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Münchner Merkur Nr. 243 | Montag, 21. Oktober 2013 Redaktion Medizin: (089) 53 06-425 [email protected] Telefax: (089) 53 06-86 61 17 Leben TRAUMA IN DER KINDHEIT Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung Nicht immer ist die Ursa- che einer posttraumati- schen Störung ein einzel- nes Schockerlebnis. An- ders ist das oft bei Erfah- rungen in der Kindheit. Die traumatisierenden Er- lebnisse wie sexueller Missbrauch, Gewalt oder auch Vernachlässigung dauerten oft über Jahre an oder wiederholten sich. Sie sind tief in der Seele verankert und haben Ver- halten und Persönlichkeit der Betroffenen geprägt. Diese leiden oft unter Ge- fühlen von Schuld, Hilflo- sigkeit und Minderwertig- keit, haben Probleme, sich zu schützen und anderen Grenzen zu setzen. Oft kümmern sie sich nicht gut um sich selbst und haben Schwierigkeiten, mit ihren Gefühlen umzugehen. Erneut Opfer Der mangelnde Selbst- schutz ist ein Grund, wa- rum Frauen, die in der Kindheit geschlagen oder missbraucht wurden, im späteren Leben ähnliche Erfahrungen oft wiederho- len. Sie haben gelernt, um eine enge Bindung zu ei- nem Menschen aufrecht- zuerhalten, viel Leid zu er- tragen – und werden daher oft erneut Opfer. Viele ent- wickeln psychische Pro- bleme wie Angststörungen oder Depressionen. „Hin- ter fast jeder psychischen Störung kann ein Trauma stecken“, sagt Traumathe- rapeut Prof. Martin Sack. Andererseits lösen er- schütternde Erlebnisse in der Kindheit aber nicht im- mer ein Trauma aus. Erinnerung verändern Sind unverarbeitete Erleb- nisse aus der Kindheit die Ursache psychischer Pro- bleme, kann ebenfalls eine Traumatherapie helfen. „Auch Erwachsene kön- nen ihr Verhalten noch sehr gut verändern“, sagt Sack. Doch dauert die Therapie in der Regel deut- lich länger als bei einem Schockerlebnis im späte- ren Leben. Auch traumati- sche Erfahrungen in der Kindheit werden in der Therapie wieder wachge- rufen, um sie zu verarbei- ten. Doch soll der Betroffe- ne sie nicht einfach erneut erleben, als sei er noch das hilflose Kind von damals. Gemeinsam mit dem The- rapeuten entwickelt der Patient etwa gedankliche Techniken, um sich zu schützen. So kann ihm in der Erinnerung seine er- wachsene Persönlichkeit zur Seite stehen. Sie gibt dem Kind das Gefühl, jetzt sicher zu sein. „Die Ver- gangenheit lässt sich so so- gar umschreiben“, sagt Sack. In der Therapie kann etwa ein anderer Ausgang einer als schrecklich erleb- ten Situation erdacht wer- den. Das kann die Vergan- genheit nicht verändern, doch die Gefühle, die die Erinnerung begleiten. Und damit ihren Einfluss auf die Gegenwart. sog In der Kindheit erlebte Ge- walt kann ein Trauma auslösen. WALDHAESL Als Chefarzt im Klinikum Großhadern erlebe ich täg- lich, wie wichtig medizini- sche Aufklärung ist. Meine Kollegen und ich möchten den Lesern daher jeden Mon- tag ein Thema vorstellen, das für ihre Gesundheit von Be- deutung ist. Im Zentrum der heutigen Seite steht die Post- traumatische Belastungsstö- rung. Der Experte des Bei- trags ist Prof. Martin Sack. Er ist Leiter der Sektion Trau- mafolgestörungen der Klinik für Psychosomatische Medi- zin und Psychotherapie, Kli- nikum rechts der Isar. Prof. Dr. Christian Stief zielle Traumatherapie. Dabei wird gezielt an der belasten- den Erfahrung gearbeitet. Bei der Anamnese versucht der Therapeut zunächst sicherzu- stellen, dass es nicht weitere traumatische Erlebnisse gibt. „So weiß man, was in der The- rapie passieren könnte“, sagt Sack. Etwa ob das Risiko be- steht, ein anderes, altes Trau- ma wachzurufen. In manchen Fällen können auch Medikamente helfen, den Patienten vor der Kon- frontation mit dem traumati- sierenden Erlebnissen zu sta- bilisieren. Zum Einsatz kom- men etwa Antidepressiva und Betablocker. „Aber ein Thera- peut kann das besser als jedes Medikament“, sagt Sack. Im geschützten Umfeld der Therapie erlebte Erik H. den Unfall nochmals. Das bedeu- tet nicht nur, sich an die Ge- schehnisse genau zu erinnern. Wichtig sind vor allem die da- mit verbundenen Gefühle und Bewertungen wie Hilflosig- keit, Angst und Schuld. Sie lassen sich beim erneuten Durchleben verändern. Erst wollten sich Erik H.s Erinnerungen zu keiner Ge- schichte fügen. Der Stress war für ihn enorm. Doch der The- rapeut spürt, wann der Patient überfordert ist und emotiona- le Entlastung braucht. Anfangs vermied Erik H. im Gespräch die schmerzlichsten Bilder. Doch bald konnte er darüber sprechen, etwa über seine Gefühle, als er die vor Schreck geweiteten Augen des Kindes sah. Er sprach über seine Angst als Vater, dass seinen Kindern Ähnli- ches zustoßen könnte. Auch über die Traurigkeit seiner Kinder, dass ihr Vater einem anderen Kind geschadet hat. Langsam ergänzten sich die Fragmente seiner Erinnerung zu einer Geschichte. Das Ge- fühl von Angst und Hilflosig- keit ließ nach. Mit Hilfe des Therapeuten versuchte er das Geschehene neu zu bewerten, die Erinnerung in sein Leben zu integrieren. Mit Erfolg: Bereits nach ei- nigen Sitzungen schmerzten die Erinnerungen kaum noch. Auch Albträume, der ständige Stress verschwanden. „Bei ei- nem Einzeltrauma kann das sehr rasch gehen“, sagt Sack. Erik H. wird den schreckli- chen Unfall nie vergessen. Doch er ist jetzt Vergangen- heit. Die Erinnerung daran wird ihn nicht mehr krank machen. Leserfragen an den Experten: [email protected] Wenn die verletzte Seele nicht heilt STIEFS SPRECHSTUNDE .................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................. zei entlastete ihn. Dennoch machte sich Erik H. Vorwür- fe. Warum war er genau in die- sem Moment an jenem Ort? Hätte er nicht einfach die Um- gehungsstraße nehmen kön- nen? Freunde und Familie konnten seine Gedanken nicht verstehen. „Aber du hast es doch schwarz auf weiß: Du bist nicht schuld!“, sagten sie. Schließlich konnte Erik H. nicht mehr in den Lieferwa- gen steigen. Wenn sich am Straßenrand etwas bewegte, zuckte er zusammen. Er verlor seine Arbeit. Zu Hause fühlte er sich unnütz, war gereizt, depressiv. Sein Hausarzt stell- te schließlich Bluthochdruck fest. Nach einem Gespräch riet er ihm dazu, einen Thera- peuten aufzusuchen. Rasch war klar: Hinter den Problemen steckt das trauma- tische Erlebnis des Unfalls. Geholfen hat ihm eine spe- eine langanhaltende Störung. In alltäglichen Situationen erwacht die Erinnerung dann plötzlich und ungewollt. Die Betroffenen leiden unter soge- nannten Flashbacks – und das oft noch nach Jahren. Manche haben das Gefühl, verrückt zu werden. Viele versuchen dann, den Auslösern aus dem Weg zu gehen, meiden be- stimmte Orte oder Situatio- nen. Das führt zu Problemen im Alltag, erzeugt zudem Dau- erstress, eine innere Alarmbe- reitschaft, die nicht selten auch körperliche Krankhei- ten nach sich zieht, etwa Herzprobleme oder Diabetes. Auch Erik H. fand nach dem Unfall wenig Verständ- nis. Das Kind überlebte schwer verletzt. Doch würde es lebenslang behindert blei- ben. Die Eltern gaben ihm die Schuld. Er sei zu schnell um die Kurve gebogen. Die Poli- Überfordert das Erlebte die Psyche, zerbricht die Erinne- rung in Stücke. Das Gehirn kann sie nicht zu einer Ge- schichte verweben. Dann drängen plötzlich einzelne Schreckensbilder, verwirren- de Gefühle hoch, werden wie- der Gegenwart. Oft können Betroffene sie nicht in Worte fassen. „Man spricht von einer Fragmentierung“, sagt Sack. Im Gedächtnis liegen die Er- innerungen wie auf unter- schiedlichen Sinnesebenen zerstreut. Mal taucht ein Ge- fühl auf oder ein Geräusch, mal ein Bild oder Geruch – ohne Zusammenhang. Exper- ten sprechen auch von Disso- ziation. „Die Verarbeitung der Information ist quasi stecken geblieben“, sagt Sack. Ob eine Erfahrung trauma- tisierend wirkt, hängt dabei nicht allein von der Stärke der Belastung ab. Hat der Betrof- fene bereits zuvor traumati- sche Erfahrungen gemacht, ist psychisch bereits labil oder ihm fehlt nach dem Erlebnis die Unterstützung durch das Umfeld, steigt das Risiko für Ein Unfall, eine Verge- waltigung, ein Großfeu- er: Selbst wenn der Kör- per danach rasch wieder heilt, bleibt die Seele oft tief verwundet. Ist das Erlebnis zu erschütternd, droht eine Posttraumati- sche Belastungsstörung. Eine spezielle Psychothe- rapie kann Betroffenen helfen. VON SONJA GIBIS Wenn Erik H. in ein Auto stieg, waren die Bilder wieder da: Es hatte geregnet, als er mit dem Lieferwagen um die Ecke bog. Plötzlich lief ein Kind auf die Straße. Das gelbe Fahrrad, die weit aufgerisse- nen Augen – Erik H. sah sie wieder vor sich, hörte den dumpfen Aufprall. Dabei lag der Unfall bereits Monate zu- rück. Doch für ihn wurde er immer wieder Gegenwart. Er träumte jede Nacht davon, konnte kaum noch schlafen. Wenn er ins Auto stieg, be- gann sein Herz zu rasen, seine Hände wurden schweißnass. „Normalerweise hat das Gehirn belastende Erlebnisse nach einigen Tagen verarbei- tet“, sagt Prof. Martin Sack von der Klinik für Psychoso- matische Medizin und Psy- chotherapie des Klinikums rechts der Isar. Der Facharzt für Psychosomatik ist auf die Behandlung von Patienten mit Traumastörungen spezia- lisiert. Ein Überfall, eine Ver- gewaltigung, ein Unfall oder der Anblick einer Katastrophe hat das Leben vieler seiner Pa- tienten mit einem Schlag ver- ändert. Nach dem schreckli- chen Erlebnis hörten bei ih- nen Träume und Ängste auch nach einiger Zeit nicht auf. „Jeder Mensch muss stark belastende Erlebnisse erst mal verarbeiten“, sagt Sack. Eini- ge Tage lang mag es sich an- fühlen, als ob der Boden unter den Füßen wankt. Das Ge- schehene steht immer wieder vor Augen. Doch nach einer solchen akuten Belastungsre- aktion kehrt das Gefühl des Gleichgewichts meist bald zu- rück. Allerdings nicht immer. Sind die Bilder und Träume auch nach Wochen noch da oder treten erst einige Zeit da- nach auf, ist die Gefahr groß, dass ein chronisches Leiden entsteht. Experten sprechen von einer Posttraumatischen Belastungsstörung, wenn ein Mensch ein schreckliches Er- lebnis nicht verarbeiten kann. Ein schreckliches Erlebnis hinterlässt auch seelische Wunden. Viele Betroffene werden von Ängsten verfolgt. FOTO: VARIO Im geschützten Umfeld der Therapie muss Erik H. den Unfall noch einmal durchleben. den Erinnerungen – auf allen Sinnesebenen. Mit Hilfe des äußeren Reizes kann er sich diesen besser nähern. Das kann zu starken Reak- tionen führen. Die Patienten weinen, ihnen wird übel. Wie lebendig die Erinnerungen durch die EMDR werden können, hat Sack oft erlebt. So kann es passieren, dass sich ein Patient danach etwa im Spiegel betrachtet – um si- cher zu sein, dass dort, wo einst die traumatisierende Wunde war, nicht wieder Blut fließt. „Das kann heftig sein“, sagt Sack. Doch ist die Kon- frontation hilfreich, um die seelische Verletzung zu verar- beiten. Ruft später ein äußerer Reiz Erinnerungen hervor, sind die Betroffenen ihnen nicht mehr hilflos ausgelie- fert. SONJA GIBIS Bei der Suche nach einem Experten hilft zum Beispiel die Deutschspra- chige Gesellschaft für Psychotrau- matologie: www.degpt.de. Für Be- troffene von sexueller Gewalt gibt es ein neues Internetportal: www.hilfeportal-missbrauch.de rungen, sogenannte Tapps, oder Töne können die Erinne- rung intensivieren. Offenbar wirkt der zusätzliche Reiz, den der Patient während der belastenden Erinnerung er- fährt, entspannend und angst- lösend. Andererseits hilft er, die fragmentierten Erinnerun- gen wieder zu verbinden. Ei- ner Theorie zufolge können bei nicht verarbeiteten trau- matischen Erinnerungen Bil- der, die in der rechten Hirn- hälfte erinnert werden, zu- nächst oft nicht mit dem Sprachzentrum verbunden werden. Der zusätzliche Reiz der sogenannten bilateralen Stimulation vermag die Ge- hirnhälften wieder zu syn- chronisieren. Die Patienten können die Erinnerungen in Worte fassen, das Geschehen zu einer Geschichte zusam- menfügen – und verarbeiten. Der Patient folgt dabei sei- nen inneren Bildern, den Empfindungen seines Kör- pers. Er achtet darauf, welche Gedanken und Gefühle diese begleiten. Gezielt konfron- tiert er sich mit den belasten- zeigt sie gute Erfolge. Dem- nach kann EMDR helfen, un- verarbeitete Schockerlebnisse rascher zu bewältigen als die bloße Gesprächstherapie. „Schon nach drei Sitzungen kann ein belastendes Erlebnis gut verarbeitet sein“, sagt Sack, der selbst viel mit dieser Methode arbeitet. Entwickelt wurde EMDR von der amerikanischen The- rapeutin Francine Shapiro. Bei einem Spaziergang ent- deckte sie, dass sich ihre Angst löste, als sie dabei ihre Augen hin und her bewegte. Shapiro hatte zuvor eine Krebsdiagnose erhalten. Die Therapeutin beschäf- tigte sich eingehend mit ihrer Entdeckung – und entwickel- te Ende der 1980er-Jahre eine neue Therapiemethode. Auch in Deutschland gibt es inzwi- schen ein EMDR-Institut, das Therapeuten ausbildet. Dies ist wichtig: Denn die Therapie birgt auch Gefahren. Das Wie- dererleben der traumatischen Situation kann sehr stark wer- den. Gefühle können den Be- handelten überfluten und das Eine junge Frau versucht das Erlebnis eines Überfalls zu überwinden: Ein Unbekann- ter hatte ihr ein Messer in den Rücken gestochen. In der Traumatherapie werden ihre Erinnerungen immer lebendi- ger. Plötzlich stockt ihre Er- zählung. Prof. Martin Sack hält seine Hand vor ihre Au- gen. Er bewegt sie hin und her. Die Patientin folgt den Bewe- gungen mit den Augen. Plötz- lich ist alles wieder da, selbst das Geräusch, als das Messer ihr in den Rücken drang. Die Methode nennt sich „Augendesensitivierung und Neuverarbeitung traumati- scher Erfahrungen“, auf Eng- lisch „Eye Movement Desen- sitization and Reprocessing“. Man spricht daher auch von EMDR. Dabei handelt es sich weder um Hypnose noch um Hokuspokus. Die therapeuti- sche Technik ist in wissen- schaftlichen Studien gut un- tersucht und wurde auch in die Leitlinien zur Behandlung von Posttraumatischen Belas- tungsstörungen aufgenom- men. Denn vor allem hier Bewegungen der Hand helfen bei der Traumatherapie sich die Patienten zurückzie- hen können, wenn sie sich überfordert fühlen. Auch nach großer Belastung ist die- ser hilfreich, etwa am Ab- schluss einer Sitzung. Oft eingesetzt werden bei der EMDR Bewegungen der Hände oder Finger. Doch auch wechselnde Handberüh- Trauma sogar verstärken. Die Patienten müssen daher gut vorbereitet werden. Die The- rapie konzentriert sich zu- nächst darauf, die seelische Situation zu stabilisieren. Ge- meinsam mit dem Therapeu- ten wird dabei etwa die Vor- stellung eines inneren siche- ren Ortes geschaffen, an den Der äußere Reiz der sich bewegenden Hand hilft der Patien- tin, traumatisierende Erlebnisse zu verarbeiten. A. SCHMIDHUBER

Wenn die verletzte Seele nicht heilt DER KINDHEIT · Münchner Merkur Nr. 243 | Montag, 21. Oktober 2013 Redaktion Medizin: (089) 53 06-425 [email protected] Telefax:

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Münchner Merkur Nr. 243 | Montag, 21. Oktober 2013

Redaktion Medizin: (089) 53 [email protected]

Telefax: (089) 53 06-86 61 17Leben

TRAUMA INDER KINDHEIT

Gewalt, Missbrauch,VernachlässigungNicht immer ist die Ursa-che einer posttraumati-schen Störung ein einzel-nes Schockerlebnis. An-ders ist das oft bei Erfah-rungen in der Kindheit.Die traumatisierenden Er-lebnisse wie sexuellerMissbrauch, Gewalt oderauch Vernachlässigungdauerten oft über Jahre anoder wiederholten sich.Sie sind tief in der Seeleverankert und haben Ver-halten und Persönlichkeitder Betroffenen geprägt.Diese leiden oft unter Ge-fühlen von Schuld, Hilflo-sigkeit und Minderwertig-keit, haben Probleme, sichzu schützen und anderenGrenzen zu setzen. Oftkümmern sie sich nicht gutum sich selbst und habenSchwierigkeiten, mit ihrenGefühlen umzugehen.

Erneut OpferDer mangelnde Selbst-schutz ist ein Grund, wa-rum Frauen, die in derKindheit geschlagen odermissbraucht wurden, imspäteren Leben ähnlicheErfahrungen oft wiederho-len. Sie haben gelernt, umeine enge Bindung zu ei-nem Menschen aufrecht-zuerhalten, viel Leid zu er-tragen – und werden daheroft erneut Opfer. Viele ent-wickeln psychische Pro-bleme wie Angststörungenoder Depressionen. „Hin-ter fast jeder psychischenStörung kann ein Traumastecken“, sagt Traumathe-rapeut Prof. Martin Sack.Andererseits lösen er-schütternde Erlebnisse inder Kindheit aber nicht im-mer ein Trauma aus.

Erinnerung verändern

Sind unverarbeitete Erleb-nisse aus der Kindheit dieUrsache psychischer Pro-bleme, kann ebenfalls eineTraumatherapie helfen.„Auch Erwachsene kön-nen ihr Verhalten nochsehr gut verändern“, sagtSack. Doch dauert dieTherapie in der Regel deut-lich länger als bei einemSchockerlebnis im späte-ren Leben. Auch traumati-sche Erfahrungen in derKindheit werden in derTherapie wieder wachge-rufen, um sie zu verarbei-ten. Doch soll der Betroffe-ne sie nicht einfach erneuterleben, als sei er noch dashilflose Kind von damals.Gemeinsam mit dem The-rapeuten entwickelt derPatient etwa gedanklicheTechniken, um sich zuschützen. So kann ihm inder Erinnerung seine er-wachsene Persönlichkeitzur Seite stehen. Sie gibtdem Kind das Gefühl, jetztsicher zu sein. „Die Ver-gangenheit lässt sich so so-gar umschreiben“, sagtSack. In der Therapie kannetwa ein anderer Ausgangeiner als schrecklich erleb-ten Situation erdacht wer-den. Das kann die Vergan-genheit nicht verändern,doch die Gefühle, die dieErinnerung begleiten. Unddamit ihren Einfluss aufdie Gegenwart. sog

In der Kindheit erlebte Ge-walt kann ein Traumaauslösen. WALDHAESL

Als Chefarzt im KlinikumGroßhadern erlebe ich täg-lich, wie wichtig medizini-sche Aufklärung ist. MeineKollegen und ich möchtenden Lesern daher jeden Mon-tag ein Thema vorstellen, dasfür ihre Gesundheit von Be-deutung ist. Im Zentrum derheutigen Seite steht die Post-traumatische Belastungsstö-rung. Der Experte des Bei-trags ist Prof. Martin Sack. Erist Leiter der Sektion Trau-mafolgestörungen der Klinikfür Psychosomatische Medi-zin und Psychotherapie, Kli-nikum rechts der Isar.

Prof. Dr. Christian Stief

zielle Traumatherapie. Dabeiwird gezielt an der belasten-den Erfahrung gearbeitet. Beider Anamnese versucht derTherapeut zunächst sicherzu-stellen, dass es nicht weiteretraumatische Erlebnisse gibt.„So weiß man, was in der The-rapie passieren könnte“, sagtSack. Etwa ob das Risiko be-steht, ein anderes, altes Trau-ma wachzurufen.

In manchen Fällen könnenauch Medikamente helfen,den Patienten vor der Kon-frontation mit dem traumati-sierenden Erlebnissen zu sta-bilisieren. Zum Einsatz kom-men etwa Antidepressiva undBetablocker. „Aber ein Thera-peut kann das besser als jedesMedikament“, sagt Sack.

Im geschützten Umfeld derTherapie erlebte Erik H. denUnfall nochmals. Das bedeu-tet nicht nur, sich an die Ge-schehnisse genau zu erinnern.Wichtig sind vor allem die da-mit verbundenen Gefühle undBewertungen wie Hilflosig-keit, Angst und Schuld. Sielassen sich beim erneutenDurchleben verändern.

Erst wollten sich Erik H.sErinnerungen zu keiner Ge-schichte fügen. Der Stress warfür ihn enorm. Doch der The-rapeut spürt, wann der Patientüberfordert ist und emotiona-le Entlastung braucht.

Anfangs vermied Erik H. imGespräch die schmerzlichstenBilder. Doch bald konnte erdarüber sprechen, etwa überseine Gefühle, als er die vorSchreck geweiteten Augendes Kindes sah. Er sprachüber seine Angst als Vater,dass seinen Kindern Ähnli-ches zustoßen könnte. Auchüber die Traurigkeit seinerKinder, dass ihr Vater einemanderen Kind geschadet hat.Langsam ergänzten sich dieFragmente seiner Erinnerungzu einer Geschichte. Das Ge-fühl von Angst und Hilflosig-keit ließ nach. Mit Hilfe desTherapeuten versuchte er dasGeschehene neu zu bewerten,die Erinnerung in sein Lebenzu integrieren.

Mit Erfolg: Bereits nach ei-nigen Sitzungen schmerztendie Erinnerungen kaum noch.Auch Albträume, der ständigeStress verschwanden. „Bei ei-nem Einzeltrauma kann dassehr rasch gehen“, sagt Sack.Erik H. wird den schreckli-chen Unfall nie vergessen.Doch er ist jetzt Vergangen-heit. Die Erinnerung daranwird ihn nicht mehr krankmachen.

Leserfragen an den Experten:[email protected]

Wenn die verletzte Seele nicht heiltSTIEFS SPRECHSTUNDE ..................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................

zei entlastete ihn. Dennochmachte sich Erik H. Vorwür-fe. Warum war er genau in die-sem Moment an jenem Ort?Hätte er nicht einfach die Um-gehungsstraße nehmen kön-nen? Freunde und Familiekonnten seine Gedankennicht verstehen. „Aber du hastes doch schwarz auf weiß: Dubist nicht schuld!“, sagten sie.Schließlich konnte Erik H.

nicht mehr in den Lieferwa-gen steigen. Wenn sich amStraßenrand etwas bewegte,zuckte er zusammen. Er verlorseine Arbeit. Zu Hause fühlteer sich unnütz, war gereizt,depressiv. Sein Hausarzt stell-te schließlich Bluthochdruckfest. Nach einem Gesprächriet er ihm dazu, einen Thera-peuten aufzusuchen.

Rasch war klar: Hinter denProblemen steckt das trauma-tische Erlebnis des Unfalls.Geholfen hat ihm eine spe-

eine langanhaltende Störung.In alltäglichen Situationen

erwacht die Erinnerung dannplötzlich und ungewollt. DieBetroffenen leiden unter soge-nannten Flashbacks – und dasoft noch nach Jahren. Manchehaben das Gefühl, verrückt zuwerden. Viele versuchendann, den Auslösern aus demWeg zu gehen, meiden be-stimmte Orte oder Situatio-

nen. Das führt zu Problemenim Alltag, erzeugt zudem Dau-erstress, eine innere Alarmbe-reitschaft, die nicht seltenauch körperliche Krankhei-ten nach sich zieht, etwaHerzprobleme oder Diabetes.

Auch Erik H. fand nachdem Unfall wenig Verständ-nis. Das Kind überlebteschwer verletzt. Doch würdees lebenslang behindert blei-ben. Die Eltern gaben ihm dieSchuld. Er sei zu schnell umdie Kurve gebogen. Die Poli-

Überfordert das Erlebte diePsyche, zerbricht die Erinne-rung in Stücke. Das Gehirnkann sie nicht zu einer Ge-schichte verweben. Danndrängen plötzlich einzelneSchreckensbilder, verwirren-de Gefühle hoch, werden wie-der Gegenwart. Oft könnenBetroffene sie nicht in Wortefassen. „Man spricht von einerFragmentierung“, sagt Sack.Im Gedächtnis liegen die Er-innerungen wie auf unter-schiedlichen Sinnesebenenzerstreut. Mal taucht ein Ge-fühl auf oder ein Geräusch,mal ein Bild oder Geruch –ohne Zusammenhang. Exper-ten sprechen auch von Disso-ziation. „Die Verarbeitung derInformation ist quasi steckengeblieben“, sagt Sack.

Ob eine Erfahrung trauma-tisierend wirkt, hängt dabeinicht allein von der Stärke derBelastung ab. Hat der Betrof-fene bereits zuvor traumati-sche Erfahrungen gemacht, istpsychisch bereits labil oderihm fehlt nach dem Erlebnisdie Unterstützung durch dasUmfeld, steigt das Risiko für

Ein Unfall, eine Verge-waltigung, ein Großfeu-er: Selbst wenn der Kör-per danach rasch wiederheilt, bleibt die Seeleoft tief verwundet. Ist dasErlebnis zu erschütternd,droht eine Posttraumati-sche Belastungsstörung.Eine spezielle Psychothe-rapie kannBetroffenen helfen.

VON SONJA GIBIS

Wenn Erik H. in ein Autostieg, waren die Bilder wiederda: Es hatte geregnet, als ermit dem Lieferwagen um dieEcke bog. Plötzlich lief einKind auf die Straße. Das gelbeFahrrad, die weit aufgerisse-nen Augen – Erik H. sah siewieder vor sich, hörte dendumpfen Aufprall. Dabei lagder Unfall bereits Monate zu-rück. Doch für ihn wurde erimmer wieder Gegenwart. Erträumte jede Nacht davon,konnte kaum noch schlafen.Wenn er ins Auto stieg, be-gann sein Herz zu rasen, seineHände wurden schweißnass.

„Normalerweise hat dasGehirn belastende Erlebnissenach einigen Tagen verarbei-tet“, sagt Prof. Martin Sackvon der Klinik für Psychoso-matische Medizin und Psy-chotherapie des Klinikumsrechts der Isar. Der Facharztfür Psychosomatik ist auf dieBehandlung von Patientenmit Traumastörungen spezia-lisiert. Ein Überfall, eine Ver-gewaltigung, ein Unfall oderder Anblick einer Katastrophehat das Leben vieler seiner Pa-tienten mit einem Schlag ver-ändert. Nach dem schreckli-chen Erlebnis hörten bei ih-nen Träume und Ängste auchnach einiger Zeit nicht auf.

„Jeder Mensch muss starkbelastende Erlebnisse erst malverarbeiten“, sagt Sack. Eini-ge Tage lang mag es sich an-fühlen, als ob der Boden unterden Füßen wankt. Das Ge-schehene steht immer wiedervor Augen. Doch nach einersolchen akuten Belastungsre-aktion kehrt das Gefühl desGleichgewichts meist bald zu-rück. Allerdings nicht immer.Sind die Bilder und Träumeauch nach Wochen noch daoder treten erst einige Zeit da-nach auf, ist die Gefahr groß,dass ein chronisches Leidenentsteht. Experten sprechenvon einer PosttraumatischenBelastungsstörung, wenn einMensch ein schreckliches Er-lebnis nicht verarbeiten kann.

Ein schreckliches Erlebnis hinterlässt auch seelische Wunden. Viele Betroffene werden von Ängsten verfolgt. FOTO: VARIO

Im geschützten Umfeld der Therapie muss

Erik H. den Unfall noch einmal durchleben.

den Erinnerungen – auf allenSinnesebenen. Mit Hilfe desäußeren Reizes kann er sichdiesen besser nähern.

Das kann zu starken Reak-tionen führen. Die Patientenweinen, ihnen wird übel. Wielebendig die Erinnerungendurch die EMDR werdenkönnen, hat Sack oft erlebt.So kann es passieren, dasssich ein Patient danach etwaim Spiegel betrachtet – um si-cher zu sein, dass dort, woeinst die traumatisierendeWunde war, nicht wieder Blutfließt. „Das kann heftig sein“,sagt Sack. Doch ist die Kon-frontation hilfreich, um dieseelische Verletzung zu verar-beiten. Ruft später ein äußererReiz Erinnerungen hervor,sind die Betroffenen ihnennicht mehr hilflos ausgelie-fert. SONJA GIBIS

Bei der Suche nach einem Expertenhilft zum Beispiel die Deutschspra-chige Gesellschaft für Psychotrau-matologie: www.degpt.de. Für Be-troffene von sexueller Gewalt gibtes ein neues Internetportal:www.hilfeportal-missbrauch.de

rungen, sogenannte Tapps,oder Töne können die Erinne-rung intensivieren. Offenbarwirkt der zusätzliche Reiz,den der Patient während derbelastenden Erinnerung er-fährt, entspannend und angst-lösend. Andererseits hilft er,die fragmentierten Erinnerun-gen wieder zu verbinden. Ei-ner Theorie zufolge könnenbei nicht verarbeiteten trau-matischen Erinnerungen Bil-der, die in der rechten Hirn-hälfte erinnert werden, zu-nächst oft nicht mit demSprachzentrum verbundenwerden. Der zusätzliche Reizder sogenannten bilateralenStimulation vermag die Ge-hirnhälften wieder zu syn-chronisieren. Die Patientenkönnen die Erinnerungen inWorte fassen, das Geschehenzu einer Geschichte zusam-menfügen – und verarbeiten.

Der Patient folgt dabei sei-nen inneren Bildern, denEmpfindungen seines Kör-pers. Er achtet darauf, welcheGedanken und Gefühle diesebegleiten. Gezielt konfron-tiert er sich mit den belasten-

zeigt sie gute Erfolge. Dem-nach kann EMDR helfen, un-verarbeitete Schockerlebnisserascher zu bewältigen als diebloße Gesprächstherapie.„Schon nach drei Sitzungenkann ein belastendes Erlebnisgut verarbeitet sein“, sagtSack, der selbst viel mit dieserMethode arbeitet.

Entwickelt wurde EMDRvon der amerikanischen The-rapeutin Francine Shapiro.Bei einem Spaziergang ent-deckte sie, dass sich ihreAngst löste, als sie dabei ihreAugen hin und her bewegte.Shapiro hatte zuvor eineKrebsdiagnose erhalten.

Die Therapeutin beschäf-tigte sich eingehend mit ihrerEntdeckung – und entwickel-te Ende der 1980er-Jahre eineneue Therapiemethode. Auchin Deutschland gibt es inzwi-schen ein EMDR-Institut, dasTherapeuten ausbildet. Diesist wichtig: Denn die Therapiebirgt auch Gefahren. Das Wie-dererleben der traumatischenSituation kann sehr stark wer-den. Gefühle können den Be-handelten überfluten und das

Eine junge Frau versucht dasErlebnis eines Überfalls zuüberwinden: Ein Unbekann-ter hatte ihr ein Messer in denRücken gestochen. In derTraumatherapie werden ihreErinnerungen immer lebendi-ger. Plötzlich stockt ihre Er-zählung. Prof. Martin Sackhält seine Hand vor ihre Au-gen. Er bewegt sie hin und her.Die Patientin folgt den Bewe-gungen mit den Augen. Plötz-lich ist alles wieder da, selbstdas Geräusch, als das Messerihr in den Rücken drang.

Die Methode nennt sich„Augendesensitivierung undNeuverarbeitung traumati-scher Erfahrungen“, auf Eng-lisch „Eye Movement Desen-sitization and Reprocessing“.Man spricht daher auch vonEMDR. Dabei handelt es sichweder um Hypnose noch umHokuspokus. Die therapeuti-sche Technik ist in wissen-schaftlichen Studien gut un-tersucht und wurde auch indie Leitlinien zur Behandlungvon Posttraumatischen Belas-tungsstörungen aufgenom-men. Denn vor allem hier

Bewegungen der Hand helfen bei der Traumatherapie

sich die Patienten zurückzie-hen können, wenn sie sichüberfordert fühlen. Auchnach großer Belastung ist die-ser hilfreich, etwa am Ab-schluss einer Sitzung.

Oft eingesetzt werden beider EMDR Bewegungen derHände oder Finger. Dochauch wechselnde Handberüh-

Trauma sogar verstärken. DiePatienten müssen daher gutvorbereitet werden. Die The-rapie konzentriert sich zu-nächst darauf, die seelischeSituation zu stabilisieren. Ge-meinsam mit dem Therapeu-ten wird dabei etwa die Vor-stellung eines inneren siche-ren Ortes geschaffen, an den

Der äußere Reiz der sich bewegenden Hand hilft der Patien-tin, traumatisierende Erlebnisse zu verarbeiten. A. SCHMIDHUBER