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Nach Auflösung der UdSSR spielte Zentralasien zunächst keine Rolle mehr in Russlands Außenpolitik. In Wladimir Putins zweiter Amtszeit als Präsident (2004-2008) veränderte sich dies, da Moskau wieder über die für machtvolles Auftreten notwendigen finanziellen Mittel und Instru- mente verfügte. Zentralasien wurde zu einer wichtigen Bühne, auf der Russland heute wieder sicherheitspolitische und ökonomische Interes- sen verfolgt und dabei in Konkurrenz zu China und den USA agiert. Die russische Führung kann dabei auf Netzwerke und Praktiken aus der so- wjetischen Ära zurückgreifen. Putins Rollenmodell und die »gelenkte De- mokratie« seines Nachfolgers Dmitri Medwedjew – hier im Bild anläss- lich eines Staatsbesuches in Usbekistan Anfang 2009 – kommen den Vorstellungen der autoritären Herrscher Zentralasiens entgegen. Deren Bereitschaft, sich einem Moskauer Diktat zu unterwerfen, erscheint al- lerdings gering. picture-alliance/dpa/Astakhov

WGU 16 Matwejewa - R - zmsbw.de · 167 Traditionen, Kalküle, Funktionen – Russlands Rückkehr nach Zentralasien Im ersten Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der UdSSR spiel-ten die

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Nach Auflösung der UdSSR spielte Zentralasien zunächst keine Rolle mehr in Russlands Außenpolitik. In Wladimir Putins zweiter Amtszeit als Präsident (2004-2008) veränderte sich dies, da Moskau wieder über die für machtvolles Auftreten notwendigen finanziellen Mittel und Instru-mente verfügte. Zentralasien wurde zu einer wichtigen Bühne, auf der Russland heute wieder sicherheitspolitische und ökonomische Interes-sen verfolgt und dabei in Konkurrenz zu China und den USA agiert. Die russische Führung kann dabei auf Netzwerke und Praktiken aus der so-wjetischen Ära zurückgreifen. Putins Rollenmodell und die »gelenkte De-mokratie« seines Nachfolgers Dmitri Medwedjew – hier im Bild anläss-lich eines Staatsbesuches in Usbekistan Anfang 2009 – kommen den Vorstellungen der autoritären Herrscher Zentralasiens entgegen. Deren Bereitschaft, sich einem Moskauer Diktat zu unterwerfen, erscheint al-lerdings gering.

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Traditionen, Kalküle, Funktionen – Russlands Rückkehr nach Zentralasien

Im ersten Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der UdSSR spiel-ten die zentralasiatischen Staaten eine geringe Rolle in Russlands Politik gegenüber dem »Nahen Ausland«. Das amerikanische und europäische Vorrücken in die Region nach dem 11. Septem-ber 2001 veranlasste die Moskauer Führung jedoch, sich vor Ort wieder stärker zu engagieren. Der Aufstieg des Islamismus, die »Tulpenrevolution« in Kirgisistan im März 2005 und die blutige Niederschlagung der Demonstration im usbekischen Andischan (vgl. den Beitrag von Imke Dierßen) zwei Monate später verstärk-ten die Sorge vor weiteren politischen Unruhen, die der Kontrolle der alternden Führer entgleiten könnten. Deshalb wurde Zen-tralasien vom postsowjetischen Hinterhof russischer Interessen zurück ins »Rampenlicht« katapultiert. In den transatlantischen Beziehungen war eine geopolitische Rhetorik zu vernehmen, die es aus der Sicht des Kremls erforderlich zu machen schien, Ein-fluss wiederzugewinnen.

Russlands Rückzug aus Zentralasien in den 1990er-Jah-ren entsprach eher einem Versäumnis als einem Plan. Dafür gibt es zwei Erklärungen: Einmal ha�en sich die Interventions-möglichkeiten der Russischen Föderation dramatisch verrin-gert. Außerdem boten sich den regionalen Führern mit Blick auf die USA und Europa verschiedene außenpolitische Optio-nen an. Hinzu kam, dass das Erbe des sowjetischen Denkens es verhinderte, aus einer realistischen Perspektive auf Zentral- asien zu blicken. Im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit spielten Themen wie Friedensmissionen im »Nahen Ausland«, vor allem im Bürgerkrieg in Tadschikistan (1992-1997), oder das Schicksal der ethnischen Russen Zentralasiens in der Fachdiskussion eine prominente Rolle. In vier Politikfeldern verloren die russisch-zentralasiatischen Beziehungen in dieser Zeit an Substanz: Ers-tens gingen der Handel und die russischen Direktinvestitionen zurück. Zweitens misslang die verteidigungs- und sicherheits- politische Integration, da Russland seine militärische Präsenz vor Ort verringerte. Dri�ens nahm der kulturelle Einfluss ab, weil die russische Bevölkerung emigrierte, und schließlich verringer-

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te sich viertens die Nutzung von Bodenschätzen und Transport-systemen, da sich die Nachfrage diversifizierte und sich neue Exportwege eröffneten.

In der zweiten Amtsperiode von Präsident Wladimir Putin kehrten sich diese Entwicklungen um. Die verbesserten Rah-menbedingungen der Russischen Föderation, höhere Gewinne aus dem Öl- und Gasgeschä� und die Suche nach weiteren Ver-bündeten, um die Rückschläge aus den euro-atlantischen Bezie-hungen auszugleichen, boten für Moskau die Grundlagen, um sich stärker in den ehemaligen Sowjetrepubliken zu engagieren. Effizientere Entscheidungsprozesse in der Präsidialverwaltung trugen dazu bei, die Reibungsverluste durch konkurrierende Lobbygruppen zu reduzieren und die sprungha�e Politik des vergangenen Jahrzehnts zu überwinden. Russland entfaltet neue Aktivitäten und auf seiner politischen Agenda stehen vielfälti-ge Themen, die Experten früher übersahen. Die Handschri� des Kremls ist im Bereich der Sicherheit, der politischen Ökonomie, der Kultur und der Ideologie sowie in der regionalen Zusam-menarbeit immer stärker zu spüren.

Offiziell verfolgt Russland in seiner Zentralasien-Politik fol-gende Prioritäten: Energie, insbesondere die fossilen Rohstoffe, Wirtscha�, bi- und multilaterale Initiativen im Kampf gegen den Terrorismus, Organisierte Kriminalität und Drogenhandel, aber auch »Menschenrechte«. Letzteres bedeutet nach dem Verständ-nis Moskaus in erster Linie den Schutz der ethnischen Russen. Schließlich spielt das Kaspische Meer eine wichtige Rolle, so etwa die Klärung seines rechtlichen Status und die »Entmilitari-sierung« des Raumes.

Säulen der russischen Politik

Für Moskau stehen vor allem die innenpolitischen Auswirkungen der russischen Politik im Blickpunkt – der Zustrom von Drogen und Arbeitsmigranten, das Kalkül regionaler Sicherheit, ener-giepolitische Erwägungen, internationale Beziehungen sowie die wachsende Rolle Chinas und das Gefühl, mit dem Westen in einer geopolitischen Konkurrenz zu stehen. Der Kreml besitzt nach einem Jahrzehnt relativer Inaktivität genug Ehrgeiz sowie

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die entsprechenden Fähigkeiten, jede Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Unter den Politikern herrscht die Mentalität vor, dass die derzeitige innenpolitische und internationale Lage, die Russ-lands Interessen begünstigt, nicht ewig anhalten wird. Daher scheint die russische Außenpolitik auf drei Säulen zu ruhen.

»Russland kommt zuerst.« Das Vielvölkerreich ist Geschich-te. Eine binnenzentrierte Politik orientiert sich an den gegenwär-tigen Grenzen und der eigenen Bevölkerung. Dies spiegelt einen pragmatischen Opportunismus des Kremls im Umgang mit sei-nen neuen Nachbarn wider. Die gemeinsame sowjetische Ver-gangenheit wird dabei nicht beschworen. Moskau möchte zwar immer noch eine bedeutsame Rolle in Zentralasien spielen, aber nicht mehr zuviel Verantwortung übernehmen. Engagement soll nicht zur Belastung werden. Das »Nahe Ausland« mit seinen of-fenen Grenzen und den Nachwehen historischer Einheit hat sich in ein »normales Ausland« verwandelt. Ehemalige Sowjetrepub-liken werden daher wie fremde Staaten behandelt.

»Die Instrumente sind aufeinander abgestimmt«. Sie bilden verschiedene Face�en einer Strategie. Im Gegensatz zur Jelzin-Ära gesta�en es nunmehr die stärkere politische Kohärenz und das Vertrauen auf die eigene politische Stärke Russland, seine Rolle in der Region auszubauen. Ob Energie- oder Sicherheits-fragen der wichtigste Antrieb sind, ist dabei nachrangig. Das zentrale Motiv ist, Russlands Position zu stärken, indem staatli-che Instrumente der jeweiligen Lage angepasst werden.

»Initiativen dienen als Pilotprojekte«. Unabhängig von der spezifischen Region erfüllen alle Initiativen die Funktion, neue Po-litikansätze zu testen. Zentralasien dient als Versuchsfeld, weil es in Moskau im Vergleich mit den übrigen Anrainerstaaten als leich-teres politisches Terrain gilt, da die politische Führung und die Bevölkerung Russland mehrheitlich positiv gegenüber stehen.

Zentralasiens Bedeutung für die Russische Föderation speist sich aus dem, was die Region anzubieten hat, wie natürlichen Ressourcen, billigen Arbeitskrä�en und Transportnetzen. Um-gekehrt beeinflussen die Gefahren, die aus Zentralasien drohen – wie die bereits erwähnten Drogen sowie Organisierte Krimi-nalität oder der Dschihad-Terror –, die russische Wahrnehmung vehement. Aber auch die Nachbarscha� zu Staaten wie Iran, Af-ghanistan und China spielt eine nicht unwesentliche Rolle.

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Anders als im Südkaukasus steht die russische Führung in Zentralasien nicht vor unangenehmen Entscheidungen. Es fällt leicht, den Westen vor einem Engagement in Zentralasien abzu-schrecken, weil Moskau vom Rückzug der USA und der EU nur profitieren kann. Die äußerst konservative lokale Mentalität hat sich von der gemeinsamen Vergangenheit kaum gelöst. Aus die-sen alten Gewohnheiten kann Moskau entsprechenden Nutzen ziehen.

Russlands Aktivposten in Zentralasien bildet eine Mischung aus traditionellen Verhaltensmustern und Einstellungen, aber auch von modernen Waren und We�bewerbsvorteilen, die es heute anbieten kann. Moskau nutzt vor allem, dass die sowjeti-schen Institutionen, die damit verbundene bürokratische Kultur des Gemeinwesens und die professionellen Netzwerke immer noch sehr stark nachwirken. Dazu kommt die »Russophilie« der Herrschenden, verstärkt durch gemeinsame Sprache, Kul-tur und dieselben Informationskanäle. Neben dieser altherge-brachten Verbundenheit bietet der Kreml aber auch Kooperation im Kampf gegen Terrorismus und Drogen sowie Investitionen in Projekte, die andere externe Akteure wenig interessieren. Schließlich bildet die Föderation ein Gegengewicht zur westli-chen Einmischung in die zentralasiatische Innenpolitik (vgl. den Beitrag von Andrea Schmitz).

De facto hat das benachbarte, energiereiche und wirtscha�lich erfolgreiche Kasachstan für Russland höchste Priorität, während die anderen Staaten eher auf Distanz gehalten werden. Moskau und Astana verbindet vor allem das Gefühl, dass die sow- jetische Faustformel von »Kasachstan und Zentralasien« immer noch gilt. Kirgisistan ist dabei vermutlich am unwichtigsten und zieht seine Bedeutung vor allem daraus, dass die USA und China Interessen an diesem Land signalisieren.

Unsicheres Terrain sichern

Die größte Bedrohung in der Region geht vom instabilen Afgha-nistan aus. Dies scha� eine Schni�menge politischer Interessen Moskaus mit den zentralasiatischen Regierungen im Kampf gegen Terrorismus und Drogen. Die russische Trump�arte ist

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das Militär, mi�els dessen der Kreml glaubt, Sicherheitsgarantien versprechen zu können – ein Vorteil gegenüber anderen exter-nen Akteuren. Denn Russland ist traditionell mit Truppen vor Ort präsent. In Kirgisistan und Tadschikistan unterhält Moskau Stützpunkte. Im kirgisischen Kant entstand im Oktober 2003 eine Lu�waffenbasis, auf der Truppenkontingente im Rahmen der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS), dem ehemaligen Taschkenter Abkommen, stationiert sind.

In Tadschikistan stand die 201. Mot.-Schützen-Division als Peacekeeping-Truppe im Einsatz. 2004 wurde ihr Stationie-rungsort in eine Militärbasis umgewandelt. Nach Einschätzung des russischen Botscha�ers in Tadschikistan, Ramasan Abdul-latipow, wären russische Truppen die ersten, die im Fall einer Gefahr zu Hilfe kommen könnten, sodass der Stützpunkt als wichtige Sicherheitsgarantie gilt. Die militärische Präsenz in Tadschikistan, die Bodentruppen und eine Lu�überwachungs-station in Nurek umfasst, fällt um einiges robuster aus als die in Kirgisistan, was angesichts der Nähe zu Afghanistan kaum erstaunt (vgl. den Beitrag von Bernd Kuzmits).

In den Jahren 2004/05 zog sich Russland von der tadschikisch-afghanischen Grenze zurück und beendete damit die Grenzkon-trolle eines Partnerlandes der Gemeinscha� Unabhängiger Staa-ten (GUS). Nach der Logik des »Russland kommt zuerst« hat die Sicherung des eigenen Territoriums höhere Priorität. Doch im Falle der Drogen verlaufen die Schmuggelrouten aus Afghanistan vor allem über Tadschikistan bis nach Russland (vgl. Karte auf S. 123). Dort nimmt der Heroinkonsum ebenso zu wie die damit verbundene Beschaffungskriminalität. Nach dem Rückzug aus Tadschikistan ergriff Russland eine Vielzahl von Maßnahmen: Das Land erhielt Hilfe, um eigene Grenztruppen aufzubauen. Außerdem überwacht Russland verstärkt die Demarkationslinie zu Kasachstan, die den russischen Staat vom Rest Zentralasiens trennt. Obwohl Präsident Putin 2006 die Grenzkooperation mit dem Nachbarland zu einer der Kernprioritäten erklärte, könnte es auch jederzeit zur Schließung der russisch-kasachischen Über-gänge kommen.

Die Zusammenarbeit mit Usbekistan schreitet schneller voran, seit die europäischen und US-Verbündeten »Berührungs-ängste« hinsichtlich des Präsidenten Islam Karimow entwickelt

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haben. Im September 2006 fand eine bilaterale Militärübung zur Anti-Terror-Operation in der russischen Region Krasnodar sta�. Das Übungsszenario ging von einer Krise in Zentralasien aus, die Russland zum Eingreifen zwang. Nahe der afghanischen Grenze könnte sogar eine kleine russische Militärmission entstehen, um in diesem unberechenbarem Umfeld den Kern einer vorgelager-ten Verteidigung zu schaffen.

Zusätzlich zu den bilateralen Beziehungen versucht Moskau auch die regionale Sicherheitskooperation zu fördern. Wichtigs-tes Instrument ist dabei die OVKS, der Russland, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Armenien angehören, während Usbekistan nach seinem Austri� 1999 sieben Jahre spä-ter wieder dazustieß. Zwar sieht die OVKS Strukturen und Ar-beitsgruppen im Kampf gegen Terrorismus, Drogenhandel und konventionelle Bedrohungen vor, aber bislang bestehen diese eher auf dem Papier. Bei den Moskauer Ambitionen, kooperative Sicherheitsstrukturen zu schaffen, steht der Kaspische Raum im Vordergrund. Im August 2006 kamen bei einem gemeinsamen

Die Präsidenten Nursultan Nasarbajew (Kasachstan), Dmitri Medwedjew (Russ-land), Kurmanbek Bakijew (Kirgisistan), Islam Karimow (Usbekistan) und Alexander Lukaschenko (Weißrussland) anlässlich eines Treffens des Komitees der Sekretäre der Sicherheitsräte der OVKS in Moskau am 9. Februar 2009 (von links).

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Manöver der OVKS an der kasachischen Küste des Kaspischen Meeres 2500 Soldaten aus Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan zum Einsatz. Diese sollen die personelle Grundla-ge für eine gemeinsame Kaspische Marinegruppe bilden.

Der Ausbau der OVKS vollzieht sich eher schleppend. Es er-scheint zweifelha�, ob sie sich in operationeller Hinsicht weiter entwickeln wird. Ein wichtiges Hindernis für eine multilaterale Sicherheitskooperation bildet die Verpflichtung, Informationen mit anderen Mitgliedern zu teilen. Weil eine gehörige Portion Misstrauen die Beziehungen zwischen den Ländern Zentral- asiens trübt, sind die Staaten zwar bereit, sich mit Moskau bila-teral in Sicherheitsfragen auszutauschen, nicht aber untereinan-der. Als Mitglied der OVKS dür�e Usbekistan in den Genuss von Binnenmarktpreisen für russische Rüstungsgüter kommen.

Obgleich von vitalem Interesse für die russische Sicherheits-politik, hält sich Moskau offiziell von allen Initiativen fern, Af-ghanistan zu stabilisieren und argumentiert, Afghanistan sei nicht (mehr) »unser Krieg«. Sta�dessen unternehmen vor allem die USA und ihre europäischen Verbündeten gewaltige Anstren-gungen, von Kabul aus einen selbstständigen und lebensfähigen Staat zu schaffen. Dem Erfolg der International Security Assis-tance Force (ISAF) steht Russland keinesfalls gleichgültig ge-genüber, die Zusammenarbeit ist jedoch bislang unzureichend. Gleichwohl existieren nach wie vor Verbindungen nach Afgha-nistan. Vermutlich gehen Teile russischer Waffenlieferungen nach Zentralasien auch an alte usbekische und tadschikische Warlords der Nordallianz, weil diese als mögliche stabilisieren-de Krä�e angesehen werden. Auf jeden Fall geschieht dies im Verborgenen, offiziell ist Moskau daran nicht beteiligt.

Der Aufstieg des Islamismus, sein Vordringen von Afghanis-tan aus und mögliche Verbindungen radikaler fundamentalisti-scher Gruppen aus Zentralasien wie der Hisb ut-tahrir al Islami mit Muslimen in Russland, erregen Aufmerksamkeit (vgl. den Beitrag von Anne�e Krämer). Politiker verweisen vor allem auf den Süden Kirgisistans, wo diese Gruppen vor einigen Jahren unkontrolliert agierten und das ganze Fergana-Tal gefährdeten. Freilich gelten sie bislang nicht als direkte Bedrohung für die Russische Föderation, denn zwischen dem Islamismus in Zen-tralasien und der Instabilität im Nordkaukasus scheint bislang

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bestenfalls im selben Glaubensbekenntnis eine Gemeinsamkeit zu bestehen.

Zentralasien beherbergt zahlreiche Sicherheitsrisiken, die Moskau zu größerer Aufmerksamkeit für die innenpolitischen Entwicklungen der Region animieren sollten. Die Ereignisse im usbekischen Andischan im Mai 2005 warfen die Frage auf, wie Russland auf Erhebungen gegen das Regime und mögliche so-ziale und politische Unruhen reagieren solle. Die offizielle Posi-tion lautete: Nichteinmischung. Gleichzeitig hat der Kreml für ungünstige Szenarien Notfallplanungen erstellen lassen, und an-geblich verstärkten auch die russischen Geheimdienste ihre dies-bezüglichen Aktivitäten. Die informellen Netzwerke der früheren sowjetischen Sicherheitsdienste blieben erhalten und könnten im Krisenfall jederzeit wieder aktiviert werden. Doch bei den Unru-hen in Kirgisistan im März 2005 und im November des Folgejah-res beteiligte sich Russland kaum am Krisenmanagement. Es gab keinen sichtbaren Versuch, zwischen den Konfliktparteien zu ver-mi�eln. Sta�dessen versucht der Kreml, für alle Fälle gewappnet zu sein und demzufolge die eigene Au�lärung zu verbessern.

Ein darüber hinausgehendes Engagement erscheint unwahr-scheinlich. Die Friedensmission im Tadschikischen Bürgerkrieg (1992-1997), die westliche Kommentatoren dazu veranlasste, Russland der Parteilichkeit und des neo-imperialen Verhal-tens zu bezichtigen, untergrub den Wunsch, sich militärisch in Konflikte der Region einzumischen. Auch wäre es schwierig, in der Heimat zu rechtfertigen, weshalb russische Wehrpflichtige ihr Leben aufs Spiel setzen müssten, solange die »Heimaterde« nicht direkt bedroht ist. Moskau würde sich vermutlich immer mit dem Gewinner interner Auseinandersetzungen arrangieren. Weil die zentralasiatischen Präsidenten wissen, dass ihre politi-sche Stellung alles andere als sicher ist, sehen sie Russland als potenzielles Exil an, und dies hil� sie fügsam zu halten.

Kapitalistisches Vorrücken

Die bargeldhungrigen zentralasiatischen Länder bieten at-traktive Möglichkeiten für russische Investitionen, da Anteile sehr preiswert erworben werden können. Russland hat sich in

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Nischen etabliert, die bei kommerziellen Investoren oder in-ternationalen Finanzinstitutionen unpopulär sind. Die Staats-chefs von Kirgisistan, Usbekistan und Tadschikistan stehen im permanenten We�bewerb um russisches Kapital, da sie damit Wirtscha�swachstum schaffen, die Arbeitslosigkeit senken und die Armut bekämpfen können. Tadschikistan, das ärmste Land der GUS (vgl. Info-Kasten auf S. 79), das alleine 2004 insgesamt 18 Abkommen mit Russland unterzeichnete, profitiert hiervon am meisten.

Vor allem im Energiesektor sind russische Unternehmen ak-tiver geworden, besonders bei Gas und Wasserkra�. Gazproms Versagen, in die Erschließung der arktischen Gasfelder zu in-vestieren, lässt die Bedeutung des zentralasiatischen Rohstoffes steigen. Turkmenistan ist ein wichtiger Lieferant, erweist sich aber als harter Geschä�spartner. 2006 hob es den Gaspreis von 65 auf 100 Dollar für tausend Kubikmeter an. Dies legte eine Di-versifizierung der zentralasiatischen Lieferanten nahe. Gazprom unterschrieb einen Vertrag mit Usbekistan und beabsichtigt, eine Milliarde Dollar zu investieren, um eine Verdreifachung der Gasimporte zu erzielen. Investitionen sind auch geplant, um die bestehenden Kapazitäten in Usbekistan und Kasachs-tan zu entwickeln und neue Pipelines zu verlegen (vgl. den Bei-trag von Hilmar Rempel u.a.). Tadschikistan bietet die lukrative Möglichkeit, in Wasserkra� zu investieren, was zu Sowjetzeiten einer seiner wichtigsten Aktivposten war. Staatsnahe russische Unternehmen initiierten gigantische Bauprojekte.

Aber es gibt immer noch Vorbehalte, ob sich solche Projekte rechnen, zumal der Markt für tadschikische Elektrizität unsi-cher bleibt. Es müsste sehr viel in das Versorgungsnetz inves-tiert werden, um an Großverbraucher wie Russland oder China Strom zu liefern – angesichts hoher Gebirge keine leichte Aufga-be. Usbekistans staatliche Wärmegewinnung wäre durch preis-werteren Strom aus Tadschikistan gefährdet, während sich die Kau�ra� Afghanistans auf trostlosem Niveau bewegt. Zweitens ist der Wasserstand der kirgisischen und tadschikischen Flüsse infolge der durch den Klimawandel ausgelösten Eisschmelze in den Bergen gefallen. Die tatsächlichen Möglichkeiten könnten kleiner sein als die Erwartungen (vgl. den Beitrag von Jenniver Sehring).

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Auch die Investitionen in den Bergbau wachsen. 2006 ver-handelte Russland mit Usbekistan über den Zugang zu Uran- lagerstä�en und die Beteiligung an einem Joint Venture an der Nawoi-Fabrik. Moskau beabsichtigt, mit Kasachstan gemeinsame Unternehmen für die Gewinnung und Anreicherung von Uran zu gründen, um es anschließend zu importieren. In Kirgisistan soll die Uranverarbeitung in der Einrichtung von Kara-Balta wie-der aufgenommen werden. Im Norden Tadschikistans wandelt Russland hochangereichertes waffenfähiges Nuklearmaterial in Brennstoffe um. Moskau plant offenbar, eine moderne Version des geschlossenen Brennkreislaufes aus der Sowjet-Ära wieder-zuerrichten, um zu einem globalen Lieferanten aufzusteigen.

Doch die Zukun� der neu erworbenen Anteile erscheint bislang unsicher. Auf der einen Seite finden in Kasachstan und Kirgisistan derzeit neuerliche Umverteilungen privater Beteili-gungen sta�. Es ist nicht auszuschließen, dass ausländische, in erster Linie westliche, Unternehmen ihre Verträge neu verhan-deln müssen und Anteile zugunsten russischer, chinesischer und kasachischer Investoren verlieren werden. Die kanadische Firma PetroKasachstan wechselte 2005 bereits in chinesische Hände.

Ebenso überprü� Kirgisistan erneut die Lizenzvergabe für seine Goldminen. Ein britisches Unternehmen fiel bereits durch das Raster. Jedoch haben russische Geschä�sleute die gleichen Probleme mit der örtlichen Korruption und der handelsüblichen Patronage wie alle anderen ausländischen Investoren auch. Dies führt zu Frustration und verringert den Enthusiasmus. Es könn-te angesichts des Geschä�sklimas in Zentralasien bei russischen Privatinvestoren ebenso eine Desillusionierung nach sich ziehen wie bei ihren westlichen Konkurrenten.

Sozialdemografie: Ärger im Blick?

Vor allem die Bevölkerungswanderungen von Zentralasien nach Russland kennzeichneten die Periode nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion (vgl. die Beiträge von Uwe Halbach und Mat-teo Fumagalli). Sowohl Angehörige der Bevölkerungsgruppen Russlands als auch zentralasiatische Arbeitsmigranten zog es in den Norden. Anfang der 1990er-Jahre herrschte die allgemeine

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Erwartung, die Anwesenheit ethnischer Russen in ehemaligen, nunmehr unabhängigen, Sowjetrepubliken könnte – ähnlich wie im Falle der Serben in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens – zu einer Quelle von Konflikten und Streitigkeiten werden. Diese Befürchtungen haben sich mi�lerweile verflüchtigt. Für Mos-kau hat die Sorge um die eigenen Landsleute in den Staaten der Region an Bedeutung eingebüßt, besonders weil außerhalb von Kasachstan nur noch sehr wenige Russen leben.

Dort erscheint das Thema allerdings nach wie vor schwie-rig. Ethnische Russen machen 25,9 Prozent der 15,3 Millionen Bürger Kasachstans aus. Sie stellen damit die größte Minderheit des Landes. Konfliktpotenzial sah man während des Übergangs zur Unabhängigkeit vor allem zwischen Russen und Kasachen. Insbesondere der russischen Bevölkerung im industrialisier-ten Norden des Landes galt die Sorge, weil dieser Anfang der 1990er-Jahre besonders hart von der Wirtscha�skrise getroffen wurde.

Seinerzeit führten die nationalistische Rhetorik der kasa-chischen Führung, die besseren ökonomischen Perspektiven in Russland und die Unsicherheit über die Zukun� ihrer Kinder zu einem Exodus von rund 1,7 Millionen Russen. Der Rest, vor allem die Stadtbevölkerung, suchte nach Möglichkeiten, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Doch die Ängste vor einer He-rabstufung der eigenen Sprache und Kultur haben sich verflüch-tigt. Russisch erhielt 1995 den Status einer mit dem Kasachischen gleichberechtigten Sprache und wird in allen Lebensbereichen verwendet, Kasachisch hält als Verkehrssprache nur zögerlich Einzug. Dies führte eher zu einem Gefühl des Unbehagens und der Unsicherheit als zu echten Schwierigkeiten. Viele städtische Kasachen sind mehr oder weniger russifiziert. Kulturelle Unter-schiede kommen deshalb kaum zum Tragen.

Russen werden von Schlüsselpositionen der Politik ausge-schlossen, aber das geschieht auch vielen Kasachen, die nicht zu den richtigen Netzwerken gehören. Die Nasarbajew-Führung ist mi�lerweile zu dem Schluss gelangt, dass die Russen keine Bedrohung darstellen, sondern wesentlicher Bestandteil der Bevölkerung sind. Angesichts der unzähligen russischen Mana-ger und dringend benötigter Facharbeiter ist dies ein durchaus pragmatischer Ansatz. Einen Russen in eine Stellung zu beru-

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fen, kann manchmal auch ein geschickter Schachzug sein, wenn es Rivalitäten zwischen verschiedenen kasachischen Gruppie-rungen gibt.

Das Regime ist daran interessiert, zu Moskau weiterhin gute Beziehungen zu unterhalten und behandelt deswegen die eth-nischen Angehörigen des Nachbarlandes angemessen. Infolge dessen verringerte sich der Strom der Russen aus Kasachstan zu einem Rinnsal. Manche Auswanderer mussten auch feststellen, dass sie sich im modernen Russland nicht mehr heimisch fühl-ten und kehrten deshalb zurück. Obwohl ihre politische Rolle schwächer geworden ist, bleiben sie eine politisch loyale und ökonomisch aktive Kra�.

Auch die hochstilisierte Frage um die Russen in Turkmenis-tan spielt kaum noch eine Rolle, seit das turkmenische Regime die Visa-Erteilung für russische Staatsbürger erleichtert hat. Zudem vereinfachte Moskau das Verfahren zur Erlangung der russischen Staatsangehörigkeit für Rücksiedler, was potenziellen »Heimkehrern« einige Ängste nahm. Die Verbliebenen haben es mit der Auswanderung nicht eilig, solange sie nicht dazu ge-drängt werden. Die Unruhen in Kirgisistan nach den Wahlen im Frühjahr 2005 verstärkten zwar die Emigration, aber als die Lage sich wieder stabilisierte, ließ auch der Wunsch auszureisen nach. Weil Moskau sich von den nationalistischen Maßnahmen der Bakijew-Regierung, wie beispielsweise den offiziellen Status der russischen Sprache herunterzustufen, wenig beeindrucken lässt, bleibt ein Eingreifen unwahrscheinlich.

Weil die russische Bevölkerung schrump� – von 143,9 Milli-onen im Jahr 2004 auf 142,5 Millionen zwei Jahre später, für 2015 werden 136,7 Millionen und für 2050 111,8 Millionen prognosti-ziert –, ermuntert die Moskauer Regierung all jene zurückzukeh-ren, die Beziehungen zu Russland haben. Eine Arbeitsgruppe, eingerichtet unter Präsident Putin, entwickelte ein staatliches Rückkehrerprogramm, für das 240 Millionen US-Dollar bereit-gestellt wurden. Der Föderale Migrationsdienst unterhält Büros in Kirgisistan, Tadschikistan und Turkmenistan, die für die Ein-wanderung werben.

Unterdessen gib es einen relevanten, nicht erwarteten Zufluss verarmter Migranten: Russland dient als Markt für Zentralasiens wichtigsten Exportartikel – seine Arbeitskrä�e. Das überall in

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russischen Städten augenfällige Wirtscha�swachstum entfaltet eine gewaltige Sogwirkung: Das Ausmaß der Arbeitsmigration aus Zentralasien steht Schätzungen zufolge in proportionalem Verhältnis zur Größe der Länder: Beispielsweise arbeiten eine Million Tadschiken, vor allem Männer, jährlich in Russland – ein Siebtel der Bevölkerung. Ihre Überweisungen nach Hause, die auf 600 Millionen US-Dollar geschätzt werden, überschreiten das tadschikische Staatsbudget. Etwa 700 000 der knapp vier Millio-nen Bürger Kirgisistans arbeiten in Russland. Hier belaufen sich die Überweisungen auf rund 500 Millionen US-Dollar, doppelt soviel wie das Land an Entwicklungshilfe erhält.

Migration ist das wichtigste Sicherheitsventil in der Region. Vom Einkommen ganz abgesehen verringert die Migration das soziale Protestpotenzial, indem sie den Gesellscha�en »wüten-de junge Männer« entzieht, die zu möglichen Unruhesti�ern werden könnten. Die zentralasiatischen Staaten macht dies ge-genüber Veränderungen der russischen Migrationspolitik ver-wundbar. Deshalb sind ihre Regierungen daran interessiert, den aktuellen Trend zu verstetigen, weil er ihre Zukun� sichert. Aus diesem Grund haben Kirgisistan und Tadschikistan 2006 mit Russland entsprechende Abkommen geschlossen. Die Bürger Tadschikistans können nun in verschiedenen russischen Städten Pässe erhalten und sich in der neuen Heimat an den tadschiki-schen Parlaments- oder Präsidentscha�swahlen beteiligen. Und Anfang 2007 trat in Russland ein neues Gesetz zur Registrierung von Migranten in Kra�, das deren Aufenthaltsbedingungen ver-bessern soll.

Zivilisatorische Mission?

Nach den Worten von Benjamin Disraeli zeigt Russland zwei Ge-sichter: ein asiatisches, das immer nach Europa blickt, und ein europäisches, das immer nach Asien blickt. Diese Dualität drückt Russlands kulturelles und zivilisatorisches Selbstverständnis aus, das sich jedoch unter den neuen Verhältnissen verändert hat. All-gemein verstehen sich die Zentralasiaten als Teil der Geschich-te des Russischen Reiches oder der Sowjetunion, aber nicht im Sinne einer Kolonialerfahrung. In gewisser Hinsicht hat der sow-

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jetische Internationalismus in der Region ja auch funktioniert. Da die russische und sowjetische Kultur sozial konservativer ist, fand sie einen Weg, um mit den zentralasiatischen Gesellscha�en zu koexistieren. Seit der Konsolidierung ihrer nationalstaatlichen Unabhängigkeit wissen die Zentralasiaten dieses Erbe stärker zu schätzen, zumal die Angst vor kulturellen Übergriffen, wenn nicht sogar einer kulturellen Absorption durch Iran, Pakistan und China zunimmt. Einige Zentralasiaten verweisen sogar darauf, dass ihr Entwicklungsniveau auf dem Afghanistans läge, wären sie nicht Teil des russischen und sowjetischen Staates gewesen.

Die Bedeutung der russischen Sprache und Kultur ist unge-brochen. Russisches Fernsehen bildet die wichtigste Quelle für Information und Unterhaltung. Seit die Universitäten und akade-mischen Netzwerke wieder materielle Zuwendungen erfahren, verstärken sich die sozialen Bande mit Russland. Der jüngeren Generation, die kulturell weniger stark mit Moskau verbunden ist, wird Aufmerksamkeit geschenkt, indem junge Menschen Stu-dienplätze an russischen Universitäten erhalten oder Einrichtun-gen in Kirgisistan und Tadschikistan gefördert werden. Russische Schulen in Tadschikistan akzeptieren auch begabte nicht-russi-sche Kinder. Die einzige Schule, die eine vernün�ige Bildung in Turkmenistan anbietet, ist die der Russischen Botscha�, die eben-falls örtliche Kinder aufnimmt. Solche kleinen Schri�e helfen, die Verbindungen nach Russland auch für die nächste Führungsge-neration zu erhalten, zumal alternative Angebote meistens aus muslimischen Staaten kommen, denen die säkularen zentralasia-tischen Eliten eher mit Argwohn begegnen.

Obwohl Moskau seine zivilisatorische Rolle gerne erhalten möchte, sind die Bedingungen, unter denen die zentralasiati-schen Arbeitskrä�e in Russland leben, dafür die schlechteste Werbung. Die Migranten werden vielerorts schlecht behandelt und ausgegrenzt. Was sie kennenlernen, ist nicht das aufgeklärte Zentrum der Zivilisation, das sich um seine »Gastarbeiter« küm-mert, sondern ein brutaler Ort, an dem sie als Fremde stigmati-siert werden. Viele junge Russen haben ein Problem, Zentralasi-en überhaupt auf der Landkarte zu finden. In seinen Einwohnern sehen sie nur Straßenkehrer und ungelernte Arbeitskrä�e.

Die entwürdigende Alltagssituation der Arbeitsmigranten trägt dazu bei, die Anziehungskra� des Islamismus zu verstär-

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ken. Weil die Migranten selten unter anderen Muslimen leben oder dort, wo es Moscheen gibt, müssen Gläubige ihre Gebete und religiösen Gebräuche selbst organisieren. So entstehen Nischen is-lamischen Lebens, die für andere verschlossen bleiben und in der Regel »Gastarbeiter« einer Gegend zusammenführen. Wie radikal sie werden, hängt von ihrem Mullah (geistlicher Führer) ab. Eine solche islamistische Alternative stünde, wenn sie wächst und sich weiterentwickelt, in direkter Opposition zu Russlands zivilisato-rischer Botscha�.

Die kulturellen Verbindungen erklären auch das Verhältnis der zentralasiatischen Staatschefs zu Moskau. Da sie über eine kulturelle Affinität zu Russland verfügen und mit den Mechanis-men des dortigen Systems vertraut sind, fällt es ihnen leicht, Mos-kaus Interessen und die Art seines Engagements zu verstehen. Aus dem gleichen Grund fühlen sie sich ihren westlichen Gegen-übern unterlegen: Das speist sich aus der Wahrnehmung, für den Westen nur eine geringe Rolle zu spielen, und von dessen »Demo-kratisierungsdiskurs« auf die Stra�ank verbannt worden zu sein. Anfang der 1990er-Jahre waren die westlichen Systeme eine Terra Incognita und ihnen wurde eine hohe Achtung entgegengebracht. Unterdessen ist das Terrain sondiert und der anfängliche Enthu-siasmus gewichen. Nun haben die Regime wieder ein stärkeres Interesse am Kreml, um dessen Aufmerksamkeit sie buhlen.

Überdies hat Putins Modell der »souveränen Demokratie« nach dem Aufstieg des Islams zusätzlich an Anziehungskra� gewonnen. Die westlichen Anstrengungen zur Förderung von Demokratie wirken ohnmächtig gegenüber einem militanten Dschihadismus. Da in Zentralasien lediglich die Wahl zwischen »Islamisten« oder säkularen »starken Männern« zu bestehen scheint, wirkt Russlands politische Verfasstheit vergleichsweise a�raktiv. Und Putin sowie sein Nachfolger im Präsidentenamt taugen als gutes Rollenmodell für zentralasiatische Führer.

Regionalismus: Vereint im Misstrauen

Traditionell setzte Moskau auf maßgeschneiderte bilaterale Be-ziehungen, um Einfluss zu nehmen. Obwohl das Misstrauen gegenüber regionalen Strukturen unverändert groß ist – das

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liegt vermutlich vor allem am traurigen Schicksal der GUS –, unternahm der Kreml dennoch erhebliche Anstrengungen, um in Zentralasien ein regionales Format zu entwickeln. Wie so o�, wenn Regionalismus konstruiert wird, sind die stärkeren Staa-ten federführend und versuchen dabei, ihre eigenen Ziele zu erreichen. Negativ betrachtet, kann Regionalismus durchaus als ein Instrument gelten, um Hegemonie auszuüben. Positiv gese-hen können regionale Organisationen mehr Transparenz und Verlässlichkeit ermöglichen als bilaterale Vereinbarungen mit einem starken Staat. Wie ein zentralasiatischer Diplomat sagte: »Mit den Chinesen in einem Raum können die Russen nicht auf ihre üblichen Tricks zurückgreifen.«

Anders als die Europäische Union (EU) oder das Entwick-lungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), die regiona-le Zusammenarbeit per se für gut halten, bildet Regionalismus für den Kreml lediglich ein Mi�el zum Zweck. Moskaus Hori-zont umfasst mächtige ökonomische, sicherheitspolitische und ideologische Interessen. Zunächst schienen die Verbindungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gekappt, was die wirtscha�liche Entwicklung nachhaltig bremste. Investoren sind besorgt über die veraltete und schlechte Infrastruktur in den Be-reichen Transport und Kommunikation. Wenn russische Unter-nehmen wieder in den Energiebereich der Region investieren, müssen die Staaten erstens Pipelines, Stromversorgungsnetze und Straßen ausbauen, um den Transit zu ermöglichen. Deshalb muss Russland bessere Beziehungen zwischen den zentralasi-atischen Staaten fördern, will es große regionale Projekte vor-anbringen. Da zweitens Bedrohungen wie Drogenhandel oder Islamismus grenzüberschreitend sind, gelingt sicherheitspoliti-sche Kooperation nur im Falle gemeinsamer Operationen und des Austauschs von Informationen. Dri�ens würde es auch nicht schaden, wenn die Zentralasiaten Moskaus außenpolitische Agenda unterstützen würden, etwa die GU(U)AM-Gruppe (Ge-orgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldawien) oder die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aus der Region zu drängen.

Die Regionalisierungspolitik wurde Ende 2004 initiiert. Die wichtigsten Strukturen bilden neben der bereits erwähnten OVKS die Eurasische Wirtscha�sgemeinscha� (EURASEC) und

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die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Zur EURASEC gehören Kasachstan, Kirgisistan, die Russische Föde-ration, Weißrussland, Armenien, Tadschikistan und seit Januar 2006 wieder Usbekistan, nachdem die strategische Partnerscha� zu den USA zerbrach. Die Organisation entstand aus einer Zoll-union, die im Mai 2002 in die EURASEC umgewandelt wurde und im Oktober 2005 mit der Zentralasiatischen Organisation für Zusammenarbeit verschmolz. Sie soll einen gemeinsamen Kapital- und Arbeitsmarkt sowie freien Binnenhandel schaffen und die Handelspolitik harmonisieren.

Doch zwischen den einzelnen Staaten zu vermi�eln, ist an-gesichts ihrer schlechten Beziehungen untereinander eine un-dankbare Aufgabe. Usbekistan bleibt trotz seiner Annäherung an Russland ein problematisches Land. Seine guten Beziehun-gen zu Moskau bereiten den schwächeren Nachbarn Sorgen, die unter der Politik Taschkents leiden. So sind etwa die usbekisch-tadschikischen Beziehungen seit der Unabhängigkeit beson-ders feindselig, Ausweisungen und Spionageskandale im Som-mer 2006 trugen zu einer weiteren Verschlechterung bei. Diese Konflikte, in denen sich beide Staaten wegen einer Lösung an Russland wandten, könnten Moskau in eine kontraproduktive Auseinandersetzung hineinziehen. Zur SOZ zählen die Russi-sche Föderation, China, Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan und Tadschikistan. Dies drückt Russlands und Chinas Verpflichtung gegenüber Zentralasien aus, die sich aus gemeinsamen Sicher-heitsinteressen und Risikowahrnehmungen speist. Die SOZ ist zu einem Mi�el geworden, die russisch-chinesische Allianz zu fördern. China spielt dabei eine Schlüsselrolle. Der Sitz des Hauptquartiers ist in Peking, und die Volksrepublik trägt das Gros der Verwaltungskosten und steuert maßgebliche Mi�el zum Entwicklungsfonds bei, um Investitionsprojekte in Zen-tralasien zu finanzieren. Auch die sicherheitspolitische Zusam-menarbeit entwickelt sich, beispielsweise mi�els gemeinsamer Übungen für Friedensmissionen. Auch einigte sich die SOZ auf eine gemeinsame Haltung zur US-Militärpräsenz in der Region. Im März 2006 fand zudem in Usbekistan ein großes gemeinsa-mes Manöver sta� (vgl. den Beitrag von Christian Becker).

Dennoch gibt es zu wenige konkrete Aktivitäten, um zu er-kennen, in welche Richtung sich die Organisation entwickeln

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wird. Zumindest Washington zeigte sich bereits durch deren plötzlichen Bedeutungszuwachs alarmiert. Spekulationen darü-ber, wie Schwächen der SOZ ausgenutzt werden könnten, dro-hen die Entfremdung zwischen dem Westen und Russland zu verstärken. »Regionalismus« in Zentralasien könnte zu einem Vehikel russischer Rivalität mit den USA und deren Verbünde-ten werden, wenn es nicht gelingt, diese konstruktiv an den von Peking und Moskau geführten Strukturen zu beteiligen.

Der Regionalismus erfüllt für den Kreml zwei Funktionen: Zum einen soll er wirtscha�liche und sicherheitspolitische Pro-bleme lösen; zum anderen demonstrieren, dass Russland bei Be-darf Krä�e für seine Interessen mobilisieren kann. Ob Letzteres zum Tragen kommt, hängt von der Reaktion des Westens ab. Wenn amerikanische oder europäische Staatschefs die Rhetorik des »Great Games« verstärken, könnte dies zu einer klassischen Self-Fulfilling Prophecy werden. Wenn die SOZ sich dagegen selbst überlassen bleibt, gibt es für Russland keinen Anlass, den Weg zu einer machtpolitischen Konkurrenz im Sinne des »Great Game« einzuschlagen.

Spiel beschränkter Leidenscha�en

Russlands Vorteil liegt darin, dass sich in Zentralasien der anti- westliche Trend verstärkt hat, seit die Demokratisierungsrhe-torik auch die Ost-West-Beziehungen prägt. Für Liebhaber des »Großen Spiels« sind aufregende Zeiten zurückgekehrt. Als die tadschikische Regierung 2003 die russischen Grenztruppen nö-tigte abzuziehen, vermutete Moskau, dies sei mit dem verdeck-ten Segen der USA geschehen. Als 2005 die USA aufgefordert wurden, ihre Militärbasis in Usbekistan zu verlassen, zeigte sich Russland sehr zufrieden und begann ein Jahr später die »Demili-tarisierung des Kaspischen Raums« zu verlangen. Lediglich die Anrainerstaaten sollten Militär im Kaspi-Raum stationieren dür-fen. Dies zielte darauf ab, die von den USA geförderte Sicherheits-initiative »Caspian Guard« zu torpedieren. Nach der »Rosenre-volution« in Georgien im November 2003 keimte in Zentralasien der Verdacht auf, der Westen habe die »farbigen Revolutionen« orchestriert. Dies gab Moskau einen Trumpf in die Hand, sich

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den zentralasiatischen Führern als »Freund in der Not« zu emp-fehlen. Die OSZE, die als Dialogforum zwischen Ost und West in Zentralasien gestartet war, hat sich in ein Schlachtfeld ver-wandelt. Sowohl die NATO als auch die GU(U)AM, die als anti- russisch wahrgenommen werden, befinden sich in der Region auf dem Rückzug. Außer Kasachstan haben sich alle zentralasi-atischen Staaten in unterschiedlichem Maße vom Westen abge-wandt und ihre Außenpolitik neu ausgerichtet.

Gleichzeitig lässt sich sagen, dass die USA und die EU durch ihre Kritik nach Andischan und ihre geäußerte Besorgnis hin-sichtlich der Menschenrechte de facto das Feld für Russland und China freigemacht haben. Die Demokratisierungsrhetorik be-reitete dafür den Boden und sorgte unter den lokalen Eliten für große Frustration. Doch vor allem wäre es falsch anzunehmen, dass die zentralasiatischen Führer bloße Bauern im Schach der Großmächte wären. Sie haben selbst die Figuren in der Hand, können andere manipulieren oder gegeneinander ausspielen, wenn es um Energieabkommen, Stationierungsrechte oder po-litische Privilegien geht. So konnten sie zwischen 2004 und 2006 die wachsende Entfremdung Russlands von der OSZE dazu nut-zen, unerwünschte politische Einmischungen der Organisation abzuweisen.

Gruppenfoto des SOZ-Gipfels am 2. November 2007 in Taschkent.

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Die Vernun�ehe mit Russland wird vermutlich anhalten, so-lange die Partner zufrieden sind. In einigen Jahren besteht durch-aus die Möglichkeit, dass die Beziehungen zum Kreml abkühlen. Dann könnte eine neue Generation zentralasiatischer Politiker sich wieder um Washington oder Brüssel bemühen. Moskau ist sich darüber im Klaren, dass der derzeitigen Annäherung reiner Opportunismus zugrunde liegt. Aber dies macht es Russland ebenfalls möglich, seinen Vorteil zu suchen.

Was ein gemeinsames Engagement mit dem Westen in Bezug auf Zentralasien angeht, verhielt sich der Kreml bislang ambiva-lent und versuchte, auf der eigenen außenpolitischen Unabhän-gigkeit zu beharren. Einerseits ist die russische Führung nicht per se gegen eine Zusammenarbeit, andererseits spürt Moskau, dass Russland bereits eine starke Ausgangsposition in der Re-gion hat und es nicht erforderlich ist, dafür eine komplizierte Partnerscha� einzugehen. Die punktuelle Zusammenarbeit im Kampf gegen Drogen oder Terrorismus dauert jedoch an. Aber weder die EU noch die USA versuchen, die Partnerscha� mit Russland zu vertiefen. Beide sind dabei, ihre Zentralasien-Politik nach mehreren Rückschlägen neu zu definieren.

Die EU ist unsicher, wie sie aus der Sackgasse nach Andi-schan wieder herauskommen soll und ein aktiverer Spieler wer-den könnte. Es ist nicht leicht, unter 27 Mitgliedern einen außen-politischen Konsens zu erreichen: Während Deutschland eine europäisch-russische Politik gegenüber Zentralasien propagiert, sind andere stärker transatlantisch orientierte EU-Mitglieder vorsichtiger.

Schließlich erscheint China als aufsteigender Stern der Geo-politik. Es hat seine Investitionen im Energiesektor erhöht und könnte kün�ig zu Russlands wichtigstem Konkurrenten um die zentralasiatischen Ressourcen werden. China bleibt für Russ-land schwer einzuschätzen, aber das Engagement mit dem star-ken Nachbarn erlaubt es Moskau auch, diesen unter Kontrolle zu halten. Für manche amerikanische Beobachter ist Chinas Auf-stieg das schwierigste Thema auf Russlands außenpolitischer Tagesordnung.

Dass der Westen, Russland und China in einigen Sphären zu-sammenarbeiten, in anderen konkurrieren, erscheint selbstver-ständlich. Wenn man die »Freiheits-Agenda« der USA beiseite

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lässt, erwächst die Bedeutung Zentralasiens vor allem aus der amerikanischen Sicherheitspolitik gegenüber Afghanistan, Iran und China. Peking irritiert die wachsende Militärpräsenz der USA in der Region, vor allem die US-Lu�waffenbasis im kirgisi-schen Manas, direkt an der chinesischen Westgrenze. China be-fürchtet, dass die Anwesenheit von US-Militär anti-kommunisti-schen Regime-Kritikern im eigenen Land Au�rieb geben könnte. Für Moskau waren vor allem die Demokratieförderung durch die USA, die »farbigen Revolutionen« vor der eigenen Haustür und der ideologische Kreuzzug der Bush-Administration höchst besorgniserregend, weil sie für die eigene innenpolitische Lage unangenehme Implikationen ha�en. Sollte es noch einmal zu einer derart massiven Bedrohung vom Ausmaß des 11. Septem-ber kommen, könnten sich diese Gegensätze wohl auflösen, da alle Parteien bemerken würden, dass sie ähnliche Sicherheitsin-teressen verfolgen.

Ein langer Weg

Entgegen den Erwartungen, dass Russlands Einflussverlust in Zentralasien von Dauer sei und sich sogar vertiefen werde, ist Moskau in die Region zurückgekehrt. Seit Putins zweiter Amtszeit verfügt Moskau über neue Instrumente und hat seine Außenpo-litik neu ausgerichtet. Der sicherheitspolitische Aspekt gewinnt zunehmend an Bedeutung und wird Russlands Engagement auf Dauer prägen, weil Bedrohungen wie eine gravierende Destabi-lisierung Afghanistans oder der Dschihad-Islamismus bestehen bleiben. Die zentralasiatischen Eliten begrüßen Moskaus Sicher-heitspräsenz und nehmen Russland als eine Macht wahr, die den Status quo garantiert. Die energie- und wirtscha�spolitischen Entscheidungen sind wichtig, aber nicht entscheidend, sodass Russland Rückschläge auf diesem Feld verkra�en kann. Sollten sich Moskaus »Pilotprojekte« in Zentralasien als erfolgreich er-weisen, könnten sie in kün�ige Strategien für andere Länder des postsowjetischen Raums einfließen: Etwa wie sich die Angst vor »farbigen Revolutionen« schüren lässt oder wie Migration zu re-gulieren ist, Russen in die Heimat zurückgeführt werden können oder Regionalismus als Integrationsinstrument zu nutzen ist.

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Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Obwohl Russland über viel Geld verfügt, sind erstens die Bedürfnisse Zentral- asiens so groß, dass sie keine externe Macht befriedigen kann. Russische Investoren könnten außerstande sein, die hohen Er-wartungen zu erfüllen. Bereits jetzt machen sie ihre Erfahrungen mit den örtlichen Realitäten. Zweitens ist Moskaus Möglichkeit sehr begrenzt, innere Entwicklungen Zentralasiens zu beeinflus-sen. Der Kreml kann zwar Einblick in politische Prozesse gewin-nen und sich auf mögliche Unannehmlichkeiten vorbereiten, aber nicht die Rolle des »Königsmachers« übernehmen. Dri�ens könnte Russland seine kulturelle und zivilisatorische Missi-onsrolle ausgespielt haben, weil die eigene Gesellscha� immer chauvinistischer und fremdenfeindlicher wird. Viertens könnte die geopolitische Rivalität mit dem Westen einen Bumerang-Ef-fekt haben und sinnvolle Sicherheitskooperationen im Fall einer schweren Bedrohung behindern. Innenpolitische Entwicklungen

Der Dschihad(arab. jihad, wörtlich aus dem Arabischen: sich bemühen) bildet neben den fünf klassischen Säulen (Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten, Al-mosen, Pilgerfahrt) ein weiteres wichtiges Prinzip des Islams. Die klassische juristisch-moralische Lehre des Islam unterscheidet zwei Formen des Dschihad. Der »große Dschihad« meint das Streben, die ei-genen Schwächen und Laster zu überwinden, ein go�gefälliges Leben zu führen und den islamischen Glauben durch Wort und vorbildhaf-tes Verhalten zu verbreiten. Der »kleine Dschihad« verlangt von den Gläubigen das Gebiet des Islam zu verteidigen und auszudehnen, wenn nicht anders, dann auch durch Gewaltanwendung innerhalb der von den muslimischen Juristen gesetzten Grenzen. Ein Koranvers, der o� als Grundlage der kriegerischen Form des Dschihad herange-zogen wird, lautet: »Kämp� gegen diejenigen, die nicht an Allah und an den Jüngsten Tag glauben, und die das nicht für verboten erklä-ren, was Allah und Sein Gesandter für verboten erklärt haben, und die nicht dem wahren Glauben folgen – von denen, die die Schri� erhalten haben, bis sie eigenhändig den Tribut in voller Unterwerfung entrich-ten.« (Sure 9, 29) (bc)

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in Russland könnten die Aufmerksamkeit absorbieren und Russ-lands Möglichkeiten verringern, sich zu engagieren.

Schwer vorstellbar erscheint jedoch, dass in einem der Län-der ein anti-russisches Regime an die Macht gelangen könnte. Anders als in Georgien gibt es nicht die Wahl zwischen dem Westen und Russland, sondern lediglich zwischen Russland und der islamischen Welt. Und wenn es um eine säkulare Ver-fassung geht, erscheint Russland als akzeptablere und vertrau-tere Version Europas. Solange Moskau mächtig bleibt, ist eine engere Anlehnung der zentralasiatischen Staaten an die islami-schen Nachbarn Iran, Afghanistan und Pakistan kaum zu erwar-ten. Die betroffenen Gesellscha�en fürchten sogar, die sozialen und politischen Errungenscha�en der Sowjet-Ära zu verlieren. Gleichzeitig sind auch die Ressentiments gegen eine mögliche kulturelle und ökonomische Dominanz Chinas groß.

Doch auch Moskaus Ansprüche werden mit Vorsicht be-trachtet. Die Sehnsucht nach einem russischen Diktat ist schwach ausgeprägt. Je nach Angebot zwischen den Machtzentren zu schwanken, dür�e zukün�ig viel eher die Außenpolitik der zen-tralasiatischen Länder bestimmen. Als Erfolg versprechendstes Szenario für deren Führungen erscheint es, zwischen Russland und dem Westen eine Balance zu finden und sich jeweils an den rivalisierenden Partner zu wenden, wenn der Preis für die ande-re Beziehung zu hoch ausfällt. Moskau ist sich bewusst, dass die Zentralasiaten nicht antiwestlich oder per se prorussisch sind, sondern die Gezeiten momentan zu Moskaus Gunsten stehen. Während zentralasiatische Führer es gegenwärtig leichter fin-den, mit Moskau zu kooperieren, könnte eine geänderte westli-che Haltung sie auch wieder dem Kreml entfremden. Die beste Option für Russland, die USA und Europa wäre, untereinander eine bessere Zusammenarbeit zu erreichen, da sich im Grunde ihre Interessen wechselseitig nicht ausschließen.

Anna Matwejewa