, ist das seinerseits eine politische Entscheidung. Wie Keynes einst mitten im Zweiten Weltkrieg seine Leser erinnerte: «Alles, was wir tatsächlich tun können, können wir uns auch leisten.»47 Die eigentliche Heraus-forderung, die wirklich politische Frage bestand darin, sich darauf zu verständigen, was wir tun wollten, und herauszufi nden, wie wir es tun sollten.

Die wirtschaftspolitischen Experimente des Jahres 2020 waren nicht auf die reichen Länder beschränkt. Begünstigt durch die von der Fed freigesetzte Dollarschwemme, aber auch gestützt auf jahrzehntelange Erfahrungen mit schwankenden globalen Kapitalströmen, zeigten viele Regierungen der Schwellenländer als Reaktion auf die Krise bemerkens-

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werte Initiative. Sie setzten ein ganzes Instrumentarium an Maßnahmen ein, das es ihnen ermöglichte, sich gegen die Risiken der globalen Finanz-integration abzusichern.48 Ironischerweise ließ Chinas größerer Erfolg bei der Viruskontrolle seine Wirtschaftspolitik, anders als 2008, relativ konservativ erscheinen. Länder wie Mexiko und Indien, in denen sich die Pandemie schnell ausbreitete, die Regierungen aber nicht mit einer groß angelegten Wirtschaftspolitik reagierten, wirkten zunehmend un-zeitgemäß. 2020 wurden wir Zeugen eines aufsehenerregenden Spekta-kels, als der IWF eine vermeintlich linke mexikanische Regierung dafür kritisierte, kein ausreichend großes Haushaltsdefi zit zu haben.49

Es war schwer, sich des Gefühls zu erwehren, an einem Wendepunkt angelangt zu sein. War dies endlich der Tod der Orthodoxie, die seit den 1980er Jahren in der Wirtschaftspolitik vorgeherrscht hatte? War dies das Totenglöcklein des Neoliberalismus?50 Als kohärente Ideologie des Regie-rens vielleicht. Die Vorstellung, dass die natürliche Umwelt als Umhül-lung wirtschaftlicher Aktivität ignoriert oder den Märkten zur Regulie-rung überlassen werden könnte, war eindeutig realitätsfremd. Gleiches galt für die Vorstellung, dass sich die Märkte in Bezug auf alle denkbaren sozialen und wirtschaftlichen Schocks selbst steuern könnten. Noch dringlicher als im Jahr 2008 diktierte das Überleben Interventionen in einem Ausmaß, wie es zuletzt im Zweiten Weltkrieg zu beobachten ge-wesen war.

All dies ließ die doktrinären Ökonomen nach Luft schnappen. Das ist an sich nicht überraschend. Das orthodoxe Verständnis von Wirt-schaftspolitik war schon immer unrealistisch. Als Praxis der Macht war der Neoliberalismus immer radikal pragmatisch gewesen. Seine wirkliche Geschichte war die einer Reihe von staatlichen Interventionen im Inte-resse der Kapitalakkumulation, einschließlich des Einsatzes staatlicher Gewalt, um Widerstände auszuschalten.51 Wie auch immer die doktri-nären Drehungen und Wendungen aussehen mochten: die gesellschaft-lichen Realitäten, mit denen die Marktrevolution seit den 1970er Jahren verwoben war – der tief verwurzelte Einfl uss des Reichtums auf Politik, Recht und Medien, die Entmachtung der Arbeiter  –, blieben allesamt bestehen. Und welche historische Kraft war es, welche die Deiche der neoliberalen Ordnung zum Bersten brachte? Die Geschichte, die wir in diesem Buch nachzeichnen werden, ist nicht die eines Wiederaufl ebens des Klassenkampfs oder einer radikalen populistischen Herausforderung.

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Was den Schaden anrichtete, war das wuchtige Schwungrad der Finanz-akkumulation.52

Im Jahr 2008 war die Krise durch die Überexpansion der Banken und die Exzesse der Verbriefung von Hypotheken ausgelöst worden. Im Jahr 2020 traf Corona das Finanzsystem von außen, doch die Fragilität, die dieser Schock sichtbar werden ließ, war intern erzeugt. Diesmal waren nicht die Banken das schwache Glied, sondern die Wertpapier-märkte selbst. Der Schock traf das Herz des Systems, den Markt für amerikanische Staatsanleihen, die vermeintlich sicheren Vermögens-werte, auf denen die gesamte Kreditpyramide basiert. Wäre dieser Markt zusammengebrochen, hätte er den Rest der Welt mit sich gerissen. In der dritten Märzwoche 2020 befanden sich die City of London und Europa in der Krise. Wieder einmal schusterten die Fed, das US-Finanzministe-rium und der Kongress ein Flickwerk von Interventionen zusammen, die einen Großteil des privaten Kreditsystems wirksam stützten. Dieser Eff ekt strahlte durch das dollarbasierte Finanzsystem auf die übrige Welt aus. Was auf dem Spiel stand, war das Überleben eines globalen Netz-werks des marktbasierten Finanzsystems, das Daniela Gabor treff end als «Wall-Street-Konsens» bezeichnet hat.53

Das Ausmaß der stabilisierenden Interventionen im Jahr 2020 war beeindruckend. Es bestätigte die grundlegende Aussage des Green New Deal, dass demokratische Staaten, wenn der Wille vorhanden ist, über die nötigen Instrumente verfügen, um Kontrolle über die Wirtschaft aus-zuüben. Das war freilich eine zweischneidige Erkenntnis, denn wenn diese Interventionen eine Behauptung souveräner Macht waren, so waren sie doch krisengetrieben.54 Wie 2008 dienten sie den Interessen derjeni-gen, die am meisten zu verlieren hatten. Diesmal wurden nicht nur ein-zelne Banken, sondern ganze Märkte für «too big to fail» erklärt.55 Um diesen Kreislauf von Krise und Stabilisierung zu durchbrechen und Wirt-schaftspolitik zu einer echten Übung in demokratischer Souveränität zu machen, wäre eine grundlegende Reform an Haupt und Gliedern er-forderlich. Das würde eine echte Machtverschiebung erfordern, doch die Chancen dafür standen schlecht.

Die Marktrevolution der 1970er Jahre war zweifellos eine Revo lution der ökonomischen Ideen – Milton Friedman und Friedrich von Hayek gegen John Maynard Keynes –, aber sie war weit mehr als das. Der von Th atcher und Reagan geführte Krieg gegen die Infl ation war ein umfas-

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sender Feldzug gegen eine Bedrohung durch soziale Umwälzungen, die sie als von außen und von innen kommend sahen. Seine Dringlichkeit hatte damit zu tun, dass der Klassenkampf in Europa, Asien und den USA in den 1970er und frühen 1980er Jahren immer noch von den glo-balen Kämpfen der Entkolonialisierung und des Kalten Krieges um-rahmt war.56 Verschärft wurde das Ganze, als der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems zwischen 1971 und 1973 das Geld vom Gold löste und die Tür für eine expansive Wirtschaftspolitik öff nete. Um die-ses Risiko einzudämmen, mussten die Grenzen von Staat und Gesell-schaft neu gezogen werden. In diesem Kampf bestand der entscheidende institutionelle Schritt darin, die Kontrolle des Geldes von der demokra-tischen Politik zu isolieren, indem man sie unabhängigen Zentralbanken unterstellte. Wie Rudiger Dornbusch vom MIT, einer der einfl ussreichs-ten Ökonomen seiner Generation, es im Jahr 2000 formulierte, ging es in den «letzten 20 Jahren, seit dem Aufstieg unabhängiger Zentral-banken, darum, die Prioritäten richtig zu setzen, demokratisches Geld loszuwerden, das immer kurzsichtiges, schlechtes Geld ist».57

Das hat eine bittere Implikation. Wenn die Zentralbanken seit 2008 ihren Aufgabenbereich massiv ausgeweitet haben, so geschah dies aus der Not heraus, um die Instabilität des Finanzsystems einzudämmen. Aber politisch war das möglich, ja es konnte sogar ohne großes Aufhebens geschehen, weil die Schlachten der 1970er und 1980er Jahre gewonnen worden waren. Die Bedrohung, die Dornbuschs Generation verfolgte, hatte sich verfl üchtigt. Die Demokratie war nicht mehr die Gefahr, die sie in den Kampfj ahren des Neoliberalismus gewesen war. In der Wirt-schaftspolitik drückte sich das in der verblüff enden Erkenntnis aus, dass es keine Infl ationsgefahr gab. Bei allem zentristischen Händeringen über den «Populismus» war der Klassenantagonismus entkräftet, der Lohn-druck war minimal, Streiks gab es nicht.

Die massiven wirtschaftspolitischen Eingriff e des Jahres 2020 waren wie die des Jahres 2008 janusköpfi g. Einerseits sprengte ihr Ausmaß die Fesseln neoliberaler Zurückhaltung, und ihre ökonomische Logik be-stätigte die grundlegende Diagnose der interventionistischen Makro-ökonomie bis zurück zu Keynes. Sie konnten nur als Vorboten eines neuen Regimes jenseits des Neoliberalismus erscheinen. Andererseits wurden diese Eingriff e von oben nach unten vorgenommen. Sie waren politisch nur deshalb denkbar, weil es keine Herausforderung von links

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gab, und ihre Dringlichkeit war bedingt durch die Notwendigkeit, das Finanzsystem zu stabilisieren. Und sie haben geliefert. Im Jahr 2020 soll-ten die wohlhabendsten Haushalte in den Vereinigten Staaten dank der Wiederbelebung der Finanzmärkte von einem schwindelerregenden Zu-wachs des Nettovermögens in Höhe von 12,5 Billionen Dollar profi tie-ren, dem größten jemals verzeichneten Anstieg.58

Wenn das tatsächlich ein «neuer Gesellschaftsvertrag» war, dann war es eine erschreckend einseitige Angelegenheit. Dennoch wäre es falsch, in der Reaktion auf die Krise von 2020 nichts weiter als eine eskalierende Ausplünderung zu sehen. Politiker der Mitte, die um ihr politisches Überleben kämpften, konnten die massive Wucht der sozialen und wirt-schaftlichen Krise nicht ignorieren. Die Bedrohung durch die nationalis-tische Rechte war ernst. Der Ruf nach mehr gesellschaftlicher Solidarität für eine Wiederherstellung der nationalen Wirtschaft stieß auf echte Re-sonanz. Obwohl sie in der Minderheit war, wurde die «grüne» politische Bewegung zunehmend zu einer Kraft, mit der man rechnen musste.59 Während die Rechte mit starken Emotionen spielte, war die strategische Analyse, die von den Befürwortern des Green New Deal angeboten wurde, sehr präzise, und intelligente Politiker der Mitte wussten das. Die Führung der EU oder der US-Demokraten hatte vielleicht nicht den Mumm für Strukturreformen, aber sie erkannte den Zusammenhang zwischen der Moderne, der Umwelt, dem unausgewogenen und instabi-len Wirtschaftswachstum und der Ungleichheit. Die Fakten waren schließlich so eklatant, dass es eines bewussten Willensaktes bedurfte, sie zu ignorieren. Das Jahr 2020 war also nicht nur ein Moment des Plün-derns, sondern auch ein Moment des reformorientierten Experimentie-rens. Als Reaktion auf die drohende soziale Krise wurden in Europa, in den USA und in vielen Schwellenländern neue Formen der sozialstaat-lichen Fürsorge erprobt. Und auf der Suche nach einer positiven Agenda nahmen sich die Politiker der Mitte der Umweltpolitik und der Frage des Klimawandels an wie nie zuvor. Entgegen der Befürchtung, Corona würde von anderen Prioritäten ablenken, wurde die politische Ökono-mie des Green New Deal zum Mainstream. «Grünes Wachstum», «Build back better», «Green Deal»  – die Schlagworte variierten, aber sie alle brachten die grüne Modernisierung als gemeinsame Antwort der poli-tischen Mitte auf die Krise zum Ausdruck.60

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IV.

2020 machte deutlich, wie abhängig die Wirtschaft von der Stabilität ihrer natürlichen Umgebung war. Eine winzige Virusmutation in einer Mikrobe konnte die gesamte Weltwirtschaft bedrohen. Es legte auch off en, wie im Extremfall das gesamte Geld- und Finanzsystem auf die Unterstützung von Märkten und Lebensgrundlagen ausgerichtet werden konnte, wodurch die Frage aufgeworfen wurde, wer wie unterstützt wurde. Beide Schocks rissen Trennlinien ein, die für die politische Öko-nomie des letzten halben Jahrhunderts grundlegend waren, Linien, die die Wirtschaft von der Natur, die Ökonomie von der Sozialpolitik und von der Politik an sich trennten. Hinzu kam eine dritte Verschiebung, die im Jahr 2020 die Grundannahmen des neoliberalen Zeitalters end-gültig aufl öste: der Aufstieg Chinas.

Nach den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen war es nicht überraschend, dass das Virus aus China kam. Die rasche zoo-notische Mutation war das vorhersehbare Ergebnis der biologischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in der Provinz Hubei. Dies als einen natürlichen Prozess zu bezeichnen, verschleierte das Ausmaß, in dem er von wirtschaftlichen und sozialen Faktoren angetrieben wurde, aber es gab immer auch diejenigen, die glaubten, dass mehr dahinter steckte. Die plausibelste alternative Th eorie war die Ansicht, das Virus sei versehentlich aus einer biologischen Forschungseinrichtung in China entwichen.61 Das Ganze wäre demnach ein Vorfall im Stil von Tscherno-byl, allerdings in globalem Ausmaß und besser vertuscht, ein Beispiel für die Risikogesellschaft, aber ein Fall von versuchter Beherrschung der Natur, der schiefgegangen ist, im Gegensatz zur fahrlässigen Produktion von gefährlichen Nebeneff ekten. Noch alarmistischer war die Ansicht, das Virus stamme aus einem Programm zur biologischen Kriegsführung, und Peking habe seine Verbreitung absichtlich zugelassen, um die west-lichen Gesellschaften zu destabilisieren.62 Peking trug zu solcherlei Speku-lationen bei, indem es sich allen Versuchen widersetzte, eine unabhängige internationale Untersuchung zuzulassen, und eigene konspirative Gegen-thesen in Umlauf brachte.63 Unabhängig davon, welche Inter pretation man vertrat, ging es bei diesen Th eorien um mehr als um das Virus und seine Herkunft. Sie waren gleichzeitig Interpretationen der Globalisie-rung und des Aufstiegs Chinas. Diese Verfl echtung von Ängsten war neu.

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Als Tony Blair 2005 über die Kritiker der Globalisierung spottete, waren es deren Ängste, über die er sich lustig machte. Ihrer Ängstlichkeit stellte er die affi rmative, modernisierungsfreudige Energie der asia tischen Nationen gegenüber, für die die Globalisierung einen hellen Horizont darstellte. Die globalen Sicherheitsbedrohungen, die Blair erkannte, waren der islamische Terrorismus und die Massenvernichtungswaff en von Saddam Hussein. Sie waren unangenehm. Wenn sie tatsächlich real waren, konnten sie ein massenhaftes Sterben verursachen. Sie waren Symptome einer aus den Fugen geratenen Globalisierung. Aber obwohl sie den Status quo in Frage stellten, hatten beide keine Aussichten, ihn tatsächlich zu verändern. Genau darin lag ihre selbstmörderische, welt-fremde Irrationalität. Im Jahrzehnt nach 2008 ging genau dieses Ver-trauen in die Robustheit des Status quo verloren.

Das wiederaufstrebende Russland, das durch die globalen Öl- und Gasexporte gestärkt wurde, entlarvte als Erster die geopolitische Un-schuld der Globalisierung. Russlands Herausforderung war begrenzt, die von China war es nicht. Beginnend mit dem «Pivot to Asia» der Obama-Regierung im Jahr 2011 rückte China zunehmend in den Mittelpunkt.64 Im Dezember 2017 veröff entlichten die USA ihre neue Nationale Sicher-heitsstrategie, die erstmals den indopazifi schen Raum als entscheidende Arena des Großmachtwettstreits bezeichnete.65 Im März 2019 veröff ent-lichte die EU ein Strategiepapier mit demselben Inhalt.66 2020 folgten das französische und das deutsche Außenministerium.67 Großbritannien vollzog unterdessen einen außergewöhnlichen Schwenk: Hatte man in London zunächst ein neues «goldenes Zeitalter» der chinesisch-britischen Beziehungen ausgerufen, entsandte man nun einen Flugzeugträger ins Südchinesische Meer.68

Die militärische Logik war vertraut. Alle Großmächte sind Rivalen, so zumindest die «realistische» Logik. Im Falle Chinas kam noch der Fak-tor der Ideologie hinzu. Im Jahr 2021 tat die KPCh etwas, was ihr sowje-tisches Pendant nie geschaff t hatte: Sie feierte ihr hundertjähriges Beste-hen. Peking machte keinen Hehl daraus, dass es an einem ideologischen Erbe festhielt, das über Marx und Engels bis zu Lenin, Stalin und Mao reichte. Xi Jinping hätte kaum nachdrücklicher auf die Notwendigkeit hinweisen können, an dieser Tradition festzuhalten, und er hätte Gorbat-schow nicht deutlicher verurteilen können, weil er die Kontrolle über den ideologischen Kompass der Sowjetunion verloren hatte.69 Der «neue»

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Kalte Krieg war demnach in Wirklichkeit die Wiederbelebung des «alten» Kalten Krieges, also des Kalten Krieges in Asien, den der Westen im Grunde nie gewonnen hatte.

Es gab jedoch zwei spektakuläre Unterschiede zwischen altem und neuem Kalten Krieg. Der erste war die Wirtschaft. China war die Bedro-hung, die es war, infolge des spektakulärsten Wirtschaftsbooms der Ge-schichte. Das hatte einigen in der Produktion beschäftigten Arbeitern im Westen geschadet, doch Unternehmen und Verbraucher in der gesamten westlichen Welt und darüber hinaus hatten immens von Chinas Entwick-lung profi tiert und würden in Zukunft noch mehr profi tieren. Das sorgte für ein Dilemma. Ein wiederbelebter Kalter Krieg mit China ergab in jeglicher Hinsicht Sinn, nur dummerweise nicht für die Wirtschaft.

Die zweite grundlegende Neuerung waren die globale Umweltprob-lematik und die Rolle des Wirtschaftswachstums bei deren Beschleuni-gung. Als die globale Klimapolitik in den 1990er Jahren zum ersten Mal in ihrer modernen Form auftauchte, stand sie im Zeichen des unipolaren Moments. Die Vereinigten Staaten waren der größte und widerspens-tigste Verschmutzer. China war arm, und seine Emissionen spielten in der globalen Bilanz kaum eine Rolle. Im Jahr 2020 stieß China mehr CO2 aus als die USA und Europa zusammen, und die Kluft dürfte sich zumindest für ein weiteres Jahrzehnt noch vergrößern. Eine Lösung des Klimaproblems ohne China war ebenso wenig vorstellbar wie eine Reak-tion auf die Gefahr neu auftretender Infektionskrankheiten. China war der mächtigste Inkubator von beidem.

Die grünen Modernisierer der EU lösten dieses doppelte Dilemma in ihren strategischen Dokumenten auf, indem sie China gleichzeitig als systemischen Rivalen, strategischen Konkurrenten und Partner im Kampf gegen den Klimawandel defi nierten. Die Trump-Administration machte sich das Leben leichter, indem sie das Klimaproblem leugnete. Aber auch Washington steckte in der Zwickmühle des wirtschaftlichen Dilemmas, zwischen ideologischer Denunziation Pekings, strategischem Kalkül, langfristigen Unternehmensinvestitionen und dem Wunsch des Präsiden-ten, einen schnellen Deal zu schließen. Das war eine instabile Kombina-tion, die im Jahr 2020 kippte. Trotz des Phase-I-Handelsabkommens, das der Präsident zu Beginn des Jahres gerne gefeiert hatte, übertrumpften bis zum Sommer die strategische Konkurrenz und die ideologische De-nunziation das wirtschaftliche Interesse. China wurde neu defi niert als

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eine Bedrohung für die Vereinigten Staaten, sowohl strategisch als auch wirtschaftlich. Es hatte amerikanische Arbeitsplätze gestohlen, es hatte sich illegal amerikanisches geistiges Eigentum in Milliardenhöhe zuguns-ten eines feindlichen Regimes angeeignet.70 Als Reaktion darauf erklärten die Geheimdienst-, Sicherheits- und Justizabteilungen der amerika-nischen Regierung China den Wirtschaftskrieg. Sie wollten dabei be-wusst die Entwicklung von Chinas Hightech-Sektor sabotieren, dem Herzstück einer jeden modernen Wirtschaft.

Es war bis zu einem gewissen Grad Zufall, dass diese Eskalation zu diesem Zeitpunkt stattfand. Kräfte, die nichts mit dem Virus zu tun hatten, drängten schon seit einiger Zeit in diese Richtung. Aber Pekings Erfolg im Umgang mit Corona und das dadurch gestärkte Selbstbe-wusstsein waren für die Trump-Administration ein Warnsignal. Außer-dem erzeugte die überhitzte Atmosphäre der amerikanischen Wahl starke Verstärkungs- und Induktionseff ekte – um Chens etwas euphe-mistisches Vokabular zu verwenden. Für das Trump-Team erschien es durchaus sinnvoll, China die Schuld zu geben und den Kulturkrieg, den sie zu Hause entfesselten, auf Chinas amerikanische Kollaborateure auszuweiten.

Chinas Aufstieg war zweifellos ein weltgeschichtlicher Umbruch, auf den irgendwann jeder in der Welt würde reagieren müssen. Aber im Sommer 2020 war zunehmend unbestreitbar, dass noch etwas anderes im Gange war. Mit Amerika stimmte etwas zutiefst nicht.

Es war nicht der erste Moment der modernen amerikanischen Krankheit. Präsident Carter sollte berüchtigt werden für eine Rede, die er im Sommer 1979 inmitten der Auswirkungen der iranischen Revo lution und der zweiten Energiekrise an die amerikanische Nation zu genau die-sem Th ema hielt.71 Eines der Versprechen der Marktrevolution der 1980er Jahre war, dass Ronald Reagans «Morgen in Amerika» das Land aus sei-nem Niedergang herausholen würde, so wie Th atcher es für Großbritan-nien versprochen hatte. Donald Trump, der Partyboy im Manhattan der 1980er Jahre, war die lebende Verkörperung dieser neuen Ära des Hoch-muts. Doch Trump verkörperte auch die hässliche Wahrheit über diesen Moment, nämlich dass die Marktrevolution einen großen Teil der ame-rikanischen Gesellschaft abgehängt hat. Amerikas anhaltende globale Stärke in den Bereichen Finanzen, Technologie und militärische Macht ruhte auf tönernen Füßen. Wie Corona schmerzhaft aufdeckte, war das

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Gesundheitssystem des Landes marode, sein soziales Sicherungsnetz ließ zig Millionen Menschen von Armut bedroht. Während Xis «chinesischer Traum» das Jahr 2020 unversehrt überstanden hat, lässt sich von seinem amerikanischen Gegenstück nicht das Gleiche behaupten.

Die allgemeine Krise des Neoliberalismus im Jahr 2020 hatte somit eine spezifi sche und traumatische Bedeutung für Amerika und ganz be-sonders für einen Teil des dortigen politischen Spektrums. Die Vision der amerikanischen Regierung, die von den aufeinanderfolgenden de-mokratischen Regierungen, beginnend mit Woodrow Wilson und Frank-lin D. Roosevelt, entworfen wurde, gab den amerikanischen Liberalen Werkzeuge an die Hand, mit denen sie auf die Herausforderung durch Corona reagieren konnten. Die amerikanische Linke konnte sich mit dem New Deal anfreunden.72 Die republikanische Partei und die von ihr vertretenen nationalistischen und konservativen Wählergruppen hin-gegen litten unter einer existenziellen Krise (anders lässt sich das nicht nennen), die tiefgreifende Folgen für die amerikanische Regierung, die amerikanische Verfassung und die Beziehungen Amerikas zur übrigen Welt hatte. Das gipfelte in der außergewöhnlichen Periode zwischen dem 3. November 2020 und dem 6. Januar 2021, in der Trump sich wei-gerte, die Niederlage einzugestehen, ein Großteil der republikanischen Partei den Versuch, die Wahl zu kippen, aktiv unterstützte, die soziale Krise und die Pandemie unbeachtet blieben und schließlich am 6. Januar der Präsident und führende Persönlichkeiten seiner Partei einen Mob zum Sturm auf das Kapitol ermutigten.

Aus gutem Grund weckt dies tiefe Sorgen hinsichtlich der Zukunft der amerikanischen Demokratie. Und es gibt tatsächlich Elemente auf der äußersten Rechten der amerikanischen Politik, die man mit Fug und Recht als faschistoid bezeichnen kann.73 Aber in der ursprünglichen faschistischen Gleichung gab es zwei grundlegende Elemente, die im Amerika des Jahres 2020 fehlten. Das eine ist der totale Krieg. Die Amerikaner erinnern sich an den Bürgerkrieg und stellen sich künftige Bürgerkriege vor, die kommen werden. Sie haben in letzter Zeit Expedi-tionskriege geführt, die in Gestalt militarisierter Polizeiarbeit und para-militärischer Phantasien auf die amerikanische Gesellschaft zurückschlu-gen.74 Aber der totale Krieg konfi guriert die Gesellschaft auf ganz andere Weise neu. Er konstituiert einen Massenkörper, nicht die individuali-sierten Kommandos von 2020.

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Die andere fehlende Zutat aus der klassischen faschistischen Glei-chung, die für dieses Buch zentraler ist, ist sozialer Antagonismus, eine imaginäre oder reale Bedrohung des sozialen und wirtschaftlichen Status quo. Als sich die konstitutionellen Gewitterwolken im Jahr 2020 zusam-menzogen, verbündete sich die amerikanische Wirtschaft massiv und geschlossen gegen Trump. Wie wir noch sehen werden, hatten die wich-tigsten Stimmen der amerikanischen Wirtschaft auch keine Scheu, die geschäftlichen Gründe dafür darzulegen, unter anderem den Share-holder Value, die Probleme bei der Führung von Unternehmen mit politisch gespaltenen Belegschaften, die wirtschaftliche Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit und – erstaunlicherweise – die zu erwartenden Um-satzverluste im Falle eines Bürgerkriegs. Diese Ausrichtung des Geldes auf die Demokratie in den Vereinigten Staaten im Jahr 2020 sollte bis zu einem gewissen Punkt beruhigend sein. Aber ziehen wir für eine Sekunde ein alternatives Szenario in Betracht. Was wäre, wenn das Virus ein paar Wochen früher in den USA angekommen wäre, wenn die sich ausbrei-tende Pandemie der Forderung nach einer allgemeinen Gesundheits-versorgung massive Glaubwürdigkeit verliehen hätte und die Vorwahlen der Demokraten Bernie Sanders, einen bekennenden Sozialisten, als Kandidaten hervorgebracht hätten, anstatt Joe Biden?75 Es ist nicht schwer, sich ein Szenario vorzustellen, in dem die amerikanische Wirt-schaft ihr gesamtes Gewicht aus denselben Gründen in die andere Waag-schale geworfen und Trump unterstützt hätte, um sicherzustellen, dass Sanders nicht gewählt würde.76 Und was wäre gewesen, wenn Sanders tatsächlich eine Mehrheit bekommen hätte? Dann hätten wir eine echte Prüfung für die amerikanische Verfassung und die Loyalität der mäch-tigsten gesellschaftlichen Interessen zu ihr gehabt.

V.

Das Jahr 2020 als eine umfassende Krise des neoliberalen Zeitalters zu sehen – im Hinblick auf seine ökologische Hülle, auf seine internen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Grundlagen und auf die internationale Ordnung –, hilft uns bei der historischen Orientierung. So gesehen markiert die Corona-Krise das Ende eines Bogens, dessen

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Ursprung in den 1970er Jahren zu fi nden ist. Sie könnte auch als erste umfassende Krise des kommenden Zeitalters des Anthropozäns gesehen werden – einer Epoche, die durch den «blowback» unserer unausgewo-genen Beziehung zur Natur defi niert ist.77

Doch anstatt vorschnell die Kontinuitäten dieses halben Jahrhun-derts der Geschichte skizzieren oder spekulativ in die Zukunft proji-zieren zu wollen, verbleibt dieses Buch, soweit möglich, im Augenblick selbst. Wir werden zurück und nach vorne blicken, wenn sich die Not-wendigkeit eines Kontexts ergibt, aber der Fokus liegt ganz klar auf der Kette von Ereignissen zwischen dem Ausbruch des Virus im Januar 2020 und der Amtseinführung von Joe Biden.

Diese engen chronologischen Grenzen sind eine bewusste Entschei-dung. Sie ermöglichen es, die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die defi niert, was es heißt, Geschichte zu schreiben, hand-habbar zu machen. Es ist zudem eine persönliche Strategie, um mit den intellektuellen und psychologischen Belastungen eines Moments fertig zu werden, der ansonsten überwältigend war.

Wie Milliarden anderer Menschen auf der ganzen Welt zwang mich das Coronavirus, meine Pläne zu ändern. Ich begann das Jahr mit der Arbeit an einem Buch über die Geschichte der Energiepolitik, in dem ich die politische Ökonomie des Kohlenstoff s bis in die Zeit der Ölkrisen zurückverfolgte und eine Vorgeschichte des Green New Deal skizzierte. Wie so viele andere hatte ich mich intensiv mit dem Anthropozän be-schäftigt, einer vom kapitalistischen Wirtschaftswachstum angetriebenen Transformation, welche die Trennung zwischen Natur- und Mensch-heitsgeschichte in Frage stellt.78

Im Februar, als sich das Virus lautlos um die Welt verbreitete, war ich in Ostafrika unterwegs und tauchte zum ersten Mal in die Geschichte des Kontinents ein. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich die ungewohn-ten Gesundheitskontrollen an den Flughäfen, aber wie die meisten Men-schen war ich mir des Dramas, das sich da abspielte, nicht bewusst. Erst auf dem Rückweg, am Freitag, dem 6. März, in den riesigen Hallen des neuen Istanbuler Flughafens, wurde mir das Ausmaß der wachsenden Panik bewusst. Reisende aus allen Teilen der Welt trugen Masken in allen Formen und Größen. Diese Masken waren neuartig, schlecht sitzend, unmöglich auf einem langen Flug.

An diesem Wochenende in New York, im Dunst des Jetlags, brach

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die Hölle los. Das Virus trieb nun eine gigantische wirtschaftliche Kon-traktion an. Plötzlich sah ich mich mit einer ganzen Flut von Fragen von Journalisten konfrontiert, die mich drängten, ihnen beim Verständnis dessen zu helfen, was wie eine Wiederholung der Finanzkrisen wirkte, die ich in Crashed, meinem Buch über 2008, beschrieben hatte.

Crashed war seinerseits eine Geschichte gewesen, die von den Ereig-nissen überholt worden war. Ich hatte mir vorgenommen, ein Buch zum zehnten Jahrestag der Finanzkrise zu schreiben, und landete nach dem Brexit und Trumps Sieg mitten in einer Krise, die nicht enden wollte. Ein kluger Freund meinte damals scherzhaft, ich würde mich damit dem Zwang aussetzen, eine fortlaufend aktualisierte Neuaufl age zu schreiben. Im März 2020 bekam ich die volle Wucht seiner Worte zu spüren. Als die Aktienkurse und Anleihemärkte einbrachen, als die Dysfunktionali-tät der Repo-Märkte in die Schlagzeilen geriet und die Swap-Linien der Zentralbanken wieder auf der Tagesordnung standen, holte mich die Crashed-Erzählung ein.

Im April war der Druck, sich von Minute zu Minute der Gegen-wart zu stellen und dabei an die Energiepolitik von Jimmy Carter zu denken, zu groß. Ich kapitulierte vor dem unmittelbaren Fluss der Er-eignisse.

Das Jahr 2020 entpuppte sich als wahrhaft historisch, als völlig an-ders als alles, was wir je zuvor erlebt hatten. Dieses Buch ist deshalb so-gar zeitgenössischer als Crashed. Paradoxerweise macht dies das Risiko, «den Moment zu verpassen», noch haarsträubender. Jeder Versuch, einen narrativen Rahmen über den Tumult zu legen, den wir immer noch durchleben, ist zwangsläufi g unvollständig und unterliegt der Revision. Wenn wir den Ereignissen um uns herum einen Sinn geben wollen, müssen wir dieses Risiko eingehen. Der einzige Trost ist, dass wir bei diesem Unterfangen nicht allein sind. 2020 war nichts anderes als ein Jahr des Erzählens, des Argumentierens und des Analysierens.

Eine solche Erzählung mag verfrüht sein, aber wenn man eine Inter-pretation projiziert, eine intellektuelle Wette eingeht, ob richtig oder falsch, gewinnt man etwas Wertvolles: ein tieferes Verständnis dessen, was der Satz, alle Geschichte sei Zeitgeschichte, wirklich bedeutet.79 Tat-sächlich bekommt Benedetto Croces Einsicht im Lichte von 2020 eine neue Bedeutung. Wenn man aus der Sicherheit eines Apartments an der Upper West Side über die Klimakrise schreibt, können die historische

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Transformation der Natur und ihre Implikationen für unsere Geschichte weit entfernt erscheinen – das Anthropozän bleibt ein abstrakter intel-lektueller Vorschlag. Die Corona-Krise hat selbst die Behütetsten unter uns dieser Illusion beraubt.

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KAPITEL 2

WUHAN,

NICHT TSCHERNOBYL

Das Virus, das wir als SARS-CoV-2 kennenlernen sollten, begann Ende November 2019 in der Elf-Millionen-Stadt Wuhan in der Provinz Hubei zu zirkulieren. Chinas Virus-Meldesystem hätte eigentlich anschlagen müssen. Doch der Zeitpunkt war ungünstig. Die KPCh-Führung der Provinz hatte keine Lust, den normalen Ablauf der großen politischen Treff en und Neujahrsfeiern zu unterbrechen. Ihr Hauptaugenmerk lag auf der Vorbereitung auf die «zwei Sitzungen» der Politischen Konsulta-tivkonferenz des chinesischen Volkes und des Nationalen Volkskongres-ses in der Großen Halle des Volkes in Peking im März, dem wichtigsten Datum im Zeremonienkalender der chinesischen Politik. Der Virus war eine unwillkommene Ablenkung von der intensiven Sitzungsrunde und der politischen Arbeit. Wuhan liegt mehr als 1000 Kilometer von Peking entfernt. Die Provinz Hubei selbst ist so groß wie ein großes europäi-sches Land. Es bestand keine Notwendigkeit, das Zentrum einzubezie-hen. Die Behörden in Wuhan und Hubei taten ihr Möglichstes, um die unbequeme Nachricht über ein neues Virus zu unterdrücken.

In den ersten Januartagen 2020 hatten Wissenschaftler in Laboren in ganz China Wind davon bekommen, dass ein neues Virus aufgetaucht war. Xi Jinping selbst scheint am 6. Januar informiert worden zu sein.1 Trotz der Befürchtungen, dass in einem gefährlichen Maße eine Über-tragung von Mensch zu Mensch stattfand, war das Zentrum nur lang-sam in der Lage, das ganze Ausmaß der Gefahr einzuschätzen. Es war mit seinem eigenen vollen Januar-Zeitplan beschäftigt. Xis Prioritäten waren die Kampagne, um Chinas Beamtenschaft die kommunistischen Werte einzutrichtern, und die Handelsgespräche mit Amerika. Am 8. Ja-nuar räumte der Leiter der chinesischen Seuchenkontrollbehörde seinem

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amerikanischen Amtskollegen gegenüber ein, dass die Krankheit hoch-infektiös sei, doch die lokale Regierung von Wuhan weigerte sich, die Alarmstufe zu erhöhen.2 Nach der Entdeckung des ersten Falles außer-halb Chinas berief die Nationale Gesundheitskommission eine landes-weite Telefonkonferenz ein, um Provinzbeamte zu alarmieren und «An-weisungen» aus Peking zu übermitteln. Wie diese Anweisungen lauteten, bleibt unklar. Obwohl Chinas Seuchenkontrollbehörde nun in höchster Alarmbereitschaft war, wurde die Öff entlichkeit nicht gewarnt. Die An-steckung von Mensch zu Mensch war noch nicht bestätigt worden.3 Um die Blockade zu überwinden, überredete Chinas Nationale Gesundheits-kommission am 18. Januar Dr. Zhong Nanshan, einen vertrauenswürdi-gen Parteifreund und Helden des Kampfes gegen SARS, Wuhan persön-lich zu besuchen. Was er dort vorfand – rasche Ansteckung von Mensch zu Mensch, Krankenhäuser, die mit der Situation überfordert waren –, ließ alle Alarmglocken schrillen. Am folgenden Tag konfrontierte Zhong im Zhongnanhai, dem ummauerten Gelände der KPCh in Peking, Premierminister Li Keqiang mit den Neuigkeiten. Xi war auf Tour im Südwesten Chinas, aber am 20. Januar sprach er aus der Ferne auf einer vom Staatsrat organisierten Fernsehsitzung und rief dazu auf, das Virus «ernst» zu nehmen. Wenige Stunden später bestätigte Dr. Zhong öff ent-lich, dass es eine Übertragung von Mensch zu Mensch gab. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Krankheit bereits in ganz China und in der ganzen Welt verbreitet.

Das Versagen bei dem Versuch, das Virus im Winter 2019 /20 einzu-dämmen, erfolgte inmitten erhöhter Spannungen zwischen China und dem Westen. Seit 2017 hatten die chinesisch-amerikanischen Beziehun-gen zwischen Handelskrieg und Handelsfrieden hin und her geschwankt. Man war zunehmend besorgt über das Ausmaß von Pekings Einfl uss außerhalb seiner Grenzen und der Repression im eigenen Land. Für Peking warf das Auffl ammen der Massenproteste in Hongkong die Frage auf, wie lange es die der Stadt unter dem Prinzip «ein Land, zwei Sys-teme» gewährten Freiheiten tolerieren konnte. Vor diesem Hintergrund griff en die China-Skeptiker im Westen den Corona-Ausbruch begierig auf. Er war genau die Art von diskreditierendem Missgeschick, das sie seit langem für das Regime der chinesischen KP vorausgesagt hatten.

Die Analogie, die leicht zur Hand war, war Tschernobyl, der Atom-unfall im Jahr 1986, der so viel dazu beigetragen hatte, das sowjetische

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Regime zu diskreditieren.4 Wie es der Zufall wollte, hatte der amerika-nische Fernsehsender HBO im Mai 2019 ein fesselndes Dokudrama über die Tschernobyl-Katastrophe ausgestrahlt. Als die Corona-Krise Ende Januar eskalierte, bedienten sich Chinas «Netzbürger» der Film-kritikseiten, um die off ensichtliche Analogie herzustellen.5 Der liberale Akademiker Xu Zhangrun, der Xis persönliche Herrschaft öff entlich kritisiert hatte und dafür gemaßregelt worden war, veröff entlichte nun einen Artikel, in dem er das politische System der KPCh anprangerte, das unter dem Gewicht seiner eigenen «Tyrannei» zusammenbreche. Eine Regierung von Bürokraten sei «ins Trudeln geraten». Xis Wende zur Ein-Mann-Herrschaft habe die Uhr zurückgedreht. «Der Schlamassel in Hubei ist nur die Spitze des Eisbergs, und es ist in jeder Provinz das Gleiche», meinte Xu.6 Es sei also nur eine Frage der Zeit, bis das kom-munistische Regime seine Quittung bekommen werde.

Xu sollte für seinen Wagemut mit Entlassung und Hausarrest bezah-len. Aber noch schlimmer war: Seine Prophezeiung des umfassenden Regimeversagens wurde widerlegt. Was den Westen betriff t, so sollte ihn die Gleichsetzung Wuhans mit Tschernobyl teuer zu stehen kommen. Wuhan war kein Provinznest weit hinter dem Eisernen Vorhang. Es war eine globalisierte Megastadt, und deshalb war der Ausbruch so gefähr-lich. Über die Feiertage verließ etwa die Hälfte der Bevölkerung Wuhans die Stadt, um Familie und Freunde zu besuchen. Das bedeutete fünf Millionen Reisende, die die Infektion per Auto, Hochgeschwindigkeits-zug und Flugzeug nicht nur in den Rest Chinas, sondern in die ganze Welt verbreiteten.7 Im Januar verließen allein 15 000 chinesische Touris-ten den internationalen Flughafen von Wuhan in Richtung Japan.8 In-nerhalb weniger Wochen wurden Fälle in 25 Ländern gemeldet, der erste in Th ailand.

Angesichts der Infektiosität von SARS-CoV-2 war das eine absolut drängende Gefahr, die keinen Aufschub duldete. Peking erkannte das. Der Westen tat das nicht. In China hätte ein Versagen der öff entlichen Gesundheit in der Größenordnung von Italien, Großbritannien oder den Vereinigten Staaten weit über eine Million Menschenleben gekostet. Wäre das politische Management der Krise in Peking genauso stümper-haft gewesen wie in Washington oder London, hätte das Xis eisernen Zugriff auf die Macht erschüttern können. Aber das passierte nicht. China hat nicht nur keinen Zusammenbruch nach sowjetischem Vorbild

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erlitten, sondern den Spieß umgedreht. In China, dem ersten Land, das mit der Seuche konfrontiert war, wurde die Bedrohung schnell einge-dämmt, was Xis Regime die Freiheit und die Energie für weitere Maß-nahmen verschaff te. In Europa, den Vereinigten Staaten und Lateiname-rika geriet das Virus außer Kontrolle. Dieser grundlegende Unterschied setzte den Rahmen für alles andere, was im Jahr 2020 geschah.

I.

Das Versagen bei der Seuchenbekämpfung in Wuhan im Januar 2020 rüttelte Peking auf. Risikomanagement war der Schlüssel zu Xis gesam-tem Machtverständnis.9 Xis persönliche Herrschaft basierte auf dem Argument, dass China in eine beispiellos ernste Periode von Heraus-forderungen eintrete, «wie es sie seit einem Jahrhundert nicht mehr ge-geben hat», und diese Herausforderungen könnten nur mit einer ent-schlossenen Führung aus dem «Kern» der KPCh bewältigt werden.10 Um diesen Bedrohungen zu begegnen, waren weitreichende Gegenmaßnah-men erforderlich, die von der Ausmerzung der politischen Opposition bis zur Zähmung des Immobilienbooms reichten. Die Erinnerungen an die gerade noch einmal gut gegangene Finanzkrise im Jahr 2015, als eine Billion Dollar an Reserven aus dem Land gefl ossen waren, waren noch frisch. Und das Regime erinnerte sich auch an SARS. Die Epidemie von 2003 hatte Peking erschüttert. Einige aus Xis Gefolge verdankten ihren Aufstieg zur Macht der anschließenden Säuberung innerhalb der Partei-hierarchie.11 Als der KPCh-Führung das Ausmaß des Ausbruchs in Wuhan endlich dämmerte, handelten die Kader um Xi rücksichtslos und rasend schnell.

Im Westen behauptet man gern, Chinas drakonische Maßnahmen seien wohlbekannte Instrumente aus dem Werkzeugkasten der KPCh. Aber das verkennt die chinesischen Realitäten und unterschätzt Pekings Wagemut. Für den in Wuhan angeordneten Lockdown gab es keinen Präzedenzfall in der jüngeren chinesischen Geschichte. Im Jahr 2003 wurden 4000 Einwohner Pekings, die mit SARS infi ziert waren, in Iso-lation gehalten, und 300 Studenten wurden zwei Wochen lang in einem Militärlager interniert.12 Das war nichts im Vergleich zur Abriegelung

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einer ganzen Stadt mit elf Millionen Einwohnern, geschweige denn einer Provinz oder eines Landes.13

Peking wurde von der lokalen Regierung in Wuhan oder der Provinz Hubei nicht dazu ermutigt. Wie Zeng Guang, Chef-Epidemiologe des chinesischen Zentrums für Seuchenkontrolle und -prävention, gegen-über der offi ziellen Global Times bemerkte: «[Lokale Regierungen] neh-men eine politische Perspektive ein und denken in erster Linie an die gesellschaftliche Stabilität, die Wirtschaft und daran, ob die Menschen das Neujahrsfest glücklich genießen können.»14 Auch westliche Experten waren skeptisch ob der Möglichkeiten, eine ganze Stadt abzuriegeln. Es war in ihren Augen nicht praktikabel und verstieß gegen die Menschen-rechte.15 Unpassenderweise suchten sie in der Geschichte nach Belegen und behaupteten, stadtweite Quarantänen hätten in den Jahren 1918 /19 nicht funktioniert. Sie wiesen auch darauf hin, dass in Liberia der Ein-satz von cordons sanitaires zur Eindämmung von Ebola zu gewaltsamen Unruhen geführt habe.

Unabhängig von der Relevanz dieser Beispiele für China im Jahr 2020 war ein totaler Lockdown nicht die erste politische Option, die der chinesischen Führung von Zhong und seinem Team präsentiert wurde. Es handelte sich um eine Empfehlung, die wahrscheinlich von Premier Li Keqiang und dem Staatsrat ausgearbeitet wurde, bevor sie Xi vor-gelegt wurde.16 Die radikale Entscheidung spiegelt nicht nur die autori-tären Neigungen des Regimes und die zunehmenden Hinweise auf eine außer Kontrolle geratene Epidemie wider, sondern auch die Tatsache, dass Peking das neuartige Coronavirus von Anfang an durch die Linse von SARS oder MERS betrachtete. Anders als im Westen stand nie zur Debatte, SARS-CoV-2 mit der Grippe zu verwechseln. Die Krankheit unkontrolliert durch die Bevölkerung laufen zu lassen, um eine «Herden-immunität» zu erreichen, wurde als Option nicht in Betracht gezogen. Für Peking war es undenkbar, «der Natur ihren Lauf zu lassen», denn man war darauf bedacht, «Output-Legitimität» zu liefern.17 Zum eige-nen Nachteil fi el es den europäischen und amerikanischen Politikern deutlich schwerer, sich vom kaltblütigen Kalkül des Grippe-Paradigmas zu lösen.

Am 22. Januar entschied sich die chinesische Führung für einen landesweiten Shutdown, und am 25. Januar setzte ein im Fernsehen übertragenes Treff en der Führungsspitze die gigantische Staatspartei-

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Maschinerie in Gang. Nach dem chinesischen Neujahrsfest wurde der Urlaub bis Sonntag, den 2. Februar, verlängert, und wichtige Wirt-schaftszentren wie das Finanzzentrum in Shanghai erklärten, dass die Geschäfte erst am 9. Februar wieder aufgenommen würden, der Schul-unterricht erst am 17. Februar. Bis Anfang Februar hatten 14 Provinzen und Städte, in denen fast 70 % der Bevölkerung leben, einen Shutdown vollzogen. Die chinesische Wirtschaft, die zweitgrößte der Welt und wichtigster globaler Wachstumsmotor, wurde stillgelegt.

Einige Eindämmungsmaßnahmen waren Hightech. In Shanghai mussten sich Reisende vor dem Verlassen des Bahnhofs oder des Flug-hafens bei einer App zur Kontaktnachverfolgung anmelden.18 Wenn man sich nicht an seine eigenen Bewegungen erinnern konnte, reichte eine kurze SMS an einen der Mobilfunkanbieter, um eine Liste zu er-halten. Die Provinz Yunnan installierte QR-Codes an allen öff entlichen Plätzen, so dass sich die Leute beim Betreten selbst scannen konnten.19 In den meisten Teilen Chinas funktionierte die Kontrolle über «händi-schere» Methoden, die von Nachbarschaftskomitees geleitet und durch das «Grid-Management»-System des Regimes aus lokalen Parteiorga-nisationen unterstützt wurden. Dieses System war ein Schwerpunkt der jüngsten Bemühungen der KPCh gewesen, ihren Einfl uss auf Chinas wachsende neue Megastädte zu festigen.20 Im Jahr 2020 zahlte sich diese Investition in das, was als «soziale Verwaltungsinnovation» bezeichnet wurde, aus.

Die Provinz Zhejiang, an der Südostküste Chinas gelegen, ist der Ort, an dem sich Xi als Provinzbeamter einen Namen gemacht hatte. Sie hatte eine Bevölkerung von fast 60 Millionen und beschäftigte 330 000 «grid workers». Hubei verfügte über 170 000 solcher «Gitternetzarbei-ter», Guangdong über 177 000. Sichuan mobilisierte 308 000, und in der Megastadt Chongqing überwachten 118 000 «grid workers» jeden Stadt-teil. Das entspricht in der Dichte der Abdeckung einer Großstadtpolizei in den USA.21 In Zusammenarbeit mit den Hausverwaltungsfi rmen, die Chinas private Wohnkomplexe betreuen und in deren Diensten Millio-nen von Parteimitgliedern stehen, verwandelten sie jeden Wohnkomplex in eine Lockdownzone.22

Ziel war es, infi zierte Menschen ausfi ndig zu machen und sie unter Quarantäne zu stellen. Als Unterstützungsmaßnahme verboten die Be-hörden in Hangzhou den Apotheken den Verkauf von Schmerzmitteln.

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Das sollte die Bürger von einer Selbstmedikation abhalten und sie zwin-gen, sich im Krankenhaus behandeln zu lassen. Die Küstenstadt Wen-zhou 900 Kilometer südöstlich von Wuhan gestattete Familien lediglich eine Einkaufsfahrt alle zwei Tage durch ein Familienmitglied. Autobah-nen wurden geschlossen. Im Bezirk Poyang in Jiangxi griff en die ört-lichen Behörden zu dem einfallsreichen Mittel, alle Ampeln dauerhaft auf Rot zu schalten.23

Ein europäischer Beobachter kommentierte das mit den Worten: «Jede Stadt hat sich in ein kleines Alamo verwandelt.»24 In der Woche ab dem 3. Februar ging der tägliche Passagierverkehr in Chinas Eisen-bahnnetz um rund 75 % zurück.25 Shoppingzentren und beliebte Ein-kaufsviertel leerten sich. Starbucks schloss die Hälfte seiner Filialen. Ikea wurde im ganzen Land geschlossen. Für Chinas Restaurant-, Tou-rismus- und Filmindustrie bedeutete es den Verlust der umsatzstärksten Tage im ganzen Jahr. Man schätzt, dass das Verbot von Neujahrsbanket-ten Chinas Restaurantbranche in einer einzigen Woche 144 Milliarden Dollar gekostet hat.26

Auch Fabriken wurden geschlossen, darunter die prestigeträchtigen Produktionsstätten westlicher Markennamen. In Suzhou, wo der iPhone-Hersteller Foxconn, Johnson & Johnson und Samsung Electronics ihre Werke konzentriert haben, wurden die Wanderarbeiter aufgefordert, nicht zurückzukehren. Tesla schloss seinen Betrieb in Shanghai auf Ver-langen der lokalen Behörden, ebenso wie GM, Toyota und Volkswagen.27 Nissan und die französischen Autokonzerne PSA und Renault kündigten an, sie wollten ihre ausländischen Mitarbeiter evakuieren.28

Doch der Lockdown betraf nicht nur große Städte oder renommierte Weltunternehmen. Eine Telefonumfrage eines Forscherteams aus Stan-ford ergab, dass sich jedes einzelne ländliche Dorf, das sie in China kon-taktierten, abgeschottet hatte. «Es ist wie in Europa im Mittelalter», sagte Jörg Wuttke, der Präsident der Europäischen Handelskammer in China, «jede Stadt hat ihre Kontrollen und Gegenkontrollen.»29 Auf dem Land brauchten die Einheimischen nur ein paar Lastwagen oder Benzinfässer, um Straßen abzuriegeln. Sie würden Reisende ansprechen, die passieren wollten. Ein vertrauter Dialekt genügte, um die Weiterfahrt zu sichern. Alle anderen mussten warten.

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II.

In Wuhan selbst war die erste volle Woche des Stillstands die chaotischste Zeit. Ein Team von 40 000 Bauarbeitern schuftete Tag und Nacht, um zwei Notfallkrankenhäuser fertigzustellen, von denen das erste, das Huo-shenshan-Krankenhaus («Feuergott-Berg-Krankenhaus»), am 4. Februar seinen Betrieb aufnahm. Aber da die Fallzahlen nicht richtig gehandhabt wurden, ließ man schwerkranke Patienten daheim in ihren Häusern ster-ben. Erst am Sonntag, dem 2. Februar, wurde ein neues System zur Ein-teilung und Isolierung von vier Kategorien von Patienten eingeführt. Da-durch wurde es möglich, bestätigte Fälle und Verdachtsfälle schnell von ihren Familien zu isolieren und die Übertragung zu begrenzen. Noch wusste es niemand, aber China hatte eine Methode gefunden, die Krise zu bewältigen.

Am 3. Februar gab Xi dem Politbüro einen detaillierten Bericht über das, was nun als Chinas «Volkskrieg» gegen das Virus proklamiert wurde.30 Das mag ein mitreißender Schlachtruf gewesen sein, der Erin-nerungen an die Mao-Ära wachrief, aber die Börse in Shanghai brauchte etwas Überzeugung. Als die Händler am ersten Handelstag nach dem chinesischen Neujahrsfest ihre Terminals einschalteten, ging man allge-mein davon aus, dass die Käufe des «Nationalteams» – einer Gruppe führender Banken, Versicherer und Fondsmanager – den Markt stützen würden.31 Doch obwohl die People’s Bank of China den Händlern Kre-dite in Höhe von 171 Milliarden Dollar zur Verfügung stellte, verkauf-ten die Märkte. Die Shanghaier Börse verlor an einem einzigen Tag 7,9 %.32 Es war der schlimmste Handelstag seit der Krise im August 2015.33

In Wuhan und Hubei war die Lage katastrophal, und Chinas Medien vertuschten diese Tatsache keineswegs. Die medizinischen Zentren der Corona-Bekämpfung waren düstere Orte, sie glichen eher Lagerhäusern als Krankenhäusern. Die Ärzte kämpften vergeblich gegen eine Welle des Todes.34 Unter den Opfern waren auch Ärzte selbst. Dr. Li Wenliang hatte zu den Ersten gehört, die vor der Krankheit warnten, ein Schritt, für den er von den lokalen Behörden mit Disziplinarmaßnahmen be-droht wurde. Anfang Februar war Li schwer erkrankt und teilte auf Weibo Fotos von sich, wie er nach Luft rang. Sein Tod am 6. Februar war ein PR-Desaster. Der Hashtag «#Die Regierung von Wuhan schuldet Li

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Wenliang eine Entschuldigung» wurde 180 Millionen Mal aufgerufen, bevor er von der Zensur blockiert wurde.35

Die Verärgerung über den falschen Umgang des Regimes mit der Pandemie schlug schnell in allgemeinere politische Forderungen um. Am Freitag, dem 7. Februar, forderte ein off ener Brief von Professoren der angesehenen Universität von Wuhan die Behörden auf, die in Chi-nas Verfassung garantierte Meinungsfreiheit zu respektieren. Ein weite-rer Brief, der von führenden Intellektuellen an den Nationalen Volks-kongress gerichtet wurde, begann mit der Erklärung: «Wir verlangen, dass ab heute kein chinesischer Bürger wegen seiner oder ihrer Mei-nungsäußerung von irgendwelchen staatlichen Stellen oder politischen Gruppen bedroht werden sollte … Der Staat muss sofort aufhören, so-ziale Medien zu zensieren und Konten zu löschen oder zu sperren.»36 Nur Wochen zuvor war Xis Autorität noch unanfechtbar gewesen. Jetzt waren die Zensoren bemüht, Internetnutzer daran zu hindern, Text-zeilen aus «Do you hear the people sing», der Titelmelodie von Les Misé-rables, zu posten, die kürzlich von Demonstranten in Hongkong als Hymne des Widerstands übernommen worden war.

Der 7. Februar war der Moment, in dem die Autorität der KPCh am vehementesten in Frage gestellt wurde. Aber er war auch der Wende-punkt in der Reaktion der Regierung. Die auffl ammenden Proteste wur-den mit harter Repression beantwortet. Die Zensur lief auf Hochtouren. Beiträge in den sozialen Medien wurden schnell gelöscht. Lokale Repor-ter aus Wuhan, die es wagten, kritische Videos online zu stellen, ver-schwanden. Xu Zhangrun wurde unter Hausarrest gestellt und von der Außenwelt isoliert.37

Der Sicherheitsapparat der KPCh ist massiv, aber die Repression war vor allem auch deshalb so eff ektiv, weil sie mit Erfolgen bei der Eindäm-mung der Epidemie verbunden war. Bis Mitte Februar sind, soweit wir das aus den verfügbaren Daten beurteilen können, die Coronafallzahlen in ganz China eingebrochen. Das bedeutete, dass Peking eine große Epi-demie in einer Provinz, Hubei, mit den Ressourcen einer Nation von 1,4 Milliarden Menschen bekämpfte. Unter Führung des Militärs konn-ten über 40 000 medizinische Mitarbeiter zusammengezogen werden, die sich zunächst auf die Stadt Wuhan und dann auf den Rest der Pro-vinz konzentrierten.38

Die Eindämmung der Ausbreitung war entscheidend, um diese

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strategische Flexibilität zu erlangen. Ein Schlüssel in diesem Kampf war Peking. Während der SARS-Epidemie im Jahr 2003 hatten die städti-schen Behörden in der Hauptstadt versagt. Bis zum 10. Februar 2020 gab es in Peking 337 bestätigte COVID-19-Fälle, dazu viele weitere Ver-dachtsfälle. Sollte das normale Leben nach den Feiertagen wieder aufge-nommen werden, befürchteten die Behörden, dass 600 000 Bewohner und Arbeiter mit dem Zug und 140 000 mit dem Flugzeug zurückkeh-ren und für einen Anstieg der Neuinfektionen sorgen würden.39 Um eine Katastrophe zu verhindern, begannen die Pekinger Stadtbehörden mit einer umfassenden Desinfektionsaktion und führten eine «No outsiders»-Politik ein, also niemand Fremden in die Stadt zu lassen. Um ein Gefühl der Ruhe zu vermitteln, begab sich Xi am Montag, dem 10. Februar, per-sönlich auf eine Tour durch die Hauptstadt. Die Botschaft war klar: Außerhalb von Hubei kehrte China zur Normalität zurück.

III.

Mitte Februar war die Krise aus Pekings Sicht von einem Extrem ins andere gekippt. Das Problem war nicht, dass andere Provinzen ähnlich wie Hubei bei der Kontrolle der Krankheit versagten, sondern dass die lokalen Beamten, getrieben von der Angst vor einem weiteren Versagen, überreagierten. Der Stillstand hatte eine Eigendynamik gewonnen und drohte den Wachstumsmotor der chinesischen Wirtschaft zu lähmen. Große Wirtschaftszentren wie Shanghai, Zhejiang, Jiangsu und Guang-dong wurden durch umfassende Schulschließungen und Einschränkun-gen für Wanderarbeiter eingefroren. Kleinere Städte verlangten zwei-wöchige Quarantänen für Lkw-Fahrer, die Ladungen in den von COVID betroff enen Städten abholten oder diese lediglich passiert hatten. Der-weil wägten prominente Weltkonzerne wie Foxconn und VW die Risi-ken eines zu frühen Neustarts ab.40 Niemand wollte sich auf der Anklage-bank wiederfi nden, konfrontiert mit dem Vorwurf, die nationale Gesundheit zu gefährden. In Shanghai, einem der großen Drehkreuze der Weltwirtschaft, meldeten die städtischen Behörden bis zum 10. Feb-ruar, dass nur 70 % der lokalen Fabriken ein Interesse an der Wieder-aufnahme der Produktion angemeldet hatten, geschweige denn eine

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Erlaubnis dafür erhalten hatten. Wie der Präsident der Amerikanischen Handelskammer in China anmerkte, wollten die Arbeitgeber «die Mit-arbeiter schützen, aber niemand will auch ins Abseits geraten, wenn es um das Arbeitsrecht oder die täglichen Ankündigungen der Regierung geht».41

Was das Zentrum beunruhigte, waren nicht mehr das Fehlverhalten und Zaudern im Stil von Hubei, sondern die zentrifugalen Tendenzen, die durch übereifriges Handeln auf lokaler Ebene ausgelöst wurden. Es war bezeichnend, dass das Generalbüro des Staatsrats es für angebracht hielt, eine Bekanntmachung herauszugeben, die «die willkürliche Schlie-ßung von Hochgeschwindigkeitsstraßen, die Blockierung wichtiger Pro-vinzstraßen, die zwangsweise Quarantäne von Dörfern, das Aufgraben von Dorfstraßen und die Behinderung von Rettungsfahrzeugen» strikt untersagte.42 Aber auch wenn Peking die Dinge wieder in Gang bringen wollte, waren die lokalen Parteikomitees nicht leicht zu überzeugen. Natürlich war es wichtig, den Fluss von Waren und Menschen wieder zu erleichtern, aber niemand wollte für ein weiteres Wuhan verantwortlich gemacht werden. Angesichts der Forderungen Pekings, sich an die Regeln zu halten, vertraten die lokalen Parteifunktionäre den Standpunkt, dass «Seuchenbekämpfung frei sein sollte von abstrakten, bisweilen pedan-tischen Debatten über Rechtsgrundsätze». Für Peking war es einfach, die Schwerfälligkeit auf lokaler Ebene zu kritisieren. Sie würden am Ende nicht den Kopf hinhalten müssen, wenn die Epidemie wieder außer Kontrolle geriet. Ja, einige Quarantänemaßnahmen mochten hart sein, aber Fehlentwicklungen und Missstände ließen sich später wieder korri-gieren. Vorrangig war, jetzt zu handeln, und zwar schnell. Wenn Peking die dadurch verursachten Einschränkungen nicht gefi elen, sollte man sich dort eben «etwas Besseres» einfallen lassen.43

Das Plädoyer für Strenge war umso leichter zu halten, als der Schmerz vor allem Außenseiter betraf. Chinas riesiges Heer von Wanderarbeitern, 291 Millionen Menschen stark, machte ein Drittel der gesamten Erwerbs-bevölkerung von 775 Millionen aus. Im Kampf um die Rückkehr zur Arbeit standen sie vor «drei Toren»: dem «lokalen Ausreisetor», dem «Ver-kehrstor» und schließlich dem «Quarantänetor» am Zielort.44 Für die-jenigen, die irgendeine Verbindung zu Hubei hatten, war die Sache hoff -nungslos. In Peking drohte Familien aus Hubei die Zwangsvertreibung aus Mietwohnungen. Das örtliche Einwohnerkomitee begann damit,

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Wohnungen zu kennzeichnen, von denen bekannt war, dass sie von Menschen mit Verbindungen zur betroff enen Provinz bewohnt wurden. Lokale Aktivisten boten Belohnungen in Höhe von 500 Yuan (umgerech-net rund 65 Euro) für Informationen über Personen an, die aus Hubei stammten oder möglicherweise Kontakte nach Hubei hatten. Unglück-licherweise war es für die fraglichen Personen so, dass der Akzent dieser Provinz unüberhörbar ist. Hinzu kam, dass jeder Personalausweis die Herkunftsprovinz einer Person verzeichnet.45 Zwar gab es Verlautbarun-gen von oben, die jede Diskriminierung untersagten, aber sie wurden ignoriert.

Mitte Februar bestätigten offi zielle Zahlen, dass von den 290 bis 300 Millionen Wanderarbeitern, die normalerweise aus den Ferien zu-rückkommen sollten, nur 80 Millionen an ihre Arbeitsplätze zurück-gekehrt waren. Weitere 120 Millionen wurden bis zum Ende des Monats erwartet, so dass ein Drittel immer noch arbeitslos war.46 Die Auswir-kungen auf die Wirtschaftstätigkeit waren unbestreitbar.47 Mitte Februar war der Passagierverkehr um 85 % gegenüber dem Vorjahr zurückgegan-gen, und der tägliche Kohleverbrauch bei sechs großen Stromerzeugern sank um 43 %. Während der Himmel über den großen urbanen Zentren aufklarte, brachen Chinas CO2-Emissionen ein.48

Vor diesem Hintergrund bemerkte Xi auf seiner Inspektionsreise durch Peking am 10. Februar, dass es vorrangig darum gehe, «große Ent-lassungen» zu vermeiden, und die lokalen Verwaltungen müssten die Gesetze einhalten.49 Staatliche Medien zitierten Xi mit den Worten, es sei notwendig, «Überreaktionen [auf die Epidemie] zu korrigieren und einen zu simplen Ansatz zu vermeiden, der pauschale Schließungen oder Aussetzungen von Geschäften beinhaltet».50 Doch selbst das staat-liche Planungsministerium erkannte, dass Flexibilität erforderlich war, und überließ es den Provinzen und Städten, die Arbeit «nach eigenem Ermessen, basierend auf der Ausbreitung des Virus», wieder aufzu-nehmen.51 Am 17. Februar meldete die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua, es hätten Diskussionen über die Verschiebung der «zwei Sit-zungen» begonnen.52 Ein Drittel der nationalen Abgeordneten waren zugleich auch lokale Regierungsbeamte, und sie hatten alle Hände voll zu tun.

Das wohl augenfälligste Beispiel für die Dilemmata, die mit dem Management des Lockdowns verbunden waren, war Foxconn, das tai-

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wanesische Unternehmen, das für die Montage von 40 % der Apple-iPhones weltweit verantwortlich ist. Bei voller Auslastung beschäftigte das riesige Werk in Zhengzhou in der Provinz Henan 200 000 Mitarbei-ter. Arbeiter, die von außerhalb der Stadt zurückkehrten, mussten unter Quarantäne gestellt werden, und Foxconn verfügte nicht über genügend Schlafräume, um sie unterzubringen.53 Ein Stillstand von Apples wich-tigstem Produktionsstandort war nicht nur für das Unternehmen ein Grund zur Sorge. Am 21. Februar warnte Präsident Xi selbst vor dem wachsenden Risiko für Chinas Status als globaler Zulieferer. Angesichts eines feindseligen Umfelds war es für China, wenn es seine Stellung als bevorzugter Zulieferer behalten wollte, entscheidend, zu zeigen, dass es die Produktion so schnell wie möglich wieder aufnehmen konnte.54

Um die Risiken in den Griff zu bekommen, begann Foxconn, die Art von Regime zu installieren, die sich bald über die gesamte Welt ausbrei-ten sollte. Arbeiter aus Hochrisiko-Provinzen mussten sich 14 Tage lang in Selbstquarantäne begeben. Wer aus Regionen mit mäßigem Risiko kam, musste einen einwandfreien Gesundheitszustand nachweisen, bevor er oder sie zur Arbeit zurückkehren durfte. Foxconn rekrutierte seine Beschäftigten fortan vor allem aus der Provinz Henan, wo das Virus nur geringfügig aufgetreten war.55 Um die Lastwagen wieder ins Rollen zu bringen, wurden überall in China die Mautgebühren auf Autobahnen ausgesetzt.56 Doch 90 % der Lkw-Fahrer in den Hafenstädten Shanghai und Ningbo waren immer noch nicht zur Arbeit zurückgekehrt.57 Pro-duktionszentren wie die Küstenprovinz Zhejiang waren so verzweifelt, dass sie auf Sondertransporte setzten. Im Fernsehen wurden Schlangen von lächelnden, fähnchenschwenkenden Arbeitern gezeigt, die in gechar-terte Hochgeschwindigkeitszüge stiegen.

Einen Monat nach dem Vorstoß für einen allgemeinen Lockdown wandte sich Präsident Xi am Sonntag, dem 23. Februar, in einer Anspra-che an die chinesische Führung.58 Von allen Telefonkonferenzen und Zoom-Meetings, die im Jahr 2020 weltweit stattfanden, war dies sicher-lich die spektakulärste. Nicht weniger als 170 000 Kader, jede Bezirks-regierung und jedes Militärregiment im ganzen Land nahmen daran teil. Sämtliche Daten zeigten, dass die Zahl der Fälle rapide sank. Es war an der Zeit, einen anderen Gang einzulegen. Xi, so meinte die South China Morning Post, läutete die «Alarmglocke für Chinas Wirtschaftswachs-tum». Das soziale und wirtschaftliche System des Landes «kann nicht

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lange stillgelegt werden». Da das Virus zurückgedrängt wurde, lag der Schwerpunkt nun auf der Wiederaufnahme der Produktion. Statt über Neuinfektionen zu berichten, wurden die Beamten angehalten, die Rate der Wiedereröff nungen zu melden. Xis eigene Machtbasis, die Provinz Zhejiang, marschierte dabei voran. 90 % der großen Industriebetriebe waren wieder in Betrieb genommen worden, wenn auch mit geringer Kapazität.59

Wie Xi sagte, könne die Krise einen «schweren Schlag für Chinas wirtschaftliche und soziale Entwicklung» bedeuten. «Doch in einer sol-chen Zeit ist es umso wichtiger, Chinas Entwicklung in einer umfassen-den, dialektischen und langfristigen Perspektive zu betrachten und das Vertrauen zu stärken und zu festigen.» Die Betonung liege nun auf Selektivität und Disziplin. Etwa die Hälfte der chinesischen Bezirke hatte keine Coronafälle. Dort sollten «die Verhinderung importierter Fälle und die umfassende Wiederherstellung der Produktions- und Lebensordnung» Vorrang haben. In Regionen mit mittlerem Risiko sollte die Priorität ebenfalls darauf liegen, «die Wiederaufnahme von Arbeit und Produktion in geordneter Weise zu fördern, basierend auf der epidemiologischen Lage vor Ort». In Regionen mit hohem Risiko sollte der Lockdown fortgesetzt werden.60 Die Botschaft hinter diesen formelhaften Bemerkungen war klar. Die zentrale Führung der KPCh wollte wieder die Kontrolle übernehmen.

Am Montag, dem 24. Februar, lobte die WHO wie bestellt Chinas Bemühungen zur Viruseindämmung und erklärte, dass der Moment der größten Gefahr vorüber sei.61 Als Reaktion auf Xis Aufruf senkte das Fabrikzentrum Guangdong seine Einstufung als Notstandsgebiet für die öff entliche Gesundheit, und Shanxi, Guansu, Liaoning, Guizhou und Yunnan taten dasselbe.62 Die Provinzregierung forderte die lokalen Be-amten auf, «dem Werk der Foxconn Technology Group in Zhengzhou dabei zu helfen, die Arbeit wiederaufzunehmen». Arbeiter aus sicheren Gebieten wurden zurück an die Arbeit gedrängt. Gesundheitserklä-rungsformulare wurden abgestempelt, die Körpertemperatur gemessen und die Arbeiter für gesund erklärt. In mindestens einem Fall begleitete eine Polizeieskorte die Buskonvois direkt zu den Werkstoren. In der Zwischenzeit bot Foxconns Konkurrent Pegatron Bonuszahlungen in Höhe von 10 000 Yuan an, um Arbeiter zurück in seine Fabrik in Shang-hai zu locken.

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Nicht jeder war in der Lage, das zu tun. Trotz Xis Aufruf, zur Arbeit zurückzukehren, hatten bis Ende Februar selbst in den aktivsten Provin-zen nur schätzungsweise 30 % der kleinen und mittleren Unternehmen wieder geöff net, während es bei den großen Industrieunternehmen 60 % waren.63 Obwohl sich die Aufmerksamkeit zumeist auf Firmen wie Fox-conn und die riesigen Staatskonzerne richtet, machen kleine und mittlere Unternehmen, die sich fast alle in Privatbesitz befi nden, 99,8 % der regis-trierten Unternehmen in China aus und beschäftigen fast 80 % der Arbeitskräfte. Zusammen trägt diese riesige Menge an kleinen Unterneh-men mehr als 60 % zum Bruttoinlandsprodukt und mehr als die Hälfte aller Steuereinnahmen bei.64 Sie waren vom Lockdown hart getroff en worden. Während die Industrieproduktion schnell wieder ansprang, hinkte der städtische Massenkonsum das ganze Jahr über hinterher. Das Bankensystem wurde angewiesen, Kredite zu möglichst großzügigen Konditionen zu vergeben. Leider war, wie Premier Li Keqiang einräumte, die große Mehrheit der kleineren Firmen nicht vollständig in das Finanz-system eingebunden. Nur ein Fünftel von Chinas riesiger Menge an Kleinunternehmen hatte jemals einen Bankkredit beantragt und erhal-ten.65 Sie waren mit den Stimuli der Zentralregierung nicht so einfach zu erreichen. Ihr Überleben hing von der allgemeinen wirtschaftlichen Er-holung und der Wiederherstellung des normalen Lebens ab, und das war immer noch in der Schwebe.

Der beste allgemeine Indikator für den Gesundheitszustand einer Wirtschaft ist die Beschäftigungs- und Arbeitslosenquote. Chinas offi -zielle Arbeitslosenstatistik zeigte während der Krise einen winzigen An-stieg von nur 5,3 auf 6 %. Doch das Arbeitslosenversicherungssystem deckt nur die Hälfte der städtischen Arbeitskräfte und ein Fünftel der Wanderarbeiter ab. Trotz der konzertierten Bemühungen, die Produk-tion wieder anzukurbeln, waren im März 2020 von der normalen Er-werbsbevölkerung von 174 Millionen Fernwanderarbeitern nur 129 Mil-lionen bei der Arbeit.66 Das bedeutete einen Verlust von mindestens 45 Millionen Arbeitsplätzen. Berücksichtigt man die Wanderarbeiter, die in den offi ziellen Daten nicht mitgezählt werden, lag die Zahl im März wahrscheinlich eher bei 80 Millionen verlorenen Jobs. Sogar das offi -zielle Statistikamt war bereit zuzugeben, dass am schlimmsten Punkt der Krise die Zahl der beschäftigungslosen Menschen in Chinas Städten 18,3 % betrug. Nach sorgfältiger Durchsicht der Daten kamen die Ana-

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lysten von BNP Paribas zu dem Schluss, dass bis zu 132 Millionen Arbei-ter entweder vorübergehend arbeitslos, entlassen oder beurlaubt waren, was 30 % der städtischen Arbeitskräfte Chinas wären.67 Diese Zahlen sind Schätzungen, und Peking tat sein Möglichste, um jede eingehen-dere Diskussion über die soziale Krise zu unterdrücken. Klar ist nur, dass die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt gigantisch waren, weit schlim-mer als die Rezession von 2008 oder die SARS-Epidemie von 2003.68 Bis zu diesem Zeitpunkt war es der schlimmste Arbeitsmarktschock, den eine Volkswirtschaft in der Welt je erlebt hatte.

Am 25. Februar, zwei Tage nachdem Xi vor 170 000 loyalen Partei-genossen seine Rede gehalten hatte, sprach einer der meistbeachteten Indizes für das Geschäftsklima, der von einer der führenden Wirt-schaftshochschulen Pekings erstellt wurde, sein Urteil. Auf der Index-skala bedeutet ein Wert von 50, dass sich die Wirtschaft im neutralen Bereich befi ndet. Im Januar lag dieser Wert bei bescheiden zuversicht-lichen 56,2. Ende Februar war er auf 37,3 gesunken, was eine schwere Kontraktion anzeigt. Die Statistiker waren entsetzt. Wie Professor Li Wei bemerkte: «Wir waren psychologisch auf schlechte Ergebnisse vor-bereitet … aber die tatsächlichen Zahlen sind schlimmer, als wir uns das vorgestellt hatten.»69

IV.

Was China erlebte, war keine Explosion aus der Vergangenheit des Kal-ten Krieges, kein «Tschernobyl-Moment», sondern ein neuartiger und noch nie dagewesener sozialer und wirtschaftlicher Schock. Durch ihre nachdrückliche und eff ektive Reaktion kämpften das Regime und die chinesische Bevölkerung das Virus nieder. Aber dieser Erfolg hatte einen enormen Preis. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 erlitt China den ersten schweren Rückschlag beim Wirtschaftswachstum seit Beginn der neuen Ära der wirtschaftlichen Transformation. Auch in der Schuldfrage gab es keinen Zweifel. Es war der erschreckend kurzsichtige Widerstand der Parteiführung von Hubei, der es ermöglicht hatte, dass sich das Virus so weit ausbreiten konnte, wie es das tat. Hatte SARS die KPCh schon 2003 diskreditiert, so war das jetzt eindeutig weitaus schlimmer. Trotz

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der erfolgreichen Bekämpfungskampagne im Februar hätte die Corona-Krise 2020 leicht zu einer großen Belastung für Xis Regime werden können. Stattdessen wurde sie zu einem Anlass für das, was treff end als «Katastrophen-Nationalismus» bezeichnet wurde, zu einer Gelegenheit, kollektive Widerstandsfähigkeit unter Führung der Partei zu demonst-rieren.70

Dieses Gemeinschaftsgefühl konnte sowohl nach außen als auch nach innen gerichtet werden. In einer globalisierten Welt hing die Beur-teilung von Chinas Leistung entscheidend davon ab, wie der Rest der Welt mit dem Ausbruch des Coronavirus umging. Wären die Eindäm-mungsmaßnahmen in Europa und den Vereinigten Staaten eff ektiver gewesen und hätte nur China die volle Härte des Shutdowns durch-machen müssen, hätte Xis Autorität möglicherweise einen schweren Schlag erlitten. Das aber ist nicht passiert. Der Rest der Welt hat ver-sagt, und als westliche Stimmen versuchten, mit dem Finger auf China zu zeigen, führte das lediglich dazu, dass sich das von der KPCh geför-derte Gefühl der kämpferischen Kollektivität verfestigte. China hatte in der Tat einen hohen Preis bezahlt, aber der Erfolg der Bekämpfungs-anstrengungen hielt die Gesamtrechnung in Grenzen und erlaubte es dem Regime, schnell die Kontrolle wiederzugewinnen. Die gesamte Epi-sode konnte als Ausübung entschlossener Führung dargestellt werden, die das Volk sowohl in Bezug auf die öff entliche Gesundheit als auch mit Blick auf die Wirtschaft an die erste Stelle setzte. Als am 21. und 22. Mai 2020 schließlich die beiden Sitzungen in Beijing zusammen-kamen, war die Geschichte, die das Regime zu erzählen hatte, die einer heroischen nationalen Erholung.71 Das Versagen des Westens hatte der KPCh einen historischen Triumph beschert.