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Wie Die Schweizer Wirtschaft Tickt - Kappeler, Beat

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Wie die SchweizerWirtschaft ticktDie letzten 50 Jahre, und die nächsten ...protokolliert von Beat Kappeler

Verlag Neue Zürcher Zeitung

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Einführung

Erstaunlich, wie drastisch sich Gesellschaft und Wirtschaft in nur 20 oder 30Jahren verändern und wie wenig wir davon in der Schweiz, in Europa und inder Welt bemerken. Gewohnte Denkfiguren und alte Kämpfe stecken noch inden Köpfen, in den Debatten.

Mein Elternhaus mit Gewerbebetrieb, meine Tätigkeiten als Journalist, alsVolkswirtschafter im Sekretariat des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes(SGB), wieder als Journalist, als ausserordentlicher Professor in Lausanne undals Mitglied der Kommunikationskommission liessen mich seit 1950 in vieleMechaniken des gesellschaftlichen Lebens blicken, in die Motive derMenschen und in das, was dann schliesslich dabei herauskam. Und das ist oftganz anders, als viele meinen. Wir stecken eben viel zu stark selbst drin.

Ich gehöre zur Babyboomergeneration. Sie hat gewonnen, dank ihren seitdem Aufruhr 1968 erprobten Gesellschaftstechniken, sie hat das Land, dieInstitutionen, die Köpfe nach ihrer Façon ausgerichtet. Aber manche nunAltgewordene kämpfen diese Kämpfe immer noch, bis zu denEntschuldigungsritualen wegen Zweitem Weltkrieg, Kolonialismus,Ausländerintegration, fehlgeleiteter Sexualität und anderen Schrecken.

Das Neue ist anders, als wir denken!

Das Neue kann auch diese Generation in ihren errungenen Ämtern wiederum,wie ihre Väter der 1950er-Jahre, kaum erkennen, nämlich:– eine leidenschaftslose Globalisierung durch das neue, utilitaristische Asien,

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seinen Aufstieg nicht durch Entwicklungshilfe alten Stils mit Geld, sondernmit Bildung, Weltmarktorientierung und freiem Berufszutritt – imGegensatz zu Teilen Afrikas und Lateinamerikas;

– den erreichten «keynesian endpoint» in den alten Industriestaaten, das Endealso des dauernden Ankurbelns von Nachfrage, der Umverteilung, nachwelcher heute die Hälfte der Haushalte Geld vom Staat bekommt, was aberdie Anbieter von Arbeitsplätzen und Produkten entmündigte, die StaatenWesteuropas ruinierte und nun für Hunderte von Millionen Menschensoziale Unsicherheit schafft, weil Arbeit wie Kapital fehlen und dieVersprechen zurückgenommen werden müssen;

– die Verreglementierung der Lebensgestaltung Einzelner zugunsten vonGruppenrechten der Konsumenten, Mieter, Arbeitnehmer, Umwelt- undSozialbewegten, Einspruchsberechtigten, Datengeschützten,Verkehrsteilnehmer, Aussenseiter, Agrarbranchen, elektronischen Medien,Tiere, wonach bald «was nicht schon verboten ist, befohlen ist»;

– das Erfolgsmodell des freien Arbeitsmarktes der Schweiz oder Dänemarks,der die Vollbeschäftigung bewahrte, und wo nicht mehr industrielleMassenausbeutung herrscht, sondern motivierte, qualifizierte Arbeit inPartnerschaften, Teams und Projekten erfolgt;

– einen offenen Weltmarkt, und damit Weltarbeitsmarkt, der nicht vonSuperstaaten wie den USA oder der EU beschickt wird, sondern deneinzelne Firmen und ihre Belegschaften in den Wertschöpfungskettenbestreiten – wenn die Staaten sie dies mit günstigen Produkt- undArbeitsmarktregeln tun lassen;

– eine EU, die vom nützlichen Binnenmarktprojekt der 1950er-Jahre zurHarmonisierungswalze und zum Transferstaat wegen der Fessel des Eurowurde, und etwas völlig anderes als noch die EWG oder EG ist, für die mansich begeistern konnte;

– eine Schweiz mit gesellschaftlichen Spielregeln, die im Gegensatz zumübrigen Europa «bottom-up» anstatt von politischen Visionen «top-down»bewegt wird und deshalb dynamisch blieb;

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– das dadurch bewirkte Aufrücken der Schweiz zu einem «Weltstaat» mitWeltgang, nicht im Alleingang, zu einer Metropolitanregion wieSüdengland, Kalifornien, Australien, Vancouver, Singapur, Shanghai, mithoch qualifizierten Zuzügern, und als Kopf weltweiter Netze;

– die Schweiz als erfolgreichen «melting pot», aber nicht mehr vonunqualifizierten Zuzügern der 1950er- und 1990er-Jahre, die übrigens in denArbeitsmarkt gleich gut integriert sind wie Schweizer, sondern heute mitzuwandernden Kadern, die man nicht im alten Stil integrieren muss, dieaber Wettbewerb und Wohlstand schaffen;

– die intellektuelle Dynamik aus den angelsächsischen Ländern, entgegendem in alten Mentalitäten verharrenden Frankreich, dem früherenOrientierungspunkt vieler Intellektueller, und entgegen DeutschlandsGlitterati, die nur in den Kategorien gleich/ungleich, Täter/Opfer,Problem/Staat denken und immer noch historische Schuld wälzen;

– das Leben mit unausweichlicher Differenz statt Gleichheit in offenen,Welthandel treibenden Ländern und in Einwanderergesellschaften fürKaderleute und Vermögliche.

Ich protokolliere hier, wie dies alles kam, wie es heute läuft und wie dienächste Zukunft laufen kann und soll. Wie die Schweiz tickte, tickt und tickenwird.

Zuerst blicken wir mit ein paar gerafften Zahlen kurz auf das galoppierendeWachstum und den Neuerungsschub seit dem Zweiten Weltkrieg.

Der Ursprung der Wohlstandsgesellschaft nach 1945

Von aussen profitierte die Schweizer Wirtschaft nach dem Krieg durchallgemeine technische Fortschritte, die sie innehatte oder sofort übernahm. Eswar nicht nur der intakte Produktionsapparat, der ein ausgehungertes und

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ausgebombtes Europa beliefern konnte. Die damaligen Techniken dermittleren und grossen Schweizer Firmen zählten zur Hochtechnologie, wieman heute sagen würde. Dazu gehörten: Turbinen, Generatoren,Stromübertragung, Pharmazie, Nahrungsmittel, Bankwesen, Versicherungen,Rückversicherungen, Tourismus.

Das günstige Öl und die einheimische Wasserkraft sicherten die Antriebeund Kalorien des Landes. Der tiefe Frankenkurs und die günstigen Zinsenunterstützten die Exportwelle. Die Handelsdiplomatie brachte dankEuropäischer Freihandelsassoziation (EFTA), Allgemeinem Zoll- undHandelsabkommen (GATT)/Word Trade Organisation (WTO) und 1972 mitder Europäischen Union (EU) multilaterale Marktöffnungen zuwege. HansSchaffner, der Chef der Handelsabteilung, nachmaliger Bundesrat, schuf fastim Alleingang die EFTA als komplementären europäischen Binnenmarktgegenüber der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).

Die Volkswirtschaft nahm damals Sätze, die sich wie die heutigenchinesischen Wachstumsraten ausnehmen – plus 7,3 Prozent für 1950, plus 6,5Prozent in den Jahren 1955 und 1956, sodann plus 7 Prozent für 1960, plus 8Prozent für 1961, und noch 1970 plus 6,7 Prozent. Auch wenn man dieEinwanderung der Italiener, nachher der Spanier und Türken einbezieht, nahmder Wohlstand pro Kopf fast gleich viel zu. Die Reallöhne stiegen nicht soschnell, sodass den Firmen viel Kapital für neue Investitionen und eineschnelle Ausbreitung über den ganzen Erdball verblieb. Wenn heute etwa 1,8Millionen Arbeitende in Schweizer Firmen weltweit beschäftigt sind, stütztdies auch die Arbeitsplätze im metropolitanen Zentrum Schweiz. Diesenahmen zwischen 1950 und 1970 um die enorme Zahl von 770000 Personen zu.Vor der Ölkrise, nämlich 1970, gab es in der Schweiz genau 104 Arbeitslose.

Schon mehrmals rissen sich die Schweizer Wirtschaftsführer mit kühnenAdaptationen zur Weltwirtschaft hoch. 1876 kam eine ihrer Delegationengeschockt von der Weltausstellung in Philadelphia zurück: Die amerikanischeIndustrie produzierte nicht mehr Einzelstücke mit aneinandergereihtenFacharbeitern, sondern mit Maschinen und in Serie. Innerhalb weniger Jahre

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stellte sich die Schweizer Wirtschaft darauf um. 1919 schifften sich 200Industrielle nach den USA ein, um Henry Fords Fliessbänder zu studieren,unter ihnen Oscar Bally, Walter Boveri, Carl Sulzer, Jacob Schmidheiny, KarlH. Gyr und Louis Raichle. Solche technischen Quantensprünge stehen auchheute an. Die Schweiz könnte ohne ihr heutiges Moratorium das rückständigeEuropa in der Gentechnik überflügeln. Man muss Geschäftsmodelle desInternets wie das iPhone und das iPad von Apple sowie deren Applikationenund das Elektronikbuch Kindle von Amazon entwickeln. Die SchweizerErfolge mit Doodle oder Tilllate zeigen, dass es geht. Dazu braucht es endlicheine stärkere Softwareindustrie, die heute importabhängig ist; es braucht denMut zu Gratisdiensten im Netz, die auf Werbeeinnahmen basieren, oderSysteme des Micropayments für Medien und Dienste. Die Verlage müssen ihreBücher elektronisch verkaufen, wie alle in den USA es schon tun. AlleEinwohner müssen fliessend Englisch können und mit amerikanischen,asiatischen Usanzen vertraut sein.

Diese neuen Techniken warten v. a. auf das, was Schweizer seit je ambesten konnten, nämlich diese anzuwenden und mit bestehendenGeschäftsmodellen zu verbinden. Die neuen Techniken erlauben Gründernund neuen Selbstständigen wie vor 50 Jahren, selbst einzusteigen; es brauchtnicht mehr die Giganten der Stahlwerke oder Autofabriken; es muss nichtalles hier erfunden werden.

Der Wohlstand kommt nicht von ungefähr

Weitere Wachstumstreiber der 1950er- und 1960er-Jahre bestehen nochimmer. Dazu zählt die konsequente Ausrichtung der Handelsdiplomatie aufden Weltmarkt und einen offenen Europamarkt – dort aber nicht auf mehr.Die Übernahme der vielen Einschnürungen im Arbeitsmarkt, Geschäftslebenund Steuerwesen sowie der Einheitswährung Euro würde die Schweiz vom

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«Weltgang» abhalten, mit dem sie den Wettbewerb mit den Asiaten und denUSA heute bestens bestreitet. Der Franken kann von der Schweiz bestimmtwerden, damit auch das Zinsniveau, der Aussenkurs und dieKonjunkturimpulse.

Der freie Arbeitsmarkt war nach 1945 – und ist es bis heute – eineTrumpfkarte der Schweiz (und Dänemarks). Wenn ein Unternehmer kündigenkann, stellt er leichthin auch ein. Wenn die Lohnnebenkosten zulasten desArbeiters nicht zu hoch sind, gibt es keine Schwarzarbeit. Wenn derUnternehmer nicht mit hohen Nebenkosten, Beweislastumkehr und Quotenfür Einstellungen belastet wird, investiert er hier und nicht anderswo.

Und wenn eine Berufsausübung für den Arbeitenden nicht an immer mehrDiplome gekettet und für den Unternehmenden nicht an immer mehrbürokratische Pflichten und Bewilligungen gebunden wird, geht dasWachstum los und es herrscht Vollbeschäftigung.

In den 1950er-Jahren änderten sich die Wirtschaftsstrukturen eher rascherals heute, aber ohne Verwerfungen und Arbeitslosigkeit, denn dieGeschäftstätigkeit war kaum an Bewilligungen gebunden, man fing einfachmal an. Der aufstrebende Dienstesektor und die zunehmende Verwaltungstellten ehemalige Handwerker ohne Diplome ein. Dem Lehrermangel wurdemit halbjährigen Umschulungen solcher Leute abgeholfen. Plötzlich warenNachbarn neuerdings Versicherungsagenten, Lehrer, Verwaltungsangestellte,Kleinunternehmer. Wer einen Lehrling einstellen oder betreuen wollte undwill, konnte und kann dies nach ein paar Kurstagen tun.

Nach ziemlichen Kämpfen wurden in den 1950er-Jahren auch die in derDepression und im Krieg aufgebauten vermeintlichen Sicherungen derBranchen und der Beschäftigung aufgehoben – das Warenhausverbot, dasFilialverbot, das Coiffeurverbot, das Schuhfabrikenverbot, Teile desLandwirtschaftsschutzes. All dies stimulierte neue Unternehmungen unddamit Arbeitsplätze.

Für meinen eigenen Rückblick auf die Sprungfedern der heutigen Schweiznach 1945 bieten sich folgende Lupen an:

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– Informationstechniken– Produktivität– Wirtschaftspolitik– Sekretariate und die «objektiven Interessen der Arbeiter»– Die Schweiz funktioniert, weil der Verbandsstaat funktioniert.– Die Umwelt wurde zur «Frage»– Woher wir kommen. Wo wir jetzt stecken.

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Kapitel 1

Informationstechniken nach denSanduhren

An einem Abend, es muss 1953 gewesen sein, nahm mich mein Vater insLandhaus mit, in das damals beste Hotel und Restaurant Herisaus. In einerEcke gegen die Decke des Restaurants hing ein kleiner Kasten – und begannbläulich zu flimmern: die Versuchsreihe des Schweizer Fernsehens. Der Raumwar in meiner Erinnerung zum Bersten voll, und ich glaube, die Leute warensehr andächtig.

Das Fernsehen galt bald als Zeichen der Vergnügungssucht und derAmerikanisierung. Im Nebelspalter verfasste der legendäre Herausgeber undKarikaturist Bö das schöne Gedicht:

«De Chrischte list es Buech.Du armenarme Chrischte,seit en verschrockne Psuech,häsch du kei Fernsehchischte?»

Fernsehen und Kultur waren zwei verschiedene Dinge. Allerdings waren diehausbackenen Sendungen des Beruferatens und dergleichen viel mehr Kultur,als das, was damals die lokalen und städtischen Kinos boten. Es gab dieRevolverküchen, wo Kriminalfilme liefen, und wir Schüler sammelten dieDeckel der Persilschachteln, gegen welche man im Dorfkino zwei Mal jährlichDick und Doof sehen konnte.

In der Pfarrei nahm sich eine ältliche ledige Lehrerin des Mediums an undgab einen Filmkurs in mehreren Folgen. Vor allem wir Jungen der Pfarrei

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waren sehr interessiert, zahlten die paar Franken Kursgeld und sassen imheissen kleinen Pfarreisaal. Im Kampf mit den enormen Filmrollen, diedauernd gewechselt und eingefädelt werden mussten, lieferte die LehrerinBeispiele für verblüffende Effekte, Kulissenschieberei und dergleichen mit dernaheliegenden Aussage, dass der Film auch gefährlich sein könne unddurchschaut werden müsse.

In der Primarschule baute der Lehrer etwa zwei Mal im Jahr einen grossenRadioapparat mit seiner Stofffront auf, um die Schulfunksendungen zuübertragen. In meiner Erinnerung waren es langfädige, langweiligeAusführungen mit sonorer Altherrenstimme zu dümmlichen Themen. DerLehrer, ein Dialektdichter und selbst ein gelegentlicher Radioautor, warsichtlich unenthusiastisch. Nach den Stunden drehte er den Knopf, und mansprach nicht weiter darüber. Offensichtlich waren es für ihn Pflichtübungenim Schulstoff.

Der Lehrer und die meisten Erwachsenen führten einen erbitterten Kampfgegen die verderblichen Mickey-Mouse-Hefte. Das war ausgesprochenerSchund. Wir Kinder Mitte der 1950er-Jahre sahen in diesen Heften, ohneweitere Belehrung, dass die Amerikaner offenbar alle ein Auto hatten, einHäuschen, einen Kühlschrank, einen Fernseher, dass Geld zum Erfolg zählteund dass man es sofort ausgab, wenn man welches hatte (ausser natürlichOnkel Dagobert). Auch die Partys des Milliardärsclubs von Entenhausenbeeindruckten. Man lernte auch das kritische Auge gegenüber derangehimmelten Klassik im Theater, wenn die deutsche Übersetzerin Dr. ErikaFuchs Donald Duck als Laienschauspieler in Ritterrüstung sagen liess: «Weh,welch schröcklich Schicksal dräuet mir.» Das impfte uns viel besser gegenartistisches Gehabe und gegen die Wagnerianer Bayreuths als der RegisseurChristoph Schlingensief, der auf die Bühnen pissen liess. Und das 50 Jahrespäter!

Solches hatten unsere Pädagogen natürlich im kritischen Auge. Ich nahm esaber unserem Lehrer besonders übel, dass er die geliebten und doch soschweizerischen Globibücher in die gleiche Ecke der Unkultur stellte.

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Vermutlich war es die Ansicht, dass Wissen über Buchstaben, nicht Bildergehen müsse. Wir wuchsen in der Buchstabenwelt Gutenbergs auf. 26 Zeichenbildeten die Welt und ihr Wissen genügend ab.

Das Schönschreiben wurde in der Schule zu einer notwendigen Dressur, umsich in dieser Welt verständlich zu machen. Fast alles wurde von Handgeschrieben: Briefe, Firmendokumente, auch Artikel- oder Buchentwürfe. Inder zweiten Klasse ging man vom Bleistift zur Tintenfeder über. Das war einfeierlicher Moment. Die Lehrerin ging von Platz zu Platz und füllte aus einerriesigen Tintenflasche mit Ausguss die Tintenfässchen im Pult der Schüler auf.Kugelschreiber kamen erst langsam auf und waren in der Schule verboten.

Die 1950er-Jahre verliefen – aus Sicht des heutigen Internets – musikalischebenfalls ärmlich, auch für Wohlhabende. Denn Musik war kostbar undmusste gezielt ausgesucht werden. Es gab das Radio, und gelegentlicheKonzerte durch lokale Orchester und Chöre musste man sich im Vorausmerken, um hinzugehen. Plattenspieler und Tonbandgeräte kamen auf, dieStücke auf Platten und Bändern dauerten aber nicht lange, man musste immerwieder neue auflegen. Die Platten selbst gab es in beschränkter Auswahl inden Musikgeschäften, wozu man bereits nach St. Gallen fahren musste. Undmit der musikalischen Früherziehung in den Schulen dürften heute wohl mehrKinder als damals in ein Instrument eingeführt werden. Dafür blieben einemdamals die paar Musikstücke, die man hörte, die paar Platten, die man hatte,mit starkem Eindruck haften. Aber vielleicht war das auch eher nurjugendliche Empfänglichkeit, die mich dies sagen lässt.

Hingegen singt heute fast niemand mehr, auch nicht die Kinder in denSchulen. Vor einem halben Jahrhundert lernten wir Schüler etwa 50 bis 100Lieder, welche auch unseren Eltern geläufig waren, und man konnte sofortMusik gemeinsam aufsteigen lassen, fast rauschhaft, zu Hause, an Festen, aufReisen, in Wirtschaften. Das ist vorbei.

Die kleine literarische Elite des Hauptortes hatte eine Lesemappe mit teurenZeitschriften abonniert, das Du war drin. Es war eine ehrenvolle Aufgabe,vom Lehrer mit der Riesenmappe in grau meliertem Bürokarton zum nächsten

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Abonnenten, einem anderen Lehrer, einem Arzt, Chefbeamten oder der Fraudes Erziehungssekretärs geschickt zu werden.

Ich kann mich nicht erinnern, im Hauptort irgendwann einmal eineausländische Zeitung gesehen zu haben, ausser vielleicht am Bahnhofkiosk dieitalienische Sportzeitung für die zahlreichen Fremdarbeiter des Baus und derIndustrie im Ort. Als ich mit 18 Jahren eine Sommerstelle als Putz- undServierbursche in einem Jesuitenhotel in Paris bekam, lernte ich Le Mondekennen und schnupperte Weltniveau.

Irgendwann begannen mich die Urzeiten zu faszinieren, und ich erfuhr,dass es in Bern eine Landesbibliothek gab. Dieser schrieb ich mit etwa 14Jahren, ich hätte gerne ein Buch über die Vorfahren des Menschen. Tatsächlichsandten sie mir eines, das ich verschlang und erst noch mit der beigelegtenKlebeadresse gratis zurücksenden konnte. Das imponierte mir sehr und wareine wichtige Erfahrung, dass es irgendwo noch viele ungehobene Schätze gab,dass man dazu gelangen konnte und dass es Einrichtungen gab, die einemdabei gerne halfen.

Während der Sekundarschulzeit kamen die Taschenbücher auf, zuerst jenevon Rororo, dann von Dtv und andere. Es war eine eigentliche Erlösung –viele Sachgebiete konnte man jetzt billig und kurz kennenlernen. In denBuchhandlungen St. Gallens kaufte ich rasch einige, z. B. etwa 1962 mit 16Jahren Die Römischen Verträge der EWG als Goldmann-Taschenbuch. Ichweiss noch, wie mich die hochtrabende Juristensprache anzog und abstiess.«Die Hohen Vertragschliessenden Teile» feierten sich da unablässig selbst.Bezeichnend für die damalige Welt der Information aber ist der Aufdruck imTaschenbuch von 1961: «Das Einstellen von Goldmanns Taschenbüchern inLeihbüchereien, Volksbibliotheken, Werkbüchereien und Lesezirkeln ist vomVerlag ausdrücklich untersagt.» Dabei waren wir in Europa noch privilegiert.Als ich 1969 in Tunesien einen Monat in der Société tunisienne d’électricité etde gaz (STEG) arbeitete, besuchte ich die Universitätsbibliothek. DerZettelkatalog fand in einem Zimmer Platz, und ich sah darin kein Werk, dasneuer als die Ausgaben vor 1956 war, welche die Kolonialmacht Frankreich

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noch geliefert hatte. Da schien mir die Armut grösser gar als die der Bettler,welche die Strassen der Hauptstadt säumten.

Der langen Rede kurzer Sinn: Man kann sich heute in Internetzeiten kaummehr vorstellen, wie knapp und zufällig Informationen und Wissen für dieJungen waren. Unsere Zeit lag näher an Ueli Bräkers, des «armen Manns imTockenburg», Ringen um ein paar Einblicke in die Welt als am 21. Jahrhundertder sogenannten Informationsflut.

Elektronische Briefkästen

Ich empfinde übrigens, wie offenbar viele Zeitgenossen, mit denen ich darübersprach, das Internet mit seiner heutigen Tiefe als so gewohnt und üblich, dasses mir Mühe macht, die erlebten Stufen der letzten 20 Jahre dazuauseinanderzuhalten. Und wenn ich sie dokumentieren müsste, hätte ich sowenig materielle Zeugnisse, etwa Ausdrucke von ersten Homepages, dafür,wie man auf Pfahlbaugrabungen vom damaligen Leben noch findet.

Ende der 1980er-Jahre las man von elektronischen Briefkästen, durchwelche man Meldungen und Fakten über die Telefonanschlüsse gewinnenkonnte. Ich rief die Hauptnummer der damaligen PTT-Generaldirektion inBern an (wo also noch Post und Telefonie vereint betrieben wurden) undsagte, ich hätte gerne einen elektronischen Briefkasten. Ich wurde etwa vierMal weiterverbunden und stiess immer auf grosses Staunen. Nach achtMinuten geriet ich wieder an die erste Rezeptionistin, die sagte: «Dir müesst zoemene Spengler gah.» Irgendwie fand ich später heraus, wo ich micheinklinken musste. Dass es nun Kommunikationskanäle gab, die nicht über dasMonopol liefen, war ganz neu. Und das Monopol schlief. Oder es tat, als ob esschliefe, damit es seine Briefsparte nicht mit E-Mails kannibalisieren musste.

Ich abonnierte mich auf Compuserve, wo man sich einwählte, das Rauschendes Weltalls hörte und dann fünf oder sechs Sachen abfragen konnte – die

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Archive der International Herald Tribune und der NZZ, das Wetter, die Börseund eine Witzseite. Nach 1992 kam die ungeheure Neuerung, dass ich mitmeinem ersten Flach-PC zur Weltwoche nach Zürich reiste, wo einInformatiker ein Progrämmchen einpflanzte, mit welchem ich die Artikeldirekt an die Redaktion senden konnte, und zwar im Einwegverkehr. Manmusste nicht mehr mit dem Artikel oder mit der Diskette zum Expressschalterder Post rennen. Als ich dann, es muss 1995 gewesen sein, im Schaufenstereines Ladens die Netscapeseiten sah, war das heutige Internet auf verfügbareund wunderbare Weise da. Es war, als ob ich ein Wunderland beträte.

Information auf Metall, Wachs und Schnapsmatrizen

Vorher verarbeitete man die Informationen feinmechanisch. Mit etwa 15Jahren, 1961, hatte ich eine Sommerstelle bei der Appenzell-AusserrhodischenKantonalbank, und zwar in der Adrema-Abteilung. Das war dieWertschriftenverwaltung materieller Art. Die Wertschriften jedes Kundenwaren in Blechvierecke gestanzt, heutigen Kreditkarten gleich, und inBlechschublädchen hintereinander eingereiht. Jede Wertschriftenart hatte einKärtchen, und zwar für jeden Kunden. Wenn er kaufte oder verkaufte, wurdedies auf einer Papierliste bei uns gemeldet, dann griff man sich das Blechstück,stanzte die Zahl und die Namen der Wertschriften mit einemdanebenstehenden Apparat darauf und reihte es wieder in eine der Schachtelndes Speichers ein. Wollte man einen Auszug machen, etwa für den Kundenoder für die Dividendenzahlung einer Wertschrift für alle Kunden, dann liessman die Kartenschubladen durch eine Druckstelle rasseln, wo jedes Kärtchenergriffen, abgedruckt und zurückgestellt wurde. Die Blechkärtchen hattennämlich «Ritter» oben drauf, die dem Greifer der Maschine anzeigten, welcheKärtchen auszudrucken waren, jene für «Müller» oder für «Dividenden BBC».

Wie alle Schüler in Sommerjobs lernte ich dort industrielle Disziplin,

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nämlich die unendlich langen Vor- und Nachmittage zu überdauern, von 7.30Uhr bis 12 Uhr und von 13.30 Uhr bis 18 Uhr. Es gab eine Pause, und derArbeiter der Adrema, in blauer Berufsschürze, da Maschinist, und nicht inweissem Kittel wie die anderen Bankbeamten, bog dann seinen Kopfvollständig in seine tiefe seitliche Pultschublade, ass dort drin einen Teil seinerSchokoladentafel, weil er sich genierte, vor mir zu essen – und vielleicht auchnicht teilen wollte.

Das Sparheft der Kantonalbank hatte ich seit frühester Kindheit, und anNeujahr leerten wir das Sparkässelchen. Herr Rotach, der Schalterbeamte, trugdann die Einlage säuberlich mit dicker Stahlfeder ins Sparheft ein, errechneteden neuen Saldo, unterschrieb schwungvoll jedes Mal darunter und trocknetedie nasse Tinte mit dem Wiegefliessblatt ab. Die Einlage und den Saldo trug ergleichzeitig in ein enormes Buch der Bank selbst auf einem Stehpult nebendem Schalter ein. Sicher war es nach dem Prinzip der doppelten Buchhaltungeingerichtet, und abends mussten die Schalterbeamten die Summen längs undquer errechnen und in eine Hauptabteilung melden, damit die Bank ihrerseitswusste, wie sie stand.

Diese Erinnerung führte mich dazu, in einem Artikel des Jahres 2010vorzuschlagen, man könnte die Gefahr des Datendiebstahls auf CDs inunseren Schweizer Banken durch ausländische Steuerfahnder vermeiden,wenn man für wichtige Kunden diese einfachen Buchungen auf Papier wiedereinführte. Auch sonst lohnt es sich, Dokumente und Notizen analog auf Papieraufzubewahren und nicht zu elektronisieren. Mein Haus birgt daherverschiedene, für Ämter und Persönlichkeiten knusprige Unterlagen, inunendlichen Ablagekästen, Bücherregalen, Kellergestellen, Artikelbeigengelagert, welche kein Eindringling der Welt, auch keine Polizei,herauszusortieren vermöchte. Desgleichen erstaunt es doch, dass in den USABanken und andere Firmen wegen «conspiracy» zu riesigen Geldstrafenverurteilt werden, nur weil man ein, zwei E-Mails auf ihren Computern fand,wo Angestellte nicht ganz korrekte Pläne erwogen. Ein kurzeshandschriftliches Kärtchen und anschliessend der Schredder wären da besser

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gewesen.Übrigens führte die überschiessende Forderung nach Transparenz gegen das

Jahr 2000 auch in der Schweiz zu öffentlich zugänglichen Protokollen allermöglichen Kommissionen – Kartellkommission, Kommunikationskommissionusw. Doch was die Eiferer nicht voraussahen: Diese Kommissionen notiertendanach einfach keine Diskussionen mehr, sondern nur die Beschlüsse, diesowieso bekannt gegeben werden.

Kopieren – nicht so einfach

Im anderen Jahr, 1962 oder 1963, hatte mein Vater mir einen Sommerjob beider Kantonalen Bauverwaltung besorgt (nicht um mir etwas Gutes zu tun,sondern weil er fand, nach all dem theoretischen Schulzeugs könne richtigeArbeit nicht schaden). Dort musste ich riesige Pläne der Ingenieure undBauzeichner von ihrem durchsichtigen Pergamentpapier auf normales Papierhinüberkopieren. Im Rohzustand trug dieses Papier eine gelbe Oberfläche, diesich nach etwa einer Minute im Licht verflüchtigte. Wenn man diePergamentpläne, oft anderthalb Meter breit und lang, auf dieses Fotopapierlegte und rasch durch die Maschine zog, zuerst durch einen Lichtbogen, danndurch ein flüssiges Bad, wechselten die nicht vom Licht durchdrungenenLinien des Plans auf dem Papier von gelb zu schwarz, waren also kopiert undgesichert. Doch führte man zu Beginn den Plan und das Papier nur um 1 oder2 Millimeter schräg in die Maschine, zerriss sie beide, oder sie verrutschten,und die Linien wurden zu blassen Schemen.

War die Operation nach Anfällen von Panik gelungen, musste ich diePapierpläne ausmalen – Mauerkronen zinnober, die Maueranzüge (also dieSeitenwände) rosa, die Strassenflächen grün oder blau und die Strassenbordedunkelgrün.

Meine Mutter berichtete von Kopiervorgängen, die nochmals eine

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Generation zurücklagen. Sie wurde nach der Schule, also etwa 1931, im Büroder grossen Stickereifirma Grauer in Degersheim angestellt. Jeden Morgentrafen die maschinengeschriebenen Bestellungen der Kunden mit der Post ein,und meine Mutter musste diese mit der Schrift nach unten auf einer klebrigenMasse andrücken. Dann konnte sie etwa fünf Mal andere Papiere auf dieMasse pressen und so Abzüge davon in die verschiedenen Abteilungen derFirma übermitteln.

Die alte analoge Welt und die neue Digitalisierung zeigen sich auch ineinfachen Spielzeugen. Ich erhielt Anfang der 1950er-Jahre einferngesteuertes Auto – die Ferne bestand aus einem etwa 1,5 Meterlangen Spiralröhrchen am Auto, an dessen Ende in meiner Hand eineKurbel und ein Drücker für die Lenkung waren. Die Kraft und derLenkungsdruck wurden durch Drähte im Röhrchen übertragen. Das Autoverursachte Aufsehen und wird heute in Antiquariaten teuer verkauft.Heute bekommen die Kinder ferngesteuerte Autos, Flugzeuge undSchiffchen, die drahtlos, mit eigener Batteriekraft und unglaublich schnellreagieren. Wenn man vor zehn Jahren sagte, dass ein Personenwagenungefähr gleich viel – digitale – Schaltungen habe wie die Mondrakete1969, dann haben jetzt wohl schon bald diese Spielzeugautos mehrSchaltungen.

Die Welt Gutenbergs bestimmte auch die Wissensübermittlung imGymnasium, wo ich von 1961 bis 1966 war. Wir hatten in jedem Fach dieüblichen Schulbücher, manche waren oft zehn, 20 Jahre alt und vonSchülergeneration zu Generation weitergereicht worden, wie die auf derInnenseite aufgeklebten Zettel mit Datumstempel der Schule und die selbsteingetragenen Namen der Schüler zeigten. Dazu aber verfassten die Patres imGymnasium Friedberg, Gossau, eigene Leitfäden zu Französisch, Philosophie,Deutsch und Musik und druckten diese oft jede Woche auf Schnapsmatrizenoder gar auf Wachsmatrizen. Letztere waren eine unendlich mühsame

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Angelegenheit. Man nahm das Druckband aus der Schreibmaschine undspannte ein dick mit Wachs beschichtetes Papier ein. Die Buchstaben wurdeneingekerbt, falls man fest und gleichmässig anschlug. Bei Fehlern wurde dieStelle mit rosarotem Flüssigwachs ausgefüllt. Man musste dann warten, bis essich verdickte, um weiterzuschreiben. Wehe, meist verrutschte das dicke Blattdann aber auf der Walze, weil man es zur Korrektur etwas vor- und dannzurückdrehen musste. Auch im Militärbüro musste ich solche Matrizen füllen,und an der Universität schrieben wir 60-seitige Seminararbeiten auf diesemWachs vom handschriftlichen Entwurf ab – wochenlang, abends nach denVorlesungen. Die Wachsblätter wurden auf eine Walze gespannt und überDruckerschwärze abgezogen. Die Schnapsmatrizen waren einfacherherzustellen und beliebt, weil die Blätter wirklich verführerisch nach Alkoholrochen.

Die katholischen Kollegien und die Klosterschule in St. Gallen, die ichbesuchte, boten freie Schulwahl, also Alternativen zu den öffentlichen Schulen.Sie kosteten wenig, nur ein paar Hundert Franken im Jahr, weil die Patres sichselbst ausbeuteten. Die Pallottinerpatres fuhren in die umliegenden Pfarreien,um samstags die Beichte zu hören, sonntags das Hochamt zu feiern undfinanzierten mit dem Entgelt der Pfarreien die Schule. Wir Schüler putzten dieGebäude und wuschen das Geschirr, denn es gab kein Personal. In den Pausenund an den Wochenenden packten wir die Monatsschrift Ferment, welche demOrden Finanzen einbrachte, in Versandkartons. Der Lernbetrieb war streng,denn die Patres eiferten den Jesuiten nach. Mittags waren die Schulzimmergeschlossen, man machte Sport oder Musik. Niemand ging um 18.30 Uhr weg,ohne alle schriftlichen Aufgaben abgeliefert zu haben. Wir hatten in denwichtigen Fächern zwei Aufgabenhefte: Eines war beim Pater, der korrigierte,und in das zweite schrieben wir die neuen Aufgaben. Der Lateinlehrer, einHüne aus Deutschland, bestimmte, wer aus der Schule flog. Wenn er dieKlausuren zurückgab und zu einem Schüler sagte: «Auch Schuster ist einschöner Beruf», dann trat dieser meistens nach einigen Wochen aus. KeineRekurse. So lernen heute die Chinesen.

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Auch in Fragen der Lebenswelt übten wir das, was verschlampte Lehrerheute elitär nennen: Im Speisesaal mussten wir, 150 16-Jährige, beimAufstehen den Stuhl gleichzeitig und lautlos mit der rechten Hand hintenwegführen. Essen musste man im Jackett, auch im Sommer. Im KollegiumFriedberg machten wir auch Judo, hatten einen Servierkurs und lerntenTischsitten, in Appenzell autogenes Training.

Auch bewältigten diese Schulen die Begabtenförderung ohne grosse Töne.Im Kollegium Appenzell holte der Chemielehrer die künftigenMedizinstudenten unter uns (35 Maturanden in einer Klasse!) ein halbes Jahrlang gesondert zu sich und nahm den Stoff des ersten Propädeutikums der Unischon mal mit ihnen durch. In der Klostersekundarschule St. Gallen befahl derPater Rektor meinen Vater zu sich und sagte, ich müsse Latein nehmen. Erholte mit mir in einem privaten Crashkurs ein Jahr Latein auf, und zwartäglich ab 16 Uhr im Schulsekretariat, wo, wie in einem Taubenschlag, dieSchüler, Eltern und Lehrer ein- und ausgingen. So konnte ich ohne Zeitverlustim Herbst ins Gymnasium. Verlangt hat der Rektor nichts, mein Vater gab ihmein Kistchen Zigarren. Der Geistliche war ein strenger, erfolgreicherSchuldiktator. Der spätere Autor Niklaus Meienberg, der vor mir dort war,nannte ihn «einen schwitzenden Koloss unerlöster Männlichkeit». Aber manlernte in dieser Klosterschule, die im Jahre 730 gegründet worden war, nachStrich und Faden.

Die Computer – vom Einzelstück zum Alltagsgerät

Der PC brachte Mitte der 1980er-Jahre die grosse Revolution in der Hardware.Zuerst diente er einfach als etwas bessere Schreibmaschine, er konntespeichern, korrigieren, drucken, was alles schon eine unendliche Erleichterungdarstellte. Die Prospekte und Inserate, welche dafür warben, zeigtenabwechselnd immer eine attraktive Frau und einen jungen Mann am PC,

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während die andere Person danebenstand und irgendwie mithalf. Es galtnämlich, die eingespielte klare Rollentrennung aufzuheben: dass die Frau alsSekretärin einfach nur tippte und der Mann alles im Kopf hatte und diktierte.Die Technik vermischte nun diese Rollen. Ohne grosse feministische Theorienkapierten dies die PC-Hersteller. Sie konnten die Apparate nur verkaufen,wenn dabei auch die hierarchische Bedienung abgeschafft wurde.

Vorher aber, an der Universität Genf, wo ich ab 1966 lernte, warenComputer noch sagenhafte Grossmaschinen, die streng verschlossen alsEinzelstücke im Keller eines naturwissenschaftlichen Instituts summten. Ichwollte ihnen näherkommen und besuchte 1967 einen Programmierkurs, um diedamals notwendige Computersprache zu lernen. Aber die abendlicheneinstündigen Kurslektionen auf abgewetzten Holzbänken in der Ecole deMédecine blieben eine Trockenübung. Ein Assistent schrieb mit Kreide undmit dem Rücken zu uns unablässig wirre Formeln an die Wandtafel. Weit undbreit kein Computer, dieses Interface schreckte nur ab.

Gutenbergs Welt dominierte. Für ihre Vorlesungen hatten mancheProfessoren ein Skript herausgegeben oder eines autorisiert, das von fleissigenfrüheren Studenten gemacht worden war. Diese Skripts erjagte und kaufteman fiebrig von Vorgängern. Die Unterlagen waren entsprechend zerblättert,vollgekritzelt und bemalt. Viele Vorlesungen aber mussten laufendmitgeschrieben werden, weil die Professoren an den Examina auf neueLieblingsgebiete stiessen. Vor den Examina verglichen wir untereinanderunsere Notizen und ergänzten sie. Faulere Kollegen standen tagelang amFotokopierapparat und verschafften sich diese arrondierten Notizen. Daskostete damals schon 50 Rappen pro Kopie, aber dafür waren sie wunderlichfeucht und rochen gut.

Die Bibliothek am hochstehenden Institut de hautes études internationales(heute HEID) der Genfer Universität war ausserordentlich gut bestückt – diewichtigsten Ökonomierevues der Welt fanden sich da, zurückgehend bis in die1940er-Jahre, die Entscheide des Gerichtshofs in Den Haag, neuereFachbücher, fast alle in Englisch. Unsere Professoren kamen manchmal mit

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den Fotokopien von Büchern oder Zeitschriften aus den USA zurück, die inEuropa nicht erhältlich waren. Diese Kopien wurden dann gebunden undkamen ins Gestell. Die Bibliothek war eine Präsenzbibliothek, alles durfte zwarselbst entnommen, musste aber immer dort konsultiert werden. EinMitstudent, der bei IOS, der reichen Spekulationsfirma gegenüber an der Ruede Lausanne, arbeitete und der einen weissen Bentley wie einen blauen Jaguarfuhr, war nie in der Bibliothek, lieferte aber gute Arbeiten ab. «Der lässt sieschreiben», war die Meinung, doch als wir einmal in seinem teurenAppartement an der Avenue De-Budé eingeladen waren, sahen wir, dass ersich einen grossen Teil der Bibliothek einfach selbst gekauft hatte.

Die Bibliothek der UNO erweiterte das damalige Bücherangebot in Genfgewaltig. Für eine Seminararbeit über den Südsudan konnte ich dort alleAusgaben der Times auf Jahre zurück konsultieren. Allerdings folgte dieBibliothek dem minimalistischen Rhythmus internationalerRiesenorganisationen, wo die Ruhezeiten des Personals wichtiger waren als dieLieferungen an die Leser. Man musste zwei Mal zu präziser Minute morgensund nachmittags die Bestellzettel abgeben, und etwa vier Stunden später kamdas Buch, meist aber erst am folgenden Tag.

Für den Entscheid zum Studienort und zum Studienfach stand einem Endeder 1960er-Jahre nur knappe Auskunft zur Verfügung. Man kannte einenälteren Studenten oder einen Professor und befragte ihn. Man schrieb eineUniversität um Auskunft an und erhielt vielleicht drei Wochen später dürreLehrpläne. Auf den Universitätssekretariaten lagen ebenso dünneProspektchen anderer und weiterführender Ausbildungsstätten auf. Vor allemüber ausländische Universitäten, die mich interessierten, z. B. jene Westberlinsoder die London School of Economics (LSE), war man wenig auf demLaufenden, und auch gestandene Akademiker im Bekanntenkreis konntennicht weiterhelfen. Sie selbst gehörten der Krisen- und Kriegsgeneration anund hatten meist nur in der Schweiz studiert. Man meldete sich daher brieflichan und fuhr im Zug hin. Dort fand man einfach vor, was war und machte es –oder auch nicht.

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Berliner Studentenrevolution – im Kopf erstarrt

Ich entschied mich im Herbst 1970 für die Freie Universität (FU) in Westberlin,weil dort offenbar politisch viel lief und weil ich Konzentrationsforschungmachen wollte. Damals vergrösserten sich die Giganten wie ITT, IBM, GE,Siemens, BBC und BASF enorm, und deren Macht beschäftigte Wissenschaftwie Medien. Ihre Verbindungen zu Südafrika, Lateinamerika oder zur Rüstungriefen Verschwörungstheorien hervor. Ihre Marktbeherrschung erschienbedrohlich. Professor Helmut Arndt und Assistenzprofessor Jörg Huffschmidhatten in Berlin dazu schon publiziert.

Schon die erste Vorlesungsstunde an der FU ernüchterte mich aber sehr. Die68er-Bewegung war in Berlin doktrinär geworden. Falls ein Professorüberhaupt noch erschien, wurde er gleich zu Beginn niedergeschrien, einer derStudentenführer zum Diskussionsleiter ernannt, und dann wurde der ganzeMarxismus heruntergebetet. Ich verstand nichts, zog mich für drei Wochen inmein Zimmer zurück und las die drei Bände des Kapital von vorne bis hinten.Eine gewisse Eleganz kann man dem Text nicht absprechen: DieUnterscheidung Marx’ von Gebrauchswert und Tauschwert, dann derenAnwendung auf die Arbeit selbst, seine Diskussion des Einflusses derProduktivität auf Wachstum und Krisen, die Egalisierung der Profitrate untervollkommener Konkurrenz und damit die Allokation des Kapitals an denrichtigen Ort durch den Markt sowie der Weltmarkt, das alles beeindrucktemich. Aber die hämische kleinliche Art, wie Marx andersdenkende Ökonomenheruntermachte, war auf die studentischen – und generell auf die linken –Diskutanten übergesprungen. Sie hatte ja schon die Sitten der LeninschenKaderpartei vor und nach 1917 verdorben. Die Unerbittlichkeit derDiskussionen spitzte sich enthüllend zu, als einer der Wortführer einmal einenGenossen in der Vollversammlung abputzte, indem er sagte: «Du irrst, dennhier steht geschrieben», und auf sein Exemplar des Kapital zeigte. Ehrfürchtigwurde auch herumgeboten, einer der studentischen Grosskopferten habe ein

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neues Exemplar des Kapital kaufen müssen, weil das alte zerblättert sei.Die Sturheit und Rechthaberei führte dazu, dass sich die Bewegung in

Maoisten, Stalinisten und DDR-Fans, Trotzkisten, Anarchisten,Sozialdemokraten und Spartakisten aufsplitterte. Alle diese K-Gruppen (fürkommunistisch hielten sie sich alle) zogen eigene Schulungsseminare ab, undam 1. Mai paradierten sie getrennt durch die Strassen, um zu messen, wer dengrössten Aufmarsch hatte. Pflicht war auch Basisarbeit, die aber nicht darinbestand, den Armen zu helfen, sondern morgens vor den Fabriken Flugblätterzu verteilen. Da lasen dann die Arbeiter, Vorarbeiter und Angestellten, wieschlecht es ihnen ging.

Vor allem die Krisentheorie wurde ausgewalzt und das baldige Ende deskapitalistischen Systems angekündigt. Die aus heutiger Sicht fast unmerklichekleine Konjunkturdelle 1966/67 wirkte damals nach denSuperwachstumsjahren wie ein Fanal. Von strammen Marxisten wurde dieunwahrscheinliche Theorie aufgestellt, dass die Unternehmer die Kriseleichthin selbst veranstalteten, um die Erfolge der Arbeiter zurückzustutzen.

Ernest Mandel, der belgische Trotzkist, hatte grossen Zulauf. Dergefährliche Revolutionär, der in der Schweiz sogar Redeverbot erhielt, trat inBerlin als behaglicher 50-Jähriger in Strickjäckchen und Krawatte auf – einfast extraterrestrischer Anblick inmitten der betont ungepflegten, bärtigenJungmänner. Statt «massenhaft» sagte er immer «massale» Kapitalvernichtungoder «massale» Produktion, was ebenfalls pittoresk war. Doch seine Vorträgewaren intelligent und boten nicht einfach Propaganda. Ironischerweise kamdie grosse Krise dann 1973 (da war ich längst wieder in der Schweiz), aber siekam nicht wegen des tendenziellen Falls der Profitrate in den Metropolen,sondern weil die Söhne der Wüste das Öl verteuerten.

Die Quellen in der alten Informationswelt

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Nach dem Studium wollte ich, wie seit meinem 18. Jahr gewünscht, Journalistwerden. Aber wo fand man die besten Quellen? Ich ging 1970 für einige Tagenach Basel, Zürich und Bern, fragte mich zu Wirtschaftsarchiv, Zentral- undLandesbibliothek durch und entschied mich dann für Bern. Dort waren nichtnur die Landesbibliothek – heute in Nationalbibliothek umbenannt –, sondernauch die Bundesverwaltung, das Parlament sowie die Sekretariate vielerVerbände. Ausserdem führte jedes Bundesamt eine eigene Bibliothek, welchemanchmal auch mit internationalen Quellen dotiert war, etwa jene desdamaligen Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA). Dort fandman fast alles, was die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung (OECD) in Paris an Studien und Statistiken ausstiess, aber auchdas Statistische Amt mit UNO-Quellen und statistischen Jahrbüchern andererStaaten. In einem Keller des volkswirtschaftlichen Instituts der UniversitätBern fanden sich die meisten wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriftenaus den USA, viele Jahre zurückreichend. Die Informationen über die Weltund die Schweiz lagerten auf diesen wenigen Gestellen, lokal und analog, undnur dort. Man radelte also kreuz und quer durch die Bundesstadt, um dieseQuellen einzusehen. Vergass man, eine Zahl abzuschreiben, musste mannochmals hin. Dort, wo ein Kopierapparat vorhanden war, musste man sichmit den Sekretärinnen und Hütern der Bände gutstellen, und dann zeigten sieeinem, wie es ging. Wollte man bezahlen, ging das meist nicht, weil keineAbrechnungssysteme für solche Einnahmen des Bundes bestanden. Auch gut.In der Landesbibliothek musste ich 1971 erst eine Unterschriftenaktion derBenutzer starten, damit ein allen zugänglicher Kopierapparat aufgestelltwurde.

Bundesdruckschriften musste man bei der Eidgenössischen Drucksachen-und Materialzentrale (EDMZ) bestellen oder selbst am Schalter abholen.Dieser lag draussen in Bümpliz. Laufende Gesetzgebungen waren schwierig zuerfassen. Die Botschaften des Bundesrates verkaufte die EDMZ, die nochzwischen den Räten pendelnden Geschäfte konnte man auf der Bundeskanzleiauf meterbreiten Fahnen abholen, welche die Versionen der zwei Räte und die

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Minderheitsanträge ausbreiteten. Die neuesten Protokolle derRatsdiskussionen kamen nur vierteljährlich gedruckt heraus, heute sind sie oftschon am Abend der Debatte im Internet. Damals leistete derRatskorrespondent der NZZ täglich ausführlichste Berichterstattungen überdie Debatten, die als aktuelle Dokumentation reichen mussten, wobei seineSätze immer vom Allgemeinen in die Wir-Form übergingen: «Oppositionerwuchs der Vorlage vom Fraktionschef der FDP, wir können doch nichtzulassen, dass hier stillschweigend neue Abgaben eingeführt werden c» oderähnlich.

Solche Stellungnahmen, Partei- und Verbandsmeinungen holte man auch inden Berner Zentralsekretariaten ein, meist persönlich am Schalter, weil manvorher ja gar nicht wissen konnte, was dort alles vorhanden war. VieleQuellen waren deshalb eher zufällig, und sie wurden als ausdrücklicherGnadenerweis vertraulich verabreicht. Besonders Bundesstellen, falls durchmissmutige Berner besetzt, waren in den 1970er- und 1980er-Jahren oftindigniert über die Zumutung, etwas herausgeben zu müssen.

Natürlich konnte man sich auch beim Bund auf das Bundesblatt abonnieren.Dies umfasste die Sammlung der gültigen Gesetze und die laufendenVeröffentlichungen von Botschaften und Verwaltungsbeschlüssen. DieSendungen kamen zwei Mal in der Woche per Post. Man reihte sie dann in dievielen roten kleinen Ordner ein. Doch immer bohrte ein leises Bangen, dassman auch ja keine Sendung verlegt hatte. Man konnte der papierenenGesetzessammlung im eigenen Gestell so nicht ganz trauen.

Wie das Wissen der Welt anzapfen?

Während des Studiums hatte ich die angelsächsische Welt entdeckt. Sie warschneller, nonkonformistischer, nüchterner und präziser als die französische«civilisation», die im Gymnasium und unter weit gereisten Onkeln der Familie

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als Referenz des Weltstandards gedient hatte. Ich las seit damals die FinancialTimes, die International Herald Tribune und den Economist. Die Tribune kamin Paris heraus, wurde auch in Zürich gedruckt, war also tagesgenau amBahnhof erhältlich und enthielt Artikel der New York Times sowie derWashington Post. Das war nun wirklich Weltniveau! Doch wenn darin voneinem US-Gesetz, einer Studie oder einem neuen Buch die Rede war, so setzteein Hürdenlauf ein.

Wie kam man zu so etwas? Ich ging zum PTT-Büro der internationalenVerbindungen am Bahnhof, wo alle Telefonbücher der Welt lagen. Für eineStudie zum kalifornischen Gesundheitswesen etwa, von der man vage gelesenhatte, musste man dort den H-Band von Sacramento erbitten, die Adresse desHealth Department abschreiben, nach Hause gehen, einen Bittbrief schreibenund internationale Antwortbriefmarken beilegen. Mit viel Glück hatte mansechs, acht Wochen später die Studie oder das Gesetz. Das war langfädig, aberich war immer noch der Erste und Einzige, der es in der Schweiz hatte. Direktnach Kalifornien zu telefonieren war undenkbar, denn dies hätte damals fürdrei Minuten etwa 30 Franken gekostet – und mehrere Versuche, bis man denrichtigen Beamten gehabt hätte. Das entsprach einem halben Wochenlohn. Diehohen internationalen Tarife waren eine der grossen Gewinnquellen der PTT,und sie nährte die Bundeskasse mit diesem Zoll auf Weltläufigkeit. Ihn zuentrichten, waren die grossen, multinationalen Firmen in der Lage. Hingegenwurden Universitäten, private Forscher und Journalisten von der Teilhabe amgeistigen Austausch mit der Welt durch diese Hochpreispolitik ausgeschlossen.Es war eine Steuer auf die internationalen Kontakte der geweckten Geister desLandes, welche zu Hause die Raps- oder Militärsubventionen des Bundesmitbezahlte.

Auch die Briefsparte der Post pflegte seltsame Sitten, um die Kunden zumSparen anzuhalten – oder elegant auszunehmen. Eine Postkarte konnte mit 5Rappen frankiert werden. Aber für diesen Tarif durften nur fünf Grussworteund die Unterschrift vorkommen, wie es auf der Stelle, wo die Marke hinkam,in Bürokratenart aufgedruckt war: «Porto: Wenn nur mit Gruss und

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Unterschrift versehen, 5 Rappen im In- und Ausland, sonst 10 Rappen bzw. 20Rappen.» Damit musste jeder, der eine wirkliche Mitteilung machen wollte,auf das höhere Porto umsteigen, obwohl die Post dafür nicht mehr leistenmusste. Information war rationiert.

Dem wollte auch der Journalist Ludwig Minelli Ende der 1960er-Jahreabhelfen. Er baute sein eigenes Archiv an Zeitungsartikeln zu einerDienstleistung für alle aus. Andere Journalisten und ganze Redaktionenabonnierten sich, um seine Informationen zu beziehen. Diese kamen per Postals Bündel von Fotokopien an. In Deutschland war das Spiegel-Archiv einesagenumwobene Fundgrube, aber nicht einfach von aussen zugänglich.Information war in Kilo gemessen.

Alles hing an der Telefonschnur

Gehen wir in die 1950er-Jahre zurück: Das Telefon war zwar angekommen,aber noch nicht sehr verbreitet. Anrufe von Herisau nach Zürich wurden sogarnoch vom Fräulein im Amt geschaltet. Nahm man den Hörer ab, meldete essich, und man musste die gewünschte Nummer angeben. Nachbarinnen ohneTelefonanschluss kamen zu uns mit 20 Rappen in der Hand, um zutelefonieren. Das war der Tarif für drei Minuten im Inland während des Tages.Und damit alle wussten, wie lange dies dauerte, hing fast überall beim Telefoneine Sanduhr mit dieser Laufzeit. Kam ein Anruf für diese Nachbarn an,musste man über die Strasse oder in die anderen Wohnungen des Hausesrennen, um sie zu holen. Fast jedes Restaurant besass vor den Toiletten einGästetelefon mit Geldeinwurf oder mit einem Zähler beim Buffet.

Vor dem Internetzeitalter war es eine Herausforderung, an der Börsezeitgerecht dabei zu sein. Täglich um 13.50 Uhr verlas man am Radio dieBörsenkurse, und manche privaten Investoren führten Tabellen, in die sie dieKurse eintrugen. Um diese Zeit war aber die Börse schon zu Ende. Wollte man

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während des Tages intervenieren, musste man den Bankangestellten anrufen,der an einem anderen Apparat seinerseits den Vertreter an der Börse anrief,um die Kurse zu erfragen. Dann gab man am Telefon die Aufträge durch. Umam Morgen zu wissen, was in New York, v. a. aber in Japan an den Börsengelaufen war, musste man ebenfalls telefonieren. Das Kursgeschehen war inmeiner Erinnerung damals aber weit undramatischer, denn man musste nichtstündlich Überraschungen erwarten (ausser bei Insidergeschäften mitKursexplosionen). Überhaupt hielt man Gewinnzunahmen der Firmen von 4oder 5 Prozent für hervorragend. Es gab noch keine Junganalysten, welche denergrauten Firmenbossen jährlich plus 18 Prozent vorschrieben. Kursgewinnevon 10 Prozent, und dies nach mehreren Monaten, wurden alsausserordentlich erfreulich angesehen. Das Telefon aber war die Nabelschnurzur Finanzwelt.

Und noch früher – da gab es ausser in Geschäften oder Arztpraxenüberhaupt kein Telefon. Meine Mutter wuchs nach 1916 im Untertoggenburgauf, und wenn man die Basen und Vettern in anderen Dörfern besuchenwollte, marschierte man einfach los, z. B. 2 Stunden von Degersheim nachHemberg, und man traf die Verwandten denn auch meist an – weil es ebennoch keine Autos gab, mit welchen man herumfuhr und seine Anwesenheitunstet hielt. Nach den Besuchen machte sich meine Grossmutter mit denKindern von sechs bis zwölf Jahren wieder auf den zweistündigen Heimweg.

Noch zu meinen Zeiten schreckten uns Kinder diese Besuche amSonntagnachmittag (wir fuhren im Auto hin), weil die Ostschweizer, und dieToggenburger besonders, sehr sparsam waren und es lange dauerte, bis einigeBisquits oder ein Glas Sirup auf den Tisch kamen. Gotthelfs Schilderungenüppiger Emmentaler Bauernessen trafen hier nicht zu. Hier waren dieBauernhöfe klein, das Gelände stotzig, zehn Kühe schon guter Mittelstand.

Die Information in den Wertschöpfungsketten des UrgrossvatersOhne Telefon geschäftete mein Urgrossvater Eugen Pauly in Kreuzlingen.Ich besitze noch etwa 600 Postkarten aus den Jahren von 1888 bis 1908,

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die er erhielt. Da kündigten Vertreter und Geschäftspartner ihre Besucheauf morgen an, und zwar aus dem nahen Deutschland und von ziemlichweit her aus Schweizer Ortschaften. Man konnte offenbar davonausgehen, dass die Post innerhalb eines Tages ankam. Gehandelt hat derUrgrossvater «Colonialwaaren». Ohne die Transparenz des Internets odermoderner Branchenverzeichnisse lief der Warenvertrieb über viele Stufen– mein Urgrossvater bestellte seine Waren bei Grosshändlern,Fabrikanten und Importeuren in Hamburg, Zürich und Italien undversorgte als regionaler Grosshändler damit in der ganzen OstschweizWirte, Läden und Private. Er kaufte Perlkaffee aus Guatemala, Wein ausItalien, vertrieb Fässer mit Salz, Petroleum, Essig, Speiseöl, Lampenöl undZucker, Teigwaren, Most, Mais und Reis.

Viele Zahlungen kamen und gingen über Postmandat oder wurdenüber vorher geöffnete Guthaben bei Lieferanten abgebucht, jedes Malaber mit Postkarte mitgeteilt und verdankt. Alles kam in Handschrift,auch von Banken oder Firmen, da die Schreibmaschine erst nach 1900allmählich gebräuchlich wurde.

An sich war mein Urgrossvater Landedelmann auf dem grossen GutWöschbach, auf dem heute ein Teil Kreuzlingens steht. Die Vorfahrenwaren auf Öl gemalt, Möbel, Bestecke und Hausrat gediegen, und alleinim noch heute stehenden Knechtehaus fanden später fünfEigentumswohnungen Platz. Mit dem Grosshandel versuchte er dieVerluste aufzufangen, die er als Gemeinderat und Amtsnotar – aber imMilizsystem – beim Überschreiben eines anderen grossen Gutes, derMellgente, erlitten hatte. Drei Gemeinderäte von Kurzrickenbachzertifizierten eine Fläche gemäss früheren Dokumenten, die sich nachMessung mit Instrumenten später als deutlich kleiner erwies. Diese Rätehafteten gemäss Notariatsgesetz und mussten 1884 das Gut zum hohenPreis an sich ziehen. Davon erholten sie sich nicht mehr. MeinUrgrossvater verschuldete sich bei der Schaffhauser Bank Zündel & Co.,bei den Frankfurter Bankhäusern Kobelt & Hirschfelder und Haubach &

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Feine sowie bei Osiander in Mannheim. Viele Postkarten zeugen vomGezerre um Zinsen und Rückzahlungen: «Wir bitten um gefälligeRückgabe der Ihnen zum Akzept überlassenen Tratten.» Banken hattendamals keine Filialen, ländliche Kreditbedürftige mussten weitherumsuchen. Die Zahlungen und Wechsel an die Frankfurter Herren konnteder Urgrossvater über Korrespondenten wie das Konstanzer BankhausMacaire & Co. zustellen.

Schliesslich musste er nicht nur die Mellgente, sondern 1901 auch dasseit Generationen vererbte Gut Wöschbach verkaufen. MeineUrgrossmutter stammte aus dem süddeutschen Adel der Merhart vonBernegg, der auch auf Anton Fugger in Augsburg zurückreicht. Die Paulyselbst gehen u. a. auf die Familien der Barockbaumeister Thumb und Beerzurück. Die Katastrophe war geschäftlich und gesellschaftlich, meinUrgrossvater überlebte sie nur kurz. Aber es wäre heute noch ein schönerZug, wenn Amtsinhaber für die mitbeglaubigten Verluste haften würden.

Die ökonomische Interpretation der Ereignisse müsste auch auf dieallgemein stark fallenden Preise zwischen 1873 und 1896 verweisen undauf die noch stärkeren Preis- und Absatzprobleme der Landwirtschaft,welche wegen der Eisenbahnen von deutschen, französischen undrussischen Produkten überrollt wurde.

Desgleichen wurden die landwirtschaftlichen Produkte erstkleinindustriell verwertet. Der Kaffee kam aus Übersee nach Hamburg,dann zu meinem Urgrossvater in Kreuzlingen, der ihn in Romanshornrösten liess, ihn zurückgeliefert bekam und an die Läden weitherum mitFuhrwerken zustellte. Ähnlich lange Wertschöpfungsketten erstrecktensich bei Tinte, Most, Petroleum und Mehl. Um 1900 rationalisierte mandiese; viele selbstständige Existenzen gingen ein. Die Wertschöpfungerfolgte nun durch Arbeiter, die in grössere Fabriken zusammengezogenwurden.

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Kapitel 2

Produktivität aus Sägezähnen

So rasch wie China heute wuchs die Schweizer Wirtschaft vor 50 Jahren –plus 7 Prozent, plus 8 Prozent jährlich und real. Die Voraussetzungen dafürliegen heute gar nicht so weit weg. Und Wachstum muss nicht immer mehrKohlendioxid, Eisen und Chemieabfälle heissen. In der Dienstleistungs- undInformationsgesellschaft kann sich Wachstum wie bei Amazon äussern, dieüber Weihnachten 2009 erstmals mehr Bücher elektronisch über den Ätherverkauften als physisch über die Post.

Die Schweizer Wirtschaft produzierte zwischen 1950 und 1970 natürlichnoch im Materiellen. Sie industrialisierte sich sogar noch weiter und erranghohe Weltmarktanteile bei Pharmazie, Feinmechanik, Uhren, Turbinen undAgrochemie. Das zählte damals zur Hochtechnologie. Deren Anteil an denSchweizer Exporten machte mit knapp 50 Prozent international denSpitzenwert aus.

Wer damals schon dabei war, erinnert sich: Alles wuchs zum Himmel.Selten fiel das reale Wachstum unter 6 Prozent im Jahr. Die Arbeitskräftenahmen um 770000 Köpfe zu, die Kaufkraft der Löhne verdoppelte sich bis1970 beinahe, die Autos verzehnfachten sich. Nur die Zahl der Arbeitslosenfiel: Im Jahre 1970 zählte man im ganzen Lande noch 104 solcher Individuen.Abgesandte der Banken streiften zu meiner Zeit 1968/69 durch die Gänge derGenfer Universität, um Studenten anzuwerben. Wenn man noch die Examenmachen wollte, sagten sie, kommen Sie lieber sofort, das macht nichts.Ferienjobs fand man in Hülle und Fülle, auch die Post stellte auf Ostern undWeihnachten grosszügig ein.

Die Firmen starteten Werbetouren in Südeuropa, und die bereits hierarbeitenden Südländer wurden nach Verwandten und Dorfbekannten gefragt,

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die auch noch kommen könnten. Bei den meisten Fabriken standenBarackenzeilen, wo die Italiener und Spanier wohnten. Nachher kritisiertenGutmeinende dies scharf, doch konnte man von einem Pakt derGegenseitigkeit sprechen: Die Fremdarbeiter wollten billig leben, viel sparenund nach Hause schicken, die Firmen wollten keine grossen Auslagen. Mit derZeit bauten dann die italienischen Bauarbeiter die Wohnblockserien, inwelchen sie mit ihren Familien wohnten.

In der früh industrialisierten Ostschweiz allerdings waren Italiener undTessiner mit der ersten Einwanderungswelle nach 1880 schon angekommen,geblieben und unterdessen Geschäftsleute geworden. In Herisau warenLongoni und Slongo Baumeister, Molinari Schirmflicker, Pizzamiglio undTrentini Gemüsehändler, Ripamonti Elektriker, Pollini Messerschmiede. Dasträge Bern, wo ich wohne, kennt noch heute weniger Eingewanderte, und manhat den Eindruck, dass es auch schlechter damit umgehen kann. Schon ausdem Grund, weil die Berner in der Volksschule bisher kaum Hochdeutschlernen. Einfache Leute, Kioskverkäuferinnen und Buschauffeure reden mit denAusländern unbeirrt ihren Dialekt in schwerer Zunge.

Das System der Saisonniers nach 1950 war dagegen als Rotationsprinzipgedacht – nach vier oder fünf Saisons würde der Arbeiter zufrieden nachItalien oder Spanien zurückkehren, und ein neuer Saisonnier träte an seineStelle. So würde keine Ausländerexpansion im Lande stattfinden. Doch dieReindustrialisierung der Schweiz nahm ihren erfolgreichen Verlauf, auch dankdes günstigen Frankenkurses, die Fabriken dehnten sich immer mehr aus, unddie Exporte schwollen an. Es kam so weit, dass im Glarnerland FabrikenBaumwolle verarbeiteten, die zu 100 Prozent aus Ägypten kam, mit einerBelegschaft, die zu 100 Prozent aus Ausländern bestand, und dies für eineProduktion, die zu 100 Prozent in den Export ging. Die Fabrik wäre besser inÄgypten oder in der Türkei gestanden. Erst nach der Frankenaufwertung nach1973 setzte sich dies in der Wirklichkeit um, aber mit Schmerzen, weil jetzt dieLeute sesshaft geworden waren, weil die Kapitalien hier investiert waren. MaxFrisch prägte das Wort: «Man rief Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.»

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Etwas nüchterner kann man auch sagen: Diese Probleme, der Massenzuzug,die unsinnige Ausdehnung von Billigproduktionen in der Schweiz selbstanstatt in Anatolien und die aufkeimende Überfremdungsangst waren eineFolge der verpassten Aufwertung des Frankens 1961. Man hätte in jenem Jahrim Gleichzug mit Deutschlands D-Mark aufwerten sollen.

Doch die Schweizerische Nationalbank war und ist nicht so unfehlbar wieviele meinen. Diesem damals schwerwiegenden Fehler gingen ebensolchevoraus und folgten weitere. So weigerte sich die Notenbank in derWeltwirtschaftskrise mehrere Jahre lang abzuwerten, obwohl schon England,die USA und viele andere Länder das Verhältnis der Währung zum Goldverflüssigt hatten – sie verlängerte damit die Krise für Hunderttausende vonSchweizern über mehrere Jahre. Desgleichen ruderte sie 1976/77 längere Zeithilflos, bis sie die Interventionen gegen den hohen Frankenkurs und dieDollarabwertung startete. In der Eurokrise 2010 kaufte sie wahllos Euro auf,ohne wie früher ein Überraschungsmoment und eine Zusammenarbeit mit denanderen Notenbanken anzuwenden. Überhaupt gibt es erst Inflation, seit esNotenbanken mit Papiergeld gibt. Vorher gab es unter dem Goldstandard nurTeuerung, und zwar nach Kriegen oder Krisen, die jeweils auch wiederabklang.

Klassische Industriewirtschaft, erste Konsumwellen

Der expandierende Industriesektor zog die besten meinerSekundarschulkollegen an. Anfang und Mitte der 1960er-Jahre war es eineAuszeichnung, als Lehrling bei den Flug- und Fahrzeugwerken Altenrheineintreten zu können, ebenso bei Sulzer, bei Bühler in Uzwil und bei der SpühlAG in St. Gallen-Wittenbach.

Sulzer baute einen grossen Teil der Schiffsdieselmotoren für die Weltmeere,die BBC in Baden enorme Generatoren- und Turbinengruppen, teils für die

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entstehenden Grosskraftwerke der Schweizer Alpen, grösserenteils aber fürden Export in alle Welt. Die Zeitungen brachten die Bilder vom Wegtransportdieser Ungetüme, wozu Brücken und Überführungen über denTransportwegen bis zum Basler Hafen abgebrochen werden mussten.

Die zwei Seiten paternalistischer FabrikführungDie Buntpapierfabrik Walke in Herisau war eine klassische Fabrik der1950er-Jahre, in Bauten, Prozessen und gesellschaftlichenVerkehrsformen. Das Papier kam in rohen Rollen an, wurde mit 18Tonnen Druck glänzend gepresst und gefärbt, schwebte dann in hohenSchlaufen von der Decke herab durch einen riesigen, 50 Grad heissenTrockenraum, der beissend nach Salmiak stank. Wenn man auch nur kurzhindurchging, roch die Nase eine Viertelstunde nachher nichts mehr.Dann wurden die Papierbahnen in etwa quadratmetergrosse Stückegeschnitten und in einem riesigen Saal von etwa Hundert Frauen, meistItalienerinnen, Blatt um Blatt umgelegt und geprüft. Dr. Zimmermann,der Direktor und Mitbesitzer, kam jeden Mittwoch zur Inspektion. Dermilitärische Ausdruck stimmt, denn die ganze Fabrik wurde geputzt undhergerichtet, und das Kader schlotterte vor Angst. Meist wurde amDienstag mein Vater mit seinen Arbeitern dringend hinbestellt, um nochirgendetwas auszubessern oder in Eile eine Potemkinsche Wand zuerrichten. Doch die Direktion war auch im positiven Sinne paternalistisch– neben der Fabrik liess sie ein kleines Dörfchen aus putzigenEinfamilienhäuschen für die Arbeiter errichten.

Auch das Alltagsleben stieg vom kargen Sparen und Wirtschaften in dieKonsumgesellschaft mit den heute gewohnten Geräten um. Waschmaschine,Fernseher, Föhn, Toaster, Fotoapparat, Kühlschrank, Zentralheizung,Plattenspieler, Tonbandgerät, Badewanne sättigten die Haushalte bald zu 100Prozent. Wenn ein Haushalt so ein Gerät anschaffte, war das ein Ereignis: Manhatte wieder eine Stufe der Entwicklung genommen! Als die Autonummern im

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Kanton Zürich die 100000er-Grenze überschritten, war das nationalerGesprächsstoff – und Anlass zu Stolz.

Die Treiber der Wachstumsexplosion waren im Inland die Firmen, welchezur Halb- oder Vollautomatisation schritten. Die grossen Firmen legten sichrichtige Forschungsabteilungen mit Hochschulprofessoren zu, aber auch dieBüroabläufe und die Betriebsführung wurden verwissenschaftlicht. DieArbeitskräfte nahmen nicht nur zahlenmässig zu, sondern stiegen flexibel inneue Berufe um. Handwerker wurden zu Handels-, Versicherungs- undBankangestellten, Berufsleute dank Halbjahreskursen zu Lehrern. Man schertesich nicht um Diplome. Im Gewerbe rationalisierten handgängigeKleinmaschinen die Arbeit fürs Sägen, Schleifen, Bohren, Nageln und Kleben.Im Bau und Umbau wurde man so produktiv wie in Grossfirmen. Jeder, derwollte, machte sich selbstständig.

Wagniskapital um 1950

So auch mein Vater, der während der Urlaubsmonate des Militärdienstes imKrieg die Höhere Fachschule gemacht und das Diplom des Schreinermeisterserworben hatte, dann anderthalb Monate nach Kriegsende heiratete undseither wie mit angezogener Bremse wartete, dass sich eine Gelegenheit bot.Er trat immer wieder Stellen als Werkmeister in mittleren Betrieben mit bis zu40 Arbeitern an, weil ihm die Inhaber den Verkauf der Firma versprachen. Siehielten dies aber nicht ein, und meine Eltern zogen jedes Mal um: vier Mal infünf Jahren. In Herisau kaufte er dann 1950 auf direktem Wege die faststillgelegte Schreinerei von einem alten Inhaber. Der wollte beimÜbergabeinventar sogar die Schrauben in den angebrochenen Päckchenzählen, bis mein Vater abwinkte. Vielleicht war es Geiz, eher aber die extremeSparsamkeit eines alten Gewerblers, der gerade erst Krise und Kriegüberstanden hatte und immer nur Krieg und Krise gekannt hatte. Er hatte den

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Betrieb vor dem Ersten Weltkrieg übernommen.Ein Onkel Pauly lieh uns das Betriebskapital. Von der Bank war nichts zu

haben. Als sich dann nach den ersten zwei, drei Geschäftsjähren dasBankkonto füllte, lief der Vizedirektor der Kantonalbank meinem Vater sogarauf der Strasse nach und bot ihm Kredite an.

Später nahm der Vater für den weiteren Ausbau der Firma und den Anbaueiner neuen Werkstätte doch Kredite auf, garantiert von derOstschweizerischen Buchhaltungs- und Treuhandgenossenschaft (OBTG). ImFrühjahr erschien immer einer der Revisoren, machte die Steuererklärung undsah dabei auch, ob die Garantiebedingungen erfüllt waren. Die Familie hieltihn in grossen Ehren, er wurde mittags bewirtet – ohne die OBTG wäre esnicht so schnell gegangen. Auch eine Lebensversicherung ging der Vater ein,als Garantie für die Kreditgeber wie auch für die Familie, sollte ihm etwaszustossen. Der Versicherungsvertreter der Basler kam alle Vierteljahre,zwackte viele Coupons als Quittung für die Beiträge ab und lieferte unsKindern damit ein beliebtes Spielgeld.

Im übernommenen Betrieb liefen die Maschinen an dickenTransmissionsriemen, an Lederbändern, welche sich von den Rädern einerStange drehten, die 10 Meter durch den ganzen Betrieb ging und welcheihrerseits von einem grossen elektrischen Zentralmotor angetrieben wurde.Die Lederbänder rissen immer wieder und wurden mit einer ArtBostichapparat zusammengeklammert. Den Zentralmotor verkaufte der alteInhaber nicht, nur die über Bänder angetriebenen Grossmaschinen zumFräsen, Hobeln, Sägen, Schneiden, Schleifen und Kehlen. Nach zwei Jahrenkaufte mein Vater ein eigenes Haus, baute die Werkstatt an, zügelte diegekauften Maschinen dorthin – und ein Dienstkollege, ein Schlosser, versahjede mit einem eigenen Kleinmotor. Der ehemalige Besitzer blieb mit seinemZentralmotor in der leeren Halle bedauernd zurück.

Nur zwei, drei Jahre später kamen die kleineren Handmaschinen fürs Sägen,Schleifen und Bohren auf. Jede Arbeiterequipe konnte nun, mit einem Satzsolcher Maschinen ausgerüstet, auf die verschiedenen Baustellen geschickt

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werden – eine enorme Leistungssteigerung. Später kamen nochAstlochbohrmaschinen, Nagelpistolen und die Pressluft für Lackierungendazu. Der alte Leimofen kochte übel riechenden Knochenleim auf, derimmerhin wunderschöne Quirlfiguren machte, wenn man den Pinselherauszog und darüberhielt. Bald aber zogen die Kunstharzleime ein, die manfertig einkaufte. Die Kunststoffplatten waren die andere Neuerung, womit jetztals pflegeleichte Ausstattung alle Küchenkästen, Tische und Wände derKunden überzogen wurden. Während seiner Lehre in den 1930er-Jahren hattemein Vater noch gelernt, auf Klaviere und Schmuckschachteln Naturlackaufzutragen, trocknen zu lassen, dann mit Rosshaarballen stundenlang zupolieren und neue Schichten aufzutragen.

Eine ganz kleine Innovation machte die Handsägen effizienter. Vorherhatten sie einfach ins Blech gerippte Zähne. Heute zeigt jede bessereGartensäge zwei Reihen leicht versetzter Zähne und sägt um Vieles schneller,leichter.

Diese Neuerungen steigerten die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschafteben ähnlich rasch wie heute in China. Der Einsatz von Kapital undArbeitskräften nahm zu, und die immer besseren Maschinen und Werkstoffesteigerten den Ausstoss pro Arbeitskraft. Die Volkswirtschaft wuchs insgesamtund pro Kopf. Heute nennt der amerikanische Ökonom Paul Romer solchekleinen, aber vielfachen Wachstumsimpulse wie die Sägezähne «ideas». Siesind einzeln nicht nobelpreiswürdig, aber in ihrer Summierung dynamischerals alles andere.

Die Produktivität der Hauswirtschaft stieg ebenfalls an. Auf die Bödenwurde nicht mehr Parkett, sondern Inlaid, dann Sucoflor ausgelegt. DieSchrubberei der Frauen hatte ein Ende – eine wohl ebenso bedeutendeErleichterung der Hausarbeit wie durch die in der Soziologie gutdokumentierten Haushaltsmaschinen. Auch davon zogen immer mehr inunseren Haushalt ein. Zuerst ein neuer Gasherd, dann folgten Toaster,Kühlschrank, Föhn, Mixer, Waschmaschine und Bügelmaschine.

Die Stufen der Mobilität überschlugen sich, weil der Wohlstand so rasch

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stieg, dass die Anschaffungen rückwirkend gesehen fast unbedacht wirkten.Bei der Geschäftsgründung 1950 richtete man an einem Fahrrad eineAnhängervorrichtung für den kleinen Leiterwagen ein, um Transporte zumachen. Vielleicht ein halbes Jahr später kaufte mein Vater eine schönebauchige Vespa, um den Baustellen nachzufahren. Bald darauf übernahm ereinen neun Jahre alten Renault Juvaquatre, der wie ein schwarzesGartenhäuschen aussah, das noch nach Vorkriegsmodellen gebaut wordenwar. Schon ein Jahr später stieg man aber auf einen Kastenwagen von Fiat um,dann auf einen Ford 17M, dann auf einen Chevrolet, ergänzt durch einenLieferwagen. Das wäre wohl von Anfang an klug gewesen, aber man konntesich den raschen Wandel und Wohlstand gar nicht vorstellen. VomFahrradanhänger zum Chevrolet und Lieferwagen 1964 vergingen genau 13Jahre.

Andere machten nicht qualitative, sondern additive Mobilitätsschritte –man sah sonntags oft Ehepaare auf zwei Motorrädern hintereinanderausfahren. Sie nutzten wohl ihre Transportmittel, die sie während der Wocheberuflich brauchten. Gerade so fahren heute ärmere, aber aufsteigende Paarein China und Asien aus.

Doch bald war Mobilität sehr erschwinglich. Gegen Ende der 1950er-Jahredürfte auf den Plakaten für den Volkswagen mit der Zahl «5995 Franken»geworben worden sein.

Die Waschmaschine veränderte die Hauswirtschaft. Früher war jeweils einMal im Monat Waschtag. Am Vorabend wurden die Holzzuber mit Wassergefüllt, damit sich die Schrunden schlossen, und die Mutter buk einenApfelfladen für das Mittagessen des Waschtages, weil sie dann keine Zeit dazuhatte. Die ganze Familie wurde leicht hysterisch, die Wohnung sah aus wie einCamp, alle Betten wurden umgedreht und die Matratzen draussen gesonnt.Früh am Morgen kam die Waschfrau, eine Witwe mit harten Händen undstrengem Blick. Der Waschofen wurde mit Holz eingefeuert und darauf dieWäsche gekocht. Dann mit Holzzangen gestossen, dann durch zwei Walzengedreht und ausgewunden, dann aufgehängt und später gebügelt.

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Controlling bevor man den Begriff kannte

Die Geschäftsprinzipien meines Vaters waren einerseits durch die Fachschulezur Meisterprüfung angelegt, andererseits dem gesunden Hausverstandverpflichtet. Er war Schreiner nicht aus Leidenschaft, sondern auch weil in derWeltwirtschaftskrise eine teure Ausbildung nicht möglich war. Er warGeschäftsmann und hätte in anderen Zeiten etwas anderes gemacht.

Eines seiner Prinzipien sorgte für die genaue Stundenabrechnung derArbeiter. Jeder bekam alle 14 Tage ein Blatt mit waagrechten Linien, aufwelchem die Namen der Kunden einzutragen waren, für die sie arbeiteten.Und senkrecht wurde jeden Tag die entsprechende Stundenzahl eingesetzt.Damit waren die Stunden klar den Kunden zuzurechnen, und gleichzeitigmusste sich unten in der Tageskolonne die Sollarbeitszeit, damals 9 oder 9,5Stunden, ergeben. Sonst hätte mein Vater «leere Zeiten» bezahlen müssen.Schlimmstenfalls gab es hin und wieder eine Sonderlinie mit «Regiearbeiten»,also mit Stunden, die für den Betrieb selbst aufgewendet worden waren.

Auch machte mein Vater bei allen grösseren Arbeiten Nachkalkulationen,um zu sehen, ob gegenüber der Offerte ein Gewinn erzielt worden war. Oftkam er dann spät abends aus dem Büro in unsere Wohnung und strahlte: «30Prozent!»

Ebenfalls immer abends schrieb er die Rechnungen, besonders montags unddienstags, damit meine Schwester und ich sie am schulfreienMittwochnachmittag portofrei vertragen konnten. Das machten wir gerne. Wirwarfen die Briefe aber nicht in die Briefkästen, sondern läuteten an der Türeder Kunden, und bekamen da und dort dafür noch ein Trinkgeld.

Alle Vierteljahre war die Abrechnung der Warenumsatzsteuer (WUSt)fällig. Die ellenlangen Zahlenkolonnen in einem riesigen grünen Buchdoppelter Buchhaltung gaben die Einnahmen, die Rechnungen, die Konten derKunden und Lieferanten wieder, die Schlusskolonne zählte alle Buchungenzusammen, und alles musste nach dem Zusammenzählen abwärts undseitwärts stimmen. Der Vater hatte dazu in der zweiten Hälfte der 1950er-

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Jahre eine Walther-Rechenmaschine für etwa 1500 Franken gekauft – dasentsprach fast zwei Arbeitermonatslöhnen. Sie konnte noch nicht dividieren,weshalb eine grosse Tabelle der Zahlen bis 1000 in reziproken Wertenmitgeliefert wurde, die man eingeben und multiplizieren musste. Dann rattertedie Maschine manche Sekunde. Meist mussten meine Schwester oder ich dieZahlen diktieren, eine, zwei Stunden lang und mehr, und falls das Ergebnisnicht stimmte, fingen wir nochmals von vorne an. Wenn ich heute von derMehrwertsteuerbürokratie höre, zieht ein zorniger Blitz der Erinnerung bis injene Nachtstunden zurück.

Die Industrie schlägt die Gewerbeproduktion

Zum täglichen Betriebsablauf setzte der Vater den Takt – kurz nach 6 Uhrbegann er in der Werkstatt, die Bretter, Platten und Leisten zuzuschneiden,und wenn die Arbeiter kamen, hatte jeder schon an seinem Platz das, was erverbauen musste. «Wenn ich sie machen liesse, würde jeder einfach ein Stückmitten aus einer Platte schneiden», sagte er; der Abfall wäre gross gewesen.Der ökonomische Vorteil war ausserdem, dass vor dem Zwischenimbiss um 9Uhr, den er oben in der Wohnung nahm, schon mal zwei, drei verrechenbareMaschinenstunden verdient waren, also in heutigen Summen 300 bis 400Franken. Dann fuhr der Vater mit dem Lieferwagen den Baustellen nach,führte Nägel, Leim, Holz nach, falls nötig – die Arbeiter konnten dies ja nichtmit einem mobilen Telefon wie heute nachbestellen. Nachher warenKundenbesuche dran, und er fuhr zum Einkauf von Beschlägen, Glas,Ersatzteilen in die Geschäfte St. Gallens. Traditionellere Gewerbler sassenvormittags und nachmittags in einer Beiz und versuchten Kunden mit«Halbliterle» zu gewinnen. Mein Vater verachtete das zutiefst.

In der Fachschule hatte er auch technisches und darstellendes Zeichnengelernt. Die Modelle der Möbel folgten allerdings einem abgeflachten

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Spätbarock der 1940er-Jahre, mit runden Kehlungen an den Ecken und leichtgeschwungenen Tischbeinen. Das hatten die Fachlehrer ihrerseits 20 Jahrevorher so gelernt. Die Reform des Bauhauses war noch nicht angekommen.

Wenn ein Kunde ein besonders aufwendiges Möbel bestellte, stellten dieArbeiter, wenn es fertig war, weisse Sperrholzplatten dahinter auf, und manfotografierte es – als Anschauung für die nächsten Interessenten. Doch dieseEinzelanfertigung lief bald aus – zum Zorn meines Vaters fuhren die Kundenmit ihren ersten Autos der 1950er-Jahre nach Suhr, kauften die Kästen, Stühleund Tische bei Möbel Pfister und transportierten sie auf dem Packträger selbstnach Hause. Sie hatten dann oft noch die Frechheit, wenn die Möbel dabeiSchaden litten, sie zu meinem Vater zu bringen, damit er sie flicke. Dasverweigerte er rundweg. Die Möbel der 1950er-Jahre wurden nun eckig –modern, wie man fand, und bestanden zu immer grösseren Teilen nicht mehraus Naturholz, sondern aus Sperrholz, Novopan und draufgeklebtem Furnieroder Kunststoff.

Umbauten als Geschäftsmodell

Zum Glück waren drei Viertel der damaligen Herisauer Gebäude alteAppenzeller Holzhäuser, und die steigenden Einkommen der Besitzer riefennach Renovationen. Das wurde zum neuen grossen Geschäft; ganze Häuserwurden ausgehöhlt, eiserne T-Balken eingezogen, wobei man trotz derniedrigen Etagen an Höhe gewann, weil sich die Decken jetzt nicht mehr um10 Zentimeter und mehr durchbogen. Eiserne T-Balken einziehen – das sagtsich leicht, aber dazu wurden alle Arbeiter von allen anderen Baustellenzusammengezogen, und sie stemmten mit Schultern und Armen dieseenormen Gewichte hoch.

Auch die Läden wurden allseits neu ausgebaut, in Bäckereien,Tuchgeschäften, Papeterien. Selbstverständlich achtete man streng darauf, die

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eigenen Einkäufe in solchen Läden oder bei potenziellen Kunden zu machen.Wir Kinder wurden angehalten, nach Bezahlung zu sagen: «Mier chömed voKappelers.» So waren wir im Aussendienst tätig. Ich trug von etwa acht Jahrenbis über 20 Jahre hinaus massgeschneiderte Hemden, weil eine KundinWeissnäherin war, die jedes Jahr eine Etage ihres riesigen Holzhausesumbauen liess. Immer, wenn sie meine Kragenweite ausmass, rief sie: «EinSchwanenhälschen.» Hinter der Glastüre guckten und kicherten dieNähmädchen. Um Volumen zu generieren, liess mein Vater auch seineÜberkleidhemden dort anmessen. Ein Herrenkleidergeschäft liess ebenfalls beiuns umbauen, und als ich mit etwa 15 Jahren meinen ersten richtigen Anzugbrauchte, wurde ich dorthin geschickt. Der Filialleiter sagte: «Ich habe, was dubrauchst, ich bestelle den Anzug.» Ich litt 14 Tage im Ungewissen, was füreinen Sack ich wohl bekommen würde. Glücklicherweise gefiel mir dann derAnzug. Aber es hätte sonst kein Pardon gegeben, Kunden musste manberücksichtigen, und man durfte nichts zurückweisen.

Samstags mussten die Lehrlinge die Werkstatt wischen, und nachmittags,nach der Schule, hatte ich oft mit dem Vater die fertigen Produkte zu liefern –so sparte er einen Arbeiter. Ab etwa zwölf Jahren lernte ich so, ganzeEckbänke, Kästen, Täfer und Tische durch enge Treppenhäuserhochzuwuchten, ohne Kratzer zu hinterlassen. Die Kundinnen waren darübersehr gerührt und gaben gutes Trinkgeld.

Diese sparsame und gleichzeitig hoch produktive Welt ohne unnötigeUmwege prägt auch heute noch alle Beschäftigten in den 200000Kleinbetrieben des Landes, und zwar Arbeiter wie Besitzer. Der Abstand zuManagern grosser Firmen, die mit Millionen und Milliarden umbauen,ausbauen, abschreiben, gewinnen und verlieren, ist enorm. Einen Parkplatz amBetrieb zu überdachen oder vorschriftsgemäss einen weiteren Vorplatzanzufügen, kostet schnell mal den halben Jahresgewinn eines Kleinbetriebsund ist auch unnötig. Mit gegen 2 Milliarden, aber in ähnlichem Verhältnis desAufwands, baut heute Novartis in Basel einen Campus ausnebeneinandergereihten Bravourstücken weltbekannter Architekten. Wie ein

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unnötiges Parkplatzdach im Gewerbe stösst mich dies enorm, mehr als dieNovartisboni. Es riecht nach Dekadenz. Man weiss nicht mehr, wie schwerman Geld verdienen muss, oder dass die Gewinne den Aktionären gehören. ImGewerbe und in Asien weiss man dies noch.

Die Wirtin aus WeinfeldenZu Gewerbefleiss und geschäftlicher Spürnase eine kleine Anekdote,erzählt von einer heute etwa 65-jährigen Taxifahrerin in Weinfelden. Siehabe vorher jahrelang auf einer Bauernwirtschaft im Thurgau gewirtet,täglich allein 35 Mittagessen gekocht, serviert von zwei Serviertöchtern.Danach füllte sich die Wirtschaft mit Stammtischgästen, frohen Trinkern,Verbandsanlässen der Fischer, Bauern, Gewerbler. Abends habe sie alsWirtin nie vor 23 Uhr getrunken, bevor alles aufgeräumt war, dann aberschon ein bisschen. Schliesslich habe sie beschwipste Männer reihumnach Hause gefahren. Als diese klagten, sie dekoriere an der Fasnacht nie,wie man in der Ostschweiz die saisonal etwas lockeren Sitten nennt, dakam ihr ein Baupolier, den es reute, noch brauchbare Baubaracken immerabzubrechen, gerade recht. Sie bestellte zwei davon in den Garten,erklärte der Gemeinde, sie bewahre darin die Gartenmöbel auf. An derFasnacht richtete sie dann dort zwei dekorierte Bars ein und verdientegut. Und um die Frauen wegen der Abwesenheit der Männerzufriedenzustellen, lud sie diese jedes Jahr zu einem Gratisessen ein –Friede, Freude und Gewinn rundum.

Im Alter wurde ihr das alles etwas zu viel. Sie fährt jetzt Taxi, auchspätabends, und ich wette, sie ist mehrfache Millionärin. Eine von 100000Gewerblerinnen des Landes, Schöpferin dreier Arbeitsplätze und allzeitMehrerin des Bruttoinlandproduktes.

Ein Kränzchen auch dem Gemeindeschreiber, der sicher von denzweckentfremdeten Baracken wusste, und eher mittrank, als es zusabotieren.

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Migros schlägt die Kartelle

Die Kundentreue wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren zumgesellschaftspolitischen Kampffeld. Es stand für Selbstständigerwerbende undihre Familien ausser Frage, sich in Migros oder Coop, in Warenhäusern wieJelmoli, Globus oder EPA sehen zu lassen. Diese Filialketten wurden alsTotengräber des freien Unternehmertums angesehen. Gottlieb Duttweiler, derGründer von Migros, hatte ein gesellschaftspolitisches Konzept in zwei Teilen:Er trat gegen die gewerblichen und verbandlichen Kartelle an, welche damalsdie schweizerische Wirtschaft vollständig beherrschten, doch kam er politischdamit nicht durch. Seine Antikartellinitiative wurde vom Volk 1958 mit 74Prozent abgeschmettert.

So blieb der andere Weg, nämlich eine Gegenwelt dazu aufzubauen, in derein Haushalt sich rundum und abschliessend bewegen konnte: mit einemlandesweiten Filialverkaufsnetz für Detailhandel, mit dessen Ausgreifen aufviele andere Waren wie Reisebüros, Hotelkette, Taxis, Tankstellen, Bank,Versicherung, Bergbahn, Feriendörfern, Reederei, Kundenzeitung,Tageszeitung (Die Tat), Buch- und Plattenkette, Konzerte,Weiterbildungsclubs. Eine Krake zur Bekämpfung von Kraken. Oder derBeweis, dass Kartelle sich längerfristig ihr eigenes Grab graben. Duttweilervertraute darauf, dass sich solche liberalen, wettbewerblichen Eigenlösungenmit der Zeit ins Wirtschaftsgewebe hineinfressen und eintragen würden. Dastaten sie, aber das Gewerbe nahm es ihm übel. Das Volk folgte ihm, aberlangsamer, wie immer, und nicht als Politbürger mit Visionen, sondern alswirtschaftlich interessierte individuelle Kunden. Bottom-up, nicht top-downgestaltet sich die Gesellschaft.

Und ewig lockt der RabattDie Migros der frühen Jahre trat auch gegen die Rabattmärkli an, welchedie Läden damals den Kunden beim Einkauf abgaben; natürlich nur dieLäden, welche einer Einkaufsorganisation oder Werbegruppe der

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Markenindustrie angeschlossen waren. Es gab Marken der Usego, der Pro,der Tanner 212, der Coop, der Kaiser’s Kaffee, sodann Silva-Punkte, Bea-Punkte, Juwo-Punkte und viele andere mehr. Doch Migros bot den klaren,endgültigen Preis. Allerdings den runden Preis, und Migros variiertedafür die Gewichte der Packung. Man bekam also für runde 2 Franken236 Gramm Kaffee. Die Gewerbekreise versuchten, dies als Schiebungdarzustellen, weil es kein halbes Pfund war. Doch, oh Wunder, gegenEnde des Jahrtausends hatten die anderen Läden die meisten Punkte undMarken abgeschafft, aber Migros führte die Cumuluskarte ein. Man erhältdadurch monatlich Abrechnungen zugestellt, welche nicht nurRabattgutscheine, sondern drei Dutzend Vergünstigungsscheine fürspezifische Waren enthalten. Wer bei Le Shop Hauslieferungen nimmt,erhält zusätzlich und fast täglich über E-Mail einen ganzen Barockweiterer Vergünstigungen, Punkte und Gutschriften. Migros hat jetztDenner gekauft, welche ihrerseits mit dem klaren Nettopreis angetretenwar. Man kann nur warten, bis auch dort die ersten Rabatte kullern.

Vor dem Nein zur Kartellverbotsinitiative hatten die Stimmbürger immerhineinige der unglaublich gestalteten Marktordnungen korporatistischer Artschon weggeblasen: So 1952 die Bewilligungspflicht für die Eröffnung undErweiterung von Gasthöfen, den Fähigkeitsausweis im Schuhmacher-,Coiffeur-, Sattler- und Wagnergewerbe und 1951 die Autotransportordnung;1954 eine 1939 verhängte Sondersteuer (Ausgleichssteuer) gegen Filialbetriebe,und 1945 war nach zwölf Jahren das allgemeine Filialverbot gefallen.

Diese Regelungen zeugten noch von der Krisenbekämpfung der 1930er-Jahre, als man glaubte, die Strukturänderungen des technisch-wissenschaftlich-liberalen Zeitalters mit Verboten aufhalten zu können – unddamit die Ineffizienzen, und die Krise verlängerte. Heute glaubt nur noch beider Landwirtschaft eine Mehrheit der Bürger an solchen Widersinn. Mit einerstrikten Raumplanung könnte man den dort gewünschten Landschafts- undArtenschutz viel wirksamer und billiger haben.

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Damals aber bedeutete der Kampf um die gewerblich erstarrte, kartellierteStruktur das Sein oder Nichtsein für Tausende dort behaglich etablierterExistenzen. Der Riss ging durch die Familien. Mein Vater stritt sich beisonntäglichen Besuchen jedes Mal mit einem seiner Schwäger, der alsKontrolleur bei Oerlikon-Bührle arbeitete und voll auf Duttweilers neueFreiheiten setzte.

Bei meinen Ferienaufenthalten mit neun bis zwölf Jahren beim Cousin inZürich aber schnupperte ich die verbotene Migrosluft. Sie war so spannendwie die erste Rolltreppe der Schweiz im Warenhaus Jelmoli, die wir ausgiebigbefuhren. Noch nicht gerade damals, aber doch mit dieser Erfahrung imHinterkopf und als Redner vor schliessungsbedrohten Belegschaften später,lernte ich den Zwiespalt hautnah kennen, dass der kühle Ruf nachWettbewerb, nach damit veränderter und verbesserter Struktur immer vieleEinzelexistenzen trifft, die aufgeben, sich neu ausrichten müssen, und die oftdazu nicht nochmals die Kapitalien aufbringen, den Mut, die ausreichendenrestlichen Lebensjahre bis 65, die Kenntnisse und die geografischeDisponibilität.

Küchenfabrik oder Latein und Griechisch

Wenn schon die Möbel nun industriell hergestellt wurden, so wollte meinVater sie wenigstens vermitteln. Mit Kunden fuhr er samstags am Nachmittagzur Möbelfabrik Victoria in Baar in die Ausstellung, und wenn sie anbissen,hatte mein Vater 10 Prozent. Davon trat er die Hälfte den Kunden ab. Vorunserer Haustüre brachte er einen kleinen Schaukasten an, den ich mit Bildernaus den Victoriakatalogen füllte, über die ich mit Tusche und Feder markigeWerbesprüche schrieb, wie wir es im technischen Zeichnen derSekundarschule lernten. Ausserdem bekam ich ein Schlafzimmer aus denbilligen Victoriamöbeln. Meine Schwester aber erhielt ein hausgemachtes

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Schlafzimmer in rötlichem Kirschbaumholz und mit eingelegten hellenFlächen aus Esche. So sollte den Kunden schon mal die grundsätzliche Wahlzwischen fabrikmässiger und handwerklicher Herstellung illustriert werden.Aber es wurde kein blühendes Zusatzgeschäft. Die Industrie schlug diehandwerkliche Fertigung.

Mein Vater zog nun die Konsequenz und dachte an einen Quantensprungseiner Firma. Ich war etwa 16 und ein erstes Jahr im Gymnasium, da fragte ermich: «Im Ernst, bleibst du im Gymi oder kommst du in den Betrieb? Dannbaue ich jetzt nämlich eine Küchenfabrik.» Aber ich lernte so gerne, dass icherschrocken ablehnte, und die Küchenfabrik entstand nicht bei uns. Derhandwerkliche Betrieb mit fünf bis acht Arbeitern wurde weitergeführt. Errentierte sehr gut, weil alles eingespielt war und die Einzelanfertigungen undUmbauten gute Margen boten. Der Nachfolger, ein ehemaliger Lehrlingmeines Vaters, führte diesen noch 35 Jahre weiter, dann wurde die Firma nach107 Jahren aufgelöst. In den 1960er- und 1970-Jahren geschah dies jährlich inTausenden von Fällen. Die Zeitungen meldeten regelmässig, dass im Vorjahrwiederum 1000 Detailläden eingegangen waren. Desgleichen lösten dertechnische Wandel und die industrielle Fertigung klassische Gewerbe wieSattlereien, Wagnereien und Schuhmacherei auf. Hingegen behielten diebaunahen Gewerbe ihren Platz, da in der Schweiz jeder Bau eineEinzelanfertigung geblieben ist. Ausserdem kamen neue Kleinfirmen auf:Werber, Versicherungsagenturen, Planer, Informatiker, Reiniger, also ein neuerMittelstand. Oder eher der immer gleiche, tatkräftige Mittelstand, der 99Prozent aller Firmen und zwei Drittel aller Arbeitsplätze ausmacht. Auch dieStatistiken zeigen, dass diese Selbstständigen und mithelfendenFamilienangehörigen in der Schweiz nicht ab-, sondern sogar leichtzunehmen. Nur in den Medien findet regelmässig der Untergang desMittelstandes statt, weil sie den Alarm aus Frankreich und Deutschlandabschreiben. Dort allerdings würgten die immer engeren Kontrollgesetze undhöheren Steuern den Mittelstand tatsächlich und gründlich ab.

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Flexibler, offener Arbeitsmarkt – die Arbeiter setzen den Takt

Die Löhne der Arbeiter stiegen in den 1950er- und v. a. 1960er-Jahren raschan. Mit ihrem Einverständnis hielt der Vater die Stundenlöhne für diereichlichen Überstunden zurück und zahlte sie vor den Sommerferien und vorWeihnachten zusammen mit dem Lohn aus. Damit erleichterte er ihnen dasSparen. Als der vierzehntägliche Lohn zusammen mit der Überzeit erstmalsmehr als 1000 Franken ausmachte, holte mein Vater die grossen Noten auf derBank und legte sie in die Zahltagssäckchen. Alle freuten sich, Inhaber undArbeiter.

Gewerkschaften waren kaum vertreten. Lohnerhöhungen gab man damalsschon nur, um die Arbeiter zu behalten. Dank der Vollbeschäftigung konntensie die Stellen auswählen, und wenn ein Arbeiter kündigte, kam das einerKatastrophe gleich, denn man fand nicht schnell Ersatz. Da sie wussten, dassder Betrieb fast immer auf ein volles Jahr hinaus ausgelastet war, traten siemanchmal nach einem grossen und eiligen Auftrag bei Feierabend unterFührung des Ältesten vor meinen Vater und sagten: «Wir hätten da nochetwas.» Sie wollten mehr Lohn. Der Vater gab, soviel ich weiss, immer sofortnach, er hatte keine Wahl. Oben in der Wohnung zürnte er dann ein bisschen.Aber da die Preise auch immer schneller anstiegen, Anfang der 1970er-Jahreschon um 7 bis 10 Prozent im Jahr, war der Schmerz nur kurz. Ausserdemzitierte mein Vater aus der katholischen Soziallehre oft den Satz, ein ganzgrosses Unrecht sei «das Vorenthalten des gerechten Arbeitslohnes».

Schon früh in den 1950er-Jahren klopften auch in Herisau die erstenitalienischen Arbeiter an. Mein Vater stellte Luigi Comarella ausValdobbiadene ein, einen sehr grossen Norditaliener mit langen schwarzenHaaren, die er beim Arbeiten mit einer Spange zusammenfasste, eherungewöhnlich in den konformistischen 1950er-Jahren. Er war ein «operaio»wie aus einem Fellinifilm, wirkte auch im Überkleid elegant, ja nobel.Ausserdem fuhr er ein knallrotes Moto-Guzzi-Motorrad mit der damals weitausladenden Lenkstange. Die Kundinnen waren begeistert, mein Vater auch,

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denn Comarella erwies sich als Sohn eines Schreinermeisters und musste nichtangelernt werden. Später kam auch sein gleich grosser Bruder Afro nach undarbeitete im Betrieb. Ein weiterer Italiener, aus Sizilien, gab nur ein kurzesGastspiel, weil mein Vater ihn beim Rauchen in der späneübersätenWerkstätte ertappte. Er zahlte ihm den Lohn bis auf die angebrocheneViertelstunde aus und schickte ihn weg. Keine Rekurse, kein Arbeitsgericht,auch keine Anklage wegen mutwilliger Gefährdung von fünf Familien imHolzhaus. Klare Verhältnisse innerhalb von drei Sekunden.

Die Brüder Comarella kehrten nach etwa acht Jahren nach Italien zurück.Wir besuchten sie später und freuten uns, wie sie natürlich auch, als sie einemodernisierte grosse Schreinerei vorzeigten.

Wenn Arbeiter, etwa Hamburger Zimmerleute in ihrer Kluft, anklopften,die man im Moment nicht einstellen konnte, war es Sitte, einen Fünfliber zugeben und sie in den nahen Adler zu einem Mittagessen zu schicken.Wiederholten sie dies bei den vier, fünf Schreinereien des Ortes, dann hattensie ein Taggeld beisammen, und das ohne Arbeitslosenversicherung.

Mindestens neun der Arbeiter, die im Laufe der Zeit eingestellt waren,machten sich nachher selbstständig: in der Schweiz, in Italien, in Kanada undTansania. Das ist ein recht grosser Anteil, und sie selbst wie auch die anderen,die sich weiterhin irgendwo beschäftigen liessen, erlebten so die sozialeMobilität am eigenen Leibe. In einer Volkswirtschaft, die von kleinen Firmen,heute auch von den neuen blühenden Dienstefirmen dominiert wird, verfängtdaher das Klassendenken nicht, also die von damaligen – und manchmal vonheutigen – Linken eingepaukte Lehre von zwei unversöhnlichgegenüberstehenden Klassen, in denen man schicksalshaft steckt.

Und die Lehren aus diesen grossen WachstumsjahrenWenn ein Land seinen Arbeitsmarkt offen und flexibel hält, ohne ausuferndenKündigungsschutz und alle möglichen Diskriminierungskontrollen oderMitbestimmungsgremien, dann stellen die Firmen gerne Leute ein, und esherrscht Vollbeschäftigung. Das zeigen die Schweiz, Dänemark, Singapur – in

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verschiedenen Arbeitsmarktverfassungen, die aber in diesem Punktübereinstimmen. Sind die Leute mehr oder weniger vollbeschäftigt, könnensie, mit der unausgesprochen vorhandenen Drohung wegzulaufen, alles vonselbst erzwingen: mitzureden, anständig behandelt und entlohnt zu werden,Kurse zu machen, die Arbeitszeit frei einzuteilen, zu reduzieren, Überzeit zuleisten und nach der Mutterschaft wieder an den Arbeitsplatzzurückzukehren.Gesetze gegen Kündigungen, Mobbing, Überzeit oder Zwänge fürMindestlöhne, Alters-, Jugend- und Frauenquoten, Lehrverhältnisse,Mitbestimmung usw. sind dann unnötig. Führt man sie aber alle ein undwerden sie zum in Europa gewohnten Korsett, dann plötzlich werden siescheinbar nötig, weil Arbeitslosigkeit auftritt, weil das Einstellen von Leutenverrechtlicht wird und weil sich die Spiesse der Arbeiter wegen derArbeitslosigkeit dann verkürzen. Die Politiker der Linken können also haben,was sie wollen: den Engelskreis oder den Teufelskreis.

Die Wirklichkeit als bessere Universität

Seit etwa 30 Jahren sind in der europäischen Politik und in denGewerkschaften Personen führend, welche die gewerbliche Mikroökonomienicht mehr selbst erlebt haben. Sie können sich nicht vorstellen, wie derUnternehmer auf Vorschriften reagiert und wie diese summiertenUnternehmerentscheide das Wohl oder Wehe der Volkswirtschaft bestimmen.Wenn ein kleiner oder grosser Unternehmer sieht, dass er einem Arbeiter nichtmehr kündigen kann, stellt er keinen mehr ein oder nur noch in befristetenVerträgen. Doch wenn in einem freien Regime ein Arbeiter und Angestelltereinmal eingearbeitet ist, wird seine Stellung stärker, und die Firma zittert, abernicht er, ob er bleibt oder nicht. Die oft unterstellte allgemeineUnternehmerwillkür gibt es nicht. Genau gleich ist es mit Mietern. Kündigt

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einer, muss der Eigentümer meist mehrere Tausend Franken an Renovationenauslegen, also schreckt er bei Kündigungen auf und sucht sie nichtherbeizuführen, etwa durch ruppige Mietsteigerungen. Besonders kleine undmittlere Eigentümer, wie ich es auch in unserer Familie sah, besitzen vielleichtzehn bis 20 Wohnungen und verwalten sie selbst. Jede Kündigung einesMieters ist ungelegen, verursacht hohe Renovationskosten und enormeUmtriebe – z. B. musste der Vater nur schon fünf, sechs Abende opfern und zuseinen Wohnungen in einem anderen Dorf fahren, um den neuenInteressenten eine gekündigte Wohnung zu zeigen. Die Transaktionskostenliegen bei einem Wohnungswechsel also nicht nur auf Seiten eines allenfallshinausgeworfenen Mieters, sondern auch beim Vermieter. Doch die Rhetorikder Mieterorganisationen und das Mietrecht überhaupt unterstellen Vermieter,die nur auf das Verderben des Mieters aus sind und die bei Willkür keinerleiKosten haben. Was die Mietpreise betrifft, so können sie in einem engen Landnicht zu hoch sein – das ist eine ökologische Rationierung des Raums. Undwie immer bei ökologischer Selbstbeschränkung der Wachstumsgesellschaft:Auch die vielen Armen müssen Ressourcen sparen, nicht nur die wenigenReichen.

Für meinen ideologischen Haushalt zwischen rechts und links profitierte ichschon als Jugendlicher vom Einblick in beide Seiten: Mieter/Hausbesitzer undUnternehmer/Arbeiter.

Bis zu den 1970er-Jahren hatte sich die Mehrheit der Gewerkschaftsführeraus der Arbeiterschaft emporgearbeitet. Sie kannten die Berufswelt und warenmeistens auch Präsidenten von Baugenossenschaften, Coopsektionen undDruckereien. So hatten sie ihrerseits ein Bein im Lager der Unternehmendenund mussten mit Mietern, Kunden und Mitarbeitern umgehen können.

Mehr als vielen linken Kadern heute glichen sie den Kaderleuten, denen ichjährlich im Rahmen der Schweizerischen Kurse für Unternehmensführung(SKU) begegnete, die jetzt neu Advanced Management Program heissen.Jährlich bereiten sich dort etwa 50 Praktiker während sechs intensivenWochen auf den Sprung in die oberste Geschäftsleitung mittlerer bis grosser

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Firmen vor, welche sie zu diesen Kursen senden. Es sind nüchterne, fähigePersonen mit Verantwortung und Verantwortungsgefühl. Sie müssen dieMitarbeitenden bei der Stange halten, fördern, motivieren. Sie bilden ein Netzvon Wertschöpfern bester Art und gehören zum Rückgrat des StandortsSchweiz. Was sie veranlassen, unterliegt sofort dem Test der vielen Märkte,welche sie verknüpfen: interner und externer Arbeitsmarkt der Firma,Produktemarkt, Imagemarkt, Beschaffungsmarkt, Ideen- und Patentemarkt,Finanzmarkt, Weltmarkt. Deren Zusammenspiel zu meistern, fordert undkontrolliert diese Kader besser als jede sich einmischende Behörde.

Auch der Unternehmer holte sich sein Recht selbst

Und noch eine Lehre für unser verrechtlichtes Zeitalter: Man regelteDifferenzen ganz direkt. Advokaten sah man als gefährlich an, sie halfeneinem zwar, die Streitsumme zu gewinnen, aber diese wurde durch dieHonorare aufgefressen, wenn man es bis zu einem Gerichtsfall kommen liess.So produzierte mein Vater für den Inhaber eines Holzhandels Ende der 1950er-Jahre etwa 20 Wohnwagen nach dessen Entwürfen und Angaben. Dazugehörte ein Dach aus Pavatex, nur gut bemalt und mit Gummikanteneingefasst. Mein Vater sagte, das könne nicht dicht sein, doch der Kundebeharrte darauf. Prompt rannen mehrere der Wagen mit der Zeit, und derHändler wollte die Reparatur nicht zahlen, da das Garantiearbeit sei. Da riefmein Vater eines Tages in dessen Holzhandlung an, und als feststand, dass derInhaber nicht dort war, liess mein Vater dort so viel teuren Furnier aufladen,bis die Reparatursumme etwa erreicht war. Dann fuhr er zurück, zahlte abernie, und man war stillschweigend quitt.

Der Heimatschutz begann seine Vorschriften auszubauen und interveniertebeim Umbau eines Restaurants. Die Fenster müssten nach appenzellischerBauweise ganz schmal bleiben, hiess es. Der Wirt und mein Vater optierten

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trotzdem für breite Fenster, klemmten aber für die Abnahme durch dieFunktionäre des Heimatschutzes Sparren auf die Fensterscheiben, die nunwunderschön in kleine Felder unterteilt waren. Nachher nahm der Wirt sie aufsein Risiko weg. Das Restaurant läuft noch immer gut, und wenn eine Foto fürAltherisau zu machen ist, kann man die Sparren einsetzen. Wenn ich heutemanchmal den über Vorschriften empörten Gewerbetreibenden rate, einfachnicht zu gehorchen, um, wenn alle es nicht tun, ungeschoren zu bleiben, dannriecht dies nach Revolution.

Als mein Vater 1952 die Werkstätte ans neu gekaufte Haus neben demBezirksspital anbauen wollte, kam Chefarzt Dr. Merz vorbei. Dr. Merz war einleutseliger, aber wortgewaltiger Mann und schimpfte, mit dem Maschinenlärmnebenan könne er nicht operieren. Mein Vater bot an, das zweistöckigeHolzlager zwischen die künftige Werkstätte und das Spital als Schallschutz zuerstellen, wenn er es ohne Abstand auf die Grenze bauen dürfe. Der Arzt warhocherfreut, mein Vater auch.

«An die Säcke» und Ärmel hoch – auch wenn es Eternit war

Den Kundinnen kam mein Vater mit seinem Hausverstand entgegen. Da beiUmbauten die Frauen ein gewichtiges Wort mitredeten, mussten die Arbeiterjeden Abend immer sauber aufwischen. Das sprach sich herum, und dieFrauen optierten für Vaters Offerten. Dem Perfektionismus huldigte er, indemin jedem fertig umgebauten Zimmer alle Schraubenschlitze an Fenstern,Möbeln, Türrahmen und Täfer waagrecht oder senkrecht liegen mussten.

Gerne wickelte der Vater Aufträge für Gestelle, Keller und WC-Fluchten inöffentlichen Gebäuden ab, um die sich niemand riss, weil die anderenSchreiner für die schönen Eingangstüren solcher Bauten offerierten und diePreise drückten.

In Kellern und Lagerhallen kam oft Eternit zum Einsatz, und ich hielt

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meinem Vater manchmal die grossen Eternitplatten beim Zerfräsen an derMaschine. Sie rochen sehr interessant, irgendwie nach Neubau. Der graue,asbesthaltige Staub fiel auf das übrige Sägemehl. Mit diesem wurde ersamstags in grossen Wolken in den Spänekeller weggewischt, von wo er imWinter wieder hochgeholt und verfeuert wurde. Niemand dachte etwasBesonderes dabei. Später neckte ich Vasco Pedrina, den eifrigen Adjunkten fürArbeitssicherheit des Gewerkschaftsbundes und nachmaligen Unia-Kopräsidenten, mit meiner trotz Asbest strotzenden Gesundheit. Il n’a pasapprécié. Und angesichts der wirklichen Asbestopfer war meine Neckerei auchnicht von bestem Geschmack. Nur kann ich mich heute nicht moralisch überdamalige Geschäftsleute und Produzenten ereifern – in derIndustriegesellschaft lernten alle gleichzeitig, aber oft zu spät, wie gefährlichsie manchmal den Tiger ritten.

Meine Mutter hätte sich bei Umfragen als «Hausfrau» bezeichnet, doch warsie genauso im Geschäft tätig. Die Kunden und die Mieter im Hause kamenEnde des Monats persönlich vorbei und zahlten bar. Dies wickelte die Mutterab, und sie offerierte auch jedem einen kleinen Vermouth mit einigen Bisquits.Sie bediente das Telefon und organisierte die Wochenendeinkäufe so, dass alleKunden unter den Ladenbesitzern der Reihe nach berücksichtigt wurden.Auch ihre eigenen Kleidereinkäufe folgten dieser Reihenfolge. Es wäre nieinfrage gekommen, die eleganten Geschäfte St. Gallens abzuklopfen. Hin undwieder beklagte sie sich, halb im Spass, halb im Ernst, wenn für den Betriebzwei, drei neue Maschinen angeschafft wurden, sie aber immer noch auf denGeschirrspüler hoffte.

Zusammengefasst möchte ich Folgendes festhalten: In einem damaligengewerblichen Haushalt hatten die Jungen zu lernen, dass man «an die Säcke»muss, dass jeder Rappen zählt und dass die Kunden zuerst kommen. In unsererKlasse von 43 Primarschülern stammten 14, also ein Drittel, ausselbstständigen Haushalten. Ein Drittel waren also Kinder von Freiberuflernund Gewerbetreibenden, und etwa vier weitere von Kadern der damaligengrösseren Unternehmen, die mit Hausverstand und kurzen Hierarchien geführt

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wurden. Viele der 68er und jungen Linken kamen aus solchen freiberuflichenoder gewerblichen Familien (auch Pedrina). Ihre oft bedrohliche Initiative undEffizienz rührten durchaus von diesen 1968 nach aussen lauthals abgelehntenVerhaltensprägungen.

In der Schweiz arbeiten heute wieder 13 Prozent der Erwerbstätigen,Tendenz steigend, als solche Selbstständige oder als mithelfendeFamilienangehörige. Zusammen mit ihren Stellvertretern, Facharbeitern undehemaligen Lehrlingen, die anderswo arbeiten, festigen sie in einem immernoch grossen Segment der Stimmberechtigten des Landes denmethodologischen Individualismus, also die Auffassung, dass Ordnung,Verkehrsformen, Neuerungen und Wohlstand aus dem Zusammenspiel vielerkleiner, Hunderttausender von Firmen und aktiven Leuten herrühren. Undnicht von hochtönenden, der Gesellschaft vorgegebenen Zielen undSchutzmassnahmen und von den darüber die Deutungsmachtbeanspruchenden Vordenkern, Hohepriestern, Berufsethikern und Glitterati.Das denken auch Asiaten, Amerikaner und die Angelsachsen.

Das Kapital wertet die Arbeit auf

Man sparte weit über das Notwendige hinaus, vieles wurde ins Geschäftgesteckt, dieses blühte auf. Wenn eine der grossen Maschinen am Ende war,mussten 10000 bis 20000 Franken (das wären heute wohl 50000 Franken) sofortaufgebracht werden. Die Maschine kam innerhalb von zwei, drei Tagen vomLieferanten, der Betrieb ging weiter. Mit diesem raschen Ersatz, mit derWichtigkeit grosser wie kleiner Maschinen hatte man die Rolle desRealkapitals direkt vor Augen. Kapital war nicht nichts, es kam auch nicht vonirgendwoher, sondern vom eigenen Sparkonto, und dort von den aufgespartenGewinnen. Dann wandelte man es in Realkapital, in Maschinen. Ökonomischausgedrückt: Die Produktivität der Arbeiter stieg damit an, nicht jene der

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Maschinen. Kapitaleinsatz ermöglicht mehr Umsatz, mehr Gewinn, aber v. a.auch höhere Löhne. Diese Wachstumsspirale und ihre sparenden Sponsoren,die Kapitalgeber, sind Linken nicht geläufig, weil sie das nie selbst erlebthaben.

Für mich war die neue Behaglichkeit der Wachstumsgesellschaftgelegentlich unheimlich, und mit 18 Jahren sagte ich mir verschiedentlich:«Das kann ich gar nicht glauben.» Alle zwei Jahre kam ein grösseres Auto,dann ein Lieferwagen dazu. Dann wurde das Haus um weitereMietwohnungen aufgestockt, dann wurden weitere Häuser gekauft,schliesslich ein Wohnwagen. Diese zwei Jahrzehnte vor der Ölkrise 1973waren wirklich mit dem heutigen Boom Chinas vergleichbar. Es ging alles soschnell, dass die meisten Familien ihre Lebensgewohnheiten gar nicht raschgenug anpassen konnten oder wollten. Wenn sich in den 1950er-Jahren einLadenbesitzer ein erstes Auto leistete, sagte man noch schnell, der hat offenbarzu grosse Margen.

Die Welt öffnet sich

Immerhin begannen manche Familien, erste Auslandsreisen zu unternehmen.Die ersten Destinationen waren die mythisch klingenden Orte Italiens wieCattolica, Rimini, Cesenatico. Meine Eltern waren in ihren jungen Jahren, wieihre ganze Generation, von Auslandsreisen ausgesperrt gewesen. Zuerst hattensie in der grossen Krise kein Geld gehabt, dann kam der Zweite Weltkrieg,und die Welt war nochmals sechs Jahre lang zugenagelt. Danach war Europavöllig zerstört. So fuhren meine Eltern 1951 mit dem Kirchenchor nachStrassburg und berichteten von vielen Schutthaufen. Erst das Auto machtemobil, und 1955 rasten wir vom Tessin aus in einem Tag nach Genua undzurück, einfach, um endlich das Meer zu sehen. Mein Vater war mit unsKindern erstmals richtig im Ausland. Ausser dem umständlichen Baedeker gab

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es noch nicht diese kurzen touristischen Einführungen über die Bräuche inanderen Ländern. Deshalb regten wir uns über die nur halb gefülltenEspressotässchen auf und bezeichneten sie als typischen Nepp. DieMotorisierung Italiens war schon in vollem Gange, und was Rossellini undFellini in ihren ersten Filmen zeigten, sahen wir real vor uns. Alle rauchtenZigaretten. Bauten aus Mussolinis Zeit im «razionalismo italiano» standen dawie in Gemälden De Chiricos. Von Genua wanden sich unendliche Kolonnenvon Tanklastwagen mit Anhängern in den Norden, gefüllt mit Benzin und Öl.In den grossen Städten fuhren die Fiats drei- und vierspurig nebeneinander,dabei laut hupend. Junge Frauen sassen quer auf dem Soziussitz der Vespasund Lambrettas. Überall wurde wildwütig gebaut. Schreiende Plakatwändeschoben sich vor Landschaften wie auch vor Palastfassaden. Der fremdeReisende wurde schnell erkannt und mit Angeboten aller Art belagert – wieheute noch südlich des Mittelmeers. Es war alles sehr aufregend!

Die anlaufende internationale Arbeitsteilung, ein wichtiger Faktor derGlobalisierung, erzählten die Spielzeugautos meiner Generation. Anfangder 1950er-Jahre bekam ich ein Lastwägelchen aus schwerem Gusseisen,das «Made in Germany» war. Gegen Ende der Primarschule ereifertenwir uns für die Spielzeugautos der Dinky Toys aus England. Doch baldschon trugen die ersten Spielzeuge den Aufdruck «Made in Hongkong»,und als ich für meinen Neffen nach 1980 Spielzeug kaufte, stammte es ausMacao, für meine eigenen Söhne nach 2000 schon aus China.

Ganz unbeachtet, das hedonische Wachstum

Wenn die Statistik vermeldet, die realen Löhne hätten sich seit 1945verdreifacht, oder wenn die Preisentwicklung der Güter und Dienste berechnetwird, geht etwas Wesentliches unter: die noch viel dramatischere

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Verbesserung der Produkte während dieser Zeit. Das griechische Wort«hedonä» für Freude wird in der Ökonomie dafür gebraucht – Wachstum istmeist auch hedonisch, bringt qualitative Verbesserungen und Freuden. EinBügeleisen wird in der Statistik der Löhne und Preise einfach gemäss seinemPreis geführt. Aber das Bügeleisen meiner Mutter war nur ein Metallklotz alsStromwiderstand, der glühend heiss wurde und schon nach ein paar Sekundenohne Bewegung ein Loch in die Stoffe brannte. Heute kann die Hitze einesBügeleisens in feinen Stufen geregelt werden, es kann Dampf abgeben, eskann vor sich hin spritzen, und es kann ohne weiteres Gestell auf seine kalteKante aufgestellt werden. Und es kostet, gemessen am Arbeitslohn, nur nocheinen Bruchteil. Die gleiche qualitative Aufwertung bieten heute die Autos mit1000 Regeleinstellungen, mit einem unvergleichlich höheren Komfort der Sitze,mit Heizung, Lüftung, gesenktem Lärmpegel innen und aussen, mit halbiertemBenzinverbrauch. Der Bahnfahrer erlebt das Gleiche, wenn auch dieBilletkosten im Preisindex höher liegen als 1945. Doch noch viel höherentwickelte sich auch hier der Sitzkomfort, denn ich fuhr von 1959 bis 1962noch auf Holzbänken in die Klosterschule nach St. Gallen. Die Züge heutehaben Lautsprecherdurchsagen, Ablegeflächen, saubere WCs mit Lavabo –und sie fahren viel häufiger im Taktfahrplan, ohne auf Anschlüsse warten zumüssen. Dies alles wird in den Preisentwicklungen nicht angezeigt. Nichtangezeigt wird sodann das gänzlich Neue, das gar keine alten, schlechterenVorprodukte kennt, etwa die Informatik, die Welt der Netze. Statt derwiderspenstigen, beim Halt am Wegrand entfalteten Landkarte führt einesanfte Stimme des GPS zum Ziel. Neueste Bücher aus Amerika fliegen aufWellen in das Lesegerät, billig und innerhalb von Sekunden. Hier fügen sichganze Dimensionen an das frühere Leben, Wissen und Geniessen an.

Das hedonische Wachstum ist in den Statistiken, oft auch im Bewusstseinder Menschen, ausgeblendet, weil die neuen Produkte erst in denKonsumentenpreisindex kommen, wenn sie weit verbreitet sind. Bis dann sindsie schon um Faktoren billiger und um Faktoren leistungsfähiger geworden,was der Index nicht mit einem gewaltigen Fall anzeigt, wie wenn sie schon

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anfangs drin gewesen wären. Nur wer die nicht immer gute alte Zeit erlebthat, kann es einschätzen und den vielen Ingenieuren und Produzenten dafürdankbar sein. Denn das «Freudenwachstum» ergriff wirklich alles. Man denkenur daran: Die ersten Kugelschreiber rannen weiter, wenn man mit demSchreiben aufhörte, und ein nächster Satz begann mit einem sichtbaren,klebrigen Klecks. Heute sind die Kugelschreiber nicht nur sauber, sondernauch gratis. Ich habe seit 30 Jahren keine mehr gekauft, sondern als Werbungoder bei Sitzungen erhalten. Der Kugelschreiber ist nur ein kleines Detail, esspricht (oder schreibt) aber Bände.

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Kapitel 3

Wirtschaftspolitik: Linke und Rechteübers Kreuz

Der Boom der 1960er-Jahre war auch in Bern angekommen, und dieBundesverwaltung sorgte sich über die steigenden Preise. Vor allem die Haus-und Bodenpreise flogen davon, und immer wieder hörte man von Bauern, dieviele Quadratmeter für 50 Rappen verkauft hatten, nur um zu vernehmen, dassschon Tage danach das Land für 5 Franken verurkundet wurde. Nicht seltenliess ein Händler den Verkäufer des Landes eine halbe Stunde vor demNachkäufer aufs Notariat kommen, nahm seine paar 100 Prozent dazwischenheraus, und seine beiden Kontrahenten kreuzten sich noch im Gange desAmtes.

Manche Bauunternehmer hatten von einem Architekten einen Wohnblockerstellen lassen, sahen gut zu, kauften ihm die Pläne ab und erstellten dann inden Wiesen daneben jedes Jahr zwei neue, genau gleiche Blöcke in langenReihen. Es gab keine Raumplanung, damit auch keine Einsprachen, und eineBaubewilligung war auf dem Amt rasch abgeholt.

Wenn Beamte bremsen müssen

Kurz: Dies rief nach behördlicher Aktion. Die Bundesrepublik wertete schon1961 die erst 13 Jahre alte D-Mark um 5 Prozent auf, um den Exportboom zuzügeln. Die Schweizerische Nationalbank schlief, tat nichts mit demFrankenkurs, der Bundesrat griff lieber in die Regulierungskiste und schlug

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1962 Massnahmen zur Konjunkturdämpfung vor. Herzstück war einBauverbot, sowohl für Einfamilienhäuser und Zweitwohnungen als auch füröffentliche Gebäude wie z. B. Turnhallen. Die damals tätigen gewerblichenund industriellen Unternehmer waren alle in der düsterenWeltwirtschaftskrise aufgewachsen, hatten ihre «formative years» dann in densechs folgenden Jahren im Militärdienst durchgemacht. Mein Vater hatte zumersten Mal in seinem Leben mit 18 Jahren in seinem Dorf Thal im Kanton St.Gallen gesehen, dass überhaupt ein Haus gebaut wurde. Diese subjektiv sichbetrogen fühlende Generation hatte eben erst tatkräftig das breite Tor zurProsperität aufgestossen und glaubte nun, nicht recht zu hören.

Professor Hugo Allemann, der Delegierte des Bundesrates fürKonjunkturfragen, kam nach St. Gallen, um im Saal eines Restaurants dasVorhaben des Bauverbots zu erläutern. Mein Vater nahm mich mit, ich war 16Jahre alt und erinnere mich an einen vor Wut kochenden Saal. «IhrDummköpfe in Bern, jetzt, wo man endlich etwas verdienen könnte, wollt ihres verbieten! Das sieht euch ähnlich, ihr, die ihr ja gar nichts Rechtes arbeitet.Zahlen wir dafür Steuern?» So ähnlich ging die Rede.

Die Wirkung war in der Ostschweiz nicht spürbar, gerade weil dieAuftragsbestände im Bau schon ein Jahr ausmachten. Als dann 1966 die erste,ganz leichte Konjunkturabschwächung bei den Firmen Panik in derBundesrepublik säte und trotzkistische Theoretiker wie Ernest Mandel vomEnde des Kapitalismus schreiben liess, lief das Bauverbot aus. Es warausserdem von 1000 Ausnahmen und Gefälligkeiten lokaler Behördendurchlöchert worden.

Der Boom ging also weiter, und jetzt besann sich Bern auf bessereInstrumente jenseits dilettierender Eingriffe. Die Nationalbank sollte miteinem Instrumentarium versehen werden, um die Krediterteilung, dieGeldschöpfung und den Geldzufluss aus dem Ausland und die Zinsen zusteuern. Bisher hatte man dies mit Gentlemen’s Agreements zwischenNotenbank und Grossbanken zu regeln versucht. Doch vor dem Geheul derBanken trat das Parlament 1969 nicht einmal auf dieses

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Notenbankinstrumentarium ein. In den folgenden Boomjahren ruderte dieRegierung hilflos herum, sie verhängte 1970 Exportzuschläge und ein danndoch nicht in Kraft gesetztes Exportdepot von 5 Prozent. Dann verlangte sieNegativzinsen auf ausländisch zugeströmte Gelder von 10 Prozent proQuartal. Ich war damals an der Universität und hatte die für einPapiergeldsystem notwendigen Lenkungen zu erlernen. Diewirtschaftspolitische Dummheit und Hörigkeit des Parlaments, welches dasNotenbankinstrumentarium ablehnte, trieb mich daher zu einer grundsätzlichkritischen Haltung an, und ich war mehr denn je entschlossen, den verhocktenKöpfen mit Schreiben zu Leibe zu rücken.

Zeigen und schreiben, wie die Welt wirklich tickt

Das erste Mal wurde ich motiviert, mich der Welt der Informationen, ihrerErgründung und Vermittlung zu verschreiben, als ich in den Pausen und imAbendausgang während der Rekrutenschule das Bändchen Der Vietnamkriegund die Presse von Urs Jaeggi las. Dass die ganze Presse eines Landesvoreingenommen informierte, keine andere Sicht erwog und kaum Kenntnissevor Ort hatte, erschütterte mich. Als wir in den Vorlesungen und Seminariender Sciences politiques an der Genfer Universität «la méthode quantitative»der Inhaltsanalyse kennenlernten, schritten mein Freund aus Gymnasialzeiten,Urs P. Gasche, und ich zur Tat. Die voreingenommene Haltung, diesmal beimdeutsch-schweizerischen Radio, während der Têt-Offensive 1968 imVietnamkrieg hob sich derart unvorteilhaft von der ausgewogenenBerichterstattung im Westschweizer Radio ab, dass wir in der damals sehrkritischen Nationalzeitung von Basel den Unterschied auf zwei Zeitungsseitenausbreiteten. Mein Kollege nahm die westschweizerischen, ich die deutsch-schweizerischen Abendnachrichten auf Tonband auf. Zur Recherche ersuchtenwir um ein Gespräch mit Heinz Roschewski, dem Nachrichtenchef des Radios.

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Dieser freundliche Herr bemerkte das damals hochmoderne Uhertonbandgerätnicht, das Urs vor ihm mit der Bemerkung aufstellte, das sei die Sekretärin.Erst nach anderthalb Stunden rief er: «Was ist das? Was, Sie haben michaufgezeichnet?» Wir waren verwundert ob solcher Professionalität. Dieallgemein dilettantische Information von Radio Beromünster erklärte sich, wiewir sahen, weil ihm Korrespondenten vor Ort fehlten. Es verliess sich dahernur auf amerikanische Darstellungen, und weil die Nachrichten desRadioprogramms von der Schweizerischen Depeschenagentur ausser Hausgemacht und mit Grabesstimme verlesen wurden. Daran schloss dann dasRadio sein Echo der Zeit an, oft ohne Bezug zu den vorausgegangenen, ihmvorweg unbekannten Nachrichten. Die Grabesstimme gehörte einem Sprecher,der damit jahrelang auch eine eherne Wahrheit der Nachrichten suggerierte.Die Stimme wurde noch jahrzehntelang in Dokumentarfilmen der Schweizeingeblendet, um Tatsachen festzulegen, welche die Filme dann abhandelten.

Es gehörte zu den achtenswerten Kämpfen der 68er, den Begriff von«Objektivität» abgesetzt zu haben, den damals alle angegriffenen älterenHerren der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Medien für ihre Meinungenin Anspruch nahmen. Der überzeugende Gegenbegriff wurde «Fairness», alsodas Aufspüren aller möglichen Fakten und die Kennzeichnung der Stellen, woman diese persönlich gewichtet. Man muss Zeitungen aus den 1950er- und1960er-Jahren lesen, um die breiige Vermischung von Fakten undKommentaren zu sehen und zu verabscheuen. Allerdings, vor dem Internetund in einer noch festgefügten Gesellschaft waren Fakten rar, und Meinungengaben Halt.

Urs P. Gasche und ich waren durch diese zwei ganzen Zeitungsseiten unddie zwei nochmals als Duplik auf eine gequälte Reaktion des Radiosveröffentlichten Zeitungsseiten mit 22 und 21 Jahren als Journalisten gesetztund bekannt. In diesem kleinen, schläfrigen Land wird man oft mit einemeinzigen Artikel zum Experten.

Die seinerzeitige Medienwelt bot ihre eigenen Chancen für jungeselbstständige Journalisten. Daher erlebte ich keine kargen Zeiten, wie sie oft

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von anderen bejammert werden. Ich glaube auch nicht, dass Journalismus inden überfüllten, jährlich von Hunderten von Studenten besuchtenKommunikationsvorlesungen an den Universitäten gelernt werden kann.Vielmehr muss ein Journalist gute, spezifische Kenntnisse von einembestimmten Thema haben: von Geografie, Archäologie, Geschichte, Sport,Wirtschaft, Ius, einem Handwerk usw., und dann lernt er «on the job», wieman’s macht.

Beruf und Berufung als Journalist

Mein «Geschäftsmodell» lebte von den unzähligen Zeitungen, welche damalssogar innerhalb der einzelnen Kantone und Städte bestanden. Ich schrieb alle14 Tage einen Wirtschaftsartikel, den ich fotokopierte und an etwa zehn bis 15Lokalzeitungen sandte, deren Leserschaft sich nicht überschnitt. Vier, fünfnahmen ihn immer, weil es damals noch keine Wirtschaftsseiten gab. AmJahresanfang schrieb ich mir auch alle Jubiläen heraus: von Firmen,Gesellschaften und aus der Politik und hatte dann Artikel bereit, wenn sieanfielen. Schliesslich schrieb ich den Redaktoren Ende Mai, dass ich denganzen Sommer über da sein würde – und konnte so die Zeitungen füllen,wenn die lieben Kollegen in der Sonne lagen. Im Gegensatz zu Meienberg,glaubt man seiner Biografie, achtete ich auf die genaue Zeilenzahl und auf dieTermine. Die Redaktoren nehmen bei der heute riesigen Informationsflut jeneArtikel am liebsten, die pünktlich ankommen und die sie ohne weiterenAufwand abdrucken können.

Allerdings kamen anfangs viele Artikel zurück. Sie seien unleserlich undnicht aktuell – so kritisierten mich die Redaktionen. Man lernt eben «on thejob».

Als mir dann das Berner Tagblatt einen Auftrag gab, auf siebenZeitungsseiten die ganze Berner Volkswirtschaft mit ihren wichtigsten Firmen

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darzustellen, wagte ich den Sprung in die Selbstständigkeit mit Überzeugungund verdiente in der Folge immer gut. Bei der Nationalzeitung bekam ichsogar höhere Honorare als Niklaus Meienberg, der bei Honoraren immer hochpokerte. Kurse und Vorträge ergänzten die Aufgaben und das Einkommen.Hingegen widerstand ich immer den Anfragen, Firmen und Verbände bei derKommunikationsstrategie zu beraten oder gleich selbst zu machen. Dieseverlockenden Angebote fressen sich in den schweizerischen Journalismusquerbeet hinein, und im Gegensatz zu angelsächsischen Medien stört sichkaum jemand daran. Viele gute Journalisten verschwinden immer wieder indie Kommunikationsabteilungen der Konzerne, der Verbände und derVerwaltung. Ich kann die individuelle Motivation verstehen, aber in derSummierung tut dies der Medienwelt nicht gut. Den Firmen tut es auch nichtgut, sie belasten sich mit enormen Kommunikationsabteilungen, die in alleshineinreden und welche die sonst schon unsicheren Manager vollendsentmündigen und mundtot machen. Farbig und laut sprechende Firmenleiterwerden immer seltener. Die meisten sondern in ihren Reden ein gescheitscheinendes Gemisch aus vulgärer Betriebswirtschaftlehre, aus Soziologie undWerbejargon ab. Spitzensportler nach Sieg oder Niederlage geben die gleicheMischung am Fernsehen ab.

Im Gegensatz zu heute waren zur Zeit meiner ersten journalistischenKarriere die elektronischen Medien karg und staatlich. Sie nahmen nur wenigeBeiträge von aussen an. Immerhin konnte ich auch manche Radiosendungmachen, oft drei Viertelstunden lange, trockene und belehrende Darstellungen,über die ich mich heute ein bisschen schäme. Seither hat sich dieZeitungsvielfalt von damals zur Medienvielfalt von heute gewandelt.

Aber auch die gedruckten Medien waren karg, und wie gestern und heutelasen und lesen wenige deutsch-schweizerische Medienschaffendesystematisch angelsächsische Quellen. Sie drehen lieber die geläufigenInlandthemen unermüdlich durch die Mühlen, allenfalls noch jene desdeutschen Parteienstaats. Nur jene «Symbolanalysten» mit angelsächsischenQuellen, die immer drei Monate bis drei Jahre ideell voraus sind, werden sofort

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zu Spezialisten. So ging es mir, als ich 1972 das Wort Präsident Eisenhowersvom «militärisch-industriellen Komplex» aufnahm und diesen anhand der engverbrüderten schweizerischen Waffenhersteller, Büroobersten und Verbändeaufzeigte. Oder als ich 1970 mit dem Moped losfuhr und in allenZürichseegemeinden die öffentlich zugänglichen Ufer vermass. Oder als 1973die Ölkrise ausbrach und man mit ein paar Kenntnissen der weltweitenÖlindustrie punkten konnte. Als ich ab 1996 die Steuergutschriften fürarbeitende Sozialhilfeempfänger der USA referierte, oder heute noch, daniemand die Weltbankstudie von 2005 über die perfekten nordischenRentenreformen aufnimmt und man der Einzige ist, der darüber schreibt.Auch dass Schweden längstens liberale und kreative neue Lösungen hat, freieSchulwahl, freie Pensionsgeldanlage, keine Postämter mehr, oder nur so vieleSpitäler wie allein der Kanton Bern, das ist hier weder links noch rechtsangekommen. Ausser bei einigen liberalen und offenen Mitstreitern derwissenschaftlichen Bereiche, die sich journalistisch hervorwagen, unter ihnenSilvio Borner, Kurt Schildknecht, Bruno S. und René Frey, Monika Bütler undUrs Birchler.

Nach meinen grossen Artikeln in der Basler Nationalzeitung zu denerwähnten Verflechtungen in Wirtschaft und Politik 1970 erlebte ich imHauptgang des historischen Instituts der Universität Bern einen denkwürdigenAnschauungsfall schweizerischer Kartellierungs- und Verständnisseligkeit.Professor Erich Gruner, welcher akribische, voluminöse Studien und Bücherzu den Schweizer Parlamentariern, aber auch zur Arbeiterschaft verfasste(allerdings ohne jede Synthese und Folgerung), hielt mich an und fragte: «Siesind Kappeler? Ja, also schreiben Sie doch künftig mehr über den Zürichseeund solche Dinge, und ich schreibe über die Politiker.» Der berühmte Professorschlug einem 24-jährigen Neuling ein Kartell mit Gebietsabgrenzung vor. Ichwar erschlagen, dann geschmeichelt, aber nicht überzeugt.

Verhockte Schweizer Politik – Reformen wirken wie

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Revolutionen

Meine Motivation als Journalist wurde also durch das 1969 abgelehnteNotenbankinstrumentarium verstärkt. Mein Antrieb mitten in denStrassenkämpfen der akademischen Jugend von 1968 waren bessere Märkte,bessere Lenkungen, nicht aber der Kampf für die Armen, die sich in unserenBreitengraden im gleichen Moment spektakulär besserstellten und die sich oftsogar selbstständig machten, wie ich von zu Hause her wusste. Ich hatte nieviel für die Machos und Befehlshaber Südamerikas übrig, für welche dieLinken (und ihre Weibchen) in der Wohlstandsschweiz in Trance fielen. Ichwollte die Köpfe besser füllen. Das soll nicht überheblich tönen. Die meistenanderen Menschen haben ihre eigene Aufgabe und können sich nicht stündlichirgendwo informieren. Die Information wird daher, vornehm gesagt, dieeigene Aufgabe einer Berufsgattung, nämlich eine Berufung. Mindestens einewichtige Rolle in einer offenen Gesellschaft.

In der verbohrten, uninformierten damaligen Parteienlandschaft, inVerbänden und Direktionsetagen wurden auch klassische Reformen alsrevolutionär empfunden. Und da diese Statthalter des Establishments, wie mansie nannte, sich dagegen sperrten, geriet man in den Ruch des üblichen linkenKämpfers. Auch bei Linken, die den Schauplatz ebenso oberflächlichwahrnahmen wie die Wirtschafts- und Verbandselite auf der anderen Seite.Deshalb traten in der Folge manchmal Linke an mich heran und sagten, manspüre in meinen Artikeln, dass ich eigentlich viel radikaler schreiben möchte,aber nicht dürfe. Dies entsprach ihrem Weltbild – das Kapital griff in dieRedaktionen ein und führte die Feder. Ich wunderte mich zuerst undantwortete, nein, ich meine genau dies, man sollte ein besseres Notenbank-oder Kartellrecht usw. haben. Später wurde mir immer klarer, dass die meisten– auch in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gut placierten – Menschenoft nur ein paar Schubladen im Kopfe haben, in welche alle Fakten sortiertwerden. Es ist ein bloss assoziatives Denken, wenn der Ausdruck «Denken»nicht schon zu stark ist. Eher werden Reize ausgelöst, Wörter, Kategorien und

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Ansichten aktiviert, die schon da waren. Wenige Leute drehen und wendenneue Fakten und neue Meinungen, um selbst ein höheres Einsichtsniveau zugewinnen. Dagegen anzuschreiben, hat deshalb selten grossen Erfolg.Immerhin gibt es ihnen bei ihren uninformierten Taten ein schlechtesGewissen. Ein bisschen kognitive Dissonanz als Strafe.

Reformen gibt es in der Schweiz wie anderswo immer nur in dringendenLagen. Dann allerdings in oft unvorhersehbare Richtungen. Man sah dies beimRettungsversuch von Swissair mit 2 Milliarden Franken, beim Umgang mitden Weltkriegsvermögen und beim Bankgeheimnis. Das vorherige Verbreitenvon Wissen kann im besten Fall dazu dienen, dass die Verantwortlichen in derHast und Panik doch noch den richtigen Hebel erwischen. Es wäre eigentlichsehr wichtig, dass sich jene mit Wissen in die Politik begeben und zupacken.Dies wiederum schliesst sich für gedankentiefe Menschen, aber auch fürPraktiker oft gegenseitig aus. Sie würden nie Furnier stehlen, um eine offeneRechnung zu begleichen. Das verrechtlichte Zeitalter mit Rekursen, Klagenund Vernehmlassungen hat sie stillgestellt. Das gilt auch für schweizerischeLinke, die, einmal in Stellung, am meisten auf die papierenen Irrwegehereinfallen und meinen, das sei die gerechte Welt. Sie haben sie ja selbstausgelegt.

Als die Linke wettbewerblich und die Rechte korporatistischwar

Eine eigentliche kopernikanische Wende trat nach den 1970er-Jahren in denwirtschaftspolitischen Haltungen ein. Zuerst bekämpften die Inhaber dermarktwirtschaftlichen Orthodoxie, also der Vorort (heute «économie suisse»)Gewerbeverband und Bankiervereinigung, alles, was mit liberalemAktienrecht, Kartellrecht und Bilanzklarheit der Firmen oder – teilweise – mitoffenen Weltmärkten zu tun hatte. Die sozialdemokratische Linke hingegen

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trat dafür ein und versprach sich damit eine bessere, eine sozialeMarktwirtschaft. Heute sind diese Reformen alle erfolgt, und die Vertreter inden Verbänden der privaten Wirtschaft identifizieren sich voll damit.Hingegen kippten die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS) und derGewerkschaftsbund in die 1920er-Jahre zurück und wollen den Kapitalismusirgendwie überwinden. Ihre Vertreter lachen bitter oder bekommen Schaumauf den Lippen, wenn man vom Markt spricht, und dieWelthandelsorganisation plus Globalisierung mit freien Finanzmärkten istihnen suspekt.

Wie diese Umwertung aller Werte in beide Lager kam und sich kreuzte, sahich selbst, als ich von 1977 bis 1992 Sekretär des Gewerkschaftsbundes unddaran als Täter und Opfer beteiligt war. Da meine Haltung jenerreformliberalen Richtung nach 1977 entsprach, nicht aber der heutigenklassenkämpferischen und marktabgewandten Haltung der Linken, wird derWandel bei mir und anderen Kollegen meiner Generation gesehen, nicht aberbei den Funktionären des Vororts und der Linken.

Durch mein Studium in Genf und meine Lektüre nachher hatte ich dieangelsächsischen Grundsätze zu Aktienrecht, Wettbewerbspolitik oderBilanztransparenz, aber auch zu offenen Weltmärkten und Finanzmärktenkennen- und schätzen gelernt. Doch die schweizerische Wirklichkeit sahanders aus. Die meisten Branchen und Firmen waren in unglaublichenKartellen verbandelt, im Aktienrecht konnte man mit ZehnfachstimmrechtenFirmen beherrschen, intransparente Geschäfte machen und Gewinne oderVerluste über Jahrzehnte verschleiern. Viele Kartelle schotteten auch denfreien Handel über die schweizerischen Grenzen ab, die Landwirtschaftspolitiktat dies ihrerseits. Die Warenumsatzsteuer war eine altertümliche, verzerrendeAbgabe, die meisten Wirtschaftsführer und Grossbankiers verteidigtenSüdafrikas Apartheidregime, und Osthandel mit den kommunistischen Staatenwar äusserst verpönt. Über die EWG und ihre Marathonsitzungen zurLandwirtschaft lachte man nur und nahm Brüssel nicht ernst. An der Börsegingen meist am Tag vor wichtigen Mitteilungen die Kurse wegen

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Insidergeschäften der Beteiligten schon mal um 10 bis 20 Prozent hoch.Allerdings funktionierte diese Schweiz wie ein Uhrwerk, machte grosseGewinne, expandierte mit Arbeitsplätzen, importierte Hunderttausende neuerArbeitskräfte und kaufte weltweit Firmen auf. Aber als nach 1970 dieinländische Konjunktur erneut heiss lief, gerade wegen dieser Erfolge, alsenorme Fluchtgelder vor den schwächelnden britischen, französischen,italienischen und US-amerikanischen Währungen eintrafen und den Boomnoch anheizten, hätte das seinerzeitige Notenbankinstrumentarium eineAbhilfe geboten, oder eine Aufwertung des Frankenkurses dieUngleichgewichte mindestens zeitweise und auf einer allgemeinen Ebenebeseitigt. Doch die Behörden griffen zu lächerlichen Massnahmen. DieGentlemenfs Agreements mit den Grossbanken zur Abwehr der Geldergehörten dazu, dann kam 1972 die Idee eines Preisstopps auf, der beschlossenwurde. Gleichzeitig drückten die Wirtschaftskreise auf einen Lohnstopp, undals Retourkutsche erreichte die Linke zusammen mit der Mitte, damit es ohneReferendum ging, einen Dividendenstopp. Eine Preisüberwachung wurdeeingeführt, die sich in ihren ersten Entscheiden mit dem Einfrieren des Preisesfür einen Café crème im Wirtshaus lächerlich machte.

Die marktwirtschaftliche Schweiz hatte sich noch stärker in Regulierungenverrannt, privat wie öffentlich!

Die «erste allgemeine Verunsicherung»

Der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 1971 und die Ölkrise 1973zwangen zu echten Reformen, die aber noch Jahre des Kampfes brauchten. DasBretton-Woods-System von 1944 beruht auf dem US-Dollar, den die anderenNotenbanken als Reserve hielten, der aber für sie auf Verlangen in Goldumtauschbar war. Seit 1961 übertrafen aber die US-Dollars in der Welt, diedurch das zum System nötige Handelsbilanzdefizit der USA abgeflossen

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waren, den Wert des US-Goldvorrats. So war der US-Dollar «technisch»bankrott. Im August 1971 verkündete daher US-Präsident Richard Nixon amFernsehen das Ende des Umtauschs. Die Schweiz und Frankreich hatten nochzwei, drei Wochen vorher eine Flugzeugladung Gold heimgeschafft. Danachbegann der Zerfall des US-Dollars, oder umgekehrt: Der Franken wertete sichstetig und dramatisch von 4.30 Franken pro US-Dollar auf heute praktischParität auf. Die Unze Gold stieg von 35 US-Dollar auf 1600 US-Dollar – eineAbwertung der Papierwährung des Imperiums um 97 Prozent. Auch diesetragische Entwicklung, «the debasement of the currency», hat mich über denTag hinaus tief markiert. Ich traue den Geldpolitikern nicht, sie betrügen dieSparer und das Volk noch schneller, als die Soldatenkaiser im Römerreich estaten. Diese Raubeine brauchten nämlich 70 Jahre, um den Silbergehalt desAntoninian, der Hauptmünze, um 97 Prozent zu entwerten. DieDollarbehörden der USA brauchten nur noch 39 Jahre, also die Hälfte der Zeit,bis der Goldwert des US-Dollars auf 3 Prozent sank.

Die Ölkrise von 1973 setzte noch eins drauf, denn die Exporte der Schweizgingen dramatisch zurück. In der Folge fiel die Anzahl der Arbeitsplätze in guteinem Jahr um 10 Prozent, das Inlandsprodukt sank um 7 Prozent real, undüber 200000 Fremdarbeiter kehrten heim. Die Fremdarbeiterpolitik erwies sichaufgrund des zu tiefen Frankens als Blase, viele jetzt zerfallende Strukturen derVolkswirtschaft ebenfalls – die Bekleidungs-, Textil- und Uhrenindustrie, dieGM-Montage in Biel, der Waggonbau, die Pneufabrikation. Das sahen aber dieWirtschaftspolitiker kaum richtig. Sie schraubten vielmehr an immer neuenRegulierungen, und die Linke empörte sich moralisch bei jederBetriebsschliessung über die Firmenleiter.

In der Hast richtete man 1975 immerhin eine obligatorischeArbeitslosenversicherung ein, aber man verwarf auch ein erstesUmweltschutzgesetz. Das Gewerbe und die Linke bodigten eine ersteMehrwertsteuer in der Volksabstimmung von 1977. Schon als junger Journalisthatte ich 1973 zustimmend über das Projekt und System einer Mehrwertsteuergeschrieben und wurde vom Kommunisten Theo Pinkus zu einem Vortrag vor

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der sehr linken Zeitdienst-Redaktion eingeladen. Pinkus erhob sich feierlichund enthüllte den Grund seiner Aufmerksamkeit: «Genossen, erstmals gibt derKapitalismus zu, dass es Mehrwert gibt.» Ich dachte, Hauptsache, ihr seid fürdiese Reform.

Den libertären Kommunisten Theo Pinkus fand ich bemerkenswert, weil ergrundsätzlich nach keinem Amt strebte, sondern sich mit einemBuchantiquariat durchbrachte. Die Preise waren gesalzen, die Bücher jedochgesuchte Raritäten. Auch sandte er einem unversehens Stösse von Zeitdienst-Exemplaren zu, die man verteilen sollte. An jeder Versammlung oderDemonstration in Zürich und weitherum stand er und verkaufte – auch dankseinem Charme – seinen Zeitdienst. Ein kommunistischer Unternehmer.

Viele 68er, die nicht nach Woodstock abgedriftet waren, sowie die mit ihnenzusammen an modernen, angelsächsischen Wirtschaftskonzeptenausgebildeten anderen Jungakademiker stiegen jetzt in verantwortungsvolleStellen bei der Verwaltung, den Gewerkschaften und Wirtschaftsverbändenein. Andere gründeten und bauten Reformorganisationen aus: den WorldWildlife Fund (WWF), den Verkehrsclub, die Sozialdemokratische Partei derSchweiz. Sie traten nicht den Marsch durch die Institutionen an, um dannschliesslich die Revolution zu machen, sondern den persönlichen Marsch indie Institutionen. Die verhockte Schweiz der Wirtschaftsführer aus derAktivdienstgeneration, aus dem Generalstab, die international geschäftete,aber konservativ-national dachte, wurde verunsichert und angefeindet.

Rösselspiel der Verbände – dank Referendum

Ich gehörte der neuen Generation an, die reformerisch unter Linken wieRechten war, und trat im Mai 1977 ins Sekretariat des SchweizerischenGewerkschaftsbundes ein. Zusammen mit Dr. Benno Hardmeier war ich fürWirtschaftsfragen zuständig. Diese Dachorganisation war auf die

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Bundespolitik angesetzt. Nur die einzelnen Mitgliedverbände machten dieLohn- und Gewerkschaftspolitik in den Branchen und Firmen. Ich hatte alsokeine gewerkschaftlichen Funktionen, sondern wurde sofort in ungefähr 20Expertenkommissionen des Bundes entsandt. Auf der Seite gegenüber, jenerder Firmen, umfasste der Schweizerische Arbeitgeberverband dieBranchenverbände, welche sich mit Personal- und Lohnpolitik gegenüber denGewerkschaften und Behörden befassten. Er war die Dachorganisation derWirtschaftsverbände der Branchen und der Handelskammern. Bauernverbandund Gewerbeverband amtierten als Dach ihrer Unterbranchen. Daneben wardie Schweizerische Bankiervereinigung (SBVg) ein weiterer Dachverband, aberals Personenverband konstituiert.

Professor Leonhard Neidhart von der Universität Konstanz lieferte in den1970er-Jahren die Erklärung für dieses vorparlamentarischeKonkordanzverfahren: Weil das Referendum gegen neue Gesetze immer imRaume stand, mussten die referendumsfähigen Verbände vorher schonkonsultiert und, wenn möglich, eingebunden werden. DerGesetzgebungsprozess verlagerte sich in die vorhergehende, intransparenteund exklusive Stufe der Grossverbände der Wirtschaft von links und rechts.Ein schönes Beispiel für «unintended consequences».

Wenn das Fernsehen lügt, ohne es zu wollenDa in allen wichtigen ständigen Kommissionen undExpertenkommissionen der Gewerkschaftsbund und der Zentralverbandder Arbeitgeber einen Vertreter hatten, sass ich dort meistens zusammenmit Heinz Allenspach von den Arbeitgebern. Wenn die Medien, v. a. dasFernsehen, über die umstrittenen Fragen berichteten, interviewten siedaher meist Allenspach in Zürich und mich in Bern. Wir kamen dann inden Sendungen immer direkt nacheinander, sozusagen in Rede undGegenrede, was die Fernsehleute aus den längeren Statements oft etwaswillkürlich zurechtschnitten. Die Dramatik folgte ihren Auffassungen,nicht immer der Realität. Einmal kam sogar ein Fernsehteam in mein

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Büro und wollte, dass ich Boxhandschuhe anziehe. Dann würden siedasselbe auch mit Allenspach machen und uns gegenüberstellen. Ichweigerte mich, weil es in noch viel drastischerer Form keineSachinformation, sondern eine Show von Falschheit geworden wäre.

Alle Leute waren überzeugt, Allenspach und ich stünden täglich inzähen Verhandlungen miteinander. Das war in meinen 15 Jahren abergenau drei Stunden lang der Fall. In der Vorbereitung des EWR-Vertragesfand ich, der SGB sollte die absehbare Freizügigkeit der Arbeitskräftedirekt mit dem Arbeitgeberverband besprechen, wozu wir nach Zürichreisten (weil wir «demandeur» waren). Sonst verliefen die KontakteArbeitgeber/Arbeitnehmer ausschliesslich über die jeweiligen Verbändeauf der Ebene der Branchen, allenfalls der Kantone, nie aber über dieschweizerischen Dachverbände.

Weil ans Bild gebunden und immer nach den wenigen, leichterkennbaren Galionsfiguren haschend, verfällt das Fernsehen inspektakulär falsche Informationen über die Mechanik und die Akteureder Wirtschaftspolitik.

Die Vollversammlung der Verbandsfunktionäre

Ich wurde nun mit 30 Jahren aktiver Mitspieler dieser Verbandswelt, dieserRunde aus «unelected officials». Alle 15 Jahre lang war ich als SGB-Vertreterin der Kartellkommission, die nicht nur eine Kommission, sondern auch eineBehörde war. Ich war Mitglied im Wissenschaftsrat, in der ständigenWirtschaftsdelegation, in der Aussenhandelskommission, in derZollexpertenkommission, im EFTA-Konsultativkomitee, in derWohnbaukommission, in der Konsultativen PTT-Kommission, in denjeweiligen Expertenkommissionen des Aktienrechts, der Bilanzierungsfragenund der Mehrwertsteuer. Und weil man ja nun gut verbandelt war, wurde ich

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deswegen wiederum in viele Gremien der SPS eingeladen, in den Stiftungsratdes WWF, in die Fachkommission für Rechnungslegung (FER). Als SGB-Vertreter war ich Mitglied des beratenden gewerkschaftlichen AusschussesTrade Union Advisory Committee (TUAC) bei der OECD und eine Zeit langim Vorstand des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB). Im TUAC erlebteich die fortschreitende Bürokratisierung der Gewerkschaften in der Form, dassanfänglich handlungsberechtigte Zentralsekretäre wie ich oder Präsidenten andie Sitzungen kamen, dann immer häufiger eigens für solche Vertretungeneingestellte Jungakademiker, die aber keine Befugnisse und wenig Ahnunghatten. Deshalb vermehrten sich die Sitzungen, weil diese tief gestelltenVertreter immer zu Hause nachfragen mussten und erst ein nächstes Malentschieden. Ich hätte jederzeit entscheiden können, musste aber nun diesenSitzungsmarathon mitmachen. Hätten wir das Geld gehabt, hättewahrscheinlich auch der SGB mit der Zeit ein paar junge Akademikerchendafür eingestellt. So vervielfacht und pflanzt sich zwingend fort, was eigentlichals Unsinn begann.

Als Vertreter eines Spitzenverbandes hatte man leichteren Zutritt zu denBundesräten. Man wurde auf einen Telefonanruf hin empfangen. Das war neugegenüber den steifen 1950er-Jahren, als der SGB sogar einen grünen Mercedesbesass, mit dem der Sekretär oder Präsident zum Bundeshaus hinauffuhr, umVernehmlassungen zu überreichen. Der Amts- und Verbandsverkehr flossdamals und teils noch in den frühen 1980er-Jahren hauptsächlich undumständlich über Briefe. Diese waren dafür kürzer und prägnanter als dieheutigen, beliebig vermehrbaren Dossiers, die als Attachments über E-Mailsfliegen. Ein Brief zählte, wurde in Sitzungen besprochen und erfuhr einegesetzte Antwort.

Die meisten der Vertreter aus den anderen grossen Wirtschaftsverbändensassen in ebenso vielen Kommissionen wie ich, sodass wir alle beinahepermanent unter den verschiedenen Titeln hätten tagen können, da vieleMitglieder dieselben waren. Dies zwang einen zu gemässigtenUmgangsformen, manchmal sogar zu taktischen Kompromissen, weil man

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jeden überall wieder antraf.Eine grosse Rolle spielte der damalige Rechtsaussen der Politik, der

freisinnige Nationalrat Otto Fischer vom Gewerbeverband. Er gewannpraktisch jedes Referendum und sparte nicht damit. Solche Sieger konnten inden Kommissionen ihr ganzes Gewicht einbringen, und wenn sie imschwerfälligen eidgenössischen Sitzungsdeutsch sagten, «meyne Herren, dakchönnen unsere Kreyse nicht mitmachen», dann war das Referendumangedroht. Die Vertreter der Bundesämter hielten sich dann sofort zurück, dieanderen Mitglieder sagten wenig, und meistens ging dann das Vorhaben ersteinmal ans zuständige Amt zurück. Trotzdem waren diese Würdenträger desvorparlamentarischen Verfahrens nicht mächtig, sie mussten sich immer inden eigenen Verbänden rückversichern. Es gab nichts Peinlicheres, als wennnachher der Verband eine andere Stellung einnahm. Heinz Allenspach, derlangjährige Direktor des Arbeitgeberverbandes, pflegte zu sagen, es sei«geliehene Macht». Innerhalb des SGB liess ich mir deshalb die grossen Linienin den Montagsbesprechungen des Sekretariats unter uns fünf Sekretärenbestätigen, dann im monatlichen Vorstand, gelegentlich auch inDelegiertenversammlungen, und die Kongresse setzten auch Aufträge an dieSekretäre fest. Insgesamt aber interessierten meine Dossiers die Kolleginnenund Kollegen der Verbände wenig. Ich bezeichne sie als«Liberalisierungsdossiers».

Die Wirtschaftsvertreter werden zu Transparenz undWettbewerb verknurrt

Seit Ende der 1970er-Jahre trat im Aktienrecht die damalige Linke fürOffenheit, gleichwertige Aktienstimmen und gegen die stillen Reserven ein.Das «geschäftsführende Direktionsmitglied des Vororts» dagegen sagte zu mir:«Herr Kappeler, ohne stille Reserven kann die Schweizer Wirtschaft nicht

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leben.» Die Konzerne Englands und der USA und zunehmend auch überall inEuropa konnten es. Auch die EU zwang mit ihren Richtlinienentwürfen desGesellschaftsrechts zur Transparenz. Allerdings setzten sich schliesslich nichtdie EU-Vorhaben durch, sondern die Regeln der privaten internationalen,dann der nationalen fachlichen Buchführungsgremien. Der Anstoss in derSchweiz kam während einer Sitzung der Spitzenverbände Anfang der 1990er-Jahre, als wir die Anpassungen im künftigen EWR besprachen. Ein jungerFachmann des Aussenwirtschaftsamtes kam herein und sagte, soeben sei einFax der EG gekommen. Sie halte diese Transparenz («true and fair view») fürunerlässlich und beharre im EWR darauf. «Ce nfest pas possible», entfuhr esdem Vertreter des Vororts, aber die stillen Reserven der Schweizer Firmenwaren per Fax abgeschafft. Der EWR seinerseits, für den ich fast 200Darlegungen und Vorträge gehalten hatte, wurde aber vom Volk 1992 knappabgelehnt.

Später wurde die Aktienrechtsrevision durch Bestimmungen zurGeldwäscherei und zu Insidertransaktionen ergänzt. Die Insidertransaktionenwaren an der schweizerischen Börse eine regelrechte Seuche. Sogar auf demLondoner Finanzplatz ärgerte man sich darüber. Manche in der Schweizfanden zwar, dies sei nur ein Verbrechen ohne Opfer, weil zwar die Insidermehr wussten als andere, diese anderen aber die Aktien aus völlig freiemWillen kauften oder verkauften. Jedenfalls fasste dann das Parlament dasVergehen ins Recht, aber danach lag und liegt das Problem bei derStrafverfolgung. Sie ist in der Schweiz extrem langsam und bleibt meist ohneFolgen. In der Kartellkommission hätte ich als Mitglied oftInsidertransaktionen machen können, bevor eine Massnahme bekannt wurde.Besonders einmal, als eine Sekretärin aus der Generaldirektion derNationalbank anrief und fragte, ob der SGB-Präsident im Büro sei, der alsMitglied des Bankratausschusses verlangt werde. Als ich dies verneinte, sagtesie: «Schade, wir erhöhen nämlich heute Nachmittag den Diskontsatz.» SolcheErlebnisse brachten mich später als Journalist dazu, die Frage nach derNutzung von Insiderwissen durch Politiker aufzuwerfen. Die Politiker machten

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strenge Regeln für andere, für sie selbst gab es aber keine solchen. Aber wieimmer mit ketzerischen Ideen: Niemand griff die Sache auf, auch andereMedien nicht. Nur Banker schummeln, Politiker keinesfalls.

Putsch im Aktienrecht – Boni werden salonfähigKurz nach meiner Wahl ins Sekretariat des SGB wurde ich 1979automatisch als Vertreter eines Spitzenverbandes in dieExpertenkommission Greyerz zur Revision des Aktienrechts berufen. Ichsuchte vor Beginn schon um eine Besprechung mit Kurt Furgler, demzuständigen Bundesrat im Justizdepartement, nach, und er empfing michüberschwänglich. Ich trug v. a. mein zentrales Anliegen vor, dass diestillen Reserven in einem modernen Aktien- und Börsenrecht keineBerechtigung mehr hätten. Er war ganz enthusiastisch, setzte sich nebenmich auf das weisslederne Sofa in seinem Arbeitszimmer, klopfte mir aufdie Schulter und sagte: «Natürlich, sagen wir, Kappeler und Furglerhaben eine AG, da muss doch der eine wie der andere wissen, wie esgenau steht», und viel Ähnliches. Ich wankte benommen aus derBesprechung, so leicht schien mir der wichtige Sieg gefallen zu sein. Ichkam dann, wie manche andere nach solchen Kontakten in jenemZimmer, wieder auf die Welt, als in der entscheidendenKommissionssitzung die zwei Vertreter des Bundesamtes für Justizentgegen jeder Usanz als stimmberechtigt galten, prompt für die stillenReserven stimmten und diese Reform abblockten.

In jener Revision wurden übrigens die unübertragbaren Aufgaben desVerwaltungsrates definiert, welche ihm auch die Zuteilung der Boni fürsich und die Geschäftsleitungen zuschanzte. Das Parlament setzte nocheins drauf und legte diese Aufgaben als unentziehbar fest. Es war einPutsch nach oben, zulasten der Generalversammlung. Dies ist heutewegen der nach oben offenen Richterskala der Boni umstritten. Damalswollten wir die vielen nur nominellen Verwaltungsräte disziplinieren, diebis zu 40 oder 60 Mandate sammelten und welche dann bei Krisen nicht

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verantwortlich gemacht werden konnten, weil die Generalversammlung,also irgendein Geldverschieber, entschieden hatte. Die heute verwünschteBoniselbstbedienung ist eine politisch entschiedene Sache, die nun wiederzugunsten der GV korrigiert wird: «unintended consequences» politischerVerriegelungen.

Ein grosser Trost in den Sitzungen war immerhin das Mitglied RolfBloch von Seiten des Vororts – trotz seiner mir widersprechendenHaltungen, weil er als Inhaber der gleichnamigen Schokoladefabrik jedesMal sackweise Schokolade mitbrachte.

Intellektuellen Trost brachte Professor Peter Böckli ein, der alleAktienrechte des Universums auswendig kannte und deren Grundsätzeins lakonische Latein des römischen Rechts kleidete.

Zur Behandlung der Aktienrechtsrevision Anfang der 1980er-Jahre imParlament exerzierte ich die liberalisierenden Postulate mit den SPS-Vertreternder Kommission und des Rates durch. Ich hatte dazu eine ausführlicheUnterlage mit formulierten Anträgen verfasst, die sie einbringen sollten. Diewichtigsten Köpfe waren dabei Lilian Uchtenhagen, Walter Renschler,Andreas Gerwig und Präsident Helmut Hubacher, auch als «Viererbande»bekannt. Nur ihr Kollege Otto Stich, damals noch Nationalrat, sass abseits aufeiner Holzbank des Kommissionszimmers im Bundeshaus und murmelte einums andere Mal: «unnötig», «falsch», «dummes Zeug». Die anderen vier alsprononciert links oder aufmüpfig schweizweit bekannten SPS-Politikerkämpften mit mir für ein liberales, angelsächsisches Aktienrecht gegen die imnegativen Sinne konservative Wirtschaftsseite. Im Kartellrecht und seinenRevisionen ergab sich die gleiche Konstellation. Übrigens teilte zu jener ZeitFritz Leutwiler, der Präsident der Nationalbank, der Bilanz in einem Interviewmit, er wäre froh, wenn die FDP so liberal wie Kappeler wäre.

Otto Stich wurde später zum Bundesrat gewählt, weil die massgeblichenRäte um keinen Preis Lilian Uchtenhagen wählen wollten. Sie sagten zwarzuerst Fritz Reimann, dem Präsidenten des SGB, die Wahl fest zu, doch er

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lehnte ab, weil er sich nicht gewachsen fühlte. Als ehemaliger Metallarbeiterwäre er dem ehemaligen Sanitärinstallateur Willy Ritschard nachgefolgt. Ichfinde heute noch, dass einer der wenigen Ausnahmen unter den anderen 245Ehrgeizlingen des Parlaments ein Denkmal für diese Bescheidenheit gebührt.Gewählt wurde Otto Stich dann durch umtriebige Vorbereitungen desNationalrates Felix Auer, der am Vorabend zu Stich sagte: «Otti, zieh dasTelefon aus, und morgen bist du Bundesrat.» Denn so konnten ihn die SPS-Chefs nicht zum Verzicht bearbeiten.

Linke für Wettbewerb, Rechte für Kartelle

In der Arbeit der Kartellkommission gingen wir unter Präsident Pierre Terciernach 1989 zu einem immer kühneren «trust busting» über. Eigentlich mussteman gemäss der damaligen Saldomethode die Vor- und Nachteile einesKartells abwägen und kam bislang meist zur Billigung solcherMarktverfälschungen. Doch wenn man die Existenz eines Kartells schon malals einen schwer negativen Punkt einsetzte, und noch einen Marktstrukturtest,einen Marktverhaltenstest, einen Marktergebnistest u. Ä. beimischte, dann sahman einen überwiegenden Schaden. Wir lösten – mit meiner Stimme alsBeitrag zu den oft sehr knappen Mehrheiten – die Kartelle im Sanitärbereich,in der Müllerei, in den Optikergeschäften, im Zement, im Kies und v. a. die 16Kartelle der Banken auf.

Die Hearings zu solchen Fällen waren immer aufschlussreich. Manchmalauch dramatisch, wie die anberaumte Anhörung des Besitzers einesBetonmischwerks aus Lausanne. Er hatte angekündigt, über das Vordringender Zementhersteller in diese nachfolgende Produktionsstufe auszupacken.Zehn Minuten vor Beginn rief er aber im Kommissionszimmer an,angstgepeinigt, man hörte die Stimme im ganzen Raum, weil eine derZementfirmen direkt vor seinem Geschäft einen der grossen mobilen

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Mischtürme, die Zahnpastatuben gleichen, aufrichtete: «Je ne parle pas.»In der Bankenuntersuchung antwortete Robert Holzach, der Präsident der

Bankgesellschaft UBS, geschäftstüchtig wie alle Ostschweizer, auf die Frage,ob denn die Bankkartelle nicht übergrosse Gewinne sicherten: «Man ist dochfroh, wennfs am Schluss es bitzeli herbschtet.»

Zur Untersuchung des Kartells der Autobestandteilebranche lieferten zweibefragte Firmen genau entgegengesetzte Antworten – vor und nach ihrenDirektorenwechseln.

Als ich am Hearing der Kommission zum Zementkartell fragte, warum dieAutobahnen am Anfang teils in Beton, teils in Teer gebaut wurden, antwortetemir ein Zementpatron: «Wir haben mit den Leuten vom Teer fifty-fiftyabgemacht.»

Das Sanitärkartell baute auf den Konzessionen auf, welche für dieArbeiten an Wasserleitungen nötig waren. Die Sanitäre erhielten dieKonzession, und damit sie richtig ausgebildet und zertifiziert wurden,waren sie Mitglieder des Sanitär- und Installateurverbandes. Dieser setztedie Tarife für deren Arbeiten fest und schloss mit den Lieferanten derBadezimmerarmaturen einen Exklusivbezugs- undExklusivlieferungsvertrag ab. Kein Aussenseiter konnte so einBadezimmer einrichten oder reparieren; er bekam weder Material nochBadewannen. Wasserdichte Sanitäre.

Das Zementkartell hatte eine Zentrale, die EG Portland, welche denZementwerken ihr jährliches Produktionskontingent zuwies und dieAbrechnungen gemäss festgesetztem Preis machte. Der einzelneBaumeister musste also den Zement dort beziehen, wohin man ihn wies,und er erhielt die Rechnung von der Zentrale. Das Kartell begrenzte auchdie Werbung der einzelnen Werke sowie das Sortiment, damit nicht zuviele Varianten produziert wurden. Der weisse Zement für die Putten undMichelangelo-Davide in den Gärten musste importiert werden. AuchSanktionen für Zuwiderhandelnde und die Lieferung per Bahn waren, wo

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immer möglich, vorgesehen. Diesen letzten Punkt hoben dieKartellmitglieder als einen wichtigen, positiven Punkt des Kartells hervor.

Die Optiker vereinigten sich in einem Kartell, und nur dessenMitglieder bekamen Gläser vom Fabrikantenkartell. Vom Gläserpreislieferten sie 3 Prozent an die Optikerschule ab, und diese rationierte diejährlichen Abschlüsse, damit nicht zu viele neue Wettbewerberentstanden. Die Tarife für Brillen, Beratung usw. waren klar geregelt.Wer sich nicht daran hielt, wurde ausgeschlossen und verlor das Recht,Gläser zu beziehen.

Andere Kartelle verhängten sogar saftige Bussen gegen widerstrebendeMitglieder.

Die Bankenkartelle regelten für fast alle Geschäfte einheitlicheGebühren sowie die Höhe der Hypothekarzinsen. Sie bildeten dieGremien, welche Obligationenanleihen auflegten. Die Hypothekarzinsengingen damals am gleichen Tag bei allen Banken, inklusive der kleinenLandbanken, um den gleichen Prozentsatz hinauf oder hinunter. DieEmissionskartelle waren die obligatorischen Anlaufstellen für alle, dieKapital zu erhalten suchten. Sogar die Eidgenossenschaft und dieKantone mussten dafür bei einem Spezialkartell der Banken anklopfenund hatten keine andere Wahl. In diesen Kartellen waren wiederum dieAnteile der einzelnen Bankengruppen festgelegt, die sie davon verkaufendurften.

Auch hier war das Schema links/rechts unangebracht. Ich trat nach fastjeder Hypothekarzinsrunde gegen Robert Studer, den damaligen SBG-Generaldirektor, als Kritiker am Fernsehen auf. Ich liberal gegen dasKartell, er als Verteidiger. Heute hingegen sagen mir viele gute Kollegenund Freunde: «Du warst doch früher gegen die Banken.» – «Aber nein»,sage ich, «ich war gegen deren Kartelle.»

Die Schweizerische Bankiervereinigung kämpfte ebenfalls gegen dieseliberale Position. Noch 1989 verteidigte sie in einer 100-seitigen Broschüreihre 16 Kartelle. Das war immerhin volle drei Jahre nach dem Big Bang

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des Finanzplatzes London, der Derartiges abgeschafft hatte. Als täglicherLeser der Financial Times seit etwa 1968 kannte ich diese Entwicklungenim Detail, die Schweizer Unternehmer und Bankiers offenbar weniger,oder sie glaubten, ihnen entwischen zu können.

In der Kartellkommission hatte nicht nur der Gewerkschaftsbund sozusagenals Vertreter des arbeitenden Volkes einen festen Sitz, sondern je einen auchder Vorort, der Gewerbeverband, der Bauernverband, Coop und Migros sowiedie Konsumenten – nicht aber die Banken. Die Bankiervereinigung war unterden Spitzenverbänden lange nicht voll zugelassen. Immer war auch dieWissenschaft mit einigen Rechts- und Wirtschaftsprofessoren dabei. EinEntscheid der Kommission konnte durch den Bundesrat kassiert werden,während heute Rekurswege ans Bundesverwaltungsgericht und allenfallsBundesgericht offenstehen. Man mag dies aus formalrechtlichen Gründenbilligen, doch der frühere Weg war richtig, nämlich eine Markt(un)ordnungdurch die auch allgemein verantwortlichen Wirtschaftsbehörden mitAugenmass und nicht durch Juristen prüfen zu lassen.

Abschaffung des Marktes durch seine Anhänger

Nicht nur die Banken, auch die weiteren Kreise der Wirtschaft fanden inKartellen nichts Schlechtes. Im Gegenteil: Das sonst so fähige AnwaltsbüroHomburger in Zürich vertrat damals ziemlich aggressiv die Meinung, dieWettbewerbsordnung sei ein Gut der Marktteilnehmer, und wenn sie dieseabschafften, sei das ihre Sache. Das Büro Homburger nervte mich als Mitgliedder Kartellkommission auch, weil es im Auftrag von Kartellen riesige Replikengegen die Untersuchungen verfasste und diese meist am Freitagabend perExpress aufgab, sodass man von der fleissigen Post am Samstagmorgen um 7Uhr aus dem Bett geklingelt wurde. Das wäre ein Rezept, um seinen grössten

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Feind zu ärgern.Die Argumente zugunsten von Kartellen, die gemäss alter Lehre positiv zu

werten waren, gehörten einer eigentlich wundervollen Wirtschaftswelt an: DieFirmen konnten über den Tag hinaus planen und investieren. DieArbeitsplätze waren sicher, die Konsumenten fanden vertraute Produkte vorund mussten nicht überall nach tieferen Preisen suchen. Störende Importewurden ausgebremst, wie 1969, als das Bundesgericht dem Discounter Dennerverbot, den kartellierten Bierpreis mit Importbier zu unterlaufen. Auchkonnten die Behörden bequemerweise viele Aufgaben an diese Verbändedelegieren: Ausbildung, fachliche Sicherheit und das Einhalten vonVerordnungen.

Aber diese Welt ohne Anstrengungen war eine stagnierende Welt. Geradebeim Bier, wo sogar die einzelnen Wirtschaften den Brauereien zugeteiltwaren, kamen die Importe dann doch durch. Eine Brauerei nach der anderenging ein, wurde vom Ausland aufgekauft und verwaltete die riesigen Reservenaus früheren Zeiten nur noch als Immobiliengesellschaft. Das Brauereiwesenist die einzige Branche im Lande, die nicht exportiert. So satt war mangeworden! Beim Optikerkartell begannen Aussenseiter Gläser und Fassungenim Ausland zu beziehen oder selbst herzustellen, bauten ganze Ladenkettenauf, und sie bewältigten durch Rationalisierung gegen acht Brillenverkäufe proAngestellten im Tag gegen nur zwei bis drei Brillen in kartelliertenEinzelgeschäften. Die Technik, die Importe und die Rationalisierung frassendie meisten Kartelle schliesslich auf, erschütterten die Firmen und Strukturen,brachten plötzliche Massenentlassungen und verstörten die Kunden. DieStabilität war eine Illusion.

Der mächtige Otto Fischer vom Gewerbeverband, der nie ein Referendumverlor, war bei der Kartellgesetzrevision Ende der 1970er-Jahre folgenderMeinung: Die Wettbewerbspolitik durch eine Behörde ist einer der üblichenverdammenswerten Staatseingriffe. Dabei korrigiert dieser hier nur ein echtesMarktversagen, weil der systemisch gewünschte Antrieb der Marktteilnehmerselbst, das Eigeninteresse, den Markt abschaffen lässt. Diese konservativen

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Kreise drohten mir: Wenn ich es mit der Forderung nach Wettbewerbspolitikübertreibe, würden sie die Gewerkschaften ebenfalls unterstellen, denn dieVerträge mit den Arbeitgebern würden auch den freien Lohnmarkt abschaffen.Hier tritt ein anderes Marktversagen auf, nämlich die umgekehrte Reaktionauf Arbeitsmärkten: Wenn viel Arbeitskraft angeboten wird, sinkt ihr Preis,der Lohn, und sie müssen länger arbeiten, bieten also noch mehr Arbeitskraftan – ein Kreislauf ins Elend. Also braucht es die Selbstorganisation derArbeitenden. Deshalb unterstellt kein Land seine Arbeitsbeziehungen demKartellgesetz.

Einen zaghaften Entscheid traf die Kartellkommission zumFrühstückskartell der Autoimporteure 1981. Nach einem sehr autokritischenArtikel im Magazin des Tages-Anzeigers sperrten sie von einem Tag auf denanderen die Inserate in dieser Zeitung. Die Untersuchung derKartellkommission schloss im Faktenteil auf ein klar abgestimmtes Verhalten,doch Professor Schluep, der Präsident der Kommission, bekam es an derentscheidenden Sitzung mit der Angst zu tun. Er plädierte für Freispruch, undda die Kommission bei kartellkritischen Entscheiden immer nur einehauchdünne Mehrheit hatte – zu der ich gehörte, zu der ich beitrug –, kipptedie Sache. Die Fakten wurden aber nicht umgeschrieben. Man kann deshalbheute noch im Bericht nachlesen, dass ein schlimmes Autokartell gewirkt habeund dass es deshalb freigesprochen wurde.

Neben den Kartellen und der Arbeitswelt gibt es nur noch zwei weitereMarktversagen, nämlich die öffentlichen Güter wie die Sicherheit, von welcherniemand ausgeschlossen werden kann und alle deshalb auch an den Staatbeitragen sollen, sowie die Umweltgüter, die keinen Preis haben und daherexterne Kosten verursachen. Das ist’s!

Unterschiedliche Einkommen aus Marktbeziehungen hingegen sind keinMarktversagen, sondern erwünscht, um den Marktakteuren zu zeigen, wasrentiert und was nicht.

Die Kartelle im Kleinen hatte ich schon zu Hause kennengelernt. Wennmein Vater abends gut gekleidet nochmals ausging, sagte er: «Ich muss noch

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rechnen gehen.» Da trafen sich die Unternehmer des Orts, um für einenausgeschriebenen öffentlichen Grossauftrag den wirklichen Betragauszurechnen. Dann wurde bestimmt, wer an der Reihe war, und dieser gabden berechneten Betrag auf seiner Offerte ein. Die anderen gaben um 10 bis 15Prozent höher ein, sodass auch der Chef des Bauamtes wusste, wer an derReihe war. Hin und wieder hielt sich einer nicht an den Preisaufschlag, erhieltden Auftrag, und die Wut war gross.

Die Aufschläge auf dem Holz, das man einkaufte, waren 10 Prozent zulastender Kunden plus die Arbeit usw. Alle Jahre seines Geschäftslebens beklagtesich mein Vater, dass die metallverarbeitenden Betriebe 15 Prozent (meineErinnerung) als Marge verrechneten und fand dies ungerecht. Aber offenbarhielten sich alle beim Holz wie beim Eisen daran – es waren festgefügteMargen der Verbandswelt und ihrer Kalkulationstabellen, ein Cost-plus-Denken, das Sicherheit bot. Beim Fensterglas wurden auch diese 10 ProzentMarge verrechnet, und da kamen noch 8 Prozent Bruchrisiko undVerschnittkosten dazu.

Bei den Gewerkschaften stiessen die liberalen Öffnungen des Kartell- undAuftragsrechts nur zwei Mal an. Die Vertreterin des Verkaufspersonals wolltewissen, ob ich mich in der Kartellkommission für längere Ladenöffnungszeiteneinsetze, was sie missbilligte, und Zürcher Baugewerkschafter stiessen sichdaran, dass ich bei den Sarglieferungen für die Zulassung aargauischer undanderer Lieferanten nach Zürich stimmte. Mein Gegenargument an derSitzung, zu der sie mich zitierten, war einfach: Die AargauerSchreinergewerkschafter waren genauso unsere Mitglieder (und Teilnehmeram schweizerischen wettbewerblichen Binnenmarkt) wie die Zürcher.

Der Vertreterin des Verkaufspersonals kam ich entgegen, indem ich mich inder Kommissionssitzung gegen die Liberalisierung wandte, dies aber imausdrücklichen Auftrag. Ich ging ihr selbst gegenüber nicht so weit wie derMigrosboss Pierre Arnold, der sie in einer Lohnverhandlung am Kleiderreversergriff, aufhob und schüttelte, wie sie mir erzählte. Die Erbitterung derMigrosverantwortlichen kann man teilweise nachfühlen, weil die SP-nahen

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Gewerkschaften damals und heute noch oft Migros öffentlich blossstellen,kaum aber je Coop. Damals übrigens waren viele Coopvorstände, manchmalauch die Direktoren, SP-Mitglieder oder ehemalige Gewerkschaftsführer, wasdie Bisshemmung der lokalen Sekretäre erklärte.

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Kapitel 4

Sekretariate und die «objektiven»Interessen der Arbeiter

Nachdem mich der Vorstand des SGB gewählt hatte, gab mir Fritz Leuthy, einerfahrener älterer Kollege, zwei Sätze mit auf den Weg. «Was man nichtmacht, kann kaum falsch sein», war der eine. Er wusste wohl selbst, dassUnterlassungen auch ein Fehler sein können, doch im Verbandsleben kannsich die Exekutive immer auf gefasste Beschlüsse berufen, und ohne Auftragwar einem auch nichts vorzuwerfen. Leuthy hatte vielleicht auch meineJugend und die Ungeduld im Auge, die zu fahrigen Vorstössen führen kann.Sodann fasste er die gegenwärtige Verbandsherrschaft und die «oligarchischeVerharschung» aus Sicht des frühen Verbandssoziologen Robert Michels indem schönen Satz zusammen, dass die Menschheit zuerst unter demMatriarchat gelebt habe, dann unter dem Patriarchat und heute unter demSekretariat lebe.

Als Ökonom des Verbandes hatte ich keine Linienfunktionen und bewarbmich nie darum. Ich lebte die 15 Jahre sogar mit dem leisen Schrecken, einmaleinen der grossen Kongresse organisieren zu müssen. Da musste manmonatelang Hotelzimmer gemäss den kleinen Eitelkeiten und Rangordnungenbestellen, Essen auslesen, ausländische Delegationen einladen oder aussieben,Geschenke vorsehen, Reden des Präsidenten schreiben, Medien bedienen,sodann das Drehbuch der Anträge und statutarischen Geschäfte für denTagespräsidenten machen. Doch ich konnte mich stattdessen auf dieSachgeschäfte konzentrieren, wofür ich den Kollegen immer noch dankbar bin.

Da meine Sekretariatskollegen viele der administrativen Aufgaben imPflichtenheft hatten, entkam ich während dieser Jahre und natürlich in

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meinem freierwerbenden, vorherigen und nachmaligen Berufsleben den sonstalle Bürofluchten beschäftigenden Fragen um Kaffeemaschinen,Sitzungszimmergestaltung, Parkplatzverteilung, Ferienpläne, IT-Ausstattung,Personaleinstellungen, Pensionskasse, Einladungen, Personalfeiern usw. Wieich höre, ist solches für die meisten Diensteleister klassischer Arbeitsformendas tägliche Brot – und dürfte die Produktivität des Landes halbieren. Auchverzichtete ich alle 15 Jahre auf jede Neuanschaffung für mein Büro, aussereinem neuen Bürostuhl. Dafür hing in einem der Fenster eine farbigeGlasscheibe des deutschen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der denSchweizern für ihre Nothilfe in den 1920er-Jahren dankte.

Neben den Geschäften aus der Verbandsroutine und dem eidgenössischenSitzungsreigen konnte man eigene Initiativen entwickeln und zeigen, welchenunternehmerischen Aspekt man von aussen unterschätzt. Für meinen Teilstürzte ich mich in die Kurse, in die Unterlagen zu Grundsatzfragen für denVorstand, die Verbandszeitungen und die Mitglieder.

Frühere Sekretäre erschienen, so erzählten es die Angestellten, um 6.30 Uhroder früher, erledigten bis 9 Uhr alle Post und die anstehenden Geschäfte undverschwanden für den Rest des Tages in Sitzungen, Gesprächen oder nochangenehmeren Sachen. Es war für mich das erste und letzte Mal meinesBerufslebens, dass ich in einem Büro mit anderen Leuten arbeitete, und ichnahm wahr, wie sehr die Angestellten alles wahrnahmen; «wahr» ist dasrichtige Wort.

Dass nun einfach immer am 21. des Monats Geld einging, war für michganz neu. Weil ich ohne dies aufgewachsen war, und vor und nach dieserAnstellung viel länger Freiberufler mit eigenem, schwankendem Einkommenwar und bin, bleibt es eine seltsame Sache. Ich halte die unselbstständigeArbeit zwar für Arbeit, aber nur für die zweitbeste menschliche Lage.

Wieder andere Funktionäre reisten gerne. Im Vorstand wurden am Schlussder Sitzungen immer die Delegationen, also Reisen, zu den Kongressenanderer Gewerkschaften des In- und Auslandes vergeben. DasVorstandsmitglied eines kleinen Verbandes ergriff jahrelang nur zu diesem

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Traktandum das Wort und sagte: «Moi, je veux bien y aller.» Auch dieserWanderseele war ich dankbar, so musste ich nicht reisen und konnte arbeiten.

Die Kollegen aus dem realen Sozialismus

Grosse Reisende waren die Spitzen der Ostblockgewerkschaften. Sie schriebenimmer wieder und regten ganz direkt einen Meinungsaustausch hier imWesten an. Wir rationierten diese Delegationen auf eine pro Jahr, denn es wareine aufwendige Sache mit fast diplomatischen Facetten. Den ostdeutschenGewerkschaften unter Präsident Harry Tisch, einem begeisterten Jäger undPaladin des Regimes, schrieben wir 1988, man sei befremdet über dieMassnahmen der DDR gegenüber Kirchen, Ökologen und Künstlern, undsagten eine Begegnung ab.

Die Spitze der ungarischen Gewerkschaft meldete ihre Ankunft Anfang der1980er-Jahre zu bestimmter Zeit im Berner Hauptbahnhof an, doch unsereVertreter suchten sie lange vor den angekommenen Erstklasswagen.Schliesslich entdeckten sie einen Salonwagen der ungarischen Staatsbahnen,betreut von Kondukteur, Koch und Zimmerfrau, aus welchem die Delegationstieg. Der Präsident war eben auch Vizestaatschef Ungarns, wurde erklärt.Eine ähnliche Stellung hatte Anton Benya, der Präsident des österreichischenGewerkschaftsbundes, der von einer Wache der Hofburg in Wien mit«Exzellenz» angesprochen wurde, wie ich zufällig hörte. Er war eben auchPräsident des Parlaments. Als in Österreich der Streit um die Erhaltung derwilden Donauauen tobte, meinte er: «Aber dös is ja bloss a Urwold.»

Die Ostblockdelegationen waren leider nicht so farbig wie der Österreicher,sondern langweilig. Es sprach meist nur der Wortführer, die anderenschwiegen, und auch der Wortführer verbreitete nur Propaganda. Das warauch ratsam, weil die Politkommissäre mitreisten. In der sowjetisch-russischenDelegation z. B. war eine strenge Dame mit Chignon, die nie sprach, aber

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äusserst intensiv die Worte der Genossen verfolgte. Die Funktionäre jenerLänder machten einen gedrückten, stereotypen Ausdruck und Eindruck. Ihrerschreckender Konformismus illustrierte eindrücklich das Opfer anPersönlichkeit, welches zur Bedingung des Aufstiegs in solche Funktionenverlangt wurde. Es waren Leute mit angezogener Handbremse, stillgelegtenGehirnen und abgedunkelten Gesichtern.

Diese Delegationen brachten auch viele der damals schlecht gedruckten undnach schlechter Farbe riechenden Broschüren mit, um auf die Erfolge derkommunistischen Gesellschaftsordnung hinzuweisen. Schliesslichverabreichten sie auch eiserne Ansteckabzeichen, Manschettenknöpfe, kleineAmbosse oder ähnlich sinnige Erinnerungen an die glücklicheIndustriearbeiterschaft.

Auch die hiesigen Ostbotschaften meldeten sich dann und wann. Sehr aktivwar der Wirtschaftsattaché der DDR in Bern. Er war – im Gegensatz zu vielenanderen – offener für Gespräche und nahm auch Dinge zur Kenntnis. Ertelefonierte öfters, um ein Treffen abzumachen, und diese Telefonate wurdenMal für Mal auf der Fiche des SGB bei der schweizerischen Geheimpolizeiregistriert.

Nicht nur einen Ficheneintrag, sondern einen Skandal ersparte ich demPräsidenten Walter Renschler und einer Person aus dem Sekretariat, die imSeptember 1989 zum 40. Jahrestag der DDR reisen wollten. Damals donnertenschon die Montagsdemonstrationen gegen das wurmstichige Regime, aber diezwei eher linken Leute wollten unbedingt dorthin. Ein schwächlichesArgument war, man könne vielleicht auf die DDR-Führung einwirken. Ichsagte: «Das Einzige, was sicher ist, wird euer Bild in den Zeitungen hier sein,wie ihr den DDR-Generalsekretär Erich Honecker umarmt.» Da liessen sie esdann doch bleiben. Zwei Monate später fiel die Mauer in Berlin.

Die östlichen Delegationen in Bern musste man in guten Hotelseinquartieren und ihnen auch ein Handgeld geben, weil sie ohne Devisenankamen. Während ganzer Tage führte man sie dann auch an touristischeOrte. Vielleicht kamen sie sich wie in dem schönen Witz vor, wo eine

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sowjetische Delegation vom Westen schwärmt, vom kommissarischenEinpeitscher aber belehrt wird, dass der Kapitalismus am Absterben sei, unddie dann findet: «Särr schöner Tod.»

Nun, 1989 kehrte dann das Ende im Osten ein. Ich schrieb in allensozialdemokratischen Tageszeitungen einen grossen Artikel über zwei ganzeSeiten mit dem Tenor: «Das freie westliche System hat gewonnen, und dieArbeitnehmerverbände sind ein unverzichtbarer Teil davon.» Es gab daraufnur zwei Echos: Ein Altkommunist bemängelte, dass ich zur Illustration eineKarikatur eingefügt hatte, die Marx, Lenin, Stalin, Mao, Castro und Breschnewim Wartsaal des Konkursamtes lächerlich machte. Der spätere Chef der Unia-Gewerkschaft schrieb einen kläglichen Leserbrief, in dem er meinte, dass dieGewerkschaften hierzulande gar nichts erreicht hätten.

Gewerkschaften gehören zum Marktsystem

Aber es war mir Ernst. Ich sah die Verbände, die Arbeitnehmerverbände inUnabhängigkeit als eine der «countervailing powers», welche das westlicheSystem offen und dynamisch erhalten. Deshalb war ich intern auch skeptisch,ob wirklich jeder Funktionär gleich auf einer Liste der sozialdemokratischenPartei für alle möglichen Ämter kandidieren solle. Ungarische oderösterreichische Verhältnisse gaben den Gewerkschaftsleitern zwar einengewissen Einfluss, banden sie aber auch über Gebühr ein. Ich jedenfalls lehntevon 1975 bis 1991 bei jeder anstehenden Nationalratswahl eine Kandidatur ab.Angefragt wurde ich jedes Mal. Ausserdem hätte ich so im schweizerischenPolitsystem alle Geschäfte zuerst in den Phasen der Expertenkommission,dann der Vernehmlassung unter den Spitzenverbänden und dann derparlamentarischen Behandlung begleitet, was eine hohe Machtballung bringt.Konformismus, Eingebundenheit und Verhandlungsschulden derteilnehmenden Personen sind die Folge. Ausserdem wirkt der für jedes

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einzelne Geschäft jahrelange, typisch schweizerische Politprozess alsZeitvernichtungsmaschine. Deshalb lesen die Beteiligten kaum, kennen dasAusland nicht, können nicht geläufig Englisch und stolpern hilflos herum.Dazu trinken sie selig an den vielen Essen mittags und abends mit, undmanche sind faktische, aber anonyme Alkoholiker.

Was wohl jeder in Firmen- oder Universitätshierarchien lernt, bringen auchVerbandsmechaniken dem jungen Einsteiger bei – Sachen auszusitzen, nichtgleich immer schon die letzten Absichten in einer Sitzung breit auszulegen,jemanden, der mit Vorschlägen stört, mit einer Sonderkommission zubeschweren, oder statutarische Hürden als Einwand gegen dies und jenesvorzubringen (für Letzteres war ich allerdings im Nachteil, weil ich in allen 15Jahren die SGB-Statuten nie gelesen hatte). Wenn man keinen Erfolg hat, istimmer der gegnerische Verband, die Politik oder Verrat in den eigenen Reihenals Schuldiger zu nennen. Kurz, man lernt bürokratische Herrschaft von innenkennen. Hin und wieder jedoch muss man sich einen Ruck geben und auchmal ehrlich sein. Und wenn nicht, macht es in offenen Gesellschaften auchnichts, dann sind die Gegenverbände am Drücker oder die Medien, welche dieVerhältnisse korrigieren, oder die Mitglieder laufen weg. Positionen undHaltungen müssen bestreitbar sein.

Meine stete Ermunterung an Unzufriedene, doch selbst mal zur Feder zugreifen und zu schreiben, rührt aus der Sekretariatserfahrung her. Über seineVerbände hatte der SGB 440000 Mitglieder, aber wenn in einer Woche drei,vier Briefe eintrafen, die den gleichen Punkt aufwarfen («Seid Ihr eigentlichverrückt, dass Ihr …»), dann dachte man, dass es in der Mitgliedschaft brodle.Wer also einen Brief an ein Amt, an einen Massenverband, an Medien schreibt,der hat Stich, denn es tun dies nur wenige!

Wirtschaftspolitik mit Chips aus Silikon statt aus Kartoffeln

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In den 1950er-Jahren waren Pommes frites für die Deutschweiz einesensationelle Neuerung, und als erst die Pommes Chips aufkamen, wären wirKinder süchtig geworden, doch wurden sie dem sparsamen Geist der Zeitentsprechend als Delikatesse und Ausnahme genossen.

Doch die Chips – aus Silikon – machten den entscheidenderen Durchbruch.Sie stülpten die Arbeitswelt völlig um. Die meisten Gewerkschaftssekretärehatten aber grosse Mühe damit.

Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre trat die Elektronik insAlltags- und Büroleben ein. Sie zeigte sich nicht mehr nur als Computer, dieman vorher als grosse Kästen mit seltsamen Spulenrädern gesehen hatte unddie in einigen grossen Zentralen und Universitäten summten. Dieautomatischen Schreibmaschinen mit Bildschirm kamen auf, und in denFabriken ersetzten die elektronisch gesteuerten Fräsen, Bohrmaschinen undGreifapparate die Arbeiter. Seit dem Kriegsende hatte die Halbautomation dieProzesse ein wenig verändert, indem die einzelne Maschine hohe Taktzahlenhatte und viele Stücke ausspuckte. Doch diese Stücke weiterzureichen,einzupacken und anzuschreiben, war menschliche Arbeit. Facharbeiter stelltenauch die Abläufe und die Werkzeuge der Produktionsmaschinen ein, nichtProgramme. Desgleichen hatten sich die Schreib-, Archivierungs- undKontrollarbeiten der Firmen auf enormen Büroetagen ausgebreitet; sie hattensich nur vervielfacht, nicht aber rationalisiert. Nun machte es dieDigitalisierung möglich, diese Takte zu verknüpfen und voll zuautomatisieren.

Automatisierung und Globalisierung als Normalfall, Arbeiterkathedralen imZerfallSpannend, wie sich nach 1945 die Produktionstechniken undProduktionsstandorte veränderten: In den 1950er- und 1960er-Jahren wurdenviele Produktionstakte durch mechanisch-automatisch gesteuerte Maschinenbeschleunigt. Die Stücke wurden aber oft noch von Hand zugeführt,weitertransportiert, fertig verarbeitet und dann zu einem Endprodukt

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zusammengefügt. Mit der Informationstechnik wurden diese menschlichenZwischenstufen ebenfalls automatisiert. Die Fabrik als Ganzes wurde eineinziger Automat, von Wellblechhüllen umgeben, vorne Lastwagen mitRohmaterial, hinten Lastwagen mit Fertigprodukten, innen kaum noch Leute.Gleichzeitig öffneten internationale Abkommen wie das Allgemeine Zoll- undHandelsabkommen (GATT) die Weltmärkte, und es stiegen neueIndustrienationen in Asien auf.

Die alte Produktionswelt hatte in den gigantischen «Kathedralen derArbeit» kulminiert: Renault in Billancourt, Mirafiori in Turin, dieStahlgiganten in Fos-sur-Mer, Tarent sowie an Rhein und Ruhr. DieAutomontagestrassen in Detroit und Wolfsburg waren die Referenzpunkteder hohen Zeit der Industriegesellschaft. Für die Industriellen entschieden sichdort enorme Kapitaleinsätze, Wettbewerbspunkte zwischen Amerika und deneuropäischen Staaten, dann auch Japan. Für die Gewerkschaften und dieLinke waren dies die Symbole für Ausbeutung oder Siege für die «conditionouvrière». Doch so zahlreich die Arbeiter dort auch waren, sie waren einekleine Minderheit unter den Beschäftigten. Aber sie bestätigten dasoberflächliche Paradigma von links/rechts, reich/arm, mächtig/abhängig undTäter/Opfer.

Das neue Asien und die Zerfaserung der Grossfirmen in langeWertschöpfungsketten rund um den Globus, wobei die einzelnen Fabrikenfokussierter und kleiner wurden, fanden nicht sogleich eine Deutung, wederlinks noch rechts. Anfang der 1970er-Jahre fasste die öffentliche Diskussiondiese Erscheinungen unter dem Generalvorwurf an Multinationalezusammen. Es war eine Kritik der Grösse, der Marktbeherrschung, derAusdehnung auf den Süden, der Rohstoff- und Energiefirmen. Mancheverwarfen einmal mehr auch unter diesem Titel einfach den ganzenKapitalismus, und viele Suhrkamp-Bändchen halfen als Bibeln dabei ebensowie grosstönende UNO-Studien. Aber der Begriff «Multinationale» bot keinestrikte und fruchtbare Analyse. Und eigentlich wollten die Millionen neuerArbeiter der neuen Industrieländer nicht die Umwälzung des Systems und

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auch nicht die westlichen Firmen hinauswerfen, sondern sie wollten arbeiten.

Die Interpretation und die wirtschaftspolitischen Reaktionen darauf fielenallen Kreisen also schwer. Ging nun etwa die Arbeit ganz aus?

Die extremeren Linken brauten harsche Szenarien von Weltuntergang undVerschwörung zusammen, dem Kapitalismus wurde der Wunsch in die Schuhegeschoben, nun endlich zur Beseitigung des Lohnarbeiters vorzugehen. 1977kam ein einflussreiches Rororo-Bändchen von Folker Fröbel, Jürgen Heinrichsund Otto Kreye heraus, das die neue Weltwirtschaft in marxistischenBegriffen – in der Sache zwar nicht unrichtig – beschrieb. Die hochindustrielleProduktion wurde technisch überall machbar, die Massengüter wurden nichtmehr in Südeuropa, sondern in Südostasien hergestellt, die Marktöffnungsetzte die Arbeiterschaften und ihre Löhne weltweit direkt in Wettbewerb: EinWeltmarkt für Arbeitskraft entstand. Gemäss dieser Diktion fand dieAusbeutung nun weltweit statt. Die Krise nach 1973 zeigte, dass das Kapital zuviel war und nicht mehr eingesetzt werden konnte.

Dem Computer wurden riesige Freisetzungspotenziale zugeschrieben, undder Deutsche Gewerkschaftsbund hielt 3 Millionen Korrespondentenplätze und2 Millionen Schreibplätze für rationalisierungsbedroht. Und da die Chips selbstnun vollautomatisch hergestellt wurden, befürchtete man, dass der Computerseine eigenen Kinder fresse. Die zweite industrielle Revolution war da.

Abhilfe sahen in der Schweiz ähnlich eingestellte Besorgte wie Willy Bierterund Ernst von Weizsäcker in «arbeitsintensiveren Technologien, in derVerkürzung der Lebensarbeitszeit und in solidarischer Verminderung derEinkommen».

Die Kritiker sahen nicht, dass der Aufstieg von weiteren drei Vierteln derMenschheit zu produzierenden, aber auch konsumierenden und investierendenAkteuren begonnen hatte. Sie sahen nicht, dass die neuen Aggregate lange,arbeitschaffende Produktionsumwege verlangten, also Millionen vonInformatikern, Logistikern, Verkäufern, Werbern und Finanzierernbeschäftigten, dass dafür gebaut, danach konsumiert und gewohnt werden

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wollte. Sie sahen auch nicht, dass die Bedürfnisse der Menschen nicht einfachabgesagt werden konnten, sondern dass sie unendlich waren und dass siegerade dank Technik ökologisch vertretbar erfüllt werden können. Daraufwarten wir allerdings noch grösserenteils.

Die neuen «weichen» Produktionstechniken aus Japan mit Just-in-Time-Lieferungen, Outsourcing und Gruppenarbeiten ohne Akkord steigerten dieProduktivität in den 1980er-Jahren durch geschickte Organisation schliesslichnochmals, nicht nur durch die maschinelle Automatisierung derHerstellungsketten. Diese spannten sich nun aber wirklich um die Welt; dieInformationstechnik lieferte die Programme, die Präzision und die Vertaktungdazu.

Die Linke ist plötzlich gegen den technischen Fortschritt

Seither ist links die proletarische Elendspropaganda verlegen eingestellt undvoll auf Umverteilung im Sozialstaat geschaltet worden, aber dieWirtschaftselite ihrerseits hatte keine Ansicht, sie schwieg und verdiente, sieverlor die «intellektuelle Lufthoheit» in der neuen Weltwirtschaft. DieWirtschaftselite und die Bürgerlichen zahlten nun einfach in die immergefrässigeren Umverteilungstöpfe ein.

Europa amputiert seine ArbeitskraftDie verhängnisvolle Theorie vom Ende der Arbeit der Linken liess daher inganz Europa, ausser in der Schweiz, die individuelle Arbeitszeit massiv auf 35Stunden reduzieren, um die kollektive Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Einmikroökonomisch sinnvolles Handeln (wenig Arbeit in einer Garage, allearbeiten zeitweise etwas weniger) wurde makroökonomisch sinnlosangewendet. Nun sanken die Arbeits- wie die Gewinneinkommen derVolkswirtschaft, die Arbeitsstunde wurde teurer, die Steuereinnahmen fielen.

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Europa katapultierte seine Arbeit mit Gewalt nach Asien. Am Ende stieg dieArbeitslosigkeit Frankreichs, Italiens und Deutschlands aufs Doppelte, anstattzu fallen.

Im Gewerkschaftsbund hatte das öffentliche Personal eine Initiative zur 40-Stunden-Woche durchgebracht. Der Enthusiasmus auf dem SGB-Sekretariatüberbordete nicht. Zuhanden der Abstimmung 1988 einigte ich mich mit RuthDreifuss als Verantwortliche der Kampagne darauf, dass wir das dummeArgument, «knapp gewordene Arbeit umzuverteilen», nicht vorbrächten,sondern mit besserer Lebenswelt, Feierabend für Papi, mehr Zeit fürdoppelbelastete Mamis argumentierten.

Die segensreiche berufliche Flexibilität ist in der Schweiz noch heute aufdem Arbeitsmarkt vorhanden, obwohl mit aller Macht Diplomerfordernisseund längere Ausbildungswege aufgebaut werden. Flexibel blieb dasArbeitsrecht, man kann lange arbeiten, zeitlich flexibel arbeiten, die Firmenkönnen kündigen, weshalb sie auch einstellen. Der relativ offeneArbeitsmarkt gibt der Schweiz gegenüber Europa einen enormen Vorteil. DieSchweizer arbeiten deshalb 1000 Stunden jährlich pro Einwohner, dieFranzosen nur 538 Stunden, die Deutschen 700 Stunden. Das hat Folgen fürden Reichtum des Landes. Denn: Arbeit schafft Arbeit.

Die Linke der 1920er- und 1930er-Jahre sah ihren Verbündeten noch in derTechnik, wie es seit Marx üblich war. Gemäss dieser Sicht zögerten dieKapitalisten mit Neuerungen, weil sie noch die alten Maschinen auswindenund rentabilisieren wollten und weil neue Produktionsformen auch neueGesellschaftsverkehrsformen erzwangen. Nichts von alledem war in linkenKöpfen geblieben, jetzt wurde die Technik als Instrument des Kapitals imKampf gegen die Arbeit gesehen und daher als neuer Feind bekämpft.

Und wie immer bei den Linken war eine Steuer die naheliegende Abhilfe inder herannahenden Computerzeit: eine Maschinensteuer. Vorbei waren dieZeiten, da sich die (marxistische) Linke im Einklang mit den Produktivkräftenwusste, deren Fortschritt billigte und deren bessere Organisationsform sie in

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Gemeinwirtschaft anbot; eine Linke auch, die vordem die Kapitalistenanklagte, eher den Fortschritt zu hintertreiben, als eine gesellschaftlicheÄnderung zuzulassen.

Jedenfalls wurde ich nach einigen meiner zustimmenden Artikeln zu neuenTechniken in gewerkschaftlichen Zeitungen ab dem Ende der 1970er-Jahre inviele Versammlungen vorgeladen, um das Begehren nach einerMaschinensteuer zu diskutieren. Die Vorstellungen waren wirr, niemandwusste, wie und wo eine solche Steuer greifen sollte. Die Computer hatten ihrekastenförmige Riesenstruktur abgestreift und bestanden aus Tausendenelektronischer Schaltkreise, die auf Fingernagelgrösse in Chips eingelassenwaren. Diese Schaltkreise drangen in alle hergebrachten Apparate ein undmachten sie zu Automaten. Diese wirkten nun im Null-Eins-Modus, digital,nicht analog, wie Nicholas Negroponte 1995 in seinem Buch Being Digitalerhellend für die, welche verstehen wollten, schrieb. Alle Funktionen, dieganze Welt in ihren Texten, Bildern, Befehlen konnte so abgebildet werden.Damit war auch klar, dass diese Konvergenz letztlich alle die bestehendenFabriken für Schreibmaschinen, Fotoapparate, Tonbandgeräte, Filmgeräte,Radios, Fernseher, Uhren, Zähler und Grammofone überflüssig machen werde.Ich hatte von einem Unternehmer ein Säckchen Chips mit je 20 000Schaltungen bekommen. Das war der Stand der Technik. Diese zeigte ichAnfang der 1980er-Jahre bei allen diesen Vorträgen vor und liess sie kreisen.Es nütze nichts, sich dagegen zu stemmen, sondern man solle sich daraufeinlassen.

Dennoch begann in den Gewerkschaften ein Trommelfeuer gegen die neuenPC-Arbeitsplätze. Vermutungen über Strahlenschäden, über Augen-, Muskel-und Nervenkrankheiten wurden herumgeboten und einschneidendeBeschränkungen gefordert, etwa nur zwei Stunden im Tag an solchgefährlichen Geräten zu arbeiten. Doch, glaube ich, griffen dieBüroangestellten nur zu gerne nach diesen immer besseren Schreib-,Dokumentations- und Kommunikationsmedien. Sie befreiten sich damit vonder Plackerei mit Vielfachkopien in der Schreibmaschine, mit den

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Wachsmatrizen oder mit dem ungeliebten Ablegen, also mit dem Einreihenvon Papierdokumenten in Schubladen und Mäppchen. Die lauthals forderndenGewerkschaftssekretäre hatten wohl keine grosse Ahnung von der konkretenArbeit an solchen Stellen und verpassten eine weitere Möglichkeit, sich imDienstesektor als Hilfe anzubieten.

Mensch-Maschine-SystemSeit der erste Mensch einen Ast in die Hand nahm, also ein Instrument nutzte,machten die Instrumente nun den Menschen und seine Gesellschaft. SeineLeistung stieg an, er musste sich aber auch enger mit den anderenzusammentun, um diese Instrumente einzusetzen, fruchtbar zu machen, undsie alle müssen es nun in einer Weise tun, damit sie die Instrumente bedienenkönnen. Leistung, Kämpfe, Mobilität und Essen veränderten sich andauernd.Die Menschheit ist zum Mensch-Maschine-System geworden. Dieangewachsene Zahl der Menschen kann ohne Maschinen gar nicht mehrüberleben.

Die Umwälzungen der digitalisierten Informationstechnik liessen nicht aufsich warten. Die letzten Radio- und Tonbandhersteller schlossen, die Precisamit ihren Rechen- und Schreibmaschinen-, Hermes- und Filmgeräten schloss.Ihr riesiger Fabrikriegel in Ste-Croix im Waadtländer Jura steht noch undmacht im Herbstnebel einen leicht gespenstischen Eindruck. Dann schlossendie Zeitungen ihre Typografenabteilungen und gingen zum Fotosatz, dannzum elektronischen Satz über. Weil Europa geschlafen oder sich gewehrt hatte,kamen natürlich alle Apparate, Programme und Chips aus den USA, späteraus Asien.

Die Typografen taten mir leid. An gewerkschaftlichen Versammlungenwaren sie immer sehr aktiv und v. a. belesen, da sie die Literatur der Welt inBlei setzten. Sie konnten den 68ern die Stange halten, mitdiskutieren undstanden grundsätzlich eher links. Doch die Gewerkschaft war nicht in derLage, ihre persönliche Tragik zu mildern. Junge, schlechter bezahlte

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Typistinnen konnten jetzt die Satzmaschinen füttern, bald schon dieJournalisten selbst.

Ich konnte 1981 im International Visitors Program der USA fürNachwuchsleute aller Art und aus aller Welt drei Wochen im Land derunbegrenzten Möglichkeiten herumreisen und mir jeden möglichenGesprächspartner aussuchen. So besuchte ich auch den Verantwortlichen derDruckergewerkschaft der New York Times. Es war ein drahtiger 60-Jährigermit Rennvelo im Büro. Beim Rundgang durch die New York Times wurde erüberall von den Typografen begrüsst und umschwärmt. Er hatte angesichtsder technischen Revolution für sie die Sofortrente durchgesetzt, oder über100000 damalige US-Dollars bar in die Hand, falls sie selbst kündigten. Überallin den Zeitungsräumen sassen die ehemaligen Setzer und Drucker anTischchen, lasen, spielten Schach, während in eher kleinen Nebenräumeneinige noch aktive Arbeiter auf erleuchteten Scheiben die Times des nächstenTages im Fotosatz zusammenklebten. Als ich ihn fragte, ob er Ähnliches fürdie Setzer und Drucker in den kleineren Druckereien erreicht habe, zuckte ernur mit den Schultern. Die US-Gewerkschaften arbeiteten blossschwerpunktmässig, und das Gesetz schrieb vor, dass 51 Prozent derBelegschaft sie für Verhandlungen mandatieren mussten. Die anderen Betriebeliessen sie liegen.

An den Sitzungen und Versammlungen im Inland brachte ich dann die Sichtein, die neue Mehrwertsteuer sei genau diese Maschinensteuer. Denn jegrösser die Produktivität und die Wertschöpfung durch solche Apparate derInformationstechnik werde, umso höher falle die Abgabe aus. Das beruhigte,und weil Superlinke immer radikale Dinge fordern, besonders bei Steuern,aber nie in der Lage sind, die mühsamen technischen Details derDurchführung zu erarbeiten, geriet die Idee einer spezifischenMaschinensteuer schnell in Vergessenheit.

Die neue Informationstechnik überraschte die Schweiz auch beimgewohnten Radiohören der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft(SRG). Der Journalist Roger Schawinski erspähte die Möglichkeit, ein privates

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Radio von einem Gipfel in Italien aus zu lancieren, das Zürich mit seinenWellen bestrahlte. Mich freute der Coup wie viele andere auch, aber diegewerkschaftlichen Medienzuständigen waren ausser sich. Doch ich bemerktenur, wenn die Technik es möglich mache, Sender für (damals) 20000 Frankenanzuschaffen, dann könnten sie dagegen keine Dämme errichten. Das war denregelgewohnten Linken der stabilen bisherigen Welt eine völlig fremdeVorstellung.

Aus dieser unbeholfenen Technikfeindschaft zog ich eine persönlicheKonsequenz. Ich trat – als Sekretär des SGB – aus der Journalistenunion aus.Diese dem SGB angeschlossene, noch junge Alternative zum politischneutralen Verband der Journalisten war zwar der Verband, wo ich als Sekretärdes SGB hingehörte, weil wir immer dortblieben, wo wir vorher Mitgliedwaren, aber ich sagte den Leuten: «Ihr verlangt 700 Franken im Jahr, habtnicht einen einzigen Gesamtarbeitsvertrag unterschrieben und seid gegen alleneuen Techniken, mit denen die Journalisten bereits arbeiten.» Ich trat derGewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel (VHTL) bei, die einevernünftige Politik betreibt und für die Leute besseren Lohn und bessereBedingungen herausholt, ganz ohne linke Kapriolen.

Die ewige Schönheitskonkurrenz nach links

Solche Stellungnahmen gegen die neuen Techniken von damals oder heute fürimmer höhere Steuern und wachsende Sozialleistungen kommen an denKongressen der Linken – SPS oder SGB/Unia – immer gut an. Der Grund: Esherrscht dort seit 100 Jahren, ja schon im französischen Nationalkonvent von1792, eine Schönheitskonkurrenz nach links. Robespierre und Saint-Justmachten alle als Feiglinge und Volksfeinde nieder, die weniger radikal warenals sie, zuerst verbal, dann auf dem Schafott. Fast genauso geschieht es früherwie heute in Verbänden. Schlug der Vorstand oder ein Kongressteilnehmer

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beim SGB leicht höhere Alters- und Hinterlassenenversicherungsrenten vor,brummelte der Kongress vor sich hin. Stand aber ein Aktivist auf undverlangte – immer ohne irgendwelche Berechnungen vor sich – eineVerdoppelung von diesem oder jenem, dann rauschte der Beifall. Wer dann zurVorsicht mahnt, ist ein Erbsenzähler und mag es den Armen nicht gönnen.

Diese Aktivisten tauchen in solchen Verbänden alle paar Jahre regelmässigwieder auf. Sie sind vorher fast unbekannt, schmücken sich immer mitBasiskontakt und möglicherweise auch mit einer Berufslehre vor demStudium. Im Gegensatz zu den bezahlten Funktionären am Vorstandstischziehen sie nach einem leichten Sieg in der provozierten Kongressabstimmungmit den Anhängern in ein Restaurant, gründen eine Splitterunterorganisationdes Verbandes und lärmen noch einige Monate damit herum. Entweder steigensie dann doch zu Funktionären auf, oder sie kehren ihre Weste ebenso raschwieder um und werden Weinbauern oder Staatsangestellte.

Weniger revolutionär, aber ähnlich radikal im Ausdruck, gebärden sichmanchmal Konkurrenten um das Präsidium in Gewerbe- oderBaumeisterverbänden. Sie suggerieren eine schärfere Gangart und gewinnendann den Stuhl.

Früher hatten der Vorstand und das Sekretariat des SGB den Mut, offengegen Kongressanträge radikaler Art anzutreten. So unterstützte der SGB 1976die Volksinitiative der Progressiven Organisationen der Schweiz (Poch – einedamalige Partei links der SPS) auf eine 40-Stunden-Woche nicht. DerHauptgrund war, dass sie dies innerhalb Jahresfrist und ohne Lohngarantieforderte. Desgleichen stemmte sich unser Sekretariat seinerzeit immer gegenAnträge, einen nationalen Mindestlohn zu fordern. Der Kongress und dieDelegiertenversammlungen waren insgesamt vorsichtig, Mitte der 1980er-Jahre kam sogar ein Antrag durch, der SGB dürfe keine Initiativen mehrlancieren, weil das die Basis überanstrenge.

Erstaunlicherweise gingen die Reformer Chinas unter Deng Xiaoping denTypus des Verhinderers, Schönschwätzers und Illusionisten ganz direkt an.Deng bekämpfte ab 1978 offen den Slogan der chinesischen Viererbande

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«Better leftist than rightist» während der Kulturrevolution. Diesen Sloganhatte die Viererbande formuliert, aber mit dem Kampf Dengs gegen diesenSlogan war sie herausgefordert, und indirekt auch Mao Tsedong gemeint, dieallesamt damit diskreditiert waren. In der Parteizeitung liess Deng denGegenslogan ausrufen: «Die Praxis ist alleiniges Kriterium der Wahrheit.» DasMilitär unterstützte den neuen Slogan sofort, die intellektuelle Lufthoheit dermassvollen Reformer war gewonnen, China beschritt den Weg der Prosperität.Dies alles beschreibt der damalige Vizepremier Li Lanqing in seinem BuchBreaking Through.

Von wegen bezahlte Funktionäre! Im SGB galt die Regel, dass die Sekretäreimmer gemäss der oberen, normalen Besoldungsklasse des Bundespersonalsbezahlt wurden. Das war nicht exorbitant und richtete das Auge derVerantwortlichen auf eine gute Behandlung des Bundespersonals.Verhandlungserfolge schlugen sich direkt auch bei den «bezahltenFunktionären» nieder, Misserfolge auch. Ein Modell für die Boni derBankenwelt!

Die festen Nebeneinnahmen aus Kommissionen und Verwaltungsrätengaben wir dem SGB ab. Allerdings nur 60 Prozent dieser Fixa, weil der KantonBern darauf bestand, diese Einkünfte trotz des Verzichts bei uns Sekretären alspersönliches Einkommen voll zu besteuern.

Im SGB-Sekretariat hatten die fünf Sekretäre gut abgegrenzte, eigeneZuständigkeiten und genossen gegen aussen und im Verband selbst immereine starke Stellung, u. a. weil wir bestens über die Bundesgeschäfte informiertwaren, doch auch weil wir uns nie öffentlich oder vor dem Vorstandwidersprachen, sondern uns unterstützten. Diese Taktik der Macht stände demSchweizerischen Bundesrat als Kollektivbehörde auch gut an.

Die Linken und ihr Geld

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Die Gewerkschaftsbewegung verfügte aus den Zeiten, als sie eine Bewegungwar, über viele Unternehmen und Beteiligungen, und diese stellten insgesamteinen beachtlichen Konzern dar. Diese vielfältigen Genossenschaften undVereine boten den Organisierten eine geschlossene Lebenswelt an. Man konnteEssen, Kultur, Information, Arbeitsplatzverteidigung, Freizeit, Sport undReisen aus einer Hand und unter Gleichgesinnten haben.

Die Sekretäre, Präsidenten und Vorstandsmitglieder wurden in derenGremien abgeordnet. Leider waren unter ihnen kleinmütige Verwalter, die alleeinander schonten, und die unternehmerischen Visionen waren längstabhandengekommen. Während meiner Zeit wurde fast alles verspielt undnichts gegründet. Die Büchergilde Gutenberg verfocht weiterhin das gepflegte,gut gedruckte Buch, verlor aber massive Marktanteile an andere wie etwa ExLibris, die keine festen Abnahmepflichten kannte, und für die neuenLesegewohnheiten lockerer Art bot sie nichts an. Der dorthin abgeordneteSGB-Vertreter sagte vor einer Vorstandssitzung Folgendes zu mir: «Wir habenjetzt wieder weniger verkauft, die Lager sind recht voll, aber wir bekamenKredite, und schreiben auch einiges ab.» Darauf entgegnete ich: «Dann seid ihrwohl bankrott.» Erst sah er mich entsetzt und dann leicht zustimmend an. Sowarfs, es war das Ende. Ähnlich ging es bei allen sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Zeitungen. Der Inhalt zählte mehr als der Kommerz, undFusionen unter diesen in den Kantonen zäh getrennt operierenden Blätternbrachte man nicht rechtzeitig durch. Der Redaktor der Berner Tagwachtärgerte sich ausserdem grün und blau, dass die Notabeln der SPS und derGewerkschaften mit ihren Informationen und Forderungen immer an diebürgerliche Presse, womöglich zum Blick gingen. So fehlten auch die Primeurs.Doch es war das Huhn-und-Ei-Problem: Ohne moderne Fassung und ohneWiderhall in einer breiteren Öffentlichkeit war es nutzlos, dort zu publizieren.

Diese Zeitungen hingen eng mit den gewerkschaftlich-genossenschaftlichenDruckereien aus den früheren Kampfzeiten zusammen. Fiel eine lokale SP-Zeitung weg, war der Hauptauftrag auch dahin.

Ich war in den Verwaltungsrat der an sich grossen Unionsdruckerei Bern

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delegiert worden. Sie litt unter extrem schwachen Renditen, und die paarTausend Franken Gewinn kamen nur auf dem Papier zustande, weil mannichts abschrieb. Hin und wieder konnte ein ehemaliger Gewerkschafter alsPTT-Generaldirektor einen Telefonbuchauftrag zuhalten, aber das rettetenichts. Rettung kam vom Bund (von den mächtigen Genossen desFinanzdepartements), weil er der Druckereigenossenschaft mitten in derInnenstadt eine freie Fläche abkaufte. Doch auch diesen Millionenbetragwollte der Verwaltungsrat nicht für die vielen aufgeschobenenAbschreibungen verwenden. Ich musste an der Generalversammlung eigensbeantragen, diesen Vorschlag wenigstens zu protokollieren. Wie so oft beimWiderstand eines Einzelnen, auch in eidgenössischen Kommissionen, gab esdort und gibt es in der Schweiz oft nur betretenes Schweigen, aber keineDiskussion.

Wie die Druckereien, Zeitungen und Buchverlage entkamen auch dieReiseorganisation Popularis, die Coopgenossenschaften und Coop Schweiz, dieGenossenschaftliche Zentralbank sowie viele Sportvereine dem Einfluss derGewerkschaften. 1993 legte die Krankenkasse der Baugewerkschaft mit ihren40000 Versicherten einen spektakulären Bankrott hin.

Manche der Wohnbaugenossenschaften gerieten wegen fehlenderReservebildung in ernste Schwierigkeiten. Eine Genossenschaft mit enormenWohntürmen in Bern etwa hatte von den früheren Mietern offenbar zu wenigfür Abschreibungen verlangt und musste 2010 einen der Wohntürme totalrenovieren, sodass die Mieten explodierten. Einfache Leute zogen aus.Schlimmer noch spielte den Wohngenossenschaften das Schneeballsystem mit,welches das sozialdemokratisch geführte Bundesamt für Wohnungswesenersonnen hatte. Es subventionierte die Mieten neuer oder bestehenderWohnungen bis zu 30 Prozent. Diese mussten aber die ersten zehn Jahrejährlich um 3 Prozent angehoben werden, um auf das normale Niveau zukommen, und nochmals zehn Jahre, um die Subvention zurückzuzahlen. Manrechnete mit genügend Inflation, die dies reibungslos ermöglichen sollte. Ohneviel Geld schien der Bund so Tausende von Wohnungen dauerhaft verbilligen

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zu können, aber die Inflation hörte Mitte der 1990er-Jahre auf. DieGenossenschaften konnten die Mietaufschläge nicht über das Marktniveauhinaustreiben, mussten dem Bund aber zurückzahlen und gingen oft beinahebankrott.

Die gleichen riesigen Vermögensverluste verursachten auch die deutschenGewerkschaften mit ihrem Konzern Neue Heimat und die Österreicher mitdem Bawagskandal. Michel Doumeng, der französische «milliardaire rouge»und offizielle Financier der Kommunistischen Partei, machte 1993 ebenfallsKonkurs. Immer schonten sich Seilschaften unter den in die Firmendelegierten Vertreter; es fehlte an «governance» – genau das, was man denBanken in der Finanzkrise 2008 vorwarf.

Gier und BoniSelbstinteresse ist das erlaubte Steuerungs- und gegenseitigeDisziplinierungsmittel in marktverfassten Gesellschaften. Allerdingsmüssen die Mechanismen so gelegt werden, dass sie funktionieren. Diesnennt man dann «countervailing powers». Auch unter Linken stolpertenmanche über ihr Selbstinteresse, so wie nach 2000 manche Spitzenbanker.Nur die Dimensionen waren kleiner. So forderte mein Sekretariatskollege,der für die Finanzen zuständig war, einen damaligen Präsidenten auf,sein Fixum des Bankratsausschusses der Nationalbank (ein ständiger Sitzder Spitzenverbände) abzuliefern. Das waren etwa 12000 Franken. Dieseraber weigerte sich rundweg.

Ein Generalsekretär der PTT-Gewerkschaft schwankte zwischen einemVerwaltungsratssitz der Paxversicherung, welche die Gewerkschaftmitgegründet hatte, und der Coopversicherung, wo die Gewerkschaftenimmer vertreten waren, weil sie mit dem Mitgliederbeitrag auch eineRechtsschutzversicherung anboten. Er rief an, um zu erfahren, wie hochdie Tantiemen seien, und als sich jene der Pax mit 6000 Franken höher alsdie 1000 Franken der Coopversicherung herausstellten, ging er zur Paxund delegierte einen anderen in die Coopversicherung.

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Ein Vizepräsident der SPS bezog innerhalb von 13 Monaten Tausendevon Franken für Sitzungen und Telefonspesen, was nur derZentralsekretär wusste. Die Finanzdelegation der Partei, präsidiert vombewussten Vizepräsidenten, tagte ein Jahr lang nicht.

Sank also das Vermögen der linken Seite unaufhaltsam, so hielten sich dielaufenden Einnahmen durch leicht künstliche Massnahmen halbwegs aufrecht.Die lokalen Sektionen führen z. B. die Büros der schweizerischenArbeitslosenversicherung und werden dafür gut bezahlt. Ebenso können sieRechtshilfe-, Weiterbildungs- und Integrationszahlungen der Kantone undStädte ergattern. Vor allem aber erhalten die Gewerkschaften alsVertragspartner der meisten Gesamtarbeitsverträge Geld aus denSolidaritätsbeiträgen, welche die Arbeitgeber allen Beschäftigten, auch denNichtgewerkschaftern, monatlich abziehen – oft etwa 5 Franken. DieseMillionenbeträge kommen verschiedenen Zwecken zugute: einmal derDurchführung der Verträge als direkte Zahlung an die Gewerkschaft. Sodannfüllen sich Fonds für Weiterbildung der Belegschaften und für andere Ziele,die von den Beschäftigten als Leistung der Gewerkschaft wahrgenommenwerden können. Wichtig bleibt auch, dass der optische Unterschied zwischenden Kosten, Mitglied zu sein oder nicht, sich verringert, insbesondere, da denGewerkschaftsmitgliedern der Solidaritätsbeitrag – teilweise – rückerstattetwird.

Als Folge davon bleibt die Gewerkschaft aber vom Abschluss einesGesamtarbeitsvertrages finanziell direkt abhängig. Ein vertragsloser Zustandlängerer Dauer würde sie ruinieren.

Auch die laute Unia hängt auf diese Weise von der Vertragsgegenseite abund wird immer auf Verträge einschwenken müssen, denn dieMitgliederzahlen sind nicht berauschend. In diesen Zahlen sind je nachBranche sehr viele Pensionierte eingeschlossen, welche geringe Beiträgezahlen. Die Solidaritätsbeiträge entheben die Gewerkschaftsführungen vonanzuwerbenden und zahlenden Direktmitgliedern. Die Funktionäre sind allein

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noch die Bewegung.In meinem Lauf für Transparenz in der Wirtschaft regte ich einmal an, auch

der SGB könnte sein Vermögen veröffentlichen. Ich liess mich aber vomKollegen, der für die Finanzen zuständig war, davon abbringen. Der Grund: Eswar so wenig, dass die Achtung vor dem SGB geschwunden wäre.

Friedensabkommen – Schwäche oder Stärke?

Die Gesamtarbeitsverträge der Schweiz enthalten meist die absoluteFriedenspflicht, wonach die Gewerkschaften und ihre Mitglieder während derVertragsdauer nicht streiken und wonach die Arbeitgeberseite keineAussperrungen bei Konflikten machen dürfen. Taucht daher einunvorhergesehener Streitpunkt auf, wird ein Schiedsgericht eingesetzt, dasletztinstanzlich urteilt. Unvorhergesehenes betrifft in den Verträgen, die keineLohntarife enthalten, auch die jährlichen Lohnverhandlungen. So werden seitdem ersten Vertrag, dem sogenannten Friedensabkommen derMaschinenindustrie von 1937, die Löhne der Maschinenbaufirmen von denBetriebskommissionen mit der einzelnen Firma verhandelt.

Eines der verrücktesten Bilder zur neueren Schweizer Geschichte stammtaus den Sulzerwerken von 1937. Als der erste grosseGesamtarbeitsvertrag der Maschinenindustrie, das berühmteFriedensabkommen, von den Funktionären beider Seiten schon fertigverhandelt war, drohte ein Streik kurz vor dem gewerkschaftsseitigenBeschluss, alles wieder infrage zu stellen. Da berief der Mitinhaber RobertSulzer eine Betriebsversammlung in die Dieselmotorenmontagehalle ein.Die Foto zeigt in der riesigen Halle den Erben und Mitbesitzer Sulzer aufeinem kleinen Holzpodium, wie er auf mehrere Tausend Arbeitereinredet, die dicht gedrängt zwischen gigantischen Maschinengruppen

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stehen. Ein dramatisch zugespitztes Gegenüber von Kapital und Arbeit,oder besser formuliert: von Realkapital, Kapitalbesitzer und Arbeitern.Sulzer und die Gewerkschaftsvertreter überzeugten, der Streik fiel aus,der Vertrag trat in Kraft.

Die Medien sprachen schon vor 30 Jahren oft vom Niedergang und denschwindenden Mitgliederzahlen der Gewerkschaften. Das war nicht falsch,aber alle übersahen, dass viele Arbeitgeberverbände ebenfalls an Machtverloren oder schon immer schwach waren und dass aus diesem Grunde dieVertragspartnerschaft weniger gestaltungsfähig wurde. Die Arbeitgeberseitewar, wie im Detailhandel, nicht über die ganzen Branchen durchorganisiert.Die zwei grossen Gruppen Coop und Migros verhandelten firmenintern. Inanderen Branchen, etwa in der Gastronomie oder in der Druckindustrie,waren Giganten neben Kleinstbetrieben im Arbeitgeberverband vereint, abernicht einig. Die Grossen konnten mehr bezahlen als die Kleinen, oder siewollten weniger bezahlen und im Hause verhandeln. So traten während etwadrei Jahren die drei grossen Verlagshäuser des Landes aus dem Verband aus.Neue Branchen und Firmen der Informatik, des Finanzwesens und derunternehmensbezogenen Dienste, wie die Statistik sie nennt, kannten oft aufbeiden Seiten keine Verbände.

Wo hingegen beide Vertragsseiten (etwa in der Maschinenindustrie,Uhrenindustrie und Lithografie, deren Arbeitgeber ausserdem ein sattesKartell bildeten) hohe Organisationsgrade hatten, da wurden sogar Verträgezur Vermögensbildung abgeschlossen. In die Fonds Prévimet und Prévhorsowie bei den Lithografen bezahlten die Patrons «matching funds», alsoebenfalls Beiträge ein, wenn die Arbeiter etwas ansparten.

Aus dieser zunehmend schwächeren Lage heraus wandten sich dieGewerkschaften seit der Unia-Gründung immer mehr aufs politische Parkettund machten Initiativen und Referenden, die meist aber erfolglos waren. Aberim Parlament fanden doch manche neue, ausgabensteigernde VorlagenMehrheiten, weil die Bürgerlichen ihrem eigenen Vollkaskodenken zuhanden

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ihrer Lobbys und Klientelen folgten und Geschenke maximierten, etwa in derArbeitslosenversicherung, im Einschluss der Existenzgarantie in die neueVerfassung 1999, in der Mutterschaftsversicherung, in der milizuntauglichenVerrechtlichung der zweiten Säule. Der rasante Ausbau solcher Systeme folgtenun nicht mehr der Vertragspartnerschaft, sondern den Mechanismen derkostspieligen Kreuzkompromisse in Bern.

Richter über Tausende von Lohntüten

Werden sich die betrieblichen Unterhändler bei Lohnrunden nicht einig,verhandeln allenfalls die Sekretäre beider Seiten, dann geht es zumSchiedsgericht. Dieses wird für jeden Fall ad hoc zusammengestellt. Es bestehtaus einem gewerkschaftsnahen und einem arbeitgebernahen Vertreter undeinem neutralen Präsidenten, der oft ein pensionierter Richter ist. Ich warvielleicht ein Dutzend Mal in Schiedsgerichten Arbeitnehmervertreter, unddrei Mal Präsident in der Druckindustrie. Dies nach meinem Ausscheiden ausdem SGB.

Die Prozeduren waren relativ einfach – beide Seiten reichten eine Schriftoder Dokumentation ein. Ich traf mich meist mit den Betriebskommissionender Firmen vor dem Gerichtstermin, war aber oft erstaunt, wie wenige Faktenauf den Tisch kamen. Das war vor dem neuen Aktienrecht auch nichterstaunlich, weil die Firmen ja Geheimniskrämerei betrieben. Die grosse undreiche Roche z. B. gab ihren Aktionären, also den Eigentümern, damals geradezwei Zeilen Einnahmen und Ausgaben bekannt. Eine Foto aus dem Jahre 1941(im Band Industriebild vom Werd-Verlag) zeigt eine Sitzung derBetriebskommission der BBC mit der Geschäftsleitung, wohl um das guteEinvernehmen zu dokumentieren. Mich rührt und empört die Foto noch heute,weil die Direktoren mit Dossiers vor sich gezeigt wurden, die Arbeitervertreteraber mit nackter Tischfläche vor sich. Immerhin konnten bei meinen

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Schiedsgerichten die Leute aus dem Betrieb angeben, wie die Auftragslagewar, ob Überzeit gearbeitet wurde, ob das Management gepfuscht hatte undfür die erschwerte Lage der Firma verantwortlich war. Einmal belegten dieArbeiter, dass die Leitung innerhalb Jahresfrist die ganze Fabrik drei oder vierMal in eine andere Etage und andere Gebäude umziehen liess. Das konnteman in der Verhandlung wirkungsvoll auf den Tisch knallen. Die beidenFachrichter eines Schiedsgerichts mussten nämlich den dritten,betriebswirtschaftlich meist recht unbedarften Karriererichter möglichstbeeindrucken. Er entschied am Schluss den Streit.

Man musste auch auf Jahre zurück wissen, wie viele Lohnerhöhungen schongesprochen worden waren oder ob es noch die Inflation aufzuholen galt. Auchdie Löhne der gleichartigen Firmen musste man kennen. Mir fiel in einemAntiquariat ein Band des Arbeitgeberverbandes der Maschinenindustrie von1948 in die Hände, wo die Stundenlöhne der Arbeiter in allen Firmen derZürcher Branche unter ihrem Namen aufgelistet waren. So hatte z. B. bei derColor Metal AG der Polierer Gint Evaristo einen Akkordschnitt von 1,87Franken plus 41 Rappen Teuerungszulage bei einem Betriebsdurchschnitt von2,67 Franken in der Stunde. Die Arbeitgeber bereiteten sich also gut vor.

Hingegen fehlte oftmals der Durchblick auf Arbeiterseite. DerBetriebskommissionspräsident der Alusuisse im Wallis etwa lamentiertewährend des Essens vor der Verhandlung mehr über den gefallenenAktienkurs der Firma, da er für 60000 Franken engagiert sei, als über denLohndisput. «Tu trouves ça normal?», fragte er.

Aluminiumgewerkschaften – über alle Grenzen?Firmen mit Ablegern in verschiedenen Ländern können dieGewerkschaften in den lokalen Verhandlungen gegeneinander ausspielen.Einen Versuch internationaler Solidarität dagegen zu halten, machte dieGewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen (SMUV) 1990, alsMarc Rich, der US-flüchtige Rohstoffhändler, sein Aluminiumwerk inRavenswood (West Virginia) in einen Arbeitskampf mit den dortigen

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Gewerkschaften verstrickte. Einige Zuger Genossen um Joe Langbrachten die SMUV-Leitung dazu, in Zug zu demonstrieren. Wegenmeiner Kenntnisse internationaler Zusammenhänge bat man michmitzukommen. Vor dem blauen Glashaus der Marc-Rich-Firmen amBahnof Zug fand sich nun die kleine Gruppe und wusste nicht weiter,denn niemand konnte Englisch. So trat ich in die Empfangshalle undverlangte, Marc Rich zu sprechen. Die entsetzte Dame telefonierte imHaus herum und gab mir dann den Hörer. Am anderen Ende war WillyStrothotte, den ich aufforderte, «to enter into negociations with us», v. a.aber mit den US-Arbeitern. Natürlich kam er nicht, und nachher fand ichvor dem Haus den SMUV-Zentralsekretär verlegen etwas abseits stehend,die Gruppe fast verlaufen. Joe Lang gab nicht auf und machte vorMedienvertretern eine Presseorientierung, zu der er auch einenamerikanischen Journalisten brachte, denn in den USA war Ravenswoodeine grosse Story. Strothotte wurde nur Stunden nach der Einigung inden USA von Marc Rich kaltgestellt, später jedoch wieder eingestellt.Heute ist er der Präsident der gesamten Gruppe Glencore. Joe Langwurde Nationalrat für Zug, und der damalige RavenswooderGewerkschafter stieg in die US-Leitung auf. Solche im Kleinen eingeübteKontaktnetze, die durch den Aufstieg Beteiligter auch viel Schwierigereslösen könnten, stellen das Gerüst westlicher Gesellschaften dar, das dieSchemata weder linker noch etablierter Politologie abbildet – die aberspielen.

Über diesen kargen Einzelfall hinaus war es auf Arbeitnehmerseiteimmer schwer, über die Grenzen zu verhandeln. Tief im Innern hofft jedenationale Arbeiterschaft, allfälligen Schliessungen zu entgehen. Die EUschrieb dann Konzernbetriebsräte vor. Doch geht dies nur für EU-domizilierte Firmen, und diese Funktionäre werden, wegen desweltweiten Wettbewerbs, die Schliessungen ganz einfach mitverwalten.Ihr Ansehen sinkt eher, anstatt zu steigen.

Manche fürchten, weil der Schweizer Arbeitsmarkt weniger verriegelt

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sei, würden die multinationalen Firmen eher hier schliessen alsanderswo. Selbst wenn dies so wäre, soll dieses Land nicht in den Laufzum dichtesten Kündigungsschutz eintreten, denn ohne diesen und dievielen anderen Verrechtlichungen wählen Multinationale auch eher hierneue Niederlassungen. Besser und offener als andere zu sein, ist dasRezept.

In den 1980er-Jahren hatte eines meiner Schiedsgerichte drei Mal überLohnstreitigkeiten bei der Viscosuisse in Emmenbrücke zu urteilen. Dorterschütterte mich die taktische und strategische Armut der Arbeiterseite imBetrieb, weil die Betriebskommission ausschliesslich aus Ausländern, v. a.Türken, bestand und schon sprachlich wenig verstand, aber auch mit derganzen Vorgehensweise unvertraut war. Zudem tagte das hohe Gericht ineinem beeindruckenden Saal des Luzerner Kantonsgerichts. Der Richter, wieüberall, unterbrach die Leute nach ein, zwei Sätzen, formulierte dieseschriftdeutsch und juristisch korrekt, worauf der Gerichtssekretär sie in dieSchreibmaschine hackte. Es war sehr feierlich, sodass die Leute nochverschüchterter wurden.

Da und dort konnte ich – trotz wirtschaftlicher oder betrieblicherSchwierigkeiten – Lohnanpassungen herausholen, wenn ich vorschlug, dieErhöhung erst vom Juli an durchzuführen. Bei der damaligen hohen Inflationvon oft gegen 6 Prozent gab dies den Firmen in den Lohnkosten aufs ganzeJahr gesehen 3 Prozentpunkte Luft, aber die Lohnverhandlungen desFolgejahres setzten dann auf dem voll erhöhten Niveau an. Zugleich konntenalle das Gesicht wahren, der Richter, die Firmen, die Betriebskommissiongegenüber den Arbeitern und ich selbst auch. Gesellschaftlich umstritteneDinge können immer gelöst werden, wenn es gelingt, allen das Gesicht zuwahren.

Das Schiedsgericht der welschen Uhrenindustrie tagte sogar in den Räumendes Bundesgerichts in Lausanne. Die Romands haben Stil, und auch dieArbeitnehmersekretäre sind in jenem Landesteil elegant, eloquent und

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geniesserisch. Das hohe Gericht lehnte die Teuerung allerdings ab.

Vor Wut heulenSolche schiedsgerichtlichen Niederlagen griffen mich manchmal stark an.Das erste Mal erlebte ich so einen Fall in einer Maschinenfabrik in Genf,als ich erst gut 30 war. Der kantonale Richter lehnte die Lohnforderungab. Daraufhin zog sich das Gericht, also wir drei Richter, ins Cabinet desRichters zurück, das mit Möbelchen aus Rosenholz bestückt war, die erstolz zeigte. Es galt, unsere eigene Entschädigung festzulegen, welche dieVerbände zahlen mussten. Der Richter sagte, letztes Mal habe er 2500Franken bekommen, diesmal nehme er 5000 Franken. Er hatte dieLohnbegehren für mehrere Hundert Arbeiter abgewiesen, nahm aber fürsich gleich das Doppelte. Ich wäre ihm am liebsten an die Gurgelgefahren. Zuerst opponierte ich, überliess aber den Entscheid 2 zu 0 denanderen beiden, denn ich besann mich darauf, dass wohl irgendwann einnächster Fall anstehen werde, wo wir unsererseits einen wohlgelauntenRichter brauchen könnten. So war es auch: Das nächste Mal kam, aberdiesmal heulte ich bei der Heimfahrt im Zug vor Wut.

Ein pensionierter Aargauer Grossrichter beendete seinerseits einen Fallfür etwa 3000 BBC-Arbeiter mit der schönen Erkenntnis: «Ich habe Zeitmeines Lebens nie mehr Lohn verlangt» und wies das Begehren ab. AlsBeamter hatte er selbst aber jahrzehntelang die Erhöhungen automatischeinkassiert.

Einen Lohnkonflikt bei der Von Roll Holding in Solothurn, die damalsnoch mehrere Tausend Leute beschäftigte und mit etwa 8 ProzentTeuerungsausgleich im Rückstand war, verlor ich Mitte der 1980er-Jahreebenfalls – trotz meiner heroischen Belege über eine schon leicht besserewirtschaftliche Lage. Als ich danach an der Gartenwirtschaft Couronnebei der Kathedrale vorbeiging, sass dort der Finanzchef der Von RollHolding. Er hatte sich vor dem Richter heiser ins Elend geredet und sagtejetzt: «Herr Kappeler, Sie haben Recht, es geht schon etwas besser.»

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Untergang der alten Uhrenindustrie und ihre Rettung

Ich war jedes Jahr als Volkswirtschafter bei den Verhandlungen des SMUV umden Teuerungsausgleich für etwa 30000 welsche Uhrenarbeiter dabei. DieseVerhandlungen fanden meist im Barockpalast DuPeyrou in Neuchâtel statt.Damals, Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre, ging gerade dererschütternde Niedergang der alten, mechanischen Uhrenindustrie vonstatten.Die Verhandlungen wurden vom Wirtschaftsfachmann der «conventionpatronale» rituell eingeleitet, mit düstersten Aussichten, denen ichhoffnungsvolle Lichtstreifen entgegenzusetzen versuchte. Leider war ich dabeiohne inneres Feuer, denn ich wusste aus Versammlungen der Arbeiter, zudenen ich oft als Wirtschaftsexperte des SGB eingeladen wurde, um diekatastrophale Lage. Ich erinnere mich noch an Uhrenarbeiter, die mit derMeldung «La Lémania est en faillite» in eine Versammlung stürzten. Das warein Fanal – eine der besten Marken- und Manufakturenfirmen im Vallée deJoux ging ein. Übrigens zeigte sich dieser Untergang allein schon dadurch,dass jedes Jahr einer der Unternehmer auf der Gegenseite Konkurs machte.Und mit ihm verschwanden auch seine Arbeiter. Das nahm einem den Biss.Als die Arbeitgeber wieder einmal furchtbar klagten, antwortete der SMUV-Präsident: «Aber das sagen Sie doch jedes Jahr.» Da erwiderte der Arbeitgebertrocken: «Aber diesmal stimmt es.»

Bei diesen Verhandlungen waren nicht nur der SMUV-Präsident undvollamtliche Sekretäre zugegen, sondern zur Delegation gehörten auch viereinfache Mitglieder, die an den nachherigen Versammlungen Delegierter,welche die Entscheide ratifizieren mussten, mit angehört wurden. Der Nameeiner Frau aus der Basis blieb mir wegen seines poetischen Klangs haften. Siehiess Bluette Buret. Diese erweiterte Öffentlichkeit entsprach nicht gerade demVerhandlungsstil der neuen Gewerkschaft SolidarnosLcL in Polen, welchealles über Lautsprecher nach aussen übertragen liess. Aber ein gutes Zeichenschien mir diese Präsenz einfacher Mitglieder dennoch. Einer der aus der Basishinzugezogenen Teilnehmer verfertigte mit mehr Fleiss, als die Sekretäre

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aufbrachten, in Blockbuchstaben einen dreiseitigen Fragekatalog zurVerhandlung im November 1983. Für diese waren solche Verhandlungen der«courant normal».

Die laufende Fusion zur SMH, später Swatch Group, überschatteteallerdings den blossen Teuerungsausgleich. Die Sektionen hatten vorherVersammlungen der Mitglieder einberufen, um Klarheit über die Abläufe zubekommen. Doch es kamen nur etwa ein Zehntel der Mitglieder. Allerdingswaren im Vorjahr schon ein Fünftel aller Beschäftigten der zu fusionierendenUhrenfirmen entlassen worden, im Sommer nochmals 10 Prozent. Immerhinerhielt der SMUV oft vorher die Liste der zu Entlassenden und strich dieGewerkschaftsmitglieder weg.

Die vorher fein eingespielte Wertschöpfungskette der auf jedeVerarbeitungsstufe spezialisierten Uhrenfirmen zerfiel. Allerdings waren siealle schon in die zwei jetzt zu verschmelzenden SSIH der Fertiguhren und dieAllgemeine Schweizer Uhrenindustrie AG (ASUAG) der Teilchenfabrikeneingegliedert. Viele Termineurs machten sich selbstständig und versuchten,mit ein paar Arbeitern zu Stundenlöhnen von 10 Franken durchzukommen,obwohl nach Vertrag ein Mindestlohn von 14.70 Franken vorgeschrieben war.Andere Firmen, wie etwa Eterna, waren entleerte Zombies mit noch 60Arbeitern und sechs verschonten Direktoren, die monatlich offenbar 10000Franken erhielten. Nicolas Hayek straffte diese Zustände dann sehr.

Patrons und Arbeiter rechnen verschiedenBei Nivarox, dem Hersteller von Spiralfedern, gab es für die Arbeiter bei50 Punkten Leistung einen Grundlohn von etwa 11.50 Franken. Bei 80Punkten erreichten sie den gesamtarbeitsvertraglich üblichen Lohn von14.50 bzw. 14.70 Franken. Das heisst: Für 60 Prozent mehr Leistungbekamen sie 30 Prozent mehr Lohn. So wurde es in derVerhandlungsrunde von Arbeitern berichtet. Das Empörende war nichtnur die sehr unterproportionale Lohnzunahme bei steigender Leistung,sondern die Annahme der Direktion, die Arbeiter könnten nicht rechnen.

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Eine der Uhrenfirmen, die Jura Watch, war eingegangen und wurde von derGewerkschaft als selbstverwaltete Firma weitergeführt. Der frühereUnternehmer hatte offenbar Portugal und dessen Kolonien Angola undMosambik beliefert, wozu immer im Frühjahr der Generalimporteur im Juraerschien und die paar Hunderttausend Stück bestellte. Nach derNelkenrevolution in Portugal 1974 kam er einfach nicht mehr, und für JuraWatch war es aus. Mit dem Experiment Jura Watch kopierte man die einigeJahre vorher gemachte Selbstverwaltung der konkursiten LIP jenseits derGrenze in Frankreich. Doch dort wie in der Schweiz wurden v. a. die nochvorhandenen grossen Lagerbestände an Werken und Schalen zusammengesetztund verkauft. Dann war auch dieses Experiment zu Ende.

Nicolas Hayek rettete mehr als nur die Uhrenindustrie

Die Uhrenindustrie hatte grundsätzlich zwei Fehler gemacht: Sie verschmähtedie neuen Massenabsatzwege in den Warenhäusern, und sie überliess denMassenmarkt der elektronischen Uhr den Asiaten. Das änderte dann NicolasHayek mit der Rettung und dem Umbau der vorher hastig fusioniertenASUAG und SSIH, also der Komponentengruppe und der Fertiguhrengruppe.Aber vorderhand fielen von den ehemaligen 90000 Arbeitsplätzen 60000 weg.Le Locle, La Chaux-de-Fonds oder St-Imier entleerten sich, sahen aus wieheruntergekommene französische Provinznester. Dreizimmerwohnungenwaren für 120 Franken im Monat zu mieten. Heute haben sich diese Städte undihre Regionen schön erholt. Die Uhrenindustrie hat eine wiederum fantastischeMarkenherrschaft und damit die Preisführerschaft errungen und ausgebaut.Gleichzeitig sind die Massenmärkte der elektronischen Uhr mit der Swatchbesetzt.

Diese Revolution in den Produkten und Absatzwegen war die eine LeistungNicolas Hayeks; die andere reichte über die Uhrenindustrie hinaus. Die vielen

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Huldigungen bei seinem Tod 2010 übersahen sie aber.Mitte der 1980er-Jahre brach in den alten Industrieländern wegen der

asiatischen Billigindustriekonkurrenz der vier Tigerstaaten (Korea, Taiwan,Hongkong und Singapur) sowie Japans und bald Chinas Panik aus. Plötzlichkamen nicht nur billige Hemden von dorther, welche die Bekleidungsindustrieseit 1973 fast vollständig ausgelöscht hatten. Jetzt waren diese Länder aufeinmal sogar in der Lage, alle Industrieprodukte, auch die komplizierteren, inMassen herzustellen. Die elektronische Steuerung solcher Produktionen undMaschinen machte sie zuverlässig, und es war abzusehen, dass diese Länderdie ganze Wertschöpfungskaskade zu immer komplexeren Stückenhochklettern würden. Firmen aus den alten Industriestaaten kauften dortimmer mehr Halb- und Vorfabrikate ein oder verlagerten die Produktiongänzlich. Da bewies Hayek mit der Massenproduktion der billigen Swatch,dass dies auch in einem Hochlohnland möglich ist, wenn die Lohnkosten amEndprodukt auf unter 10 Prozent gedrückt werden können. Das war seineRegel. Dies erreichte er nicht durch dramatische Lohnsenkungen, wie dieLinken befürchteten und manche Industrielle androhten, sondern einfach dankVollautomatisierung. Bei den Uhren erzielte er diese mit der direkten Montageder Uhrenteile in den Gehäuseboden und dank der Reduktion der Zahl derTeile. Wer die Swatchproduktion in Grenchen besuchte, konnte sehen, wieallein im geleerten Raum der Garderobekästchen der ehemals 3000Uhrenarbeiter nunmehr ein grosser Teil der Quarzwerke der Welt von denMaschinen kollerten. In den anderen Sälen säuselten die Montagemaschinender Swatch. Auf dem neuen Weltmarkt mussten sich nun nicht die Löhne nachunten angleichen oder die Arbeiter auswandern, sondern die Elektronikbanalisierte die Herstellungskosten. Der Wettbewerb der Firmen – und damitder Länder – spielte sich jetzt in der Raffinesse der Produktion in denLogistikketten der Post, Bahn und Strassen ab. Auch traten nun die «weichen»,aber entscheidenden Faktoren des Wettbewerbs scharf hervor, nämlich dieRechtssicherheit, die Klagbarkeit von Verträgen, die No-Nonsense-Kooperation der Gewerkschaften und Arbeitgeber, das flexible Arbeitsrecht

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mit den Variationsmöglichkeiten der Arbeitszeit, der Belegschaft und natürlichdie gute Ausbildung der Arbeitenden auf allen Stufen. Die voll automatisierteProduktion verlagerte die Arbeit nun im Lande selbst, und zwar an Ingenieure,fähige Berufsleute, Techniker, Logistiker, Marketingleute und Informatiker.Das war die Leistung Hayeks, welcher – mit anderen – denProduktionsstandort Schweiz rettete, nicht nur die Uhrenindustrie.

Die neue, vollautomatische Produktion entliess also die meistgewerkschaftlich organisierten Leute aus der bisherigen Halbautomation. Sielenkte aber die Wertschöpfung zu den unternehmensbezogenen Diensten um.Damit blieb das Arbeitsvolumen im Lande konstant oder stieg sogar an, doches waren nicht die gleichen Leute. Diesen Umbau zu verkennen, war derunglaubliche Fehler des «lateinischen» Europa, wo man ans Ende der Arbeitglaubte und allen die Arbeitszeit reduzierte oder sie früh pensionierte. AberSüdeuropa und Frankreich bauten so nicht genügend Englischkenntnisse undInformatikkompetenz auf und fallen heute aus dem Welt- und Europamarkt,vielleicht sogar bald aus dem Euro.

Diese drastisch veränderten Parameter der internationalenWettbewerbsfähigkeit verlangen auch eine andere Entwicklungspolitikgegenüber dem Süden, was die Politiker heute noch nicht merken. Anstatteine nachholende Entwicklung mit der Kaskade vom Brunnenbohren überTextilfabriken zu vielleicht späteren Maschinenfabriken zu fördern, ist dieautomatisierte Produktion anspruchsvoller Produkte überall installierbar.Entscheidend sind die «weichen Faktoren», nämlich die Rechtssicherheit unddie Berufsbildung. Diese muss man fördern, und nicht viele Millionen jährlichvon der Schweiz aus transferieren, weder direkt noch über die multilateralenHilfsbürokratien. Südostasien bot diese zwei weichen Faktoren ab Mitte der1970er-Jahre, Afrika bietet sie heute noch nicht. Das Ergebnis ist klar.

Seither ist fast die ganze Industrieproduktion voll automatisiert, so sehr, dasseine sozialdemokratische Spitzenfrau beim Besuch einer Textilfabrik für

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Sitzstoffe mit Weltgeltung fragte: «Mais où sont les ouvriers?» Sie war, wieviele Sozialisten, offenbar noch dem Bild manchesterianischer Sweatshopsverhaftet.

La Chaux-de-Fonds: Industriegeschichte in Stein geschriebenDies war nicht die erste grosse Pendelbewegung, welche dieUhrenindustrie unternahm. Schon 1876 war eine Delegation von derWeltausstellung in Philadelphia konsterniert zurückgekommen. Sie sah,dass die amerikanischen Uhrenhersteller nicht mehr einzelne Uhren inallen Teilen von den Arbeitern aufbauen liessen, sondern dass sie dieTeile maschinell in grossen Serien herstellten. Die Delegation gab beimBundesrat einen Bericht ab, und die einzelnen Industriellen machten sichsofort an die Mechanisierung. Damit wurden die kleinenManufakturateliers in den obersten, lichtdurchfluteten Hausetagen derSchachbrettstadt La Chaux-de-Fonds in die neuen Uhrenfabrikenabgezogen. Die Gegend proletarisierte sich, die Gewerkschaften undsogar die Anarchisten errangen starke Stellungen. Dafür waren dienunmehr grossen Marken stark genug zur Werbung, zu wirksamenVertretungen in der weiten Welt. Noch heute kann man die grossenFensterreihen der ehemaligen Manufakturen zuoberst an den grauenHausfassaden in La Chaux-de-Fonds sehen. Die frühereProduktionsorganisation hat sich in der Architektur eingegraben. Das tutsie auch heute – vor den Toren der Jurastädte oder Genfs steckenGlaspaläste wie grosse Juwelen in der Landschaft, die neuen Tempel dergrossen Marken.

Alte Uhrenarbeiter erzählten übrigens, dass in den kleinenManufakturen vor 1900 junge Frauen von den Arbeitern angestellt waren,welche ihnen während der Arbeit die Weltliteratur vorlasen.

Den Kopf hinhalten

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Vorträge und Beratungen vor den durch Umstrukturierungen betroffenenSektionen nahm ich immer an, auch bei Schliessungen in anderen Branchen, z.B. in der deutsch-schweizerischen Maschinenindustrie der 1980er-Jahre. Aberes zehrte enorm an der Seele, vor 200 bis 300 Arbeiterinnen und Arbeitern zureden, von denen man wusste, es würde die Hälfte oder mehr arbeitslos. Ichversuchte, realistische Perspektiven zu zeigen, keine rosa Versprechungen zumachen und auch nicht die Unternehmerseite in die Pfanne zu hauen. Oftwaren ja die Grundwellen der Technik und des Weltmarktes schuld an derLage; zudem half das Moralisieren sowieso nicht weiter. Dabei wurde man alsWirtschaftler der Gewerkschaft zum Blitzableiter für Dinge, die man nichtverursacht hatte. Die Mitglieder hatten jahrelang Beiträge bezahlt, nur umjetzt zu vernehmen, dass man nicht viel machen konnte.

Manche Zentralsekretäre oder Präsidenten, die gemäss dem meist gutenEinvernehmen mit den Firmen manchmal ein halbes Jahr im Voraus über einekommende Massenentlassung orientiert wurden, waren in einer nochverzwickteren Lage. So liessen sie die mehreren Hundert künftiger Betroffenerihr Leben leben, Geld ausgeben, in der Stelle bleiben, obwohl eigentlich schonalles anders war. Ich finde, diese Präsidenten hätten dem Firmenvertretersagen müssen, sofort an die Vorbereitungen des Falls zu gehen. Manchmalstanden sie dagegen erst nach der Bekanntgabe auf und sprachen dann vonProvokation oder Versagen.

Nach dem Jahr 2000 hörte ich von vertrauenswürdigen Zeugen aufArbeitgeberseite (z. B. im Bau, in Maschinenfabriken und bei der Post), dassdie Vertreter der Unia und der Postgewerkschaft begannen, beiVerhandlungen oder Massnahmen intern Zustimmung zu signalisieren, dannaber öffentlich wütend-aggressive Kampagnen dagegen zu machen. Damitwurde das Gebot von Treu und Glauben verletzt, und die persönlicheVerlässlichkeit (man kann auch sagen: der Charakter) derGewerkschaftsführer stand infrage. Bei der Neuaushandlung desLandesmantelvertrages nach 2000 signalisierten die Arbeitgeber sodannihrerseits, dass sie ihn so nicht wieder unterzeichnen würden. Dies hätte aber

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die Solidaritätsbeiträge der unterstellten Arbeiter gestoppt und dieGewerkschaft in finanzielle Engpässe getrieben. Sie wird deshalb immerVerträge unterschreiben, und damals wurde sie auch prompt sehr still.

Einige Jahre vorher hatten mit der Frühpensionierung im Bau alleBeteiligten das Gesicht wahren können. Die Gewerkschaft konntetriumphieren, denn es galt jetzt das Alter 60, bezahlt durch die Arbeitgeber.Die Baumeister erhielten aber die Zusicherung, dass die Reallöhne etwa zweiJahre lang stabil blieben. Die auflaufende Produktivität bezahlte so jährlichwiederkehrend die zusätzlichen Pensionskosten. Es machte Sinn, dieBauarbeiter, die körperlich gefordert sind, mit 60 zu pensionieren, denn sonstwären Invaliditätskosten aufgetreten, und die Branchenregelung übertrugihrerseits die Kosten nicht an die Allgemeinheit, sondern über die Preise anden Kunden, an den Verursacher. Später, als das System überfordert war, gingman still und heimlich auf 61 Jahre hoch, wieder unter Gesichtswahrung fürdie Gewerkschaft.

So laufen Verhandlungen konkretAlle abstrakten Betrachtungen von gewerkschaftlichen undunternehmerischen Lagern, Kapitalinteressen usw. werden durch diekonkreten Verkehrsformen ihrer Vertreter eher illusorisch. Sie steckenalle zusammen im gleichen System «Standort und WertschöpfungSchweiz» und müssen es am Laufen halten. So fasste der Metall- undUhrenarbeiterverband SMUV im Sommer 1988 für die Verhandlungenzum neuen Vertrag recht sonore Beschlüsse, auf welche der Direktor desArbeitgeberdachverbandes mit einem sehr angriffigen Artikel antwortete.Der SMUV-Verhandlungsleiter schrieb ihm einen gepfefferten Brief, mitKopie an den Präsidenten der Arbeitgeber, der aber sensationellerweiseseinen eigenen Verbandsdirektor genauso zurechtwies, mit Kopie wiederzurück an den SMUV.

Während einer Schiedsgerichtverhandlung um den TeuerungsausgleichTausender von Arbeitern kam in einer Verhandlungspause der

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Gewerkschaftspräsident auf mich als Richter zu und sagte: «Wir hauender Katz den Schwanz ab, wir einigen uns mit der Firma», und liess dieForderungen fahren. Er hatte sich Minuten vorher mit dem Arbeitgebergetroffen. Ich war verblüfft und auch verärgert, weil mit demRichterspruch irgendein Mü an Erhöhung erreichbar gewesen wäre. Dochder Präsident schien erwogen zu haben, dass ein formell entschiedener,aber kleiner Lohnrutsch weniger wert war als eine rein materielleEinigung, auf welche man in späteren Verhandlungen zurückkommenkonnte. Auch gut.

Kleine Tricks kommen auch zu Ehren. Um geneigt zu werden, bekamin der Berner Schokoladefabrik Tobler der Gewerkschaftssekretär immervorweg eine grosse Pralinenschachtel, die er aber mit viel innerlichemBedauern sofort auf dem Hutständer ablegte und vergass, weil er sichdamit beim Betriebsrundgang nicht von den Arbeitern sehen lassenkonnte.

In der Bieler Maschinenindustrie wollten die Sekretäre eineLohnerhebung machen, was aber in einem Lande, wo nicht einmal dieStelleninserate den Lohn angeben, schwierig ist. So brachten sieimmerhin die Arbeiter einer Fabrik dazu, die Lohnausweise eines Monatsabzugeben, nachdem sie oben den Namen abgetrennt hatten. Man sagte,dass solche Umfragen durch die Geschäftsleitungen am meisten vonallem gefürchtet seien.

Der Präsident einer Bieler Maschinenbaufirma wollte schon lange mitdem SMUV-Präsidenten auf Du machen, der aber verweigerte sichimmer. Als er diesen jedoch antraf, wie er mit Bundesrat Kurt Furglervon Du zu Du redete, rief er: «Aha, man muss Bundesrat sein, um vonihnen das Du zu bekommen.» Da musste der Gewerkschafter einwilligen,und der Maschinenindustrielle konnte wunschgemäss bei der nächstenVerhandlung alle Arbeitnehmer schockieren, indem er dengewerkschaftlichen Präsidenten auffällig duzte.

(Ich selbst war – im Gegensatz zur Duz-Seligkeit der Berner Politszene

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– auch nach 15 Jahren im SGB mit keinem Arbeitgeber auf Du.)Bei einer anderen Bieler Werkzeugmaschinenfabrik erinnerte sich die

Betriebskommission, dass vor den Verhandlungen seltsamerweise immerwenige Aufträge eingingen, nach den Verhandlungen aber stets gleichpalettenweise.

An einer Auslegeordnung zwischen dem Präsidenten und denUhrensekretären des SMUV sowie dem Leiter der alten ASUAG, RogerAnker, und seinen Direktoren wurde 1978 mögliche Kurzarbeitangedeutet. Die SMUV-Sekretäre wollten Auskunft über die Modalitäten.Sie erhielten diese, und der SMUV-Präsident bedankte sich am Schlussmaliziös für die Zusicherungen, was dann die Firmenseite erschrockenrelativierte: Es sei nur eine provisorische Information gewesen.

Der Austausch war übrigens sehr offen. Präsident Anker, ein integrerMann von hoher Intelligenz und knapper Ausdruckweise, informierte dieGewerkschafter mit den Folien, die auch dem Verwaltungsrat vorlagen.Dies bestätigte der SMUV-Präsident, der als Vertreter derEidgenossenschaft diesem Rat ebenfalls angehörte.

Spieltheorie am Verhandlungstisch

Man kann die Vertragspartnerbeziehungen auch spieltheoretisch betrachten.Der Erfolg der Funktionäre beider Seiten ist ihre wichtige Legitimation fürStatus und Wiederwahl gegenüber internen Konkurrenten. Doch dieser Erfolghängt weitgehend von der Gegenseite ab und davon, ob sie Konzessionenmacht. Deshalb darf ein Gewerkschaftsführer, aber auch einArbeitgebersekretär die Gegenseite nie an die Wand drücken. Er muss sie dasGesicht wahren lassen. Der gegenüberstehende Verband würde sonst zerfallenoder in Diadochenkämpfe ausbrechen und lange Zeit als einheitlicher unddamit verlässlicher Verhandlungspartner ausfallen. Der Ruf nach Treu und

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Glauben hat also eine handfeste und nicht nur eine moralische Seite.Diese Zwitterstellung, mit einem Bein im eigenen Verband und mit dem

anderen im Partnerverband, ergibt sich aus dem spezifisch nord- undmitteleuropäischen Modell der Vertragsbeziehungen. Durch den Willen zumKonsens, zu einer Arbeitsmarktpolitik des No-Nonsense nahmen dieGewerkschaften an der Verwaltungsmacht der Arbeit teil. Deshalb gilt es zutaktieren, Gefolgschaft zu motivieren und Status zu erringen. Es gibt keineFundamentalopposition zum System, zur Unternehmerwirtschaft mitPrivateigentum. Die schon erwähnten Kongressrevolutionäre, die immerwieder, oft aus dem Welschland, auftauchen und unterschwellig denVerbänden und ihren Vertretern vorwerfen, verkauft zu sein, keine echteUmwälzung anzustreben, waren natürlich rein und frei von jeder konkretenVerantwortung.

Insbesondere die Forderung nach einem nationalen Mindestlohn tauchteregelmässig an den Kongressen auf. Wir hatten vom Sekretariat und dann vomVorstand aus den Mut, diese Vorstösse abzulehnen und kamen damit immerdurch. Einerseits stimmten die Verbandsleiter dagegen, weil sonst dieVerhandlungen – und die Verhandlungserfolge – für dieGesamtarbeitsverträge und die Lohnrunden ausgeblieben oder eingeebnetworden wären. Andererseits sahen diese Verantwortlichen, dass die bisherigenLöhne nach Branchen und Firmen unterschiedlich waren. Hätte man denPolitikern in den Folgejahren mit der Einrichtung eines Mindestlohns das Heftin die Hand gegeben, wäre bei der bürgerlichen Mehrheit auch eineNivellierung nach unten denkbar gewesen. Und wir Ökonomen vom SGBschilderten, wie in Frankreich und anderswo der Mindestlohn einfach zumNormallohn für Berufseinsteiger, Frauen, Unqualifizierte und Immigrantengeworden war, dass der Mindestlohn sich nie und nimmer an denunterschiedlichen Stundenproduktivitäten der Branchen und Firmenorientieren könne und dass deshalb viele einfache Arbeiten wegrationalisiertoder ausgelagert würden.

Heute tönt es anders, und der Gewerkschaftsbund hat sich schon mehrmals

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für einen nationalen Mindestlohn ausgesprochen – oder eher dieKongressrevolutionäre und Spitzenfunktionäre, die wenig vonunternehmerischen Reaktionen auf solche Maximalismen wissen.

Staat statt eigener Stärke

Die meisten Linken wollten immer mehr Aufgaben dem Staat übertragen.Früher hatten die Gewerkschaften eigene Krankenkassen, eigenePensionskassen mit den Firmen und eigene Arbeitslosenkassen geführt. Damitgewann man neue Mitglieder. Immer mehr entwand ihnen der Staat diese«unique selling propositions». Der SMUV wehrte sich vor 1985 noch gegen dasObligatorium der zweiten Säule, weil seine Mitglieder meist schon solchehatten. Hingegen rief ein Kollege im SGB-Sekretariat nach der Annahme desObligatoriums freudig aus: «Jetzt müssen wir nicht mehr sparen!», denn derStaat sorgte an der Stelle der Einzelnen oder der gewerkschaftlichenSparkassen vor. Andere Aufgaben wurden ins Arbeitsrecht eingeschrieben,was den Gewerkschaften auch wieder Zuständigkeiten wegnahm. In Europaübertrieb man dies ein wenig, z. B. in Deutschland, wo man bis zurMitbestimmung aussenstehender Funktionäre über die Firmen ging oder einenKündigungsschutz einführte, in dessen Folge die Firmen niemanden mehreinstellen konnten und wo die bloss befristeten Verträge, also das Prekariat,überhandnahmen. Dies war der Anlass für wieder neue Regeln, z. B. für dieKlagemöglichkeit auf Diskriminierung eines bei einer Bewerbungabgewiesenen Kandidaten und der Beweislast der Firma in solchen Fällen.Weil die Firmen dann wieder auf Temporärbeschäftigte auswichen, wurdenun in der EG mit einer Richtlinie vorgeschrieben, dass solchesTemporärpersonal ab der ersten Stunde die gleichen Bedingungen geniessenmüsse wie langjährige Angestellte. Das nervt nicht nur die Firmen, die esberappen müssen, sondern auch die alteingesessenen Arbeitskräfte, deren

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Sitzleder und Ausharren in guten wie schlechten Zeiten dadurch minderhonoriert wird. Aber Funktionäre und Politiker können nicht in deren Hautschlüpfen, sondern folgen abstrakten Leitideen der «Gleichheit».

Ich hatte mich gegenüber dem Sekretariat des SGB sowie gegenüber derLeiterin der Kommission für Arbeitsrecht dezidiert gegen Forderungen nachmehr Kündigungsschutz ausgesprochen, und sie unterblieben. Mein Beitragzum Werkplatz Schweiz. Wo bleibt das Denkmal?

Die Funktionäre berichteten an Versammlungen, an denen ich jeweils zumSchluss einen Wirtschaftsvortrag halten sollte, immer mehr über Erfolgeseltsamer Art. Sie hätten etwa erreicht, dass Überzeit nicht mehr möglich sei.Konsternation der Arbeiter – denn da oder dort den Lohn nachzubessern, warihr eigenes Unternehmertum und bedeutete den Unterschied zwischen einerVierzimmer- und einer Fünfzimmerwohnung. Oder dass Überzeit nicht mehrbezahlt, sondern in Freizeit abgegolten werde. Ebenso verrückt. Immer dieseIdee, dass die Arbeit knapp sei, dass jeder, der mehr arbeite, dem anderen dieArbeit stehle – ein Malthusianismus, der den wirtschaftlichen UntergangWesteuropas seit 1980 einleitete. Oder die Funktionäre triumphierten, dassUngelernte nun fast genauso viel Lohn wie Gelernte erhalten würden. Als diesan einer Versammlung in Neuchâtel verkündet wurde, explodierte eineTeilnehmerin, eine Verkäufern. Sie habe ausgerechnet, dass ihr die geringeLohndifferenz zu den Ungelernten den Lohnverzicht während der dreijährigenLehre über alle 40 Arbeitsjahre nicht mehr entschädige. Siehe da, einfacheLeute errechnen ihre individuelle Bildungsrendite, welche die Funktionäre ausabstrakten Ideologien der Gleichheit verraten hatten. Sie kannten eben dieobjektiven Interessen der Arbeiter, welche man ihren bloss individuellen,subjektiven Stimmungen nicht opfern durfte.

Bürgerliche Politiker stimmen solchen Regulierungen in Gesetzen oft zu,weil sie keine Ahnung haben, was in der Wirklichkeit schon durch Verbändegeordnet wurde. Oft wissen sie auch nicht, ob es überhaupt ein echtes Problemist oder ob sie gegenüber Forderungen vermeintlich sozialer Art sofort einschlechtes Gewissen bekommen. Ohne Kenntnis darüber, wie die

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Geschäftsleute oder die Arbeiter ticken, vertrauen sie den abstraktenLeitlinien, den holistischen, vermeintlich übergeordneten Zielen, auf welchedie Gesellschaft zustreben soll.

Wenn Bürgerliche Sozialpolitik betreibenEin ausserordentliches Lehrstück über die Dozilität aus demSchuldbewusstsein bürgerlicher Politiker gegenüber unreflektiertenForderungen der Linken erlebte man in der Rezession nach 1990.Irgendwann wurden vermehrt jüngere Arbeitende arbeitslos, und sofortging das Geschrei los, man müsse Maturanden und Hochschulabgängerab dem fünften Tag nach der Prüfung Taggelder beziehen lassen. Gesagt,getan, und sofort vervielfachte sich die Zahl der Jugendarbeitslosigkeit,denn schon damals hatten die Jungen nicht mehr die Scham der Älteren,und ganze Maturajahrgänge und andere Absolventen gingen sofort aufsArbeitsamt. Sie liessen sich die Zeit bis zur Aufnahme desWeiterstudiums finanzieren und machten unterdessen z. B. eine schöneReise. Überhaupt war die erste Auflage der Arbeitslosenversicherungohne jede technische Kenntnis solcher Mitnahmeeffekte oder «moralhazards» aufgegleist worden, obwohl man sie im Ausland schon kannte.Als dann Mitte der 1990er-Jahre die Defizite ins Unermessliche wuchsen,sann man in der Verwaltung auf Abhilfe.

Dazu konnte ich Erfahrungen einbringen, die ein Arbeitgebervertreter,ein Beamter des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA)und ich, noch als SGB-Vertreter, auf Einladung der schwedischenRegierung Mitte der 1980er-Jahre gesammelt hatten. Eine Woche langbesichtigten wir Orte der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, indemTaggeldbezüger angehalten wurden, niederschwellige Arbeiten oderUmschulungen abzuleisten. Auf einen BIGA-Auftrag hin legte ich später,etwa 1994, als Journalist diese aktivierenden Politiken dar, indem ich inder Bibliothek des Amtes die Quellen zusammentrug. Was die Beamtenaus dem oberen Stock dort nicht wussten, lieferte ich aus ihren eigenen

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Archivbeständen der OECD- und den Fachzeitschriften gegen Entgelt ab.Das war eine schöne Nebensache, die Hauptsache folgte: An einemrunden Tisch mit Politikern aller Parteien, mit BIGA-Beamten undVerbandsvertretern wurden dann diese Vorschläge ins Arbeitslosengesetzgebracht. Ein Kompromiss durch «unelected officials» wurde erreicht,den so und nicht anders gutzuheissen die Parlamentarier dannangewiesen wurden. Und sie revidierten das Gesetz, das seither dieseAktivierung leistet und in Europa, neben Skandinavien, ein Vorbild seinkann.

Man bezahlte mich also, um für die Beamten ihre eigeneDokumentation zu lesen, aber das BIGA sparte an einem anderen,unsinnigen Ort: Vor der Schwedenreise musste der BIGA-Beamte seinenChefs versprechen, keine Gegeneinladung auszusprechen, denn das BIGA(immerhin das schweizerische Arbeitsministerium) hatte einBesucherbudget von nur 700 Franken im Jahr.

«Enfranchising» – alle machen es, niemand kennt es

In der europäischen Sozialpolitik glauben alle Politiker, die Geschichte seilinear, verlaufe zum «immer Mehr» und zum «immer Besseren» und seisozusagen ein Heilsweg. Dass sich Verhältnisse ändern, dass Eingriffe dasEingegriffene verändern, dass unbeabsichtigte Konsequenzen auftretenkönnen, haben sie nicht im Gespür. Mit dem Geschrei, dass jede Änderung einAbbau des Sozialen sei, halten die Funktionäre der Linken zudem dieintellektuelle Lufthoheit – vorderhand. Ich führe diese Haltung u. a. auf das«enfranchising» der britischen Reformbewegung nach 1830 zurück. Damalsbegann die Bewegung zu voller Demokratie und Gleichheit auf politischerEbene. Die Zensuswahlrechte wurden abgeschafft, also passives und aktivesWahlrecht nicht mehr an Vermögensminima gebunden, später sank das

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Stimmrechtsalter in allen Staaten auf 20, dann auf 18 Jahre; dann kamen dieFrauen dazu, oft auch Ausländer. Dieser Wille zur politischen Gleichheitschwappte aber nach 1945 auf die wirtschaftliche Ebene hinüber. DieEinkommen sollten angeglichen werden (das Vermögen ist allen aber wurscht,rechts wie links), rundum gefördert wurden die Lebens-, Bildungs- undEinstellungschancen. Doch die politische Gleichberechtigung kostete nichts.Solche Strategien des Ausgleichs im Wirtschaftlichen sind jedoch teuer, sierespektieren die dazu notwendig gehörende Vorleistung und Leistung nicht,welche immer «die anderen» erbringen müssen. Wenn eine Mehrheit derBürger merkt, dass sie ihre auf dem Markt verpassten Einkommensteile überdie Urne hereinholen können, ist der reiche Westen am Ende.

Bürger und Politiker müssen doch selbst in der Jugend erfahren haben, wieUnternehmer, die eigenes Geld wagen, ticken. Sonst verfallen sie demanklagenden Geschrei der Kritiker und flüchten in holistische Zielvorgaben,um Ruhe zu schaffen.

Schon das Beispiel der Lehrlinge in unserem damaligen Kleinbetrieb, aberauch mehrere Studien von Professor Stefan Wolter zeigen, dass die Lehrlingein der Schweiz noch heute rentieren. Mein Vater sagte: «Nach der Hälfte derLehre zahlen sie zurück – und darüber hinaus.» Selbstverständlich gab erjenen, die dies leisteten, auch Zulagen über den Mindestlohn hinaus. DieStudien ihrerseits zeigen, dass das gegenüber der deutschen Berufslehre meistzusätzliche Jahr Lehrzeit in der Schweiz diesen Rückfluss, die Rentabilität derLehrlinge für den Betrieb, sichert. Da braucht es eben keine Zwänge, Quotenund Abgaben, um die Lehrbetriebe zu motivieren. Der individuelle Antriebund seine koordinierende Hand zu Hunderttausenden reichen. Sie bewirkendas hohe Gesamtziel, nämlich eine gut ausgebildete und beschäftigteJungarbeiterschaft heranzuziehen.

Freiheit oder Sicherheit – der Mut der LiberalenDank solcher Erfahrungen erkennt man einen entscheidenden Mechanismus,der Liberale schwächt und Interventionisten stärkt: Liberale Konzepte wirken

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erst in der Zukunft. Freies Arbeitsrecht lässt die Firmen neue Leute einstellen,und ein freier Wohnungsmarkt regt Investoren zu Neubauten an. Aber daswirkt erst auf Jahre hinaus und ist nicht zurechenbar, weil sich andereUmstände auch noch ändern. Ein Verbot oder Gebot hingegen wirkt sofort,und wenn es Verwerfungen zeigt, wie eben, dass die Firmen nicht einstellen,wenn Wohnbauinvestoren fliehen, rechtfertigt die folgende Wohnungsnotoder Arbeitslosigkeit erst recht scharfe, neue Massnahmen. Liberalismus setzteine aufgeklärte Bürgerschaft und Politiker der ruhigen Hand voraus.

Die ebenfalls verheerende weitere Mechanik zum Interventionsstaat – auchdurch Bürgerliche – ist das anwaltschaftliche Reden: Man behauptet völligunbewiesen oder nur aufgrund einiger weniger Fälle aus den Medien, dass dieLeute ja doch zu wenig wissen, auf alles hereinfallen und sich nicht wehrenkönnten. Die Politiker schwingen sich zu ihren Anwälten auf, und deshalbbraucht es Mitbestimmung, Mieterschutz, Datenschutz,Rassismuskommissionen, Tierschutz, Hundegesetze, Diplomvorschriften,Produktehaftpflicht, Beweislastumkehr zulasten der Unternehmerschaft sowieRekurswege allenthalben. Weil einige Leute stolpern könnten, legt man gleichalle in Ketten.

Die Einwanderer sind integriert – dort, wo es zählt

Die grosse Einwanderung der letzten 50 Jahre in die Schweiz fordert auch dieArbeitgeberverbände heraus. Deren Versammlungen spiegeln heute nichtimmer die Wirklichkeit im Lande draussen; es sind wenige ausländischeGeschäftsinhaber darunter. Bei einzelnen Gewerkschaften sind Ausländeretwas zahlreicher. Doch mit der zweiten und dritten Generation bietet alleindas Strassenbild oder das gelbe Berufsregister einer Region ein buntes Bildgelungener Integration – nämlich viele Geschäfte solcher ehemaligerEinwanderer. Wenn sie in die Verbände einträten, sähen sie, wie die Schweiz

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zwischen Individuum und Staat funktioniert, wie diese Zwischenebenenwirken, und sie würden den direkten Zugang zu Politikern erkennen.

Im Arbeitsmarkt selbst sind die Ausländer auch der ersten Generation schonintegriert – viel besser als im übrigen Europa, denn die Erwerbsquote der 15-bis 64-jährigen Einwanderer ist praktisch gleich hoch wie jene der Schweizer.Sie leben nicht, wie in Frankreich, Deutschland oder England, in Wohngettosdes vermeintlich sozialen Wohnungsbaus. Sie sind alle kranken- undaltersversichert und pensionsberechtigt. Das ist die Integration, die zählt. Siemacht unabhängig durch Einkommen, sie motiviert, bildet «on-the-job» aus,gibt Status und stiftet Interesse an Stabilität.

Ausserdem zog die Schweiz seit 2000, im Verhältnis gesehen, doppelt soviele Immigranten an wie die USA, und sie bürgerte auch doppelt so vieleAusländer ein.

Grundbuch, Obligationenrecht (OR) und Zivilgesetzbuch (ZGB) – wo JuristenGesellschaft stiftenIch verkaufte meine Junggesellenwohnung an einen Mazedonier albanischerAbstammung, der in der Schweiz mit seiner Frau zusammen etwa drei Stellenhatte und in Mazedonien mit seinem Vater sogar einige Betriebe besitzt, hieraber das Betriebskapital dazu verdient und anspart. Als er sah, dass einigeTage, nachdem wir einig wurden, schon der Termin beim Notar kam, dassnach der Unterschrift beim Notar schon das Grundbuch anvisiert war und erwirklicher Besitzer wurde, war er begeistert. Gewiss würde er dieseschweizerischen Institutionen mit dem Gewehr in der Hand verteidigen –Grundbuch, OR, ZGB. Er ist integriert, weil er gemäss unseren Gesetzen auchgewinnen kann. Hernando de Soto zeigt in seinem Buch Mystery of Capital,dass etwa in Ägypten der Eintrag eines Bauerngrundstücks bis zu 15 Jahrendauern kann. So lange bekommt der Bauer auch keine Kredite und wagt sichnicht zu Investitionen vor.

Daher ärgere ich mich immer, wenn gutmeinende, aber von solchen Tatsachen

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unbeleckte Kabarettisten unweigerlich eine Nummer abziehen, wo die tumbenSchweizer als integrationsfeindlich vorkommen. Wie kann man sich sotäuschen, wie falsch kann das Selbstbild einer Nation werden, wenn dieGlitterati ihr andauernd ein kriecherisches Schuldbewusstsein einimpfen!

Integration findet durch die Arbeitschancen statt – und wenn dieImmigranten merken, dass sie durch die für alle gleichen, republikanischenGesetze auch mal gewinnen können. Deswegen muss man ihreKnoblauchküche noch lange nicht lieben (ich tu’s aber), und sie müssen nichtDialekt sprechen.

Auch die SPS, Kirchen und Ethiker können sich nicht genug imHeruntermachen ereifern. Die SPS-Vertreter von heute wären sehr beschämtund still, würden sie die lautstarken Breitseiten der Partei und derGewerkschaften von 1957 gegen die Ausländereinwanderung kennen.

Das war damals aber auch durchaus erklärlich, denn die Einwanderungunqualifizierter Arbeiter war eine direkte Arbeitsmarktkonkurrenz ihrereinfachen Mitglieder. Als in den 1970er-Jahren durch die Firma Hatt-Halleraus Zürich das neue Spital in Herisau gebaut wurde, brachte sie Italiener mit,die auf der Baustelle sogar rannten, um die Arbeit zu machen. Auch inGewerkschaftsversammlungen hörte ich Arbeiter klagen, diese jungen,aufstiegs- und einkommensorientierten Einwanderer machten jede MengeÜberstunden, was einem langsam in die Jahre kommenden, verheiratetenArbeiter nicht mehr das alleinige Lebensziel war. Doch schon in den 1980er-Jahren setzte das Impfen des Schuldbewusstseins ein, in den Gewerkschaftendurch immer mehr akademische Sekretäre, die noch nie auf dem Bau oder ineiner Fabrik gearbeitet hatten und die auch nicht als Sohn einesSelbstständigen wie ich zusammen mit Lehrlingen und Arbeitern Staubschlucken mussten. Es steigerte sich sogar zu Ausdrücken wie «die Ausländersind eine Chance», wonach ich ganze Säle treuer Mitglieder sah, die alle einesteile Falte auf der Stirne hatten. Diskutiert wurde nicht mehr, weil die Leuteihre Vorbehalte nicht wortgewaltig vorbringen konnten und weil es jaoffenbar politisch nicht richtig war. Dann aber fehlten die Leute einfach in den

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Versammlungen. 1977, als ich anfing, dort nach dem statutarischen Teil überWirtschaftslage und anderes zu referieren, waren die Säle voll, 1992 kamenmanchmal noch zwölf Leute, und ich bin unbescheiden genug zu denken, dassdas nicht an meiner rhetorischen Leistung lag.

Wie objektiv richtig denkende Linke die Arbeiter vertrieben

Desgleichen entfremdeten die Funktionäre die ehemals brave und manchmalkämpferische sozialdemokratische und gewerkschaftliche Basis, weil sie invulgärem Keynesianismus immer die Staatsdefizite und Staatsschuldenverteidigten: Das sei «ein starker und solidarischer Staat». Dabei will das Volknur eines: den vorsichtigen und sparsamen Staat.

Ebenso haben die Funktionäre mit der weichen Linie in den Schulen denMitgliedern eine Umwertung aller Werte nach Nietzsche vorgetragen: keineNoten, keine Leistung, viele aufpäppelnde Sonderbetreuungen, niemand istTäter, alle sind Opfer. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieseVerachtung der Leistung ausgerechnet den Kindern unterer Schichten schadet,denn gerade sie müssen Leistung zeigen, um hochzukommen. Oder siegewöhnen sich an die aufpäppelnden Sonderbetreuungen und daran, dass sieja gar nichts für nichts können, ein Leben lang. Und kommen nie hoch. Auchhier bekamen übergeordnete, holistische Gesellschaftsziele und Visionen beilinken Funktionären den Vorrang vor dem, was die einfachen Mitglieder – undWähler – eigentlich wollten: Arbeit und Brot, tiefe Steuern, gute Schulen.

Es ging nicht lange, da hat die Schweizerische Volkspartei (SVP) diese dreibrachliegenden, freventlich aufgewühlten Felder neu bestellt und ist mit derForderung nach Härte bei Einwanderung, Staatsfinanzen und Schule gutangekommen. Sie vertritt die Wünsche des Volkes.

Die Linken denken allerdings schon seit dem «besseren Morgen», den Marx,Lenin und die Schreibtischphilosophen der Frankfurter Schule erfanden, dass

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das Volk eben ein irregeleitetes Bewusstsein und damit nicht Recht hat.Unpopulär bleiben auch immer jene Propagandakampagnen, welche den

Leuten einzureden versuchten, es gehe ihnen hundsschlecht. Das hört niemandgerne, niemand möchte dazu gehören, und ausserdem stimmte es immerweniger, nach der Verdreifachung der Reallöhne und dem Totalausbau derSozialpolitik seit 1945.

Geschwächt wurde die Gewerkschaft als Bewegung auch durchunbeabsichtigte Modernisierungseffekte. Früher ging der Einzüger alle Monatebei allen Mitgliedern seiner lokalen Sektion vorbei und verkaufte dieMonatsmarke, die man ins Mitgliederheft einklebte. Im gleichen Zug hatte erUnterschriftenbögen für Initiativen und Referenden dabei, die damit schnellzustande kamen und den zentralen Vertretern ihre Verhandlungsmacht inBerner Kommissionen sicherten. Desgleichen konnte für die zahlreichen«Frontorganisationen» geworben werden, für die Büchergilde, denSchweizerischen Arbeiter-Turn- und Sportverband (SATUS), denArbeiterschützenbund, die Radfahrerclubs, Arbeiterschachclubs, Ferienheime,Volkshäuser, Krankenkassen, Zeitungen und die Roten Falken. Als derEinzahlungsschein dies ersetzte, fiel der monatliche persönliche Kontakt mitmehreren Hunderttausend Mitgliedern einfach weg – die Bewegung auch.

Natürlich macht man auch den Wandel der Lebens- undInformationsgewohnheiten dafür verantwortlich – neben der Übernahme allerAbfederungen durch den Staat und neben der soeben beschriebenenUmwertung aller Werte. Aber die neuen Bewegungen, für die Umwelt etwa,funktionieren weiterhin ähnlich aktiv und direkt, wenn auch nicht gerade mitMarken.

Radfahrer im RaumzeitalterWie aus einer Raum-Zeit-Kapsel entlehnt, legte man an der Feier des 1.Mai 1986 in Altdorf in Uri bei der SP eine Radfahrereinlage ein. Aus denalten Zeiten bestand als Gegenpol zu den bürgerlichen Automobilclubsan vielen Orten eine solche Radfahrergruppe, beschickt aus linken

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Haushalten und Turnvereinen. Die Altdorfer Gruppe bestand offenbarnur noch aus einer Frau und ihrer Tochter, die auftraten. Die Frau wargut 40, nicht mehr die schlankste, und sie fuhr mit dem Kunstrad dieBasisrunden, während ihre etwa 13-jährige Tochter unwillig und verlegendarauf herumturnen musste, vorwärts, rückwärts, stehend, imHandstand. Beide trugen ein fleischfarbenes, verwaschenes Tricot. Nichtsdaneben als die nackte Bühne. Es war das Elend überlebter, ausgedünnterFormen der Arbeiterunterhaltung. Diese Frau war unendlich tapfer,angetan mit nichts als dem Bekennermut der alten Arbeiterbewegungund dem schäbigen Tricot.

Eine Schwächung besonderer Art betraf aufmüpfigeBetriebskommissionsmitglieder. Ich habe mehrfach gehört, dass diese nichtetwa entlassen oder wie damals im Ostblock nach Sibirien verbannt wurden,sondern sie wurden mit deutlich höherem Lohn befördert und als Vorarbeiteroder Betriebsleiter in andere Abteilungen versetzt. Dabei wurde ihnen dasbesondere Treueverhältnis einer Kaderperson gegenüber der Firmaeindringlich erklärt. Die individuelle Motivation dieser Belegschaftsvertreterkann ich nicht verurteilen, aber die Wirkung auf die zurückgebliebenenMitglieder in der Firma war verheerender als Sibirien. Alles schienhoffnungslos käuflich.

Der andere Ausweg für aufmüpfige, in den Firmen gemobbte Arbeiter wardie Wahl in eine Gewerkschaftsfunktion. Ich kannte Streikführer, die nachherals Sekretäre und Präsidenten grosses Vertrauen in der Mitgliedschaftgenossen. Sie konnten dann sogar glaubwürdig gegen Schönredner von linksauftreten, weil sie wussten, was ein verlorener Arbeitskampf an Reputationund Geld kostet.

Jeder hat Kapital, jeder ist Unternehmer

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Mein persönliches gesellschaftliches Reformprojekt neben denliberalisierenden Reformen bei Firmen, Kartellen und Weltmarkt war und istdie Beteiligung der Arbeitenden an den Firmen. Mit sanften oderausdrücklichen Vorstössen dazu lief ich 15 Jahre lang in den Gewerkschaften,bei Linken wie bei Bürgerlichen ins Leere. Mit gut 20 Jahren war ich sechsMonate in London, um – nach Griechisch und Latein im katholischenKollegium – endlich Englisch zu lernen. Ich lernte die Ideale der «fabiansociety» kennen und sah die seit den 1930er-Jahren prosperierendeWarenhausgruppe John Lewis, die den Mitarbeitern gehört. Ich kannte wiealle Schweizer die allen Kunden – und daher auch sozusagen niemandem –gehörenden Grossfirmen Migros, Coop, die Mobiliarversicherung und dieWohngenossenschaften. Solange sich solche kooperativen Eigentumsformenim Markt bewähren müssen, bleiben sie wendig und innovativ. Aus der Sichtdes kapitalistischen Systems ist nicht die Eigentumsform, sondern das Markt-und Wettbewerbsprinzip wichtiger.

Ich hatte 1970 in Belgrad einen Kurs über das jugoslawische Modell derSelbstverwaltung besucht, der in rosarotem Zuckerguss die Vorteile zeigte. ImIdealfall waren es gemeindeeigene Betriebe, deren einzelne Bereiche alsProfitzentren zugunsten der Mitarbeiter geführt wurden. Ich wusste um die«familistères» der französischen Frühsozialisten. In Frankreich hatte Präsidentde Gaulle «la participation», eine staatlich geförderte Sparkasse in den Firmen,eingeführt. Deutschland hatte das 624-DM-Gesetz zur Vermögensbildung. Inden USA gab es das weitverbreitete Employee Stock Ownership Program(ESOP). Die Schweden hatten ein Gesetz, wonach die Firmen 20 Prozent derGewinne in Fonds einlegen mussten, welche mit diesem Bargeld dann Aktienzuhanden der Gewerkschaftsmitglieder kauften – eine zentralistische,komplizierte und weit von den Individuen entfernte Lösung, denn ich finde,dass eine moderne Adaptation über die Gewinn- bzw. Aktienbeteiligung derEinzelnen gehen müsste.

In Deutschland hatte der Experte Carl Föhl 1964 ein Gutachten für dieRegierung geschrieben, das in einer Analyse von Kreisläufen der

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Volkswirtschaft zeigte, wie die privaten Haushalte als Gruppe ihr Vermögennur in jenem Ausmass steigern, wie sie aus dem laufenden Einkommen sparenund investieren. Das tun die Reichen mehr, die Armen weniger, und über eineganze Buchseite druckte Föhl den Satz: «Wer hat, dem wird gegeben.»Ebenfalls zeigte er, dass eine hohe progressive Besteuerung der Einkommenschliesslich über die Staatsausgaben wieder den Firmen und ihren Besitzernzugutekommt.

Doch zu meinem Entsetzen hatte 1972 die grosse IG Metall ihr Nein zurVermögenspolitik entschieden und voll auf Lohn- und Konsumsteigerung derLohnabhängigen sowie auf Umverteilung über den Staat geschaltet. DasErgebnis sieht man 40 Jahre später: ein hochverschuldeter Staat, aus demRuder laufende Sozialausgaben und vermögenslose Massen. WinfriedSchmähl, einer der gewerkschaftlichen Ideologen, schrieb in dem rororo-Bändchen Das Nein zur Vermögenspolitik: «Der Besitznutzen ausWertpapieren dürfte heute bei der grossteils in städtischen Gebieten(weitgehend anonym) lebenden Bevölkerung von geringer Bedeutung sein.»Das wusste er einfach so, und für diesen überheblichen Bonzen leben diekleinen Leute anonym, vielleicht mit schwarzen, venezianischenAugenmasken. Dabei haben sie intensive persönliche Gefühle, Status, Freunde,Familie, Arbeit, Vereine; sie sind wer, in jedem einzelnen dieser Lebensläufe.Doch die deutschen Gewerkschafter wollten diese Massengesellschaft, denEinzelnen als Rädchen der Gesellschaft, ohne Verantwortung, ohne Risiko undohne Sichtbarkeit.

Auch in der Schweiz gehen nach der Finanzkrise 2008 – ohne innernZusammenhang damit – die Kritiken vieler Linker gegen dieVermögenskonzentration wieder los. Aber ihre eigene Abwehr vonVermögensbeteiligungsmodellen hat jahrzehntelang nun eine Korrekturverhindert. Denn das Vermögen in einer Gesellschaft kann nicht durchstaatliche Abschöpfungen oder Erbschaftssteuern neu verteilt werden, weildamit nur Staatskonsum betrieben wird. Es kann nur durch die Streuung vonRealkapital, also von Aktien und Immobilien geschehen, und dies direkt

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zwischen Privaten.

Kapital für Arbeitende oder Mitbestimmung für Funktionäre

Anstatt staatlicher Abschöpfungen suchte ich den anderen Weg: DieVermögensstreuung in unserem System, das auf Märkten und privatemKapitalbesitz aufbaut. Kurz nach meinem Amtsantritt konnte ich 1978 imMagazin des Tages-Anzeigers eine vielseitige Erörterung dazu schreiben. AlsWeg dazu sollten künftige reale Lohnerhöhungen mindestens teilweise alsGewinn- oder sogar als Kapitalbeteiligung ausgerichtet werden. AlsZusatzeffekt hätten die Verhandlungen darüber auch mehr Klarheit über dieLage und Gewinne der Firmen gebracht, gerade bei der Überzahl annichtkotierten Firmen. Doch herrschte in linken wie bürgerlichen Kreisen desLandes immer höfliches Zuhören, und in Sitzungen sagte der ratlose Präsidentnach solchen Vorschlägen zu den Teilnehmern: «Sie müssen noch denMenuplan ankreuzen.» Der Präsident des Gewerkschaftsbundes nahm micheinmal beim Essen beiseite und fragte: «Was sollen wir denn machen, wenndas hinhaut?» Ich antwortete: «Auflösen.» Mandat erfüllt. Denn in meinemBüro im SGB hing seit meinem Amtsantritt die Kopie der Zeitungsseite von1880, welche die acht Ziele des soeben gegründeten Gewerkschaftsbundeszitierte. Alle ersten sieben Programmpunkte waren erfüllt, es fehlte nur nochdie «endliche Abschaffung des Lohnsystems».

Aber sogar nach diesem Triumph wären den Gewerkschaften noch vieleAufgaben verblieben: Der Schutz des Arbeitsplatzes und des Lohns derArbeitenden, dann aber die Mitverhandlung der Gewinn- undKapitalbeteiligungen, allenfalls sogar Einrichtungen der Freizügigkeit derKapitalanteile, wenn die Leute ihre Stelle wechselten, oder Fonds, in welchedie Mitarbeiter ihre Firmenanteile einbringen könnten, um zu vermeiden, dassalle Eier im gleichen Korb waren – der Arbeitsplatz und das Ersparte. Auch

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wäre der Gegensatz «principal and agent», also zwischen Eigentümern undGeschäftsführung, unter anderem Vorzeichen auch aufgetreten. Bei grossemGewicht der Belegschaft im Kapital hätte sie in Krisen die Arbeitsplätzeprivilegiert und lieber Kapital vernichtet. Das wäre eine grundsätzlicheSchwäche des Systems, aber mit aussenstehender Beratung zu mildern. DieGewerkschaften hätten also genug zu tun damit. Aber die Funktionäre stehenlieber an Demonstrationen und teilen Schuldzuweisungen aus.

Moral oder Markt als Legitimation der Gewerkschaften?

Das Moralisieren versuchte ich manchmal auch mit ökonomischenArgumenten für die Notwendigkeit von Gewerkschaften zu zerstreuen, dennMärkte sind perfekte Machtzerteilungsmittel, ausser bei einigen klarenMarktversagen, so auf dem Arbeitsmarkt im 19. Jahrhundert. Wenn nämlichzu viele ihre Arbeitskraft anbieten, sinkt der Preis (Lohn), und sie müssenlänger arbeiten; die Frauen und Kinder müssen arbeiten, die Löhne sinkendadurch wieder, das marxsche Elend ist da. Die Arbeiter werden nur noch soweit entlöhnt, dass sie sich kalorienmässig durchbringen und werfen denganzen Ertrag darüber dem Patron in den Rachen … Ein Unternehmerhingegen hört bei ungenügenden Preisen einfach auf zu produzieren, freiwilligoder durch Konkurs. Deshalb müssen die Arbeitskräfte ihr Arbeitsangebotbündeln, verhandeln und notfalls auch zurückziehen können – mit Streiks.Oder aber der Staat setzt Maximalarbeitszeiten durch. Somit habenGewerkschaften eine saubere ökonomische Rolle. Aber praktisch alleFunktionäre wollten das nicht hören, sondern sie wollten moralischer sein alsdie Arbeitgeber und damit eine historische Mission erfüllen.

Auf unglaubwürdige Weise moralisieren auch deutscheSpitzengewerkschafter, die gemäss Mitbestimmungsgesetz gleichzeitig oftstellvertretende Aufsichtsratvorsitzende der Firmen sind. Aber bei

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Schliessungen oder Lohnforderungen lärmen sie auf der Strasse vor denSitzungszimmern der Firmen, wo sie das Jahr hindurch tagen. Dazu tragen sieArbeitshelme und Windjacken, nigelnagelneu und ungebraucht, direkt ausdem Requisitenlager für Demonstrationen der Gewerkschaft (gibt es inDeutschland tatsächlich!). Auch einer der Hauptwidersacher gegen dieBeteiligung der Arbeiter in der Schweiz, ein promovierter Akademiker imVorstand des SGB, trug immer grobkarierte Barchenthemden, wie er sichArbeiter offenbar vorstellte.

Natürlich hätten kapital- oder gewinnmässig beteiligte Arbeiter dieSachzwänge aus Firmensicht zu ihrer eigenen Sicht gemacht, wie linkeGewerkschafter argumentierten. Aber dass dies auf jeden Fall schon so war,hätten sie wissen können, wenn sie ihre Mitglieder gekannt und ernstgenommen hätten. Ich hatte erlebt, wie in Versammlungen Arbeiter auf dieFunktionäre einredeten, sie sollten in den anstehenden Verhandlungen nichtzu scharf schiessen, die Firma müsse überleben können. Aber die hatten ebenleider das falsche Bewusstsein.

Falsch verstandenes Interesse schien mir eher auf Firmenseite gegen dieMitbeteiligung angeführt zu werden. 99 Prozent der Schweizer Firmen sindnicht börsenkotiert, und eine Gewinn- und Kapitalbeteiligung der Mitarbeiterwurde von den bestehenden Aktionären als Zudringlichkeit aufgefasst. Daherfehlte auch jede Resonanz auf bürgerlicher Seite. Doch mit Fondslösungen, umdie erworbenen Aktien überbetrieblich zu parkieren, mit Rückgaberechtenusw. wären diese Fragen technisch lösbar gewesen, und das Mitdenken derMitarbeiter und ihr Eigentümerinteresse hätte Klein- und Mittelfirmendynamisiert und flexibilisiert. Ich illustrierte dies zuhanden kleinerer,nichtkotierter Firmen mit der schönen Rechnung: Ohne Gewinn- undKapitalbeteiligung besitzen die Inhaber 100 Prozent von 10 Millionen FrankenAktienwert, mit Beteiligung der Mitarbeiter aber 70 Prozent von 20 Millionen.Hier sollte man rechnen!

Zu solch verbreiteten Beteiligungen gehören ein Aktien- undBuchführungsrecht mit Transparenz sowie eine liquide Börse für Mittel- und

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Kleinunternehmen. Die Forderungen der aufgeklärten Linken der 1970er- und1980er-Jahre dazu waren eben kohärent.

Sulzer kaufen?

Bei einigen konkreten Gelegenheiten machte ich die zuständigenBranchengewerkschafter auf die Situation aufmerksam: Etwa als Ende der1970er-Jahre Christian Gasser seine Anteile an Mikron in Biel an die Börsebrachte, oder als die Aktien der Georg Fischer AG wieder einmal in einemihrer konjunkturellen Jammertäler steckten. Da hätte man dieStimmenmehrheit dieser Firmen für ein paar Hundert Franken pro Arbeiterkaufen können. Desgleichen hätte man das Sulzerpaket, das in den 1980er-Jahren zwischen Tito Tettamanti und Werner K. Rey schwebte, mit einervertretbaren Summe aus der eigenen Pensionskasse erwerben können. Manweiss in der Öffentlichkeit nicht, wie wenig Kapital manchmal vermeintlicheGrossaktionäre besitzen. Georg Sulzer, der bis 1982 Präsident seiner Firma war,soll bestenfalls noch 1 Prozent daran innegehabt haben.

Beim Zusammenbruch der DDR 1989 hingegen musste ich meineHoffnungen begraben, man könne das staatliche Firmeneigentum nun alsAktienvermögen den Belegschaften und den Einzelnen übertragen. Als ich imFrühjahr 1990 in Dresden eine Bekannte besuchte, lachte sie laut über dieseIdee: «Das sind doch nur noch Ruinen, die will niemand.» Sie bat mich inihren Trabant, fuhr in die ganz in der Nähe liegende Industriestadt Pirna, undda sah ich, wie aus Fabrikgebäuden des 19. Jahrhunderts aus jeder Ritze dickegelbe Schwaden quollen. Es blieb wirklich nur der Abriss.

Die Bekannte war übrigens als Psychologin in solchen Werken angestelltgewesen und musste die Arbeiter regelmässig testen, ob sie irgendwelcheBerufskrankheiten hatten. Dann wurden sie versetzt. Im Arbeiterparadiesdiente eine Psychologin an der Stelle von Filtern der Rauchschwaden. Sie

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gestand es etwas beschämt ein. Das System erniedrigte eben alle, und solcheinhumanen Machtsysteme überleben, weil sie alle schuldig machen, niemandder Privilegierten kann zurück. Hingegen kam meine Bekannte mit demwestlichen Marktsystem noch nicht zurecht. Als in jenen Wochen die erstenAltwagen aus dem Westen den begierigen Ostkonsumenten angedient wurden,nannte sie dies Spekulation. Ich entgegnete: «Aber nein doch. Nun hat derOssi den Wagen, den er sich immer wünschte, und der Wessi das Geld. Beidesind glücklich. Das ist der Markt.»

Wie sich die Köpfe eines ganzen Landes neu einrichten mussten, sah man anden Schaufenstern der Buchhandlungen. Die Bücher linker Grössen, von KarlMarx bis Käthe Kollwitz, waren durch Einführungen ins Zivilrecht, insBaurecht, ins Handelsrecht, ins Staats- und Verwaltungsrecht ersetzt worden.Das war hohe europäische Zivilisation – Millionen von Bürgern übten sich indie Spielregeln einer anderen, produktiveren und menschlicheren Gesellschaftein. Keine Gewalt.

…oder alles selbst verwalten?

Eine obligatorische Gemeinwirtschaft mit ausschliesslich selbstverwaltetenFirmen wollten die vier Dichter in der Schweiz einrichten, welche von SPS-Präsident Helmut Hubacher mit der Arbeit an einem neuen Parteiprogrammbetraut worden waren. Otto F. Walter, Arnold Künzli, Peter Bichsel und AdolfMuschg legten einen Entwurf zu einer Volkswirtschaft aus lauterGenossenschaften vor. Der Entwurf schwebte in den Wolken, liess dieSelbstbezogenheit der Menschen ausser Acht und hätte in den Wahlen einDesaster bedeutet. Deshalb beteiligte ich mich an einem strikten Gegenentwurfund ergriff mehrmals am SPS-Kongress 1982 das Wort. Als ich in einemRededuell mit Otto F. Walter rief, man dürfe nie das Wort «homo hominilupus» vergessen, lief er noch röter an, als er ohnehin schon war. Immerhin

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wurden an jenem Kongress die kollektivistischen Träumereien starkausgedünnt.

Am SPS-Kongress 2010 hingegen hatte die Spitze keine Zivilcourage – undauch kein Gespür für die nächsten Wahlen – und liess sich von umjubeltenJungsozialisten die Überwindung des Kapitalismus, ein Grundeinkommen füralle, die Abschaffung der Armee u. Ä. ins Programm setzen. Man sah auf denFotos, wie die Parteileitung den Jusoführer bewundernd beklatschte. Das waraber nur die Wiederauflage der Schönheitskonkurrenz nach links aus demfranzösischen Nationalkonvent unter Saint-Just. Der wurde dann mit 26 Jahrenselber aufs Schafott geführt. Heute ist man weniger radikal, und dieSuperlinken verschwinden, wie beim SGB damals, auch meist von selbst. DerJusochef trat ein halbes Jahr später schon mal von der Bühne ab.

Kurse für Bilanzenlesen und FirmengründungEin zweites zentrales Anliegen während meiner Zeit im SGB war es, dieVerhältnisse auf der Foto der Betriebskommission aus den 1940er-Jahrenumzukehren, nämlich die Mitarbeiterseite mit gleich langen Spiessen derInformation und des Wissens aufzubauen.

Dazu hatte ich kurz vor dem Eintritt in den SGB, aber in seinemAuftrag, zusammen mit Ruth Dreifuss eine Tonbildschau entwickelt undvon Medienfachleuten bebildern lassen, welche in die Volkswirtschafteinführte. Ruth Dreifuss kannte ich schon seit der Genfer Universitätszeit,und ich hatte mich im SGB mit anderen jüngeren Verantwortlichen dafüreingesetzt, dass sie später als Sekretärin gewählt wurde. Meine Frau undich reisten ihr sogar ins Bündnerland in die Ferien nach, um sie zurKandidatur zu bewegen.

Für die Kurse an der Arbeiterschule, wo ich immer einen oder zweiTage bestritt, und für spezielle Bilanzlesekurse schrieb ich eine Broschürezu Fragen der Firmenabschlüsse. An den entsprechenden Kursen machteich den Teilnehmern, die oft keinerlei Grundwissen hatten, Mut undsagte, sie müssten nicht alles wissen, sondern nur wissen, welches die

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richtigen Fragen an die Firmenleitung seien. Als Illustration fürBilanztricks verwendete ich Werner K. Reys Firmenpyramiden, langebevor er als betrügerischer Bankrotteur aufflog.

Gegen Ende meiner SGB-Tätigkeit entwickelte ich auch einen Kurs mitdem Thema Wie gründe oder übernehme ich ein Unternehmen? Dies wäreeigentlich das dritte zentrale Anliegen gewesen, nämlich die zweitbesteLage der Mitarbeiter – gute Stellen – in die beste, in selbsttätigeUnternehmerschaft umzuwandeln. Die Kurse hatten nicht geradeüberwältigenden Erfolg. Immerhin nahmen aber z. B. Eisenbahner teil,von denen einer schon nebenher ein Reisebüro betrieb und einer einenImport für Hühnerfutter. Ein dritter Teilnehmer, aus derInformatikbranche, startete tatsächlich seine Firma und wurde vom SGBmit der ersten Ausstattung und Verkabelung der elektronischenSchreibaggregate beauftragt.

Mit diesem Kurs zur unternehmerischen Aktivierung antwortete ichauf das gegen 1990 hin aufkommende Fieber zurUnternehmensgründung, das auch in der Politik Widerhall fand. Mitvielen gewerkschaftlichen Kollegen, die dem richtigen Bewusstseinnachstrebten, war ich allerdings damit im Konflikt.

Gewerkschaften aus der alten Industriewelt

Mein Mandat im Vorstand des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB)führte mich regelmässig nach Brüssel. Meist wurde in den Sitzungen ein EG-Kommissar eingeladen, z. B. die für die Expansion der Richtlinien inlebensweltlichen (sozialen) Fragen zuständige Griechin. Diese Kommissarewurden wie hoheitliche Würdenträger begrüsst und verdankt. Die Rituale«links ist besser», «mehr ist sozialer» wurden in jedem einzelnen Vorhabendurchgespielt, die Mitglieder überboten sich in solchen Vorstössen. Geblieben

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ist mir auch die Feindseligkeit der belgischen und französischen sehr linkenGewerkschaften gegen die Aufnahme skandinavischer Verbände der Staats-und Universitätsangestellten, die sich im Namen mit Akademikertitelnschmückten. Obwohl dies Verbände mit mehreren HunderttausendMitgliedern und damit eine willkommene Mehrung des Einflusses waren,sagten die im alten Industriepottdenken verhafteten Vorstände, das seien nunwirklich keine echten Gewerkschaften.

Auch an einem Kongress der englischen Gewerkschaften in BlackpoolAnfang der 1980er-Jahre war ich einmal als Vertreter der Schweiz. Es war einRiesenhochamt in jenem ärmlichen, heruntergekommenen Seebad.Eindrücklich waren die Vertreter der grossen Mitgliedgewerkschaften, welchebei Abstimmungen eine Tafel hochhielten, mit Zahlen drauf wie 1350000. Daswar ihre Mitgliederzahl, und auch ihr Stimmengewicht. Ebenso eindrücklichgurgelten die Redner in einem proletarischen Englisch, das ich besser als dasOxford-Englisch meiner Sprachkurse verstand, weil sie fast so redeten, wieman die Buchstaben auf Deutsch ausspricht: «up» war nicht «äp», sonderneben «up». Aber die Vorstellungen der Redner waren, wie bei den Belgiernund Franzosen, ebenso der alten Industriegesellschaft verhaftet. Die RegierungThatcher, die vorher ins Amt gekommen war, fand ein einfaches, sehrdemokratisches Mittel, um die Streikwelle dieser Verbände, eher ihrerVerbandsführer, auszubremsen. Damals bestanden neben den grossenGewerkschaften auch unzählige Kategorienverbände, die mit einem Streik dasganze Land lahmlegen konnten. So streikten einmal ein paar HundertRohrhahnenbediener der Raffinerien, und bald schon wurden Treibstoff,Heizöl und Flugbenzin knapp, sodass das Land stillzustehen drohte. Ein neuesGesetz schrieb dann vor, dass Streiks nur dann galten, wenn eineUrabstimmung aller Mitglieder sie beschloss. Damit waren die lautstarken undoft kommunistischen Funktionäre entmachtet, denn ein Streik ist meist dasLetzte, was die Arbeiter wollen. Jedenfalls hörten sie damit fast völlig auf.

Ökonomisch gesprochen wurden den Verbänden, die den anderen – alsoden Unternehmenden – in die Speichen greifen können, ebenfalls

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Transaktionskosten auferlegt. Sonst bestehen zwischen solchenStakeholderorganisationen der Arbeit, der Umwelt, des Heimatschutzeseinerseits und den Firmen andererseits, welche sie ausbremsen möchten, völligasymmetrische Verhältnisse. Die Unternehmenden riskieren ihr Geld unddabei ihre Eigentumsrechte, die Einsprechenden gewinnen umso mehrMitglieder und Status und ihre Funktionäre Ansehen, je stärker sie schaden.

In Notsituationen sind Streiks oder spektakuläre Aktionen natürlichgerechtfertigt, wozu ich 1968 am englischen Fernsehen, zu Zeiten meinerSprachaufenthalte, eine wunderschöne Lektion sah. Eine Diskussionssendungvereinigte dort den Anführer der englischen Studentenbewegung, Tariq Ali,und eine der Suffragetten aus der Frauenstimmrechtsbewegung von 1928, einewürdige alte Dame, die auch in der Sendung einen der riesigen Blumenhütetrug, wie man sie heute noch von den Pferderennen in Ascot her kennt. Alsder Moderator die Runde fragte, wie man sich denn durchsetzen müsse,stammelte der Studentenführer irgendeinen Soziologenspruch, die alte Dameaber hielt sich am Stock und schrie: «If you cannot be heard, destroyproperty.»

Doch wenn Verbandsführer solche kollektiven Widerstände auslösen,müssen sie selbst die Transaktionskosten spüren. Sonst hinkt der Gedanke der«countervailing powers» demokratischer Gesellschaften.

Die Linke macht linksum

Grundsätzlich standen bei meinem Eintritt 1970 die SPS und dieGewerkschaften auf dem Boden des Godesberger Programms der deutschenSPD von 1959: Den Kapitalismus akzeptieren, aber verbessern. EineZeitenwende, eine Programmatikrevolution war vollzogen. Eine zweiteProgrammwende kam dann Ende der 1980er-Jahre – als die neuen Verbands-und Parteiexponenten in der Schweiz die an sich zu erwartende Linie von

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Godesberg zu noch liberaleren Auffassungen verliessen und wieder insKlassenkampfschema der 1920er-Jahre zurückkehrten. Das sieht heuteniemand mehr, weil nur wenige es miterlebten. Aber auch hier gilt: DieParolen der SPS und des SGB sind heute nicht die meinen – sie haben sichgeändert, nicht ich. Ich hatte im SGB verschiedentlich Diskussionen mit VascoPedrina, damals Adjunkt für Arbeitssicherheit und Bildung, und wenn ichkeine radikale Position einnahm, sagte er, ich sei gegen die Umwälzung derGesellschaft. Das war ich tatsächlich, aber dieses totalitäre Argumentvermochte weniger nüchterne Geister und erst recht einfache Mitglieder mitsolchem Druck stillzulegen. Pedrina wurde dann Kopräsident der späterenUnia und damit im SGB-Vorstand der Vertreter des grösstenMitgliedsverbandes.

Ein Projekt der Selbstverwaltung in den Lüften präsentierten mirGewerkschafter aus dem Jura. Ein nervöser Mittfünfziger, hager, mitLederjacke, vielleicht eine Uniform alter Trotzkisten, mobilisierte den lokalenSekretär und noch einen Notablen, und sie kamen nach Bern, um einausgefeiltes Selbstverwaltungskonzept für eine Autogarage zu zeigen. DasGebäude hatten sie schon in Aussicht. Nach längerer Zeit fragte ich dann: «Etles ouvriers, vous les avez?» Nein, noch keine. Ich sagte, sie sollten sich wiedermelden, wenn sie welche hätten. Sie kamen nie wieder.

Heute immerhin verbreiten sich partnerschaftliche Mitbesitzmodellespontan und überall, ohne Gesetze und Programme, auch in produzierendenFirmen und in Dienstleistungen. Denn der Wert der Firma hängt mehr undmehr an den spezialisierten Fähigkeiten der Mitarbeiter, die sich nicht einfachabwimmeln lassen und die sich v. a. mühelos selbstständig machen können,dabei einen Teil der Kunden mitnehmend. Beratungs- undKommunikationsfirmen, Putzequipen, Anwaltsbüros, Hedgefonds,Velokuriere, Restaurants sind als Partnerschaften organisiert.

Solche Fragen wie die Mitbeteiligung oder auch die Reform im Aktien-,Buchführungs- und Kartellrecht sprach ich intern wie extern etwa in gleicherIntensität an. So etwa in meiner Rede zum 1. Mai in Zürich Anfang der

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1980er-Jahre. An sich war diese Einladung in die Metropole ein Zeichen, dassman in der Bewegung angekommen war. Als junger Sekretär genoss man denVorschuss eines Hoffnungsträgers. Doch meine etwas kühlen Vorschlägeentfachten nicht das gewünschte Feuer der Genossen am Platze beimFraumünster, und der Applaus war dünn. Sie behalfen sich in den Folgejahrenmit lateinamerikanischen Revolutionärinnen, die «venceremos» riefen. Inmeinen letzten SGB-Jahren wurde ich gar nicht mehr zu Reden anlässlich des1. Mai eingeladen – ein Zeichen für mich, dass sich die Wege trennen würden.

Als im Herbst 1998 eine interne Kommission des SGB jeden Vorstoss zueiner Gewinn- oder Kapitalbeteiligung der Mitarbeiter in der Schweizablehnte, war meine innere Kündigung erreicht.

Eine kleine Anregung ergibt sich aus alldem für soziologische Studien:Normalerweise stürzen sie sich auf die Macht der Firmen und Manager. Esfehlen weitgehend Analysen, wie und warum Funktionäre ganz Europa vonder Vermögensbildung abhielten, wie sie die Arbeit rationierten, denArbeitsmarkt kartellierten und damit den vielen kleinen Leuten Chancenverbauten, wie sie aus Organisationsegoismus Zahlungsströme zentralisiertenund darin mitmischten. Hier wurden mehr Geldwerte wegverteilt, verhindertund verschwendet als in Firmenzentralen. Hier wird anwaltschaftliche Machtan sich gerissen und ohne klare Rechenschaft verwaltet. Hier aber ist dasScheitern heute kristallklar zu sehen. Nur die Analysen fehlen.

Die keynesianische Ankurbelung überdreht sich zurEndlosspirale in Frankreich

Nach der leichten Abschwächung der Konjunktur 1991 verlangten die SPS-Politiker und die Branchenpräsidenten des Gewerkschaftsbundes hastig grosseAnkurbelungsprogramme. Sie und die meisten bürgerlichen Politiker hatten

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nun den Keynes entdeckt und brauchten bzw. missbrauchten ihn für jedeZusatzausgabe in Bund und Kantonen. Immer schuf man Arbeitsplätze damit,immer rollte der Multiplikator, man erwartete, dass jeder Franken vier anderein Bewegung setzen würde. Wie jene Franken wirken würden, die später fürZinsen und Schuldenabbau von den Bürgern und Firmen abgeführt werdenmussten, interessierte nicht.

Begonnen hatte diese Alltagsvariante des Keynesianismus unter demSuperminister Karl Schiller in der Bundesrepublik der späten 1960er-Jahre, alsWilly Brandt Bundeskanzler war. Schiller behauptete, mit konzertierter Aktionund Feinsteuerung die Krisen ausbügeln und stetes Wachstum erzwingen zukönnen – und weil die erste kleine Nachkriegskrise 1966/67 schnell vorbeiging, gewann er Ansehen; die Feinsteuerung auch.

Den weltweit verrücktesten keynesianischen Feldzug bereiteten die jungenIntellektuellen um François Mitterrand in Frankreich vor. Am 5. und 6. Juni1975 verfolgte ich, wie diese Runde in einem Pariser Kinosaal tagte, ergänztum internationale Leuchten wie James K. Galbraith, Wassily Leontief und PaulM. Sweezy. Einflussreich war auch Pierre Uri, Planungsfanatiker Frankreichs,Mitarbeiter Jean Monnets, Verfasser der Römischen Verträge. Dabei warenauch europäische Kommissare wie Sicco Mansholt, Jean Frey und ClaudeCheysson. Die Diskussionen in diesem Kino boten – noch unkenntlich für alleBeteiligten – eine Art Filmvorschau, denn sechs Jahre später gewann dieseverschworene, intellektuell konzertierte Equipe die Wahlen und führte aus,was sie dort angekündigt hatte. Fast alle Referenten wurden Minister (JacquesDelors, Michel Rocard, Jean-Pierre Chevènement, Claude Cheysson), undJacques Attali wurde zum Einflüsterer Mitterrands. Die Leitideen besagten,dass die Wirtschaft zu verschwenderisch sei, die Konsumenten falscheProdukte nachfragten, die Arbeiter zu lange arbeiteten und sich dasvermeintlich beschränkte Arbeitsvolumen streitig machten, dass die BankenGeld horteten, die USA die Welt unterjochten und dass der Staat mitnationalisierten Schlüsselfirmen, mit zentraler Planung und unter erleuchteterNachfragestimulierung das Beste machen werde. Das Resultat unter

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Mitterrand waren vier Abwertungen, eine wachsende Diskrepanz derEinkommen zu Deutschland und den USA, höhere Steuern undStaatsschulden, eine verdoppelte Arbeitslosigkeit sowie die höchsteEinkommensungleichheit in Westeuropa. Wegen der 35-Stunden-Wocherationalisierten die Firmen alle Unqualifizierten weg, und der Anteil der Löhneam Inlandprodukt fiel um 11 Prozentpunkte. Ausserdem schottete sichFrankreich immer stärker von den Ideen der restlichen Welt ab.

Zum krönenden Abschluss der Konferenz erschien Mitterrand, damals einabgehalfterter, älterer Politiker aus der Vierten Republik, ein bleicher,überraschend untersetzter Mann in einem erdbraunen Anzug. Später modeltenStylisten sein Äusseres mit dunkelblauen Anzügen, elegant geschlungen Schalsund abpolierten Eckzähnen um. Jacques Attali protokollierte später die 14langen Mitterrandjahre auf verdienstvolle Weise in seinem Buch Verbatim.Wer sonst tut heute so was noch!

Die Spirale zurückgedreht – Angebotspolitik in England undden USA

Der alternative Film zu dieser französischen Vorstellung lief gleichzeitig in denUSA ab, die ebenfalls unter einem eher linken Präsidenten Carter zunehmendverschuldet, wachstumsgelähmt und inflationiert waren. Paul Volcker wurde1979 Notenbankpräsident und führte eine strenge Hungerkur durch. DieZinsen für die Banken hob er auf 21,5 Prozent an, die Kunden musstennatürlich noch mehr zahlen. Die Börse sackte auf den Stand von 1964 ab,Panik herrschte, Banken fallierten, und die Farmer des Mittleren Westensbelagerten tagelang die Notenbank in Washington. Gleichzeitig förderte dieAdministration Reagan ab 1981 nicht die amorphe Nachfrage derKonsumenten, sondern die aktive Leistung der Unternehmer. Man senkte dieSteuern, man liberalisierte, auch wenn es wehtat. So wurde die allmächtige

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AT&T in regionale Telefongesellschaften zerschlagen und die Mobiltelefoniebefreit – man trat die Informationsgesellschaft los. Paul Volcker wich undwankte nicht, drei harte Jahre lang. Im August 1982 lockerte er erstmals dasZins- und Geldkorsett. Doch dann wuchs die US-Wirtschaft lange Jahre mit 4Prozent, die Börse verdoppelte sich in drei Jahren, die «imperial presidency»Präsident Reagans fand ihre Mittel und trat zum Showdown gegen dieSowjetunion an. In diesen 1980er-Jahren liefen Frankreich und Amerika alsLaboratorien im Massstab 1 zu 1 nebeneinander – Amerika gewann.

Die Welt sollte den damaligen Jungtürken, dieser französischen Generationdanken, dass sie die Ideen aus den Laboratorien der Elitehochschulen und diegroben makroökonomischen Maschinenhebel des John M. Keynes imLandesmassstab umsetzten und damit bewiesen, dass es nicht funktionierte.Ich war fünf bis zehn Jahre jünger als diese Equipe, und noch bevor ich 40war, konnte ich diesen Schluss ziehen. Die europäischen Sozialisten sehen esauch heute nicht und haben auch keine neuen Ideen.

Aus der Zeit heraus waren planerische Vorstellungen damalsnachvollziehbarer als heute. Ich selbst leitete als sehr junger Jungtürke eineArbeitsgruppe der SPS im Auftrag des Kongresses 1972, umInvestitionsplanungen durch den Staat zu erkunden. Die Präsidenten der SPS,des SGB, dessen Wirtschaftssekretär und mein Vorgänger Waldemar Juckerwaren Mitglieder. Es kam kein Ergebnis zustande. Aber damals war, wie inFrankreich, der Binnensektor der Wirtschaft viel dominierender. Fast alleBranchen waren durch Kartelle zentral gelenkt und geplant, dieWährungskurse fest, die Landwirtschaft, die Schrottverwertung, Strom, Post,Telefon, Bahn auf Autarkie ausgerichtet, und damit geplant. Eine andere, alteWelt. Die Angelsachsen aber reformierten sie als erste, die verschworeneEquipe um Margaret Thatcher, die Republikaner der USA, dann aber auch dieDemokraten unter Bill Clinton und New Labour unter Tony Blair.Angelsächsische Linke können neue Fakten aus Technik und Wirtschaft ebenlesen, kontinentale nicht.

Denn die meisten Liberalisierungen folgten nicht neoliberalem Übermut,

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sondern dem Lauf der Technik. Netze konnten dank der Informatik digital undkompetitiv betrieben werden. Deshalb führte der Kontinent dann alleReformen auch durch, nur 20 Jahre später und unter entsetzlichenideologischen Grabenkämpfen. Es war in Europa und in der Schweiz bis weitins Bürgertum hinein unmöglich, sich für Thatcher oder Reaganauszusprechen und weiterhin als anständiger, denkender Mensch zu gelten.

Man kurbelt die Konsumenten an, aber handeln wollen mussder Unternehmer

Auf dem Kontinent und in der Schweiz wurde und wird bei denkeynesianischen Ankurbelungen und Eingriffen nicht nur die spätereRechnung, also der fiskalische Punkt, verdrängt. Sozialdemokraten undPolitiker der Mitte sind weit von der Perspektive des Unternehmers entfernt,wenn sie in Vulgärkeynesianismus die Nachfrage ankurbeln wollen undimmer die Kaufkraft der sozial Schwachen begünstigen oder deren Steuernsenken. Dann kann sich jeder Unternehmer, gross oder klein, ausrechnen, dasser nicht gemeint ist und später höhere Steuern zahlen muss. Also investiert ernicht oder nur anderswo. Die österreichische Schule der Nationalökonomiestellt diesen Unternehmenden ins Zentrum und leitet aus seinen kumuliertenEntscheiden das wirtschaftliche Geschehen ab – und dementsprechend mussman das Angebot, den Rahmen, anreizend gestalten und eine Volkswirtschafthaben, wo eins gleich eins ist, wo Schulden zurückbezahlt werden, wo Zinsendas Risiko spiegeln und entgelten, und nicht von Notenbanken tief gehaltenwerden.

Ich habe erlebt, wie sich in der kleinen Krise 1981/82 eine ZürcherNationalrätin der SPS rühmte, viele Beamte in verschiedenen Departementendirekt angesprochen zu haben, was sie sich alles an neuen Ausgaben vorstellenkönnten. Diese Vorstösse reichte sie dann kumuliert im Rat ein. Solche

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Haltungen sind heute zum Mantra einer allgemeinen Wehleidigkeit geworden;bei kleinsten Widrigkeiten wird Ankurbelung gefordert. Die Rechnung kam inden west- und südeuropäischen Staaten im Frühjahr 2010 auf den Tisch. Dielaufende Dosis reicht längst nicht mehr, sie muss immer erhöht werden, dieaufgelaufenen Schulden aber ersticken die Staaten. Nun sind auch die USA indieser Schuldenschlaufe. Tony Crescenzi, der Ökonom des grossenAnlagefonds Pimco, fasste dies 2010 in dem Ausdruck «keynesian endpoint»zusammen. Nachdem die Nachfrageförderung alle verschuldet hat und dieSchulden von den Hausbesitzern bis zu den Banken, Staaten, Notenbankenund Weltwährungsfonds hinaufgereicht wurden, gibt es keine weiterenGaranten mehr. Jetzt fährt der Zug rückwärts.

Die Einwände gegen den Keynesianismus sind in Studien über seineAnwendung gut begründet:– Ankurbelungen haben kaum solche Multiplikatoren, ausser die Dosis wirddauernd erhöht.– In guten Jahren wird nie antizyklisch gehandelt, also gespart, deshalbentwickelt sich die Verschuldung treppenartig nach oben.– Würde tatsächlich gespart und gälte wirklich der Multiplikator, müsste erschwerwiegende Folgen haben, wenn das Geld wieder eingetrieben werdenmuss.– Die Volkswirtschaften sind offen, Anstösse verpuffen im Ausland.– Man kann nur bestehende, also alte Strukturen ankurbeln.– Die Ankurbelungen wirken meistens zu spät, also im Boom.– Die Löhne und Preise sind nicht mehr «sticky», können also entgegen derAnnahme Keynes’ sinken, wodurch sich Strukturänderungen ergeben, dieauch konjunkturelle Türen aufstossen.– Nicht nur die Konsumenten handeln, sondern auch die Unternehmer. Wennsie sich ausrechnen können, dass höhere Staatsausgaben und allenfalls höhereSteuern und Inflationsraten drohen, investieren sie nicht. Ihre Motivationwird unterschlagen. Unternehmerische Nachfrage nach Investitionen und

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Arbeitern ist aber entscheidender als einmal kurz aufgepäppelteKonsumentennachfrage.– Keynes hebelt mit groben, makroökonomischen Ganzheiten (Konsum,Investitionen, Zinsen, Staat, Multiplikator) wie mit einer Maschine undübersieht die Mikroökonomie, die Motive der Einzelnen.Und im Original: Keynes wandte sich bei «nur» noch 12 Prozent Arbeitslosengegen weitere Ankurbelungen.– Ausserdem läuft viel Zynismus mit: Keynes illustrierte es mit dem Bild,wonach das Schatzamt alte Flaschen mit Banknoten füllen und sie inverlassenen Minen ablegen muss, diese dann mit Kehricht auffüllen könne,worauf privater Unternehmergeist sie ausbuddle, dazu Maschinen undArbeitskräfte in Gang setze und so die Wirtschaft ankurble. Heute sind jeneKreise die härtesten Verfechter von Keynes, welche sonst auf Werthaltigkeitder Wirtschaft bestehen und Verschwendung oder nichtreale Kreisläufekritisieren.

Im bequemen Keynesianismus verhedderten sich die Köpfe auch angesichtsder Konjunkturschwäche 1992. Ich machte auf Drängen der Verbände im SGBein kleines, lustloses Progrämmchen für einige Ausgaben, das im Vorstandheftig kritisiert wurde. Ich forderte die Mitglieder auf, mir zu sagen, was siedenn wollten. In der Woche drauf erhielt ich unerhörte Ausgabenforderungen,klebte sie einfach aneinander, und die Sekretärin tippte den ganzen Leporelloals Unterlage für den nächsten Vorstand. Und siehe da: Sie waren sehrzufrieden. Ich aber reichte die Kündigung ein.

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Kapitel 5

Die Schweiz funktioniert, weil derVerbandsstaat funktioniert

Ungefähr 1000 Vorträge hielt ich wohl vor gewerkschaftlichen Sektionen derverschiedenen Branchen, und vor und nach jener Zeit wohl 1000 Vorträge vorVerbänden und Kadern der übrigen Wirtschaft. Ich erlebte dabei imalltäglichen Wirken, was Politologen mit zugehaltener Nase Korporatismusnennen. Sie meinen damit die Tausenden von Verbänden in unserem Lande,welche wichtige Aufgaben übernehmen, oft anstelle des Staates, und welchesich in die Politik und Verwaltung einmischen. Die Kritik rührt aus demStandpunkt her, alle gesellschaftliche Koordination habe zuerst einmalstaatlich organisiert zu sein, den Individuen und ihren Organisationen bleibeder Rest. Diese Auffassung hatten die Revolutionäre in Frankreich 1789,welche ausdrücklich verboten, dass sich irgendwelche Ebenen zwischen denBürger und den Staat stellten. Gewerkschaften waren verboten, Frauen, diesich zusammentaten, um Gehör zu finden, wurden, wie die tapfere Olympe deGouges, enthauptet. Letzten Endes ist es eine Sicht der Staatsvergottung. Undda der Staat immer nur aus den Personen und Gruppen einer Machtelite mitihren eigenen Interessen angetrieben und ausgeübt wird, ist er eine Form derDiktatur einiger weniger, eine Form der Freiheitsberaubung aller anderen.

Die Gesellschaft ist mehr als der Staat, und der Staat soll nicht die ganzeGesellschaft sein.

Die Versammlungen der Verbände hingegen legen die subtilenZwischentöne zwischen Individuen und Gesellschaft/Staat wunderschön offen,verkleiden sie aber in die trockenen Rituale der Statuten. Und so geht’s: DiePräsidenten sind immer Milizionäre, leiten mit markigen Worten ein und

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folgen dann einem vom wachsamen, vollberuflichen Sekretär formuliertenDrehbuch. «Die Einladung wurde ordnungsgemäss zwei Monate vorherversandt, das Protokoll liegt auf. Wünscht sich jemand zur Traktandenliste zuäussern?» Und weiter wird das Ritual abgespult. Als junger Mann und impostpubertären Schwang der 68er gegen die Väter und gegen die grauen1950er-Jahre ärgerte ich mich über diese Formalismen, dachte, die Altendreschen wieder ihr leeres Stroh. Doch diese Sorgfalt im Formalen spiegelt undlegitimiert die geliehene Macht der Verbandsvertreter. Wenn die Demokratiestark auf das Mitwirken der Verbände zählt, dann müssen diese Verbändeinnerlich demokratisch sein.

Nach dem Eintreten verliest man den Jahresbericht des Präsidenten und desSekretärs. Hier folgt alles an Interna, an verbandlichem und halböffentlichemWirken, was nie in einer Zeitung steht. Man erfährt, wie Regierung undVerwaltung dokumentiert und kritisiert und wie die Grossräte angestossenwurden. Abmachungen mit anderen Verbänden treten ans Licht, umsichtigeAuftrags- und Mandatsverteilungen an Mitglieder oder befreundeteInstitutionen ebenfalls. Mit der Gegenseite abgeschlosseneGesamtarbeitsverträge oder deren Scheitern kommen zur Sprache, dieHintergründe, kleine Fusshiebe gegen nur leicht verschleierte NamenBeteiligter.

Die Jahresrechnung und Bilanz spucken ebenso konkrete Informationen aus.Die meisten Verbände leben nicht nur von den Mitgliederbeiträgen, sondernbetreiben eine Vielzahl anderer, oft lukrativer Geschäfte. Arbeitgeber- oderArbeitnehmerverbände führen die lokalen Kassen der eidgenössischenArbeitslosenversicherung, was gut rentiert. Sie machen Rechts- undBetriebsberatung, verwalten Stiftungen aller Art, erhalten Gelder von Bund,Kanton oder Gemeinde für Weiterbildungskurse, nähren sich aus denSolidaritätsbeiträgen der Arbeitenden unter Gesamtarbeitsverträgen, und zwarauf beiden Seiten, etwa zur Durchführung der Verträge oder zur Informationdarüber.

In diesen vielen Nebentätigkeiten enthüllt sich ein Heldentum des Alltags,

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der Sekretariate, um den Verband über Wasser zu halten, glaubwürdig undunverzichtbar zu machen. Diese Zusatzfunktionen haben die Kritiker desKorporatismus wohl im Auge, weil Verbände gerne versuchen, solcheZusatzaufgaben für den Staat mit einem Zwang zum Beitritt oder zu Abgabenzu verbinden. Da ist sicherlich Wachsamkeit am Platze. So wurde in den1990er-Jahren die Ernährungsberatung in den Grundkatalog derKrankenversicherung aufgenommen; sie muss also von den Kassen bezahltwerden. Der Verband der Ernährungsberater plusterte sich daraufhin auf, undwer als Berater eine Abrechnungsnummer gegenüber den Krankenkassen will,muss im Verband sein oder 500 Franken bezahlen, wie ich um das Jahr 2000herausfand. Ebenso gehen dann die Konturen, welche der Beruf umfasst,welches Diplom anzuerkennen ist und wie die Ausbildung dazu umschriebenwird, in die Definitionsmacht der Verbände über. Die Verwaltung übernimmtsie dann mehr oder weniger. Oft führen die Verbände gleich die Ausbildungund Diplomierung selbst durch. Wenn der Einfachheit halber auch die Preiseder Branche geregelt werden, muss sogar die Wettbewerbsbehördeeinschreiten. Denn eine arbeitsmarktliche oder berufliche Selbstorganisationschwappt dann auf eine Kartellierung des Produktemarktes über.

Man ersieht oft auch in den Verbandsabrechnungen, wie viel Geld an dieParteien floss oder wie viel der Verband selbst für Wahlen und Abstimmungenaufwarf. Mit Umsicht werden auch in abstimmungsfreien Jahren schon imVoraus die entsprechenden Konten gefüllt. Der Gewerkschaftsbund übernahmnach teuren Wahlen von der SPS manchmal die Druckereikosten. EinEinzahlungsschein, kein Geld wechselte so zwischen den Büros der zweiOrganisationen.

Der Eichhörnchentick der VerbändeAlle Verbände, links, rechts, gross, klein, haben den Eichhörnchentick. Siesammeln Vermögen an, als ob die Welt zu Ende käme. In einer WalliserSektion der Gewerkschaften stellte 1981 ein Mitglied die Frage: «Et les50000 francs du profit du bazar?» Der Sekretär antwortete darauf: «On ne

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les annonce pas à Berne.» Man setzte sie also nicht in den Jahresbericht,denn die Zentrale hätte den Reichtum der Sektion sehen können.

Ein anderer Verbandsaktuar meldete an der Jahresversammlung: DerLetzte, der noch statutarisch von einem bestimmten Hilfsfonds von 40000Franken Beiträge hätte erhalten können, sei gestorben, woraufzufriedenes Schmunzeln aufkam.

Immerhin erlebte ich auch schon Anträge auf die Senkung derBeiträge, und sie wurden angenommen. Manchmal versprechen dieSekretariate auch, aus dem überschüssigen Jahresertrag imdarauffolgenden Jahr an die Generalversammlung eine gute Mahlzeitanzuschliessen. Das kommt wenigstens der Minderheit der Mitgliederzugute, die immerhin teilnimmt.

In meiner nachmaligen Arbeit als Journalist fiel mir nach demBörsensturz 2002 die Meldung auf, dass die Berghilfe dabei 10 MillionenFranken verloren habe. Ich sah dann, dass sie auf einem Vermögen vonetwa 130 Millionen Franken sass, aber mit Inseratbildchen vonwildheuenden Bergbauern weiter Geld sammelte. Bei Unwetterschädenin den Bergen stiftete sie dann doch mal ein paar Tausend Franken …

Spannendes Innenleben hinter der Routine

Unter den statutarischen Wahlen müssen die Vorstände und Ausschüssebestellt werden, fast immer mit nur einer Kandidatur pro Vakanz. Als ichjünger und voll von politologischen Demokratietheorien war, regte mich dasmächtig auf. Doch der Föderalismus und die Ausbalancierung von Interessenverlangen die genaue Abdeckung der Unterbranchen, der Regionen oder garder Gemeindeteile, der Jungen und Alten, und, wenn man daran denkt, auchder Männer und Frauen. Die Verbände können nicht einfach mit offener Handspontan irgendwen wählen. Das machen neue Bewegungen, wie die Grünen,

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zu oft, und die Führungspersönlichkeiten wechseln wild die Bahnen, tretenauf, dann ab, ändern die Meinung.

Für die abtretenden Vorstandsmitglieder beginnt dann der Reigen derDankurkunden, Blumensträusse, Weinflaschen und Reisegutscheine. Es magnach dem 20. Mal als Routine erscheinen, doch drückt sich so die Achtung desVerbandes aus, also der Dank jener, die etwas von den Verantwortlichen fürjene erwarten, die meist ehrenamtlich funktionieren.

Wertung und Abwertung eines ArbeitslebensDen Dank als gesellschaftlichen Kitt unterschätzte ich in jüngeren Jahren.An Versammlungen beschwerten sich pensionierte Arbeiter manchmalnicht über den knappen Lohn oder die Pension, sondern dass am Tagihrer Pensionierung der oberste Chef nicht vorbeigekommen sei. Sowurde ein ganzes Arbeitsleben in der letzten Viertelstunde abgewertet.

Als kleine bittere Anekdote in gleicher Sache höre ich immer nochmeinen Grossvater mütterlicherseits, der 1956 nach etwa 40 Jahren imgleichen Malergeschäft in Herisau den letzten Lohn im Büro des Besitzersabholte. Es war ein ungerader Betrag, der auf 5 Rappen endete. DerInhaber suchte in allen Schubladen nach einem Fünfer, bis meinGrossvater sagte, er schenke ihm den Fünfer.

Ein schönes Gegenbeispiel erlebte ich an einer Veranstaltung imTechnikum Rapperswil. Thomas Schmidheiny, der Chef und damals nochMehrheitsaktionär des Holcim-Konzerns, stand abrupt auf und sagte, ermüsse noch in den Aargau, um einen Arbeiter des Zementwerks zupensionieren. Immerhin ein Milliardär, der solche Pflichten ernster nimmtals eine Yacht im Mittelmeer oder einen ruhigen Abend in seinem Hausin Rapperswil.

Die Kandidaturen eines Verbandes werden an den Versammlungen in denpolitischen Wahlen nur leicht angetönt. Das ist heikel, weil eineVerbandsfunktion den Sekretär und die Vorstandsmitglieder bekanntmacht

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und ihnen Wahlchancen gibt. Mancher Aufstieg zu höchsten Ämtern beginnthier. Doch muss der Sekretär oft einem Vorstandsmitglied und dieses demPräsidenten den Vortritt lassen. Ausserdem sind sie vielleicht nicht in dergleichen Partei und haben durch den Proporz unterschiedliche Wahlchancen.Das alles wird natürlich vorher ausgejasst. Solche Vorkehrungen folgengenauso unbeschreibbaren, komplexen Loyalitäten wie jene innerhalbafghanischer Stämme oder im Pekinger Politbüro. Wenn die Vorkehrungen imWechselspiel der Interessen, zwar nicht immer im gleichen Moment, aber überdie Zeitachse gelingen, ist eine Gesellschaft stabil, wenn nicht, entgleist sie.Die späteren demokratischen Wahlen sind eher der Zuckerguss darüber. Oderdie Handbremse des Volkes, wenn diese Eliten sich verharschen.

An den Verbandsversammlungen nehmen immer auch die bereitsGewählten sowie als Gäste die Regierungsräte, Grossratspräsidenten undNationalräte der Region teil. Sie haben damit ihre Wählerbasis im Blick, dochverzahnen sich dabei auch die Basis und ihre Gewählten, die Alltagsproblemeund die Mandate. Jedes Mitglied kann sich beim nachfolgenden Apéro aneinen Regierungspräsidenten, Verwaltungschef oder Parlamentarier wenden,und diese hören all die obgenannten Subtilitäten schon während derVersammlung mit. Man mag sich über die bloss launigen, oft schlichtlangweiligen Begrüssungsadressen dieser Repräsentanten an dieVersammlungen ärgern. Das ist nicht der Punkt, sondern dass sie selbst hören,was sich tut, und dass jeder sie sich vorknüpfen kann.

Berufsparlament als KulissenschiebereiEin Berufsparlament, wie es manche als Kontrast zu dieser Verschränkungvon Politik und Verbänden fordern, würde Eunuchen züchten, die keineanderen Interessenbindungen haben dürften. Doch gerade das, was naivePuristen kritisieren, nämlich die vielfältigen Interessenbindungen, ist dochdas, was im Parlament saldiert werden muss. Das Parlament sucht nicht dasAllgemeinwohl, sondern es saldiert die widerstreitenden Interessen im Volke.Diese Interessenbindungen bestehen glücklicherweise überall. Die

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Funktionäre der Bauern, Gewerkschaften oder Grünen sind genauso für ihrAgieren bezahlt wie die von Krankenkassen, Handelskammern oderVerwaltungsräten besoldeten Parlamentarier. Wenn den Parlamentariern oderParteien die freihändige Finanzierung verboten wird, hat das drei Folgen:Erstens geht einfach alles unter die Decke, zweitens werden nur nochSchreihälschen ohne Kontakt zum wirklichen Leben gewählt, und drittenswird jeder kleinste Verstoss an Finanzierung parteipolitisch gnadenlosausgeschlachtet. Deutschland, Frankreich und Grossbritannien zeigen dieFälle wöchentlich. Die Sachdebatten verlagern sich aufs Moralisieren.

Eine weitere Folge von Berufsparlamenten ohne Bezug zurWirtschaftswirklichkeit ist dann der Ruf nach einer dritten Kammer, nacheinem Wirtschafts- und Sozialrat. Full circle! In der EU schon da, inlateinischen Ländern wiederholt angeregt.

Eins, zwei, drei im Sauseschritt eilt die Zeit, wir eilen mit (dieKöpfe aber nicht)

Das schöne Wort von Wilhelm Busch muss, was die Köpfe betrifft, wirklichabgeändert werden. In der Schweiz zeigt sich am Keynesianismus, wielangsam eine Gesellschaft lernt und wie hartnäckig sich alte Auffassungenhalten. In den 1930er-Jahren zog Bundesrat Edmund Schulthess durch dasLand und hielt Vorträge, wonach der Staat in der Krise mit gutem Beispielvorangehen und sparen müsse. In Deutschland praktizierte ReichskanzlerHeinrich Brüning mit seinen Notverordnungen dasselbe. Dagegen war dieKriseninitiative der damaligen Linken in der Schweiz ein in manchen Punktenmodernes, keynesianisches Stützungsprogramm. Doch die Köpfe stecktendamals noch in alten Sparkonzepten.

Nach dem Krieg lief die Konjunktur sehr gut, aber mit dem massiven

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Einbruch 1973 bis 1975 warf der Bund erstmals ein massivesAnkurbelungsprogramm in die Volkswirtschaft, u. a. den viel belächeltenAuftrag für Militärleibchen. Diese wurden schliesslich teilweise im Auslandverfertigt, weil die Kapazitäten in der Schweiz schon verschwunden waren.Waldemar Jucker, mein Vorgänger im SGB, errechnete dann aus den mehrerenMilliarden Aufwand den schönen Multiplikator von 130000 Arbeitsplätzen.Dies führte zur Wiederholung solcher Pakete in der Abschwächung 1982/83und wieder Mitte der 1990er-Jahre. In diesen beiden Fällen koalierten dieLinken und die Gewerbler im Parlament, um Aufträge durchzudrücken. Dergrösste einzelne Auftrag im Programm der 1990er-Jahre ging aber wegen derunterdessen eingegangenen Pflicht zu internationalen Ausschreibungen insAusland, sagte mir ein enttäuschter Grossunternehmer des Baus.

Doch alle Einwände, alle Studien über eine völlig veränderte nationale undglobale Wirtschaft nützen heute so wenig wie in den 1930er-Jahren über diedamals neue Lage der grossen Krise. Die Köpfe, die politischen Mühlenkönnen kaum anders gefüttert werden als mit Hergebrachtem. Wie Keynesdamals selbst sagte, sind Politiker (und Medien und Gutmenschen) dieGefangenen der Ideen längst verstorbener Ökonomen.

Ein flagrantes und enervierendes Beispiel bietet die Freigeldlehre SilvioGesells aus den 1930er-Jahren. Weil alle das Geld horteten, stagnierte dieWeltwirtschaft, stieg die Arbeitslosigkeit, und es wurde noch wenigerausgegeben. Wie Keynes sann Gesell auf eine Ankurbelung der Ausgaben undfand sie in Geldscheinen, auf welche man monatlich eine Marke aufklebenmusste, die 0,5 Prozent des Notenwertes kostete. Nur dann blieb die Banknotegültig. Damit sollte sich der Geldumlauf beschleunigen. Wer sie bloss hortete,verlor aufs Jahr gesehen 6 Prozent davon. Der Zins wurde daher negativ odereher abgeschafft, was mit dem Ende des privaten Bodenbesitzes eines der ZieleGesells war.

Kaum zu glauben, aber in den Inflationsjahren zwischen 1970 und 1993standen an fast jeder Versammlung, an jedem Vortrag Diskutanten auf, welcheFreigeld forderten, also einen noch schnelleren Geldumlauf, der noch mehr

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Inflation gebracht hätte. Noch weniger zu glauben, dass nach der Finanzkrise2008 Autoren zu diesem Zusammenbruch der Papiergeldschwemme wie derBasler Soziologielehrer Ueli Mäder in der Freigeldlehre eine Alternative sahen.Also noch mehr Geld, noch schnelleres Geld als all die Geldschwemme zubilligen Zinsen, welche die Ursuppe der Finanzkrise darstellte!

Wie in einer Raum-Zeit-Kapsel bot sich mir diese ökonomische Lehre imevangelischen Tagungszentrum Gwatt Anfang der 1980er-Jahre dar. Ich trafauf eine Runde sehr betagter Männer und Frauen, die alle aus dersozialreformerischen Welle Silvio Gesells der 1920er- und 1930er-Jahrestammten, vielleicht aus den letzten Reihen der liberalsozialistischen Partei derSchweiz. Sie waren naturbewegt, vegetarisch, in Wolle und Sandalen gekleidet,leicht links, leicht religiös. Ein uralter, zerbrechlicher Mann spielte vormeinem Vortrag ein Lied auf der Geige, und die silberbehaarten Köpfelauschten. Ich versuchte behutsam, sie von der Zeitbedingtheit der LehrenGesells zu überzeugen – ohne Erfolg. Es war rührend und erschreckendzugleich, wie sich eine Gruppe geistig regsamer Menschen in sich selbsteingeschlossen hatte.

Auch in nüchternen Zahlen zeigt sich der Weg, den wir zurückgelegt habenund der nicht nochmals wiederholbar ist: 1970 machte der Staatsanteil amBruttosozialprodukt etwa 22 Prozent aus, heute sind es etwa 29 Prozent. Dazukommen die dramatisch ausgebauten Versicherungen für Arbeitslose,Mutterschaft, Krankheit, Alter, Pensionen, Sozialhilfe und Bildung vonnochmals 9 Prozent. Im übrigen Europa beschlagnahmt und verteilt der Staatschon 50 Prozent der Wertschöpfung. Um die genaue Abgrenzung undZurechnung wird diskutiert, doch da ist einiges geschehen. Man kann nicht sotun, als ob das Leben wie im Wilden Westen zu führen wäre. UnsereGeneration hat den Absicherungsauftrag übererfüllt. Jetzt kann man auchUnnötiges darin wieder aufgeben.

Tatsächlich, die Wirtschaftswirklichkeit ändert sich im Grossen zwar nur im25-Jahre-Rhythmus. Das ist langsam, aber manche Köpfe ändern sich noch viellangsamer.

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Wie die Spitzenverbände die Schweiz regierten, gezeigt amFall des EWR

Ein Zufall hatte mich im SGB-Sekretariat – nach der inneren Kündigungwegen der abgelehnten Mitarbeiterbeteiligung 1988 – zurückgehalten. Am 16.Januar 1989 schlug der EG-Kommissionspräsident Jacques Delors denverbleibenden EFTA-Mitgliedern vor, einen Europäischen Wirtschaftsraummit der EG zu bilden, worin sie sogar eine Mitsprache hätten. Ich las imNachtzug nach Wien zu einer EFTA-Sitzung die NZZ und war so begeistert,dass ich an den damaligen Staatssekretär Jakob Kellenberger sofort einen Faxsandte, in dem stand, dass man das aufgreifen müsse. Ich dachte, dieKündigung beim SGB bis zum Ende der entsprechenden Verhandlungen kurzaufzuschieben, weil ich durch die zahlreichen Bundeskommissionen darandirekt beteiligt war. Aber das Ganze zögerte sich volle vier Jahre bis Ende 1992hinaus, bis zum Referendum der SVP und der ablehnenden Volksabstimmung.

Delors machte schon zwei Monate später in einer erneuten Rede den erstenRückzieher von Seiten der EG – eine Mitsprache von Nichtmitgliedern kämenicht infrage.

In der Schweiz aber gingen die Verhandlungsmarathons los.

Europa auf einem fremden SternIm Frühsommer 1988 signalisierte ich dem Redaktor derGewerkschaftlichen Rundschau, dass Europa meiner Ansicht nach auchein Thema in der Schweiz und für den Gewerkschaftsbund SGB werdendürfte und dass ich ein Sonderheft dazu machen werde. MeineInformationen kamen, lange vor dem Internet, aus der täglichen Lektüreder Financial Times, der Herald Tribune und der NZZ. Doch dieausgeschnittenen Artikel waren oft vage und allgemein. Deshalb begabich mich in den Keller des Volkswirtschaftlichen Instituts der UniversitätBern, wo einige Schriften verstaubten. Über den Europäischen

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Gewerkschaftsbund erhielt das SGB-Sekretariat sehr selektiv Unterlagenzur Arbeits- und Sozialpolitik. Sodann abonnierte ich einen Pressedienstaus Brüssel, der auf blauem Papier zwei Mal wöchentlich Interna undInhaltsangaben geplanter oder beschlossener Richtlinien aufführte.Fachbücher zur EG waren schon zwei, drei Jahre alt und brachten Fakten,die beim Verfassen auch schon drei, vier Jahre alt gewesen waren. Kamman irgendwo an Volltexte der EWG-Richtlinien heran, dann mussteman erfolgte Ergänzungen mit einer unmöglichen Nomenklatur auf Jahrehinaus suchen und einkleben.

Das Integrationsbüro der Bundesverwaltung seinerseits liefertesporadisch gewisse Unterlagen, damals noch meist kleineHandelsprobleme betreffend.

Die Nummer der Rundschau erschien dann ohne grosses Echo imSpätsommer, und im Januar 1989 warf Kommissionspräsident JacquesDelors den Vorschlag zu einem Europäischen Wirtschaftsraum in dieDebatte.

Die ständige Wirtschaftsdelegation war die zentrale Plattform, wo sich dieSpitzenverbände mit der Spitze der Bundesverwaltung absprachen, also auchzu den anstehenden Europaverhandlungen. Je ein Mitglied stellten der Vorort,der Gewerbeverband, der Bauernverband, der Gewerkschaftsbund und derZentralverband der Arbeitgeber. Erst viel später drückte sich dieBankiervereinigung hinein, noch später kamen die grünen Verbände. VonBundesseite präsidierte der Chef der Handelsabteilung, dann Bundesamt fürAussenwirtschaft (Bawi) genannt, später Seco, die Sitzungen. Mit dabei warender Chefunterhändler beim GATT, der Delegierte für Handelsverträge, zuseinen Zeiten also David de Pury, ein Vertreter der Nationalbank, derWährungs- und Weltbankexperte des Finanzdepartements, der Chef des BIGAsowie je nach Thema die Abteilungschefs oder Botschafter fürAussenhandelsfragen und Entwicklungszusammenarbeit. Es gab keineProtokolle. Das abgegebene Wort, beim eigenen Verband für die

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entsprechenden Zusagen zu werben, war klar. Was in diesem GremiumZustimmung fand, ging in Staat und Wirtschaft meist problemlos auch durch.Manchmal war auch der Generaldirektor des GATT Olivier Long oder seinebenfalls schweizerischer Nachfolger Arthur Dunkel dabei und setzten unsüber die innersten Problempunkte des Weltfreihandels in Kenntnis.

Die Sitzung war dementsprechend formell, der Vertreter des Vororts sahdarauf, immer rechts des Staatssekretärs zu sitzen und als Erster nach ihm dasWort zu ergreifen. Die einleitenden Bemerkungen des jeweiligenStaatssekretärs – zuerst Paul Jolles, dann Cornelio Sommaruga, dann JakobKellenberger, dann Franz Blankart – gaben immer einen umfassendenÜberblick. Dabei fielen gerne die damals in diplomatischen Kreisen beliebtenFormeln zur Text- oder Gedankenstrukturierung wie: «De quoi s’agit-il?» oder«L’état de la négociation»oder «Les intérêts en présence».

Grosse Politik, kleine FaktenMan erfuhr also die grossen Linien der Weltwirtschaftspolitik, aber auchkleine, bezeichnende Geschichtchen. So erzählte Arthur Dunkel, derGATT-Generalsekretär 1984, dass Schweizer Firmen einenunterschriftsreifen Vertrag für drei Grossturbinen mit Südkoreaausgehandelt hatten. Doch Frankreichs neuer Präsident FrançoisMitterrand wollte Nordkorea anerkennen und sandte seinenAussenhandelsminister Michel Jobert zur Beruhigung nach Seoul, derübrigens als Aussenminister Valéry Giscard d’Estaings erklärt hatte, nieNordkorea anerkennen zu wollen. Jobert offerierte den Südkoreanern, dieAnerkennung des Nordens hinauszuschieben, wenn Frankreich die dreiTurbinen liefern könne. So geschah es.

Fritz Leutwiler, der Präsident der Nationalbank, gab 1979 denamerikanischen Geheimplan bekannt, in New York einBankenoffshorezentrum zu errichten, also einen Bankplatz ohne dieregulatorischen Hürden der USA. Offenbar wehrten sich alle anderenNotenbanken wie die Schweiz vehement, und Leutwiler drohte den

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Amerikanern, in diesem Fall auch das Gleiche mit dem BankplatzSchweiz zu machen.

Oder ein Anruf des Staatssekretariats, China wolle verschiedeneSchweizer Exporte zulassen, wenn wir ebenfalls grosszügig seien – etwamüsse die Schweiz Pinsel importieren lassen. Nun aber seien dadurchzwei, drei Hersteller hier bedroht. Ob der Gewerkschaftsbund dennochzustimme? Ich sagte noch am Telefon zu. Heute exportiert die Schweizüberproportional mehr als andere Europäer nach China.

Markant offener scheinen mir solche Vorgänge heute geworden zusein. Die Medien, das Internet, die Vielfalt der Quellen machen solcheAbsichten sofort bekannt, anders als vor 30 Jahren in der starkabgeschlossenen Welt der Handelnden und der Buchstaben.

In der «Ständigen» beriet man alle Aussenhandelsfragen, etwaHandelsverträge, Zollkonzessionen an Entwicklungsländer, dann auchEntwicklungszusammenarbeit, Energiefragen, Währungsfragen und dieWandlung des GATT in die Welthandelsorganisation WTO. Das Bundesamtfür Aussenwirtschaft unterhielt für alle solchen Fragen, die andereDepartemente betrafen, eigene Spezialisten, die den Chefbeamten jenerDepartemente die Stange halten konnten. Entsprechend unbeliebt waren siemanchmal, doch gelang auf diese Weise eine kohärenteAussenwirtschaftspolitik des Landes. Den hohen fachlichen Ansprüchenentsprechend waren diese Bawistellen auch Kaderschmieden. Deren Fachleutemachten meist spektakuläre Karrieren in der Verwaltung, und nochspektakulärere beim Übertritt in die Privatwirtschaft. Als solche kannten siedie politischen, handelspolitischen und administrativen Belange weiterhin voninnen her. Wir sind wieder bei einer Variante des Korporatismus angelangt,hier der «capture», also der personellen Verschränkung zwischen staatlicherund privater Sphäre. Und auch hier kann man wieder zu der nichtpuristischenFeststellung kommen: Genau solche Amalgame machen den Kitt, dieSchlagkraft eines Landes aus. Ohne solche Funktionseliten geht es nicht.

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Es blieb dem nachfolgenden Bundesrat Pascal Couchepin vorbehalten,dieses Bundesamt zu zerschlagen und die Verwaltung in Richtungfranzösischer Unmittelbarkeit Staat/Individuen ohne Zwischenebenen zuverschieben, nur mit dem Sonnenkönig darüber.

Die Funktionselite debattiert

In der Woche nach der Ablehnung des Europäischen Wirtschaftsraums fand ineinem Zürcher Hotel ein öffentliches Podiumsgespräch statt. Neben mir sassNiklaus Meienberg, der seine Enttäuschung zeigte. Zu mir sagte er ganzunvermittelt: «Soso, der Grossverdiener Kappeler.» Dabei hatte ich im Sommer1992 längst gekündigt, und drei Wochen nach dem Podium war ich ohne meinbisheriges festes Einkommen. Meienberg war, wie fast alle Linken, Ethikerund Kirchenleute, vom Geld hypnotisiert, entweder positiv oder negativ, undkam immer darauf zurück.

Am Podium sass, neben Unternehmern und Chefbeamten, auch TitoTettamanti, der intelligente Geldmann aus dem Tessin. Gegen 21.30 Uhrbegann er unruhig zu werden, weil er, wie ich annahm, wegen einerGrosstransaktion, die steuerlich zu schonen war, vorübergehend in Monacowohnte und noch rechtzeitig mit seinem Privatjet vor Mitternacht aus demLande sein musste.

Dieses Podium zeigte eigentlich die ganze Schweiz vor – auch nach einerVollbremse durch das Volk waren alle noch an ihrem Platz, hier wie in derWelt draussen, die Glitterati, die «Symbolanalysten» der Medien, dieWirtschafter, die Verwaltung, und es ging auf eine andere, unerwartete Artirgendwie weiter.

Davos, Bilderberg, Rive-Reine, Firmenbesuche und andere

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Verschwörungen

Oder ist die Funktionselite hermetisch abgeschlossen? Plant sie unablässigBöses? Von aussen nahm sich diese Funktionselite tatsächlich geschlossen aus,mindestens für manche mit Verschwörungsahnungen. Bürger von links undrechts nehmen einen Grad von Übereinstimmung, von gemeinsamemVorgehen, von allgemeinem Wissen um alles und jedes zwischen denMitgliedern dieser verschiedenen Kreise an, der fast mythisch ist. EineIllustration solcher Verschwörungen bildeten für viele dieBilderbergkonferenzen, wo Unternehmer, Politiker und Medienleute mit einemeher liberalen Weltbild regelmässig zusammenkamen. Ich wurde als Sekretärdes SGB ebenfalls eingeladen, doch der Vorstand war dagegen. So blieb ichohne grosses Bedauern zu Hause. Eine Einladung ans World Economic Forum(WEF) in Davos, ebenfalls zu SGB-Zeiten, lehnte ich aus eigener Kompetenzab und setzte als kleine Spitze in die Absage ein, ich müsse meine Prioritätensetzen und an jenem Samstag einen Arbeiterbildungskurs geben. So wurde ichnie wieder eingeladen. Aber das WEF gilt als Paradebeispiel einerVerschwörung der Oberschicht. Als Journalist schrieb ich später mehrmals,dass sich in Davos eine doppelte Täuschung abspiele, denn fälschlicherweiseglaubten die versammelten Manager, sie hielten die Welt in ihren Händen,und zu allem Überfluss glaubten die Linken ihnen dies noch. Doch Machtrührt nur teilweise, fallweise aus personellen Bindungen, sie kommt auch ausStrukturen und geteilten Überzeugungen und atomisiert sich wieder durchMärkte und Wahlen.

In einem anderen Fall, bei den vielen «Rive-Reine-Treffen» von Nestlé, hatteich genügend Erfahrung, um die Verschwörungsthese einer geschlossenen,finsteren Wirtschaftselite ins Reich der Spekulation zu setzen. Jährlich lud dieGrossfirma in ein herrliches Palais am Genfersee ein, und zwar die meistenPräsidenten und CEOs der Firmen des Swiss Market Index (SMI), aber aucheinige Vertreter von Kleinfirmen, wenn sie politisches Profil hatten; sodann diewichtigsten Verbandsdirektoren, Chefbeamten, zwei Bundesräte, die

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Präsidenten und die Sekretäre des SGB, des SMUV und des Christlich-Nationalen Gewerkschaftsbundes, einige Professoren und den Chefredaktorder NZZ. Beschützt von Maschinenpistolen tragenden Milizlern handelte dieseRunde während anderthalb Tagen aktuelle Themen der Wirtschaft und Politikab. Ich lernte nichts Neues, was ich als privilegiertes Mitglied der ständigenWirtschaftsdelegation oder als seit 1968 täglicher und aufmerksamer Leser derFinancial Times nicht schon gewusst hätte. Meist erhob sich grosse Klage überdie Unbill und das Unverständnis der Welt, was mich immer amüsierte.Hätten die Kritiker und Linken draussen gewusst, wie geplagt sich diesearmen Kapitalbeweger vorkamen, sie hätten sich kurz vor dem Endsieggeglaubt.

Abends an der Bar erfuhr man dann doch Interessantes, eine schönePralinéschachtel wurde mitgegeben, und das Essen war phänomenal. Getreudem Produktestolz des Hauses wurde am Schlusse immer einfacher Nescafégereicht. Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz erstaunte die Runde leicht, als erum 22.30 Uhr noch eine neue Flasche Weisswein serviert bekam. Solchesgeschah aber auch an anderen Treffen; die Aufregung in den Medien um dieRive-Reine-Tagungen war gegenstandslos. Ausserdem lud Nestlé auchVertragspartner ein, in späteren Jahren offenbar auch die SPS-Spitze, die abernicht hinging. Selber schuld. Und vertraulich, ohne Medien, fanden und findenauch die Koordinationstreffen zwischen SPS und Gewerkschaften statt. Daregt sich niemand über die Geheimhaltung auf, obwohl dort im Gegensatz zuRive-Reine meist gezielte politische Offensiven geplant werden.

Die grossen Unternehmen der Privatwirtschaft suchten von sich aus dendirekten Kontakt mit den Spitzen der SPS und der Gewerkschaften. Ende der1970er- und Anfang der 1980er-Jahre war ich bei mehreren solchenBesprechungen dabei. Zu jener mit der Ciba-Geigy-Spitze in Basel war AlexKrauer, das Konzernleitungsmitglied (und ihr späterer Präsident, dann auchkurze Zeit Präsident der UBS), eigens aus dem Militärdienst angereist. Dorthatte er offenbar als Oberleutnant den Bau von Tribünen und Latrinen für einFest organisieren müssen.

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In dem mit einfachen, archaisierenden Ornamenten ausgestattetenKonferenzzimmer präsidierte steif und ausführlich Louis von Planta. Es kamenKonzernstrategien auf, die man sonst nicht so kannte. Von Planta sichertemöglichst viele Arbeitsplätze in der Schweiz zu, obwohl nur 2 Prozent derVerkäufe im Inland erfolgten. Die Forschung wolle man auf jeden Fallgrossenteils im Inland halten, doch erlaubten die auswärtigen Steuersystemeimmer weniger den dazu notwendigen Transfer hoher Gewinne zurück in dieSchweiz. Deshalb sei es nötig, eine möglichst hohe Produktion in der Schweizselbst zu haben, aus deren Gewinnen die Forschung alimentiert werde. Auchwürden die Exporte nach dem Ostblock von der Schweiz aus gemacht, ohnedie Produktion dorthin zu verlagern, ausser für Anlagen mit zweitklassigerTechnik. Das alles ergab plausible Aussichten für die Arbeitplätze in Basel.Das gemeinsame Essen fand mit der ganzen Konzernspitze im getäfeltenKellerraum des Hotels Spalenberg statt, einem Besitz der Pensionskasse,diesmal aber ohne jede erkennbare Sicherheitsmassnahme.

Bei einem solchen Treffen rückte die Nestléspitze mit detailliertestenAngaben zu Gewinntransfers aus Ländern des Südens heraus; z. B. überMilchpulververkäufe, die in Peru zurückfielen, nachdem der WährungsfondsSparen anbefohlen hatte; über subventionierte Milchpulverexporte der EU, diebilliger waren als die lokale Milchproduktion der Bauern in Lateinamerika unddiese daher ruinierte. Aufschlussreich war auch, dass sich die Nestléführungeigens nach Zürich zum Schweizerischen Arbeitgeberverband verfügen undabkanzeln lassen musste, weil sie freiwillig einen Mitarbeitervertreter in denVerwaltungsrat der schweizerischen Nestlégesellschaft aufgenommen hatte.

Bei Nestlé galten Ende der 1970er-Jahre konzerneigene Vorschriften für alleLokalgesellschaften in der Welt, so für die Fabrikgestaltung, die Anerkennungvon Gewerkschaften und Betriebskommissionen, für überdurchschnittlicheLöhne, Pensionskassen und Weiterbildung der Mitarbeiter.

Solche Mitteilungen an uns waren sicher gut ausgewählt, aber nichtunwahr. Ich konnte weder damals als Gewerkschafter noch vorher undnachher als Journalist in die dümmlichen Unterstellungen einschwenken,

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wonach Firmenleiter nur nach niederträchtigen Tricks handelten. Neben gutenAbsichten gibt es eben immer auch Zwänge, Sondersituationen, Zwischenfälle,Unvorhergesehenes, Dringliches, Dummheiten. Das soll die Öffentlichkeitbemängeln, aber nicht mit dem Generalverdacht auf Charakterlosigkeit.Bedauerlich war, dass in neuerer Zeit die amtlich-universitären Ethiker St. Gallens, Peter Ulrich immer und Ulrich Thielemann manchmal, in diesenanschwärzenden Ton verfielen. Eigentlich wenig ethisch. Sie vergriffen sich imTon, weil ihnen ihre holistische Sicht des Kapitalismus, des Systems, derGlobalisierung und des Finanzkapitals eingab, dass irgendwelche riesigen,knirschenden Räder mahlten und das Böse produzierten, während dieeinzelnen Unternehmer ausführende Knechte waren, die dem Unerwünschtenaus persönlicher Bereicherungsabsicht zudienten. Ulrich und alle anderenSuperlinken übertrugen dann diese Abscheu vor dem System auf die Personen.Das kann man aber schon im Kapital bei Marx nachlesen und bei Lenin zurPerfektion entwickelt sehen.

Das utilitaristische, schweizerische System des «Bottom-up»ist nicht EU-kompatibel

Die ganze EWR-Verhandlung hatte die düstere Ahnung in mir bestätigt, dassnämlich das schweizerische Regierungs- und Parlamentssystem die wahreHürde zu einem Beitritt sein würden, mehr als nur die Volksrechte.

An den Schlussverhandlungen des EWR waren nur noch die Minister imSaal, auf Schweizer Seite also die Bundesräte René Felber und Jean-PascalDelamuraz. Beide radebrechten Englisch, verstanden aber wenig. Der draussenwartende Chefbeamte aus Bern erlebte, wie sie in den Pausen fassungsloshinausstürzten und um Erklärungen rangen. Drinnen ging der Sitzungsleiterdie EWR-Urkunden im Schnellzugstempo auf Englisch durch, z. B. so: «Mr.Federal Councillor, why are you opposed that cosmetics be put from category

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1 to category 2?» Perplexes Schweigen. «Well, I see no objection, it is sodecided. Next question …» So schildert es der damalige Staatssekretär FranzBlankart. Auch hat der Gesamtbundesrat seinen Chefunterhändler nicht eineinziges Mal empfangen. Dieser musste immer einzeln vorsprechen. Dasschweizerische Regierungssystem ist nicht EU-konform. Es müsse dramatischhierarchisiert werden, mit einer Regierungskoalition und mit Einpeitschern inden Fraktionen zu deren Befolgung. Dazu käme natürlich der Verlust desFrankens, also der Autonomie über den Geldwert und die Konjunkturen, überden Finanzplatz, und sodann gäbe es doppelt so hohe Zinsen, 15 ProzentMehrwertsteuer, keine eigenen Aussenhandelsverträge mehr undNettobeitragszahlungen.

Und zu alledem wäre der schweizerische Sitz am EU-Tisch bloss einKlappsitz. Der schweizerische Minister hätte keine Vollmacht.

Die vielgerühmte Mitwirkung der Schweiz an den EU-Richtlinien nach einemBeitritt wäre illusorisch. Denn der Bundesrat hat keine Parlamentsmehrheit,müsste aber an den europäischen Ratskonferenzen oft aus dem Stand herausKreuzkompromisse eingehen und zusichern können, z. B. eine Konzessionzulasten des Finanzsektors hier, für einen Vorteil in der Landwirtschaft dort.Zu Hause aber werkelt ein hochkomplexes System, hadern die Kantone, derFöderalismus, die Verbände, der meist uneinige Bundesrat selbst, dasParlament ohne jede klare, gefestigte Koalition. Dieses Wackelsystem istfreiheitsstiftend, es verhindert den straffen, immer weiter wachsenden Staatder europäischen Sozialisierung des Lebens – es verläuft «bottom-up», vonunten nach oben. Der Schweizer Bürger und Politiker hat keine Visionen. Erfragt immer, was bringt’s, was kostet’s – er ist utilitaristisch. Genau wie dieAngelsachsen und die Asiaten, also wie der Rest der Welt. Ausser demkleinen Fortsatz der eurasischen Landmasse links oben auf der Karte, der EU.Dort opfert man volkswirtschaftliche Realitäten den rosa Visionen, etwa alsman den Völkern die künstliche Eurowährung aufpfropfte.

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EWG und EG waren gut, die EU aber ist es nicht

Meine Einstellung zur EU wandelte sich in der Folge: Nicht aus einer Launemeinerseits, sondern weil diese selbst sich grundlegend veränderte. DerMaastrichter Vertrag beseitigte die Hürde einstimmiger Beschlüsse in allzuvielen Fragen. Die Souveränität der Einzelstaaten fiel stark zurück. Nochbedeutender: Eine gemeinsame Währung sollte eingeführt werden. DerVertrag von Lissabon führte weitere, teils willkürliche Fälle vonMehrheitsentscheiden ein. Im Frühjahr 1992 stand ich dem Beitrittsgesuch derSchweiz zur EWG noch wohlwollend gegenüber. Ende 1992 begann ich aneinem Studienauftrag des Schweizerischen Wissenschaftsrates zu arbeiten. ImRahmen seiner forschungspolitischen Früherkennung bearbeitete ich die Frageder Europäischen Währungsunion (EWU) und der schweizerischenWirtschafts- und Währungspolitik. Ich nahm mir dazu die Theorie deroptimalen Währungsräume von Robert A. Mundell aus dem Jahre 1961 vor.Ich hatte ihn 1969 am Institut des hautes études der Universität Genf in seinenVorlesungen als jungen dicklichen Professor mit strähnigen Haaren undverwaschenem T-Shirt erlebt.

Gemäss dieser Theorie, die leider unterdessen empirisch durch das Elenddes Euro bestätigt wurde, sollte ein optimaler Währungsraum u. a. mobile,flexible Arbeiterschaften und ein starkes fiskalisches Zentrum kennen. Beiasymmetrischen Schocks, also bei wirtschaftlichen Katastrophen, die nur einenTeil eines Währungsraums trafen, würden so die Arbeitskräfte wegwandernund automatisch hohe Zahlungen an Arbeitslosengeld, Finanzausgleich,Subventionen und Renten in die betroffenen Gegenden strömen. Nun aberfehlen diese zwei Bedingungen in der EU. Die betroffenen Gegenden könnenstattdessen aber nicht mehr abwerten und fallen daher in Deflation undSchulden. Der diesbezügliche wirtschaftliche Schock der südlichenMitgliedsländer (einschliesslich Irland und Frankreich) des Euro liegt in derfehlenden Produktivitätssteigerung gegenüber Deutschland, in raschersteigenden Löhnen und Preisen als in Deutschland, Holland, Finnland und

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Österreich. Damit haben die Südländer Handelsdefizite, die sie um Steuernbringen und hohe Kosten verursachen. Die Staatsschulden stiegen bis 2010enorm an.

Meine Studie wurde vom auftraggebenden Sekretär des Wissenschaftsratesfür eine Früherkennung als exemplarisch bezeichnet – und fiel sofort in eineSchublade. Man hat übrigens heute vergessen, dass bis zur Einführung desEuro 1999 fast überall zu hören und zu lesen war, das sei mit der Zeit auch dasEnde des Frankens. Man würde schon bald nur noch mit dem Euro bezahlen.

Robert A. Mundell erhielt 1999 den Nobelpreis für Wirtschaft und wurde,völlig zu Unrecht, weitherum in Europa als «Vater des Euro» gefeiert.Niemand hatte ihn verstanden, und die Politiker hatten nicht verstehenwollen, dass genau seine Theorie vor dem Euro warnte. Dies aber hatte ich bisMärz 1993 erarbeitet, und noch vor dem Inkrafttreten des MaastrichterVertrages im November 1993 war ich zum EU-Skeptiker geworden. Deshalbbezeichnen mich heute noch Leute mit Elefantengedächtnis, aber ohneSensibilität für Geschichtstrends als ehemaligen EU-Enthusiasten, der seineMeinung geändert habe. Ja, aber weil sich die EU eben noch vielgrundlegender geändert hat. Sie ist nicht die EWG, nicht die EG, sondernetwas anderes. Das wurde ja von den Maastrichtenthusiasten auch genügendunterstrichen und gewollt.

Übrigens: Das schweizerische Beitrittsgesuch vom Mai 1992 ist wörtlich analle drei Gemeinschaften gerichtet, also an die Europäische Atomgemeinschaft(EAG), die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und dieEWG. Nie hat die Schweiz um Aufnahme in die EU ersucht. Das ist nichtspitzfindig, sondern die EWG hat sich seit dem Gesuch mit den Verträgen vonMaastricht, Nizza, Amsterdam und Lissabon massiv verändert und wurde 2009aufgelöst. Erst seit Dezember 2009 gibt es die EU. Und nicht nur die Namenänderten sich, auch diese Staatengemeinschaft ist etwas völlig anderesgeworden.

25 Jahre sind eine Generation – eine andere Generation

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Jeder Mensch muss sich nach einer gewissen Lebenszeit eingestehen, dass 20oder 25 Jahre eine Generation bedeuten, dass sich praktisch alles leicht oderstärk verändert hat. Dass er aus seiner Zeit ein wenig herausgefallen ist. Dassdeshalb aber auch das, was vermeintlich gleichgeblieben ist, im neuenZusammenhang anders wirkt oder gar ist. Dies zu erkennen ist schwer, dieszuzugeben noch schwerer.

Es ist die gleiche Verkehrung der Positionen wie zehn Jahre vorher in derSchweiz, als die Unternehmerschaft dem angelsächsischen Modell derMarktbeziehungen feindlich gesonnen war, was mich in jungen Jahren zuihrem virulenten Kritiker machte. Als sie nach ihrer Bekehrung auf meineLinie (und die Linie aller fortschrittlichen Liberalen) einschwenkte, schien esvielen, der Konflikt habe sich auf meiner Seite aufgelöst. Bescheiden gesagt:Ich habe gewonnen.

Beim Euro habe ich bisher nur Recht gehabt, ohne dass die EU-Politiker sichbekehrten, und dies ist keine grosse Freude. Natürlich hatte nicht nur ichRecht, sondern auch die 60 Wirtschaftsprofessoren, die schon 1992 gegen denEuro protestierten, und wieder 155 Professoren, die sich 1999 klar dagegenäusserten.

Robert A. Mundell bekam immerhin den Nobelpreis, und ich warbeeindruckt, ihn nach 30 Jahren auf der Foto als würdigen, weisshaarigenHerrn in einem Palast der Toscana wiederzusehen.

Nachdem der Euro in Südeuropa aufgelaufen ist, darf der Skeptiker dieethische Gegenfrage stellen: Wenn man den Naturwissenschaftern auferlegt,keine unumkehrbaren Tatsachen zu schaffen, etwa in der Genpolitik, dannwar die unumkehrbare Festlegung der europäischen Währung ein Experimentam lebendigen Leib von 300 Millionen Menschen und somit ein Verbrechen.

Meine Kurzdiagnose der EUDie EU ist ein politisches Projekt des parlamentarischen Demokratieansatzes,wonach das Volk die Vertreter bestimmt, die dann laufend die sachlichen,

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nicht im Voraus erklärten Sachentscheide treffen. Sie funktioniert nach einerTop-down-Politik: Schwierige Entscheide werden auf EU-Ebene gehievt undvon dort den Völkern durch ihre nationalen Politiker als zu übernehmendePflicht erklärt.

Im Falle der EU spielen zwei Eigenheiten der ökonomischen Theorie derPolitik («public choice») mit. Diese Eliten sind nicht vom Allgemeinwohlgetrieben, sondern wie alle Menschen von dem Interesse bestimmt,Amtsdauer, Ämter, Lobbyzuteilungen, Gefolgschaft und Einkommen zumaximieren. Sodann haben die einzelnen Elitegruppen für sich keineMehrheit. Doch um zu ihrem Zweck zu kommen, verbinden sie sich inwechselnden Kreuzkompromissen, wodurch die Staatsintervention und dieUmverteilungen zwangsläufig ansteigen. Der Lissabonvertrag hebt dieinstitutionellen Grenzen dagegen weiter auf, um mit Mehrheitsentscheiden,gemäss zuvor in Kreuzkompromissen erzwungenen einstimmigenEntscheiden des Rates, neue Gebiete zu regeln.

Es kommt hinzu, dass die EU in eine enge, aber unnötige Verbindung miteinem keynesianischen Interventionismus sowie mit dem sozialpolitischen«Immer-mehr-ist-sozialer» eingetreten ist. Der Wirtschaftsverlauf und diegesellschaftlichen Unterschiede sollen vom Staatsbudget mit wachsendenAusgaben für Ankurbelung und Umverteilung im Detail gesteuert werden.Auch hier entgleist das Projekt aber, weil im Boom nie gespart wird, sodassdie Staatsschulden und -defizite notorisch ansteigen. Mit dieser seltsamen,unnötigen Dreifachverbindung aber ist die EU nur das Kind einer gewissenEpoche, sie hat diesbezüglich vergängliche Charakterzüge.

Sodann kommt die dekadente Auffassung ehemals reicher, stetswachsender Volkswirtschaften hinzu, dass störende Unebenheiten von denIndividuen nicht zu tragen, sondern zu sozialisieren sind. Gleichzeitig führtdas anwaltschaftliche Reden der Politiker, wonach die Leute nicht informiertseien und nicht für sich sorgen können, zu immer weiteren Eingriffen in denAlltag und in die Lebenswelt. Damit werden alle Wechsellagen des Lebensvom Kontinentalstaat übernommen, mit verheerenden Wirkungen auf

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Bürgerfreiheit, Staatsschulden und Steuerdruck. In der Folge verliert sich dieGrunderfahrung, dass Wechsellagen eintreten können, für die niemand etwaskann, dass Krisen das Normale sind und dass die Gesellschaft durch Krisenlernt und nur durch Krisen lernt.

Mit dem Harmonisierungswahn ist das europäische Erfolgsrezept, dasHistoriker herausarbeiteten, verlassen worden. Der Wettbewerb der Lösungenwird mit dem Brecheisen beseitigt, der Wettbewerb der Politiker um aktiveMenschen anderer europäischer Länder. Im Gegensatz zum immereinheitlichen China mussten die vielen grossen und kleinen Staaten Europasvom Ende Roms 476 bis 1958 für sich werben. Die Macht ihrer Souveränewurde dadurch begrenzt. Dieser Wettbewerb senkt die Allmacht der Politik,verhindert den Primat der Politik und bestätigt den Primat der Bürger.

Der SchlussDie EU ist damit ein Projekt, das zufälliger ist, als man denkt, dasGrundsätzliches unentmischbar zusammenpappt, nämlich

– die Einigung des Kontinents,– die übliche Maximierung der Politikinteressen,– die Top-down-Strategien bloss repräsentativer Systeme,– den Zeitgeist eines vulgären Keynesianismus,– eine schrankenlose Umverteilung und– die Missachtung der Eigenverantwortung der Individuen durch

anwaltschaftliches Harmonisieren.In der Summe ist die EU daher nicht freiheitsstiftend, und gegenüber dem

Weltmarkt ist sie wohl auch nicht nachhaltig.Die Frage ist dabei nicht, ob die EU demokratisch sei. Demokratie kennt

manche Varianten: Die parlamentarisch-nationale Demokratie, kombiniertmit dem Hinaufreichen von Lösungen an die EU-Ebene, stellt dieausgesprägte Top-down-Mechanik dar, während die Schweiz einen Bottom-up-Verlauf aus Milizparlament, Verbandseinfluss, Souveränität, Neutralität,Volksrechten und «régime d’assemblée» kennt. Das wahre Europa ist die

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Europäische Freihandelsassoziation (EFTA). Sie öffnet Europas Märktediskriminierungsfrei für Güter. Sie könnte dies auch für Personen, Diensteund Kapital ergänzen, sie würde aber für den ganzen Restwirtschaftspolitischer, steuerlicher, währungsmässiger, arbeitsmarktlicher undsozialpolitischer Massnahmen den Wettbewerb der Lösungenaufrechterhalten.

Was den Frieden in Europa seit 1945 betrifft, so erklärt er sich aus demendlich demokratisch gewordenen Deutschland, das die Kriege 1866, 1870,1914 und 1939 als Diktatur gestartet hatte, sowie aus dem Schutzschirm derNATO. Aber der Friede rührt nicht aus EWG, EG, EU.

Bezüglich des Grades an Demokratie in der EU kommt es ausserdem auf ihrePraxis an. So hat die EU-Mitgliedermehrheit die Engländer in die Richtlinienzur Arbeitszeit und Temporärarbeit gemobbt, obwohl sie dagegen waren undes an sich die Einstimmigkeit brauchte. In der Krise des Euro im Mai 2010, undvorher schon 2005, wurden wichtigste Vertragssätze gebrochen, nämlich dasausdrückliche Verbot der Budgethilfe an verschwenderische Mitgliedsländer inArtikel 125 und die Beschränkung der Europäischen Zentralbank auf solidestePapiere als Gegenwert zur Geldausgabe. Sie kaufte sogar griechischeSchmuddelobligationen auf. Trotz vieler neuer Mitglieder zeigt sich neuestensnoch stärker als früher, dass die wichtigen Entscheide immer nur vonFrankreich und Deutschland vorgespurt sind. Diese «Union durch das Recht»ist eine panikerfüllte, kostspielige und gleichmacherische Agentur geworden.Sie ist mit dem Rest der Welt aus dem Tritt, sie steht im Alleingang.

Die Schweiz ist aber im Weltgang.

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Kapitel 6

Die Umwelt wurde zur «Frage»

«Wenn es nicht mehr stinkt, dann stinkt es!» Das war der tapfere Spruch,welcher in den 1950er- und 1960er-Jahren klar zeigte: Erst kommt dasWirtschaftswachstum, dann die Umwelt. Damals wechselte das Wort Umweltüberhaupt erst den Inhalt und wurde vom Begriff der Mitwelt zumSchlüsselwort der Ökologie.

In der Ostschweiz hörte ich den Spruch erstmals in Rorschach, wo dieFeldmühle etwa 3000 Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigte, v. a. Italienerund Spanier, und wo Tag und Nacht, jahraus, jahrein ein intensiver Gestankvon Kunstseide hing. Und das war kein Kunstgeruch, sondern einer wie aufdem WC.

Das Berner Länggassquartier wurde angenehmer, aber auf die Dauer, sehrzum Abgewöhnen, von Schokoladenduft umhüllt. Bauplätze fürEinfamilienhäuser an der Strasse waren begehrt, weil es so bequem war. Nochheute sieht man einfache Giebeldachhäuschen aus den 1950er-Jahren, diedirekt an der Strasse liegen, aber durch die enorme, damals nichtvorausgesehene Verkehrszunahme entwertet sind. Meist hat seither überdiesder Kanton die Strasse ruchlos zulasten der ehemaligen Vorgärten verbreitert.An schönen Aussichtslagen entstanden Restaurants mit guter Zufahrt, waswohlgefällig vermerkt wurde. Der Bach hinter der Buntpapierfabrik Walke inHerisau erfreute uns Kinder mit seinem Farbenspiel. Einmal war er intensivblau, dann rot, dann weiss. Gleich daneben lag das Tälchen Kammernholz,wohin man den ganzen Abfall der Gemeinde schüttete und wo die Rattenhausten.

«Das gibt Arbeit und Verdienst» war ein anderes Wort, das dieaufkommenden Bedenken immunisierte, wenn neue Felder überbaut und neue

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Kamine errichtet wurden.Gleichzeitig glich die einfache Gesellschaft und Wirtschaft damals jedoch

noch viel stärker jener der Zwischenkriegszeit als der gegenwärtigen, reichenund verschwenderischen Wohlstandsgesellschaft. Man verhielt sich ökologischin vielem, weil man ganz einfach sparsam war. Kleider wurden mehrfachgeflickt, und der Spruch dazu hiess, das sei keine Schande. Es galt die Devise«geflickt, aber sauber». Meine Mutter machte, sobald ich den Windelnentwuchs, einen Bubenhosenkurs, sie nähte meiner Schwester die Röcke undstrickte die Strümpfe für uns beide aus Wolle, hochgehalten mit demTrägerleibchen unter dem Pullover (dem «Gstältli»). Im Kindergarten trugenalle Kinder, auch die Buben, kleine Schürzen. In den ersten Jahren der Schule,wie richtige Bürolisten, Ärmelschoner. Meine Mutter erzählte gar, dass dieGrossmutter in den 1920er-Jahren die Wintermäntel für die Kinder strickte,was den Wind kaum abhielt. Für die Mädchenröcke bestellte sie Stoff bei TuchAckermann im Entlebuch und liess diesen durch eine Schneiderin auf der Störnähen. Deshalb tragen auf den Fotos jener Zeit die vier Schwestern alle gleicheRöcke. Es gab im Toggenburg eben keine Läden mit Kinderkleidern. Da meineGrossmutter nicht reich war, kann man sich vorstellen, wie tief der Lohn derSchneiderin war.

Als ich in unserer Zeit für unsere zehn- und zwölfjährigen Buben dasjeweils dritte Kinderfahrrad kaufte, erinnerte ich mich daran, wie wir BubenRadfahren lernten, nämlich mit dem Herrenrad der Väter, ein Bein zwischenden oberen und unteren Rahmenstangen durch auf das andere Pedal gedrückt.

Papier und Altmetall packten meine Schwester und ich als Kinder auf denkleinen Leiterwagen und brachten es zum Lumpensammler Fitze, was jedesMal so 2, 3 Franken einbrachte.

Die Männeranstalt Kreckelhof in Herisau sammelte sogar jede Woche mitdem «Sauwägeli», von einem Behinderten und seinem Hund gezogen, dieKüchen- und Gartenabfälle ein, um sie ihren Schweinen zu verfüttern. Dieheutige Sorge um das flächendeckende Einsammeln der Grünabfälle aus denWohnquartieren wendet sich wieder zurück zu jenen sparsamen Zeiten, die

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Zwischenzeit der sorglosen Verschwendung war nur Episode.

Holz, Pferde, Bauern – so schnell verschwunden wie in China

Die Materialien waren allgemein stark und haltbar. Vor der Verbreitung desBakelits waren Haushaltsmaschinen und -geräte in Blech und Eisen gefasst.Viele Verschalungen, Stiele, Griffe und Räder stammten noch aus derbäuerlichen Welt des Holzes als eines überall verfügbaren, leicht formbarenBasisrohstoffs. Leder, Wolle und Pelzstücke waren in den Kleidern versetzt,glatte Flächen und Fenster wurden mit Hirschleder geputzt, das jahrelangvorhielt, Möbel und Wandverkleidungen kamen in vollem Holz, nicht mitfurnierten Sägemehlplatten daher und konnten nach dem Abbruch als Platten,Tablare und Bretter weiterverwendet werden. Dass man Häuser auf Rollenverschob anstatt abbrach, war keine Seltenheit.

Die Milch brachte in den frühen 1950er-Jahren der Bauer selbst vorbei, eine,zwei Stunden vorher ausgemolken aus seinen Kühen. Liess man sie stehen,bildete sich eine dicke Rahmschicht obenauf. Im Mai waren Milch und Buttergelb, vor lauter Blumen, welche seine Kühe am Lutzenland auf 900 Meter überdem Meer frassen. Was heute verdünnt aus den Milchzentralen in die Lädenkommt, entspricht blosser Milchpanscherei, für die der Bauer damals insGefängnis und, schlimmer, in die Volksacht gekommen wäre. DerSicherheitswahn wegen allfälliger Krankheiten zwang später die Bauern, ihregute Milch in solche Zentralen abzuliefern, welche sich selbst am Rahmbedienen.

Der Milch- und der Brotpreis waren damals streng reguliert und zähltensich in ungeraden Rappen, z. B. galten lange Jahre 37 Rappen für ein Pfunddunkles Brot. Diese Produkte beschlugen noch einen fühlbaren Teil derHaushaltsausgaben. Wenn der Bundesrat in den 1950er-Jahren den Milchpreisanheben wollte, versammelte sich, so erzählte man mir, der Vorstand des

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Gewerkschaftsbundes, um eine so schwerwiegende Frage zu erörtern und beider Regierung eine Eingabe zu machen.

Die Fuhrwerke waren in den 1950er-Jahren noch ein vertrautes Bild. Bauernaus dem Fürstenland klapperten im Herbst damit die Bürgerhäuser Herisausab und verkauften Äpfel, Zwetschgen und Kartoffeln. Die Appenzeller Bauernmühten sich nicht mit solchen Äckern und Bäumen ab, sie zogen Vieh undMilch, sonst nichts. Fuhrwerke waren lange Zeit das Zeichen auch derBrauereien. Und diese lieferten nicht nur Bier bei Wirtschaften und Privatenab, sondern auch Eisbarren für die Kühlräume, die ohne Strom funktionierten.Der Fischereiladen Anker in Herisau kaufte solche Eisbarren, legte sie ingrosse Holzkisten, klemmte die Fischvorräte dazwischen und überdeckte allesmit Sackleinwand. Die Fischschwänze guckten allerdings hervor und nahmennach gewisser Zeit etwas Geruch an. Einmal in der Woche, am Donnerstag,öffnete Witwe Brändli ihre Kuttlerei. Die Magenwände hingen anFleischhaken von den Wänden, und so wie wir Kinder in der Metzgerei einWursträdchen erhielten, so teilte sie ein handtellergrosses, rohes StückKuttelwand aus, das die Kinder wie Kaugummi kauten (ich nicht). Auch dieMüllabfuhr der Gemeinde setzte zwei Pferde als Kraftquelle ein. Als Zugtieredienten bei den Milchmännern und Milchbauern auch grosse Bernhardiner-und Sennenhunde. Alte und junge Leute mit Leiterwägelchen waren einvertrautes Bild in den Strassen. Doch innerhalb etwa 15 Jahren war diesebäuerliche, jahrtausendealte Mobilität von den Autos verdrängt undweggefegt. Ich sage es nochmals: So schnell wie heute in China. In Mailandfuhren wir 1955 mit dem Auto direkt vor den Dom. 15 Jahre später wandensich die Autobahnen spaghettimässig rund um Mailand. Peking wiederholtdies heute.

Holz, Kohle und der Wechsel zum Öl in nur 20 Jahren

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Innerhalb gut 20 Jahren wechselten sich drei Heizenergien ab. In den frühen1950er-Jahren heizten im Appenzellerland noch viele Haushalte mit Holz.Kohlenheizungen waren schon fast ein Privileg grosser und neuerer Häuser.Die Kohlen wurden im Herbst angeliefert, und aus den Lastwagen mitRutschbahnen durch die Kellerfenster in den Kohlenkeller abgelassen. DieKohlepartikel stiegen aus den Kaminen und fielen auf Fassaden und Wäsche.Als ich 1965 einen guten Monat lang als Zimmerbursche in Paris arbeitete,enttäuschten mich die Haussmannboulevards, deren prächtige Häuser alletiefschwarze Fassaden hatten. Nur in einigen Strassenzügen begann man, dieseFassaden abzuspritzen und ihr helles Ocker hervorzuholen. Auch die altenKathedralen in den europäischen Städten waren damals einfach schwarz.

Wer noch mit Holz heizte, war gezwungenermassen sparsam mit Wärme,denn man musste das Holz sägen, spalten, aufbeigen, dann hinauftragen,einfeuern und über die Flammen wachen. Mein Grossvater besorgte dieseschwere Arbeit. Die Grossmutter heizte im Winter täglich den grossen grünenKachelofen der Stube von der Küche aus mit einem «Büscheli» ein – einzusammengebundenes Bündel aus feinen und groben Scheitern. Nach zweiStunden strahlte der Ofen erste Wärme ab. Das war’s. In der Küche wurde esdurch den Kachelofen und den Holzherd ebenfalls warm, und abends legteman die Kirschsteinsäcke ins Ofenrohr und rannte im Pyjama mit ihnen ander Brust ins eiskalte Schlafzimmer des oberen Stocks.

Noch im Wiederholungskurs Anfang der 1970er-Jahre lag meine Kompagniein den Zimmern eines ehemaligen Schulhauses im Jura, bei 20 Grad minus.Überall wurde nachts ein kleiner Holzkanonenofen geheizt, und abwechselndmusste einer als Brandwache sowohl Holz nachschieben als auch mit einerbrennenden Kerze davorsitzen, um zu sehen, ob noch genug Sauerstoff da war.

Zu Hause war das 1952 gekaufte Haus auch nur mit Holz beheizt, unsereWohnung mit dem Kachelofen der Stube, ebenfalls aus der Küche bedient, undim Büro des Vaters mit einem Arboniaofen, der unermesslich Wärme abgab –solange man Holz zusteckte. Dann baute mein Vater die Zentralheizung ein,die aber abwechselnd mit Öl und mit Kesseln voll Holzspänen geheizt wurde –

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vor bald 50 Jahren schon. Heute kehren die Holzschnitzelheizungen als grosseNeuerung zurück.

Das Öl begann seinen Siegeszug Ende der 1950er-Jahre. Es löste Holz undKohle rasch ab. Erste Zeichen waren die kleinen Ölöfen, welche einzelneZimmer heizten und furchtbar stanken, wenn man beim Zugiessen das Ölverschüttete. In meinem Berliner Studierzimmer war ein solcher Ofen,nebenan bei einem Studienkollegen wurde noch mit Kohle in einem kleinenKanonenofen geheizt. Dazu erhielt er Gutscheine für Kohle, die wir zusammenmit einem Kessel beim Kohlesozialamt abholen mussten: der deutscheSozialstaat der 1970er-Jahre, mit Objekthilfe, also mit Unterstützung inMaterie, statt in Geld.

In jenen Jahren schützten sich alle Häuser ausnahmslos mit Vorfenstern, dieman im Frühjahr und Herbst aus- und einhängte. Manche Experten haltendieses System für sehr energiesparend, und es braucht keine teurenMetallrahmen. Hatte es Spälte, stopfte man lange Polsterschlangen zwischenFenster und Vorfenster. Vorfenster und Aussenläden waren auch gut dazugeeignet, um die Gläser mit selbstgemachtem Yoghurt nachtsdazwischenzustellen. Man hatte sie mit Milch gefüllt, einen Löffel Yoghurtvom Vortag draufgegeben – und dann war, dank langsamem Abkühlen,wieder ein neues Yoghurt da. Für mehr Geschmack rührte man einen LöffelKonfitüre ein. Keine Aludeckel, keine Transporte, keine Fabriken.

Kirchen, Zeughäuser, Markthallen und andere grosse öffentliche Gebäudewaren nicht oder nur ganz wenig geheizt. Wer dies erlebt hat, sieht heute diestets von Riesengebläsen erhitzten Hallen, Ausstellungen und Versammlungenals Energieverschwendung an.

Unser erstes Auto, ein Renault, hatte keine Heizung. Wir wickelten unsbeim Sonntagsausflug in Mäntel oder Wolldecken ein. Im Winter musste derVater den Motor vorne mit der Kurbel anwerfen, dann mit einem raschen Satzeinsteigen und Gas geben.

Die Eisbahn in Herisau wurde auf dem flachen Gelände neben der Kaserneüber Nacht mit Wasserspritzen erzeugt. Wir befuhren sie mit den an die

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Skischuhe angeschraubten Kufen. Eine offene Holzbaracke bot Bänke undeinige Haken fürs Umkleiden. Dieser Raum und der kleine Raum des Kassierswaren mit einem Holzofen erwärmt. Heute steht an gleicher Stelle einSportzentrum mit einer gedeckten enormen Eisbahn, die fast rund ums Jahrbetrieben wird, mit Schwimmbad, Sauna, Krafträumen und Sporthalle, dazumit Theorieräumen, Restaurant und Garderoben. Die Energiebilanz früher undheute dürfte etwa 1 zu 100000 betragen. Ausserdem wanderten wir damals zurEisbahn, heute fährt man mit dem Wagen hin.

Als wir Mitte der 1950er-Jahre in unserem Haus die Wasserspülung für diefünf Wohnungen einrichteten, musste mein Vater einen enormen Überlauftankaus Betonröhren mehrere Meter tief in die Erde ausheben lassen, weil es nochkeine geeignete Kanalisation gab. Dieser Tank wurde, wie alle Güllenkästender Häuser, regelmässig von der Gemeinde oder von Bauern geleert. DieBauern hatten bei diesem Fuhrwerk zwischen den zwei Pferden einenhalbfeuchten, angezündeten Sack hängen, der langsam mottete und denPferden die Fliegen vom Kopf verscheuchen sollte. Alles zusammen stankbestialisch. Doch irgendwie dachte man in Kreisläufen, machteWiederverwendung, aber eben eher aus Sparsamkeit oder Notwendigkeit.

Die Wandlung von der fast mittelalterlichen Holzwärmegesellschaft zurwohlig umheizten Komfortanstalt fand wirklich innerhalb von nur gut 20Jahren statt und wurde zu einem ölgesponserten Zivilisationswunder.

Erste Unruhe

Allzu rosig darf man die altväterliche Solidität aber auch nicht sehen. Waseinmal gebaut und produziert war, blieb jahrzehntelang im Gebrauch, alsoauch giftige Wand- und Gerätefarben, Autos mit schlechtem Wirkungsgradund Häuser mit dünnen Wänden. Wer noch erlebt hat, dass sich auch Geräte,Gehäuse und Möbel abnutzen, staunt heute über die elektronischen

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Schreibgeräte, Mobiltelefone und Speicher- und Suchfunktionen der PCs,welche sich materiell gesehen überhaupt nicht abnutzen. Hunderttausend Malkann man sie betätigen und abrufen. Sie verfallen nur technisch, durch dieanlaufenden Verbesserungen, die Beschleunigungen der Programme und dieChips.

Grosse und sichtbare Eingriffe in die Natur verstörten schon damals. Gegendie Wasserkraftprojekte am Spöl und bei Rheinau liefen in den 1950er-Jahrenepische Abstimmungskämpfe, ebenso für den Nationalpark. Das waren eherpunktuelle Abwehrhaltungen. Eine kritische Sicht mit System versuchte dieStudie des Club of Rome 1972 mit dem Titel Die Grenzen des Wachstums.Dabei argumentierte sie aber v. a. mit der Inputseite, nämlich dass schon balddas Quecksilber, das Öl und viele andere Stoffe knapp würden. Das war nichtder Fall, und es dementierte ein erstes Mal die allzu hysterischenUmweltsorgen. Das ebenfalls folgenlose Waldsterben Mitte der 1980er-Jahrewar ein zweites richtungsloses Fanal. Neuerdings, mit der Debatte um denGrad menschlichen Anteils an der Klimaänderung, argumentiert man mit derOutputseite: Es gelangten zu viele Schadstoffe in die Luft. Stimmt es diesmal?

Die bukolische Landschaft der Schweiz gehört zum Selbstbild wie zumFremdbild des Landes. Doch schon in den 1950er-Jahren materialisierte sichder neue Reichtum der Schweiz in Ziegeln und Beton, und die Bauten frassensich in diese Landschaft. Schon die ersten Ausfahrten mit dem ersten Autoliessen meine Eltern rund um Zürich ausrufen: «Aber da waren doch vorhernoch Wiesen!» Doch der gleiche Vater fand oft auf einer Anhöhe, da gehöredoch nun wirklich ein Ausflugsrestaurant mit Terrasse und Parkplatz hin. Erselbst war auch glücklich, die rasch aufgelaufenen Geschäftserträge 1961 inWohnblöcke stecken zu können. Doch mit der Zeit störte sich allein schon dasAuge am Resultat – überall brach man die schönen alten Häuser ab, überallbaute man die gleichen Blöcke, und überall konstruierte man Strassen. InHerisau verkündete der Gemeindebaumeister an einerOrientierungsversammlung, man sei jetzt modern und schreibe Flachdächervor. Ich protestierte als 20-Jähriger zusammen mit, wie mir schien, uralten

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Leuten offen dagegen. Der Baumeister war am längeren Hebel. Im historischenOrtskern wurden riesige, flach gedeckte Kuben hingewuchtet.

1973 fand der intellektuelle Aufstand statt. Jörg Müller schuf seine grossenFaltblätter mit dem Titel Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder.Der Architekt Rolf Keller dokumentierte mit einem Fotoband das Bauen alsUmweltzerstörung. Auch ich versuchte, mit Artikeln und Reportagen gegendie Bauwut anzuschreiben. Im Wallis interviewte ich 1976 den Baulöwen undGemeindepräsidenten Barras, der Crans-Montana politisch mit 90 Prozent derStimmen an der Urne und wirtschaftlich als Generalunternehmer beherrschte.Mit seinem enormen Amerikanerwagen führte er mich stolz umher, zeigte aufdie gigantischen, dreieckigen Wohntürme und nachher auf diskret hinterTannen versteckte Grosschalets: «Là, j’ai mis Aznavour et le Grand-Duc duLuxembourg.» Er machte privat die Ortsplanung. Doch schon damals hattenStudien gezeigt, dass die Hotels ein Vielfaches an Arbeitsplätzen boten alsZweitwohnungen, und zwar für Bruchteile an geopfertem Land.

Im Wallis war Widerstand zwecklos. Das erfuhr auch der Dichter MauriceChappaz, der in seinem Pamphlet schon Anfang der 1970er-Jahre dieBaulöwen als «die Zuhälter des ewigen Schnees» bezeichnete. Es brachte ihnum seinen Heimatruhm. Wie nur wenige brachte Chappaz es fertig, von derFreude über das herrliche Wirtschaftswachstum zur Sorge um die Landschaftumzusteigen. Denn noch 1959 hatte er ein elegisches Werk über dieweltgrösste Staumauer der Grande Dixence verfasst. Die bukolische SchweizerLandschaft kippte innerhalb von gut zehn Jahren unter dem Beton und derAutowelle in die Verhäuselung.

Im Wallis spielte auch die Eigentumsform der Realteilung denLandverwertern in die Hände – die Grundstücke waren durch Erbteilungenüber die Jahrzehnte klein, aber in viele Hände geraten. Nur wenn überall inder Gemeinde gebaut werden durfte, kam jeder auch zum Zuge. Als Anfangder 1980er-Jahre das Gesetz gegen Grundstückverkäufe an Ausländerverschärft wurde, brachte ich eine zustimmende Vernehmlassung des SGBdurch die Instanzen. Doch der Walliser Sekretär der Baugewerkschaft tobte

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und verlangte, dass ich in ein Restaurant nach Sierre komme, um sichauszusprechen. Ich trat in dessen Sitzungszimmer – und fand mich vor demGewerkschaftssekretär, aber auch vor den Vertretern der WalliserHandelskammer, der Touristik, des Gewerbevereins und der Verwaltung. Siedonnerten mehr als drei Stunden auf mich ein.

Ob Landesausstellungen eine Folge oder eine Ursache im Bewusstsein einesLandes seien, wird in manchen Studien erforscht. Der Expo 64 gelang es, einerstes Unbehagen gegenüber der Güterfülle und ihren Überresten zu erzeugen.Man schwebte auf einem Sessellift durch eine Wunderwelt der Konsumgüter,man wurde aber auch vor einen heftigen Film mit Unrat, Schmutzgewässernund Abfällen gestossen. Damals begann Gemeinde um Gemeinde, Kläranlageneinzurichten, und die Stimmbürger sagten zu den insgesamt enormenAufwendungen überall Ja. Doch immerhin begann damit nachträglich derkorrigierende Umweltschutz.

Die Politik in Bern versucht sich an der Umwelt

Auf Bundesebene wurden zuerst Mitte der 1970er-Jahre die systematischerenZugriffe des Gesetzgebers abgeschmettert: das erste Umweltschutzgesetz imParlament, die Raumplanung im Volk. Das Umweltgesetz soll, wie auchandere Gesetze aus seiner Hand, der damalige Nationalrat Leo Schürmannüber ein Wochenende kurz und knapp verfasst haben. Damals war dieLegislative noch Gesetzgeber, sie bestellte nicht Berichtchen und wartete nichtauf die Verwaltung wie heute.

Ein gewisser Ersatz für die grossen Regeln waren die Spezialgesetze,nämlich einerseits das Forstgesetz von 1904, das einen Teil der Landschaftrettete, und der Gewässerschutz, der gemäss schweizerischer Dezentralisierungvon Gemeinde um Gemeinde mit immer besseren Kläranlagen wirksamverwirklicht wurde. Mein heutiges Wohnhaus liegt am Wohlensee, nur 3

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Kilometer unterhalb der Kläranlage für etwa 200000 Einwohner der RegionBern, und das Aarewasser hat dennoch Trinkwasserqualität. Als wir aber alsBuben Anfang der 1960er-Jahre im Bodensee badeten, versanken die Füsse bisweit über die Knöchel im Morast. Heute geht diese Schlammschicht aufweniger als ein Drittel zurück und ist auf weiten Strecken sogar ganzverschwunden. Das sind wichtige Erfolge der Umweltpolitik.

Der Wohlensee bildet die Wasserreserve für das Kraftwerk Mühleberg, woauch das erste Atomkraftwerk der Schweiz angesiedelt wurde. Die sternförmigins Land laufenden Stromleitungen waren ja schon da. Die Frage derAtomkraftwerke spaltete dann das Land ab Mitte der 1970er-Jahre. Vor demKongress des SGB 1986 in Lugano erlebte ich aus der Nähe, wie sogar dieeinzelnen Verbände gespalten waren. Die Metall- undMaschinengewerkschafter und auch manche Vorstandsmitglieder sahen in denneuen Riesenanlagen Chancen für viele Arbeitsplätze, und dieEnergiekonzerne bearbeiteten die Vertreter in dieser Hinsicht. Mein KollegeBenno Hardmeier musste mit unendlicher Geduld in denVorbereitungssitzungen der SGB-Energiekommission einen tragbarenKompromiss zwischen diesen direkt interessierten Arbeitnehmervertreternund den unbelastet opponierenden Druckern, Journalisten und Linkenaustüfteln. Nach dem Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 schwenkteder SGB-Kongress auf die atomkritische Seite. Aber auch Bundesrat WilliRitschard antwortete vorher einmal auf meine Kritik an Atomkraftwerken impersönlichen Gespräch mit folgenden Worten: «Aber Beat, was machen wir,wenn alle Fabriken stillstehen, weil kein Strom da ist?» Ich roch wegen seinerpersönlichen Nähe zum sozialdemokratischen Bundesrat hinter diesemschlagenden Argument das intensive Wirken des damaligen AtomzarenMichael Kohn.

Rein liberale Gründe sprechen übrigens gegen Atomkraftwerke. Diesetragen ihre Kosten nicht, sondern externalisieren sie, wie vieleUmweltschädiger. Sie tragen nicht die vollen Versicherungskosten für denschlimmstmöglichen Fall, was man sonst von jedem Gewerbler oder

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Festhüttenbetreiber verlangt. Und die nicht gelöste Endlagerung derstrahlenden Abfälle verlagert Kosten und Folgeschäden auf mehrere Tausendnachfolgende Generationen.

Aus der verfahrenen Lage um das geplante Atomkraftwerk Kaiseraugst, wodie Besetzung des Geländes durch die Gegner und eine militärische Antwortdarauf erwogen wurden, rettete Christoph Blocher das Land. Als Nationalrattrat er mit drei anderen Parlamentariern der bürgerlichen Seite an einemMärzmorgen 1988 auf und verkündete, das Atomkraftwerk Kaiseraugst werdenicht gebaut. Innerhalb von Stunden schwenkten alle bürgerlichen Politikerund der Bundesrat darauf ein, als ob sie nicht am Vortag noch unerbittlichpositiv gewesen wären. Für mich zeigte sich an diesem Fall, dass die Schweizmit einem Programm zwischen den Regierungsparteien gut und effizientregierbar würde.

Den Einzelnen soll man nicht dispensieren

Anfang der 1980er-Jahre kam nach der deutlichen Konjunkturdelle doch auchdas systematische Suchen nach wirtschaftlichen Vorwärtsstrategien auf:Standort-, Währungs-, Regional- und Innovationspolitik wurden studiert,erörtert, auf unzähligen Symposien debattiert und dann in Gesetze gegossen.

Am Fernsehen kam damals zu Jahresbeginn jedes Mal eine Elefantenrundeaus den vier, fünf grössten Wirtschaftsverbänden zu Wort, und jeder Vertretermusste eine Wachstumsprognose für das anbrechende Jahr abgeben. Ich tipptefür die Jahre 1983, 1984 und 1985, als deutliche Zuwachsraten absehbar waren,immer auf 0 Prozent und sagte als Begründung, zwar wachse die messbareVolkswirtschaft um 2, 3 Prozent, aber die gleichzeitigenUmweltverschlechterungen frässen alles wieder auf; auch dies müsse manberücksichtigen. Diese kleine Provokation fiel aber stets ins Leere, weil sienicht ins Schema links/rechts, arm/reich, Arbeitnehmer/Arbeitgeber und

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Macht/Ohnmacht einzuordnen war. Was nicht in diese Schubladen passt,übergehen meine lieben Kollegen in den Medien oft in grosser Verlegenheit,denn solches ist nicht vorgesehen. Ich bin öfter am welschen Radio undFernsehen als in den deutsch-schweizerischen Häusern eingeladen undgeniesse dort die spontane Art der Journalisten, die Unerwartetes sofortpacken. Den Kontrast dazu bilden die Kärtchen, auf welche mancheRadiojournalisten in Bern ihre Fragen in Dialekt aufschreiben und dannablesen. Auch machen sie Sendungen oft Wochen vorher ab, während welscheModeratoren noch zehn Minuten vor der Sendung die Themen ändern undeinem dies übers Mobiltelefon mitteilen. Solches erlebt man auch als Umwelt,hat aber nur im übertragenen Sinn mit Staub oder frischer Luft zu tun.

Bezüglich der Ökologie aber waren dies die Zeiten, als man umGesamtkonzeptionen zur Energie, zum Verkehr und zur Kommunikation rangund als die weitere Umweltgesetzgebung erst anrollte.

Heute kippt die schweizerische und europäische Umweltpolitik mit immerneuen Vorschriften und Vorkehrungen in die anwaltschaftlicheSicherheitsmanie über. Erleuchtete Politiker, Beamte und Spezialisten ausUmweltverbänden entdecken immer neue Gefahren und wollen alle davorschützen, anstatt die Bürger sich selbst schützen zu lassen – oder auch nicht.Viele Gefahren sind nicht systemische Weltbedrohungen, sondern allenfallsindividuell bedenkliche Wirkstoffe. Sie sollen individuell ertragen oderabgewehrt werden. Dann soll man ruhig die Krankenkassen- oderUnfallversicherungsprämien und die Schadensleistungen diesem individuellgewählten Schadenspfad anpassen: mit höheren Prämien, mit tiefererSchadendeckung für Raucher und bewegungsarme Dicke, für zu risikohafteKletterer, Raser, Sonnenanbeter, Bewegungsfaule und Hundehalter.

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Kapitel 7

Woher wir kommen

Vor dem «sozialdemokratischen Zeitalter», wie Ralf Dahrendorf diezunehmende Umverteilung und den Interventionsstaat zusammenfasste, hatteman ein unaufgeregtes Verhältnis zu Unterschieden. Einige Schlaglichter seiendarauf geworfen, und zwar ohne dabei ein einziges Mal das Wort «sozial» zubenutzen, denn es ist abgenutzt. Es muss heute ausgedeutscht werden undsollte abwechselnd bedeuten: gesellschaftlich, umverteilend, einebnend,progressiv besteuernd, positiv diskriminierend usw.

Das Erst- und Zweitklassschulhaus unseres Quartiers war das Waisenhausvon Herisau. Es gab darin zwei Klassenzimmer im ersten Stock. Auch dieWaisenkinder besuchten daher diese Klassen, über welche Fräulein MathildeKönig den Stock schwang (nur im übertragenen Sinne den Stock, denn sieprügelte mit den Fäusten). Neben den Waisenkindern sassen auch wir Kinderaus dem eher bürgerlichen Quartier der Kreuzstrasse und des Ebnet sowie inmeiner Klasse die spätere Erbin eines grossen Teils von Huber und Suhner, dergrössten Firma des Kantons. Die Waisenkinder hatten im Winter sehr grobgestrickte Pullover und gingen vom Frühsommer an schon barfuss, um Schuhezu sparen. Nachmittags und samstags mussten sie im grossen Garten oder imSchopf des Waisenhauses arbeiten. Wir trafen sie daher nie in der Freizeit an,weder beim Herumstreifen im Dorf noch auf den Turnplätzen der Realschulenoch bei der Buntpapierfabrik Walke am Mittwochnachmittag. Dort fand sichfast ganz Jungherisau ein, weil uns von einem Arbeiter ab der Rampe Rollenfarbigen Restpapiers zugeworfen wurden.

Wenn in der Schule die Heftbeige von der Lehrerin korrigiert auf dem Pultwartete, sah man die Hefte der Waisenkinder von Weitem, denn sie waren inZeitungspapier eingefasst, während wir entweder Walkepapier hatten oder

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von der Lehrerin für 5 Rappen die Umschlagpapiere desBäckermeisterverbandes kauften.

Mit solchen Zeichen erkannten wir Kinder lange vor dem französischenSoziologen Pierre Bourdieu «la distinction», den kleinen Unterschied. Das ersteMal tauchte ich in einen wirklichen Ausdruck von Armut ein, als wir mit etwazehn Jahren Pro-Juventute-Marken verkaufen mussten. Ich klapperte alles abund trat auch in die langen düsteren Holzgänge des Heinrichsbads ein. Dieswar ein seit Jahrzehnten stillgelegtes Kurbad, dessen früher viel besuchteQuelle nach einer Strassenreparatur Anfang des 20. Jahrhunderts versiegt war.Die Architektur des Komplexes inklusive Kapelle zeugte noch vom Luxusgeistder Belle Epoque. Der bauliche Zustand aber war lamentabel, und in denGängen stank es von Fäulnis und Urin. An einer der hotelmässig im langenGang angeordneten Türen klopfte ich, wurde aber nur von einer schlechtgekleideten dicken Frau mit vier schreienden Kindern hinter sich abgewiesen.Sie war Briefmarken mit Aufpreis gegenüber natürlich verständnislos. Heuteweiss ich, dass dies die Notwohnungen der Gemeinde waren. Waisenhaus undNotwohnungen für Wohlfahrtsempfänger, das waren zwei Institutionen derdamaligen staatlichen Hilfe.

Die dritte lag auch in unserem Quartier. Es war das Bürgerheim. Damalsgingen nur mittellose alte Leute in ein öffentliches Altersheim, meist in ihrerHeimatgemeinde. Entsprechend ärmlich, hustend und schwankend kamen mirdie Gestalten dort auch vor. Als wir 1955 unser erstes Auto hatten und mobilwurden, besuchten wir Fräulein Leuzinger, die alte Glättnerin der Familiemeines Vaters, im Altersheim in Glarus. Sie lag mit fünf anderen Insassinnenim selben Zimmer. Das Nachttischchen und ein schmaler Wandkasten warenalles, was ihr noch zustand. Sie weinte jedes Mal, sobald wir uns zumAbschied anschickten, was mir als Kind in die Seele schnitt.

Die vierte Institution, ebenfalls im Quartier, waren das Bezirksspital undetwas darüber gelegen das Absonderungshaus, das Abs genannt wurde.Dorthin wurden vor der Verbreitung der Antibiotika die Kranken mitansteckenden Leiden gebracht. In jenen frühen 1950er-Jahren hatte mein Vater

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eine seiner hartnäckigen Anginen, bekam vom Arzt erstmals Penicillin undwar sofort gesund. Das wurde als unglaubliche Erleichterung empfunden, undman sprach gegenüber Bekannten und Freunden ehrfürchtig aus: «Er hatPenicillin bekommen.»

Die fünfte Institution war eine eidgenössische, die gleich nebenan lag,nämlich das riesige Zeughaus.

Die sechste, wieder daneben, war die Kälbleinhalle mit den langen Stangendes Kälbermarktes davor. Freitags war Kälbermarkt. Der Platz unter denLinden belegte sich mit dicht gedrängten Reihen von Kälbern an diesenStangen. Darüber schwebten bald schon der Geruch von Mist und dasunaufhörliche Muhen der Viecher. Eine Blechtafel an der Halle verlangte:«Schonet die Tiere.» Überall standen die Bauern in ihren appenzellischenWerktagstrachten, also in dickem, braunem Tuch, viele mit dem «Lindauerli»,der gedeckten, nach unten hängenden Pfeife, die Hände im Hosensack. Sieverhandelten mit den Viehhändlern, die an ihren blauen, meist offenflatternden Berufsschürzen und hohen Gummistiefeln erkennbar waren. DieBauern dagegen trugen, um zu sparen, ihre genagelten Militärschuhe aus.Überall konnte man den Markt in Reinkultur sehen – die Männer, wie siefeilschten, dann den Handschlag machten, wie das Bargeld die Händewechselte und wie dann die Kälber zu Dutzenden auf die wartendenLastwagen der Händler getrieben wurden. Die Bauern selbst brachten ihreKälber aus abgelegenen Dörfern zu Fuss oder in ihren hölzernenTraktoranhängern her. Nachher gingen sie froh gestimmt in die vielenWirtschaften nebenan, und bis spät in den Nachmittag oder gar Abendklangen die Lieder und «Zäuerli» heraus.

Auch ein billiger Jakob fehlte selten. Sein Stand hatte einen grossen leerenTisch, und er griff sich einen der umstehenden Bauern heraus, zog ihn an denTisch, pries Hosenträger, Stallseile, Melkfett an und knallte eine TafelSchokolade dazu, ging mit dem Gesamtpreis ein Zehntel herunter, dannknallte eine zweite Schokolade, nochmals alles für ein Zehntel weniger, einedritte Schokolade und noch 2 Franken weniger – bis der Bauer einknickte und

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zahlte. So hatte er doch auch ein Mitbringsel, «en Chrom», für die Lieben zuHause.

Bei unserem Lehrer Heinrich Altherr schrieb ich einen Aufsatz über denViehmarkt und kritisierte darin die Händler, welche störrische Tieremanchmal am Schwanz aufhoben und schoben. «Beinahe hätte ich etwasgesagt», hörte der Aufsatz auf. Der Lehrer las ihn vor und ermahnte mich undalle anderen sehr eindringlich, dass es nicht dabei bleiben dürfe, sondern dassman auch laut sagen müsse, was einen störe. It was not lost on me.

Zuoberst an unserer Strasse lag der Friedhof, und zwei, drei Mal in derWoche gingen ernste, schwarz gekleidete Trauerfamilien hinauf.

Als Ministrant musste ich dem Pfarrer hin und wieder bei einer Beerdigungauf dem Friedhof helfen oder bei Messen in der Heil- und Pfleganstaltassistieren, wo zu jener Zeit am Weihnachtstag 1956 der Dichter RobertWalser im Schnee draussen umfiel und starb. Während unserer Messenkicherte eine Insassin jedes Mal, wenn ich das Glöckchen bewegen musste.Man wusste, dass auch eine Bäckersfrau nicht weit von unserem Quartier dortkurz kuriert wurde, weil sie nach dem Auftauchen einer konkurrierenden,neuen Bäckerei einen Nervenzusammenbruch gehabt haben soll. Dass sichjemand in psychiatrische Behandlung begab, war selten und schon noch einbisschen seltsam. Wenn eine Person in der Bekanntschaft «in ein Loch fiel»oder nach heutigen Begriffen eine Depression oder ein Burn-out hatte, dannsagte man, «sie studiert halt». Es war aber kein Grund für Aussonderung undteure Therapien.

Während dieser letzten 50 Jahre haben dann Psychologie und Soziologiealles Individuelle und Gesellschaftliche auf Abweichungen hin abgeklopft –und prompt wurden Instanzen dazu geschaffen, die darauf dringen, dieseAbweichungen zu kurieren und den Gleichstrom der Lagen herzustellen. Inden Schulen, in Firmen und im Gesundheitswesen wird mit viel Personal undGeld nun Mediation, Opferhilfe, psychologische Stützung, Begleitung undIntegration betrieben. Vielleicht liesse man die Betroffenen, die auf ihre Weise,wie alle anderen, eigentlich nur Leute mit besonderen Merkmalen sind, besser

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im Teich der gewohnten Umgebung schwimmen, gut oder schlecht, aber frei.Kantonalbank, Bauamt, Kirche, wie vorerwähnt, und alle diese Institutionen

wie Waisenhaus, Kälbermarkt, Friedhof boten uns Kindern undHeranwachsenden eine direkte Einführung in die gesamte Breite des Lebensund aller Schichten, zusammen mit der gewerblichen Welt im Dorfquartier,wo fast jedes fünfte Haus ein kleines Unternehmen war und man bei derArbeit zusehen konnte. Es brauchte keine Spielplätze, Animatoren undJugendhäuser.

Der Kleinstaat ist immer noch richtig

Der kleine Staat Appenzell Ausserrhoden mit 48000 Einwohnern und 14000Menschen im Hauptort Herisau schuf und betrieb diese Institutionen. DieserKanton hatte einen eigenen Dialekt, eine eigene Volksmalkunst, einen eigenenStil des Bauern- und Bürgerhauses, sodann seine Volksmusik mit ganz eigenenTonleiterübergängen und mit Hackbrett wie Geige, meist ohne dieHandharmonika der eher platten deutsch-schweizerischen Ländler. DerKanton hatte seine eigene Hunderasse, den Bläss, und er besass alle anderenZeichen der Staatlichkeit – Regierung, Parlament, Behörden, Gericht, Zeitung,Kantonalbank, Strafanstalt, Fahne und Wappen. Mit dieser Erfahrung bin ichüberzeugter Anhänger der Lehren Leopold Kohrs über den Vorteil kleinerStaaten. Der Kanton hatte sogar sein eigenes Hypothekarsystem, den «Zedel»,eine Hypothek mit dem Maximalzinsfuss von 4,5 Prozent und unkündbardurch den Gläubiger.

In dieser fassbaren gesellschaftlichen Struktur waren auch die Regierendengewöhnliche Leute. Man kannte sie, respektierte sie, sie selbst aber waren sehreingebunden und passten auch ohne parlamentarischeUntersuchungskommissionen oder Pressehetzen auf.

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Der Staat steht auf einer Wiese und singt

An der Landsgemeinde konnte man diesen Staat vor aller Augen erleben. Siefand am letzten Aprilsonntag statt, abwechselnd in Hundwil und Trogen, undwurde zu Fuss von allen Teilen des Landes her erwandert. Die Strassen warengesperrt. Zu Beginn um 10.55 Uhr sang man das Landsgemeindelied AllesLeben strömt aus dir, und zwar vierstimmig, vier Strophen aus 10000 Kehlen,gesungen von Männern und später auch von Frauen, ein eigentlicher Rausch.Der Staatskörper stand auf einer Wiese und sang. Das zu diesem Moment alsStaat verfasste Volk klang weithin übers Land.

Dann zog die Regierung in Frack und Zylinder auf den «Stuhl», dasgezimmerte Podium. Wenn ein neues Regierungsmitglied gewählt war, hobendie Umstehenden den Säbel in die Höhe, die Pfeifer bewegten sich dann durchdas dicht gedrängte Stimmvolk dorthin und führten es auf den Stuhl. DerLandammann legte vor aller Augen das Landessiegel auf die Brüstung, gab es«unversehrt in Eure Hände zurück» und versicherte, er habe es nach bestemWissen und Gewissen gebraucht. Am Schlusse schwor der Landammann denSchwur, nachdem der Standesweibel vorgelesen hatte, «wie der Landammanschwören soll». Nämlich so: «Witwen und Waisen zu schützen, des LandesWohl zu mehren, seinen Schaden zu wenden.» Der Landammann sprach dann:«Das habe ich wohl verstanden, was mir ist vorgelesen worden, das will ichtreulich halten, so wahr ich wünsche und hoffe, dass mir Gott helfe.» Unddann schwor auch das Volk. 10000 Bürger bekannten sich zum Staat. Der aberwar nichts anderes als sie selbst auf dieser Wiese.

Die Stunde vorher lehnten sie allerdings viele Vorhaben und Vorlagendieses Staates ab. Wenn eine Regierungsvorlage durchfiel, waberte eindreckiges Gelächter über die Menge. Die Bürger waren frei.

Als Student im mondänen Genf, als von der lahmen Politik Enttäuschter, alssonst sehr spöttischer 68er gegen alles, was abstrakt nach Establishment roch,hat mich die Landsgemeinde immer ergriffen und mit den konkretenschweizerischen Institutionen versöhnt. Sie funktionierten holprig, aber dann

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musste man halt eingreifen und mitmachen, vorschlagen und verbessern. Esgab nichts Drittes, Viertes, Fünftes.

Ich liess meine Schriften, solange es ging, im Lande, um an derLandsgemeinde teilzunehmen.

Machtentscheide auf die unterstmögliche Ebene zu brechen, hängtnatürlich nicht an Landsgemeinden. Die Gemeindedemokratie und ihreSteuerkompetenz – für ein Drittel des landesweiten Steueraufkommens inder Schweiz – bildet die heutige Grundlage dazu. Andere Europäerstaunen immer, wenn ich unsere Gemeindeversammlungen in Wohlenbei Bern schildere. Die Aschenbahn der Schule sollte verlängert werden,weil sie nicht olympische Masse hatte – mit einem das schräge Bord inder Luft überhängenden neuen Stück. Kosten: 300000 Franken. DieVersammlung lehnte ab. Unsere Zwölfjährigen müssen immer nochanderthalb mal eine Runde rennen. Bei solchen Entscheiden spielt immerder Blick auf den Steuerfuss der Nachbargemeinden Kirchlindach undBremgarten eine entscheidende Rolle, und dort auf jenen Wohlens – nurja nicht darüber zu liegen kommen. Tatsächlich wurde kürzlich einAntrag auf Steuererhöhung aus allen Bänken der Versammlungweggeputzt. Auf Antrag der Jungen fand vorher gar keine Diskussiondarüber statt, denn man wollte den Unsinn sofort loswerden.

Funktionselite und Landsgemeinde

Zu einer Regierungsratswahl kandidierten ein Industrieller und Hans Bänzigervon Herisau, Gemeindehauptmann im Halbamt und Inhaber eines kleinenMercerieladens. Einige Tage vor der Landsgemeinde erschien ein Inserat in derAppenzeller Zeitung, wo die Bildung der beiden Kandidaten beleuchtet wurde.Beim Industriellen war jede Etappe und jedes Diplom mit einer eigenen Zeile

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geschaltet:

VolksschuleMittelschuleMaturaIngenieurstudiumDiplom-Ingenieur ETHIndustrieller

Daneben, beim Gegenkandidaten, stand nur:

Volksschule

Darunter war weisser leerer Raum. Ich ging an diese Landsgemeinde, und alleMänner fragten auf dem Wege lachend: «So, bisch au i d’Volksschuel ggange?»Bänziger wurde mit einem Erdrutschsieg gewählt. Die Lehre daraus ist klar.Der Gemeindepräsident war nicht nur integer und fleissig und in einemöffentlichen Amt bewährt, er entsprach auch dem Stand und der Ausbildungder Mehrheit der Bürger. Man tolerierte zwar eine gewisse Elite, jedoch nicht,wenn sie sich aufplusterte.

Wenn einer Landammann wurde, erhielt er sein Ölbild im Ratssaal, undzwar in der lückenlosen Reihe seit der Landesteilung 1597.

Auf diese Weise war die Gesellschaft für Aufstieg und Abstieg durchlässig.Verschiedene ehemals wichtige Familien, deren Stickereifirmen vor 20, 30

Jahren eingegangen waren, hatten den Abstieg schon hinter sich. Sie wohntennoch in grossen Häusern, hatten aber die frühere gesellschaftliche Rolle nichtmehr. Dafür stieg in der Treibhauskonjunktur der Nachkriegszeit eine neueSchicht von Gewerbetreibenden und Industriellen auf, dann die angestelltenManager solcher Betriebe und schliesslich die «Symbolanalysten», also dieimmer zahlreicheren Absolventen akademischer Ausbildungen wie Juristen,Ökonomen, Soziologen, Medienleute, Verwalter und Sekretäre der Non-Profit-

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Institutionen. Diese Funktionseliten wälzen sich rascher um als früher, dieAmtsdauer dieser Individuen, die sie zusammensetzen, reichen nicht überWahlperioden, geschweige über Generationen hinaus, sie sind auch nichtdurch Besitz fundiert. Diese Leute sind nicht traditionell gekleidet, wohnen inIKEA-Möbeln, sind oft einseitig gebildet und ziehen hin und her.

Das Leben vor der Alters- und Hinterlassenenversicherung(AHV), Invalidenversicherung (IV) undArbeitslosenversicherung (ALV)

Schicksale, Schichten und Gegensätze wurden sodann in den 1950er- und1960er-Jahren angegangen und auszugleichen versucht. Meine Grossmuttermütterlicherseits war gerührt und irgendwie baff, als 1951 der Briefträger 98Franken als Monatsrente der neuen AHV brachte. Mein Grossvater war 1901mit 15 Jahren als Maler aus Italien eingewandert. Als zweiter Sohn der Familiekonnte er keine Hoffnung auf den Bauernbetrieb in Italien haben. Er arbeitetein Zürich, dann in der Ostschweiz als Maler in Betrieben, wo schon andereAuswanderer seines Dorfes angestellt waren. Arbeitete er auswärts, liess ersich abends oft in Kirchen einschliessen, schlief dort gratis und malteanderntags unverdrossen weiter. Er war 65 geworden, arbeitete allerdingsnoch bis 70 weiter, bis er beim letzten Lohn die berühmten 5 Rappen demMeister schenkte.

Die Einwanderung vor 1914 setzte keine Pässe und Bewilligungen voraus. DieStaaten boten aber auch keinerlei Abfederungen und Netze an. Jeder reisteauf eigenes Risiko ein, streckte sich nach der Decke, ging unter oder kamhoch. Heute bieten alle Verfassungen die Garantie auf Existenz allerEinwohner des Territoriums an, meist auch noch eine «menschenwürdige»Existenz, also kultur- und gesellschaftsbedingte Annehmlichkeiten. Damit

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aber verträgt sich keine freie Zuwanderung mehr wie vor 1914, was dieGutmeinenden verkennen, welche möglichst lasche Aufnahmekriterienverlangen. Natürlich zulasten des Staates, also Dritter. Es käme keinemEthiker in den Sinn, sein eigenes Haus mit erwerbssuchenden Somaliern zufüllen. Die Sozialversicherungen aber sind zu geschlossenenVersicherungsklubs geworden, in die man einzahlen muss, um wieder etwasherauszubekommen.

Desgleichen waren nur in der früheren Agrargesellschaft manche Söhne(und Töchter) «überzählig», weil die Produktivität nicht anstieg, weil keineanderen Tätigkeiten entstanden. Seit 100 Jahren wurde die Landwirtschaftenorm produktiv und machte viele Arbeitskräfte unnötig, die nun in denindustriellen, tertiären Wertschöpfungen nützlich sind. Die neueWirtschaftsgesellschaft ist nach vorne offen – auch in Ländern des Südens,wenn den Eliten der Marsch geblasen wird. Auswanderung wird unnötig.

Meine Grossmutter hatte den Ersten Weltkrieg bereits als Mutter erlebt, fünfKinder durch die Stickereikrise des Untertoggenburgs der 1920er-Jahregebracht, dann die Weltwirtschaftskrise und schliesslich den ZweitenWeltkrieg ausgesessen. Sie machte abends, wenn die Kinder schliefen,Heimarbeit mit Nachstickerei. Sie bekam pro 100 Stiche 1 Rappen. DieAbrechnungen kopierte ich aus einem Geschäftsmanual, das aus demTextilmuseum St. Gallen – Fonds Grauer – stammt.

Das Nachsticken war auf 10 bis 20 Meter langen Stoffbahnen aus denStickmaschinen zu machen. Nachher gingen diese Stickereien in die Ätzerei,um den leeren Stoff wegzutrennen. Meine Grossmutter bekam immer dieschwarzen Stoffe zum Nachsticken, weil sie noch jung war.

Ihr war wirklich nichts geschenkt worden. Bei ihrem Tode kamen ihrefrüheren Sparbücher zum Vorschein. Sie hatte in allen diesen schwierigenJahren immer noch Geld beiseitegelegt. Es gab weder Arbeitslosen-, Alters-,Witwen- noch Invalidenversicherung. Gerade ein einfacher Haushalt musstesich vorsehen. Und nun gab es jeden Monat Geld der AHV an der Haustüre.

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Auch die Chancengleichheit begann ihren Weg. Die Kantonsschulen derHauptorte bauten im weiteren Kantonsgebiet Zweigschulen. DieBerufsschulen wurden strenger, auch gegenüber den Lehrmeistern. Mein Vatermusste mit seinen Lehrlingen Aufgaben durchgehen und Lernprotokolleergänzen. Stipendien für Hochschüler wurden verbessert. Überall wurdenöffentliche Sportanlagen erbaut.

Der gesamtschweizerische Umverteilungs- und Versicherungsstaat hatInstitutionen wie Bürgerheim, Waisenhaus und Kälbermarkt schliesslich starkverändert, teils sogar unnötig gemacht. Das ist nicht schlecht. Schicksale sinddamit korrigierbarer als früher geworden. Nur hat das Sicherungsdenkenbegonnen, in die altappenzellischen oder altschweizerischen Freiheiteneinzugreifen. Funktionäre, Reglemente, Sicherheitsvorschriften herrschen.Sicherheit und Gleichheit werden obligatorisch, für die Schweiz von Bern aus,für Europa von Brüssel aus. Die hohe Politik erdreistet sich, mit Kontrollenund Regeln Sicherheit zuzusichern. Lokale Politiker erklären, nichts dagegenmachen zu können. Dies beschränkt und verletzt die Person manchmal aufandere Weise.

Und dazu eine Bilanz formaler Art: Dieses Kapitelchen kam ohne das Wort«sozial» aus.

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Kapitel 8

Wo wir jetzt stecken

Nach der Kündigung beim Gewerkschaftsbund nahm ich nicht, wie diemeisten Funktionäre von Spitzenverbänden, ein Bundesamt, was einemungeschriebenen Benefizgesetz dieses Verbandsstaats entspricht, sondern ichwurde wieder selbstständiger Journalist und stand mitten in der enormenUmwälzung aller Volkswirtschaften der Welt durch die neuen Netze.

Die Zeitungen selbst und die zu behandelnden wirtschaftlichen Ereignissegerieten unter den Schock der informationstechnischen Revolution.

Einen kleinen Schock nicht der neuen, sondern der alten Zustände erlebteich zuerst mit den deutschen Zeitungen. Nach meinen ersten Artikeln in derWeltwoche, die in Deutschland oft gelesen wurde, bekam ich Anfragen fürArtikel in der Zeit, der Süddeutschen Zeitung, der Welt und der FrankfurterAllgemeinen Zeitung. Jedes Mal aber bestellte ein Redaktor den Artikel, jedesMal antwortete ein anderer auf dessen Ablieferung, war erstaunt über dieabgemachte Länge, und wenn ich verkürzte, antwortete ein dritter und meinte,ob nicht das Thema besser abgeändert würde. Oft waren sie auch tagelangnicht erreichbar. Ich schloss auf eine entsetzliche Bürokratie in jenenRedaktionen und meldete mich mit der Zeit nicht mehr. Von einer Redaktorinder Zeit wurde ich zu einem Artikel über die Altersrenten der Schweizgebeten, gerade als in Deutschland die ungenügende umlagefinanzierte Renteund die Ergänzung durch die Riester-Rente diskutiert wurde. Mit sichererHand strich die Redaktorin aus meinem Artikel die Passage über dieerfolgreiche, kapitalbasierte zweite Säule der Schweiz heraus. Es passte ihrnicht.

Die Weltwoche war damals sozusagen eine Bank mit einer Redaktion. Sieverdiente Millionen, sie hatte ein Immobilienpolster von Dutzenden von

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Millionen. Die Redaktion war gross, Recherchen konnten aufwendig gemachtwerden. Das leitende Chefredaktorenteam kombinierte die richtigenSpürnasen – Rudolf Bächtold fürs Kommerzielle und Jürg Ramspeck für dasJournalistische. Max Frey, der Besitzer, hatte sie nach früherenBesitzerwechseln und Wirren grossgemacht und wollte verkaufen. Er gerietausgerechnet an den Financier Werner K. Rey, der seine ersten 50 bis 80Millionen mit einem Coup beim Kauf und raschen Weiterverkauf von Ballygemacht hatte. Rey höhlte die Gruppe sofort aus. Es scheint, dass die paarDutzend Millionen daraus dann zu seinem Versuch der Übernahme derdamals sehr grossen Sulzer AG in Winterthur dienten.

Die Redaktion der Weltwoche bediente sich oft des im schweizerischenMedienwesen einfachsten Tricks: Sie machte eine Umfrage zu einem brisantenThema, spielte sie am Abend vor dem Erscheinungstag dem Radio zu, das diePublikation kostenlos erwähnte. In den folgenden Tagen musste die gesamteübrige Presse nachziehen.

Jeder Verband benützt heute diese Welle mit irgendwelchen Studien undUmfragen, wirft sie an einer Pressekonferenz vor, und die Zitatenwellegelingt. Wirklich jede Tageszeitung des Landes gibt die Studie wieder undbringt die Postulate vor. Erklärt kann dies so werden: Weil die meistenschweizerischen Publikationen für eigene Recherchen zu klein sind, müssensie auf solche künstlich generierte Neuigkeiten aufspringen, sodann weil diehalbstaatlichen Radio- und Fernsehredaktionen recht unbeweglich sind undweil die «Amplifikation» spielt. Eine Redaktion muss bei solchen, echt odervermeintlich brisanten Neuigkeiten anderer Medien nachziehen, also sie ehernoch überbieten und über die Reaktionen Betroffener darauf berichten. Meistmachen sich durch solche News hervorgezerrte Institutionen oder Personenvon selbst wieder zu neuen News, weil sie ungeschickt reagieren. Dann bleibtein Thema eine Woche lang «aktuell».

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Die Medientechnik macht die Meldung – beim TV

Wie Herbert M. McLuhan schon sagte, ist das Fernsehen als Medium nicht nurfür die Nachrichtsinhalte formgebend. Seine Produktionsbedingungen legenfest, wie und oft auch was es berichten kann. Weil es bei einem spontanenEreignis am Bild klebt, das Ereignis aber schon vorbei ist, bis die schwerenWagen, Equipen und Lampen des Fernsehens eintreffen, wird sehr oftnachgestellt. Dabei helfen die Equipen den Dargestellten oft nach und zeigenihnen, wie sie sich darstellen sollen. Die Übergabe einer Volksinitiative imBundeshaus wird immer höchst eindringlich als Prozession vorgeführt. EinVerbandssekretär, der seine Studie als Thema in die Landesdebatte werfen willund deshalb eine Pressekonferenz einberuft, die willig besucht wird, kannnachher fürs Fernsehen – nach Anleitung des Redaktors oder Kameramanns –würdig daherschreiten, seine Botschaft gemäss vorher abgemachten Fragenungestört anbringen und dann würdig wegschreiten. Bei Demonstrationengeht der Kameramann regelmässig in die Knie oder dreht die Linse so, dassimmer das ganze Bild mit Demonstranten ausgefüllt ist, gleich ob es 50 oder 50000 sind. So wie Onkel Hans beim Familienfoto es gelernt hat: Der Inhalt mussdas Bild füllen. Es kommt nicht vor, dass das Fernsehen bei denDemonstrationen auf dem Bundesplatz, die ihn selten füllen, von der erstenEtage eines Gebäudes aus zeigt, welch verlorenes Häufchen von Bauern,Gewerkschaftern, Grünen da demonstriert. Auf den Bildern in den Stuben derZuschauer wogen immer die Transparente und dröhnen immer dieMegaphone. Dann erscheint ein Funktionär oder ein Betroffener und gibt seinStatement in Grossaufnahme ab. Bei abstrakten Inhalten geht das Fernseheneinfach zu rituellen Bildern über. In Deutschland wird bei jeder Entlassung dasSignet der Agentur für Arbeit eingeblendet; in der Schweiz bei Meldungenüber den Finanzplatz oft jenes der UBS, die sich seit der Krise gut alsBuhmann eignet.

Ich wurde am Anfang meiner freien Medienarbeit zusammen mit Klara

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Obermüller mit der Gesprächsleitung der Sternstunde Philosophie betraut.Doch viele Vorschläge liefen an den – oft vermeintlichen –Produktionszwängen des Fernsehens auf. Ich schlug nämlich auch Ausländerals Interviewpartner vor, doch Fremdsprachen sind unübersetzbar, behaupteteman. Oder ich wollte interessante Figuren einladen, etwa einen gescheitertenBauspekulanten, dann aber hiess es, den kennt man nicht.

Das Fernsehen muss die Inhalte in Personen konkretisieren, und diesePersonen müssen klar als Träger der Inhalte erkennbar sein. So wie imKasperltheater der Gute, der Räuber, der König und das Krokodil Inhalteverkörpern, so bringt das Fernsehen fast immer die gleichen Personen alsRollenträger für Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Banker, Grüne, Konsumentenund Bauern. Will man von 700000 Nachrichtensehern beachtet und geachtetbleiben, muss man ihnen leicht abrufbare Bilder liefern. Rein sprachlichkommt dazu, dass kaum Zahlen, Nebensätze und Fremdwörter zulässigerscheinen – man streiche mal all dies aus einem Pressetext heraus. Er wärearm. Fernsehen informiert nicht über Sachverhalte, sondern über Mimik undKrawattenfarben.

Ich stieg daher aus der Sendereihe aus. Vorher, als Sekretär einesSpitzenverbandes, hatte ich natürlich von dieser Ritualisierung der Köpfe undPositionen abgebrüht profitiert.

Einladungen in andere Sendungen als Teilnehmer nahm ich nachher an.Zwar machten sich das offizielle Radio und die Dienstagsdiskussionsrundeimmer rar. Offenbar passten liberale oder nicht mit Verbandsfunktionendekorierte Inhalte nicht. Oder nicht geläufige Themen, wie etwaMitbeteiligungskapitalismus, freie Wahl der Schule, Pensionskasse,Vollreservenbanken, Ende des Papiergeldsystems usw.

Ans deutsche Fernsehen und Radio wurde ich auch einige Male zuDiskussionen eingeladen. Doch man beschied mir: «Sie reden ja gar nicht wieein Schweizer.» Offenbar war unser Bild durch die Politiker verformt, welche

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leider meist in fürchterlich dialektalen Färbungen reden und selten aufabstrakter Ebene argumentieren. In Deutschland haben Schweizer nachOberbayern zu riechen, sonst ist nichts.

Die Arena-Sendung mit höfischem Protokoll

In der Fernsehsendung Arena freitagabends wurde ich gelegentlich zugeläufigeren Themen eingeladen. Viele Zuschauer haben Phantasien, wie eshinter den Kulissen zu- und hergeht. So denken viele, es würden enormeHonorare bezahlt. Nichts dergleichen: Die Machtverhältnisse liegen genauumgekehrt, denn die meisten Teilnehmer, etwa die Politiker, würden enormeSummen bezahlen, um eingeladen zu werden. So bleibt es meist bei zweiWeinflaschen oder einem Bienenhonig. Sodann müssen die bewundernswertenOrganisatoren der Sendung schon ab Dienstag das Thema festlegen und diemutmasslichen Teilnehmer sozusagen einer Prüfung unterwerfen. Man erhälteinen Anruf und wird gefragt, was man denn zu diesem Thema sagen würdeund welche Argumente man habe. Es ist eine eigentliche Prüfung. Erst so kanndas Team dann sehen, wie das Diskussionsprofil der Sendung eingerichtetwerden kann. Passt man hinein, wird man eingeladen, sonst höflich vertröstet.

Die Anwesenden der Sendung gliedern sich fast wie früher bei Hofe. Dergrosse Maestro befiehlt und leitet die Diskussion. Die Diskutanten gliedernsich in zwei Ränge, nämlich in jene vier im ersten Rang, deren angehefteteMikrofone immer angestellt sind. Im zweiten Rang stehen für jedesInteressenlager etwa sechs unterstützende Politiker und Funktionäre, welchendas Mikrofon nur auf Initiative des Leiters an einem langen Stab zugeschwenktwird. Im dritten Rang sitzen Zaungäste, oft Schüler, die sich Wochen imVoraus anmelden mussten, bevor das Thema überhaupt bekannt war. Hin undwieder wird noch ein Betroffener zwischen die Gäste gesetzt, dem auch einMal das Mikrofon hingehalten wird. Und natürlich sind die vier des inneren

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Kreises meist auch die genannten Rollenträger, deren bereits etablierteBekanntheit die Sendung stützt: Die Arena lebt von diesen Figuren, und dieseleben von der Arena.

Was in der Deutschschweiz kaum wahrgenommen wird, ist ein gewisserÄrger der Romands. Die Popularität der Sendung Arena setzt freitagabends einnational bewegendes Thema, die deutsch-schweizerischen Sonntagszeitungensteigen oft darauf ein, und den Westschweizer Medien bleibt die undankbareAufgabe, das Ganze am Montag auch noch als Aktualität zu servieren. DasWestschweizer Fernsehen versucht zwar mit Infrarouge gegenzusteuern, aberich kann mich nicht erinnern, dass die deutsch-schweizerischen Mediendanach pflichtschuldigst je darauf eingegangen wären.

Nicht auszuschliessen ist ferner, dass sich die innerverbandliche Stellungsolcher Rollenträger verfestigt. Sie sind schweizweit bekannt, werden alsFahnenträger unersetzlich und können kaum mehr von Konkurrentenabgesägt werden.

Der Süden der Welt entwickelt sich – die Köpfe in derSchweiz nicht

Ins Jahr 2010 fielen die Erinnerungsfeiern der Entkolonialisierung vielerafrikanischer Staaten 50 Jahre zuvor. Doch heute wie vor Jahrzehnten willeine Mehrheit von Politikern von der Schweiz aus mit zunehmendenMilliardensummen Entwicklungshilfe betreiben. Damals wie heute beherrschtAfrika als Entwicklungsraum die Köpfe, z. B. den grössten Teil der jährlichenFastenkalender der kirchlichen Hilfswerke, während viele Menschen AsiensAufschwung eher als bedrohlich wahrnehmen. Immer noch kann man beieinem Teil der Linken, oft in der Werbewalze von Hilfswerken und tief imInnern fast aller Bürger das Gefühl entdecken, dass unser Reichtum aus derArmut des Weltsüdens stamme. Wieder ein klassisches Nullsummendenken.

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Der weite Weg unseres Bildes von der südlichen Halbkugel begann inmeiner Generation tatsächlich mit der Heidenmission und demKolonialerlebnis. Diese Länder und Leute hatten einen Mangel, den man vonhier aus auffüllen musste, geistig in der Heilsgeschichte, und materiell. VonHerisau führte der Vikar unsere Erstkommunikantenklasse – wir warendamals acht Jahre alt – zu Fuss nach Gossau in eine Missionsausstellung. Wirsahen Elefantenzähne und malerische Dörfer der einheimischen Bevölkerung.Ich regte in der Sekundarschule und am Gymnasium Sammelaktionen fürAussatzopfer und für das Schweizerische Hilfswerk für aussereuropäischeGebiete (SHAG), später Helvetas, an. Meine Kollegen liessen sich begeistern.Das Nullsummendenken war sehr tief verankert – hier Reichtum, dort Armut,wahrscheinlich ursächlich verbunden, und wenn man nun Geld hinschickte,half man dem Süden. Immerhin nahm man plötzlich zur Kenntnis, dass dieehemals englischen Kolonien gefestigt weiterschritten, dass hingegen derbelgische Kongo und manche französische Kolonien nicht in die Freiheit,sondern in enorme Schwierigkeiten taumelten. Offenbar hatte es guten undschlechten Kolonialismus gegeben, und es scheint aus manchen Studien auf,dass das afrikanische Kolonialwesen insgesamt eher ein Verlust für die Mächtegewesen war als ein Gewinn. Lassen wir die fürchterliche Periode derAusbeutung des Kongo als sein Privatbesitz durch den belgischen KönigLeopold II. mal beiseite, in Heart of Darkness von Joseph Conrad beschrieben.

Die Hilfsidee mit Geld setzte sich nun in der Politik fest; auch die Hilfe anden Süden wurde Staatssache. In der UNO kam das Ziel auf, reiche Ländersollten jährlich 0,7 Prozent ihres Sozialproduktes in den Süden transferieren.Die Zahl ist, wie alle politischen Finanzaktionen, willkürlich, und trotzdemwenig geeignet, den ganzen Süden dauerhaft zu erretten. Trotzdem wird auch40 Jahre später nicht davon abgerückt.

Nach der Ölkrise und der ungefähr gleichzeitig angestossenen Kritik an denMultinationalen besann sich die Drittweltbewegung auf etwas systematischereAktionen. Der von den Ölexportländern durchgesetzte massiv höhere Preisliess die anderen Rohstoffpreise als ebenfalls unterbewertet erscheinen, die

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Gewinne der Multis daraus als zu gross. Experten wie Raúl Prebisch stelltenStatistiken auf, wonach die Kaufkraft einer Einheit von Rohstoffen für eineEinheit Industrieprodukte sekulär, also seit Jahrhunderten, fiel. DieseErfahrung hatten übrigens schon die Südstaaten der USA gegenüber dessenindustriellem Norden gemacht und hofften, sich dank billiger Sklavenarbeitwenigstens halbwegs halten zu können. Die Studie des Club of Rome von 1972sagte ausserdem die Erschöpfung der meisten Rohstoffe innerhalb wenigerJahre voraus. Deshalb formulierte der Entwicklungsarm der UNO, dieUNCTAD, unter dem Anstoss ihres Experten Raúl Prebisch eine neueinternationale Wirtschaftsordnung. Diese sollte alle Rohstoffe in ein der OPEC(Organisation erdölexportierender Länder) ähnliches Verhandlungssystemeinbringen und die sodann erhöhten Preise durch riesige Rohstofflager alsPuffer stabilisieren. Finanzieren sollten diese Lager die Industriestaaten; dieSüdländer würden davon profitieren. Damit sollte sich die Preiswahrheit derKnappheit zugunsten der Produzentenländer einstellen, gleichzeitig aber vonunsinnigen Schwankungen gesäubert werden, dachte man. Unter diesenVoraussetzungen fand ich damals das System bemerkenswert. Seither hat sichdie drängende Knappheit der Rohstoffe allerdings nicht eingestellt, und wenn,dann gingen auf dem Weltmarkt die Preise von selbst hoch. Jene Länder desSüdens, die Investitionssicherheit, Eigentumsrechte und Transfer der Gewinneanboten, machten dabei einen guten Schnitt an Zufluss von Investitionen,Arbeitsplätzen und Weltgeltung, die anderen Länder eben weiterhin nicht. Daswar damals nicht so genau absehbar. Ein ähnlicher Automatismus bewirkteden Technologietransfer, den die UNO zuerst mehr oder weniger alsGratislizenzen der Multinationalen an Drittweltstaaten konzipierte und der inder ständigen Wirtschaftsdelegation auf hohem fachlichem Niveau diskutiertwurde. Doch sobald die Drittweltländer gute Investitionsbedingungen undRechtssicherheit boten, kam das Kapital von selbst – und das Kapital ist keinGeldsack, sondern heisst Anlagenbau, Maschinentechnik, Infrastruktur,Ausbildung der Arbeiter, Instruktion von Zulieferern im Lande – alsoTechnologietransfer wie von selbst.

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Fordern, reden, zahlen – aber hilft es?

Die UNCTAD-Konferenz zur neuen Weltwirtschaftsordnung fand 1976 vierWochen lang in Nairobi statt. Als Journalist band ich die Weltwoche, dasdeutsch-schweizerische Radio und vier, fünf weitere Zeitungen für meinProjekt zusammen, um diese Konferenz zu verfolgen. Gleichzeitig war ichdurch die Entwicklungsorganisationen als Beobachter zur Konferenz entsandt.Das Radio gab mir ein Nagratonbandgerät mit, eine damalige Wunderleistungder Elektromechanik – höchste Aufnahmequalität in der Grösse einerZigarrenschachtel. Damit machte ich Interviews, u. a. gelang mir eines mitdem leicht genervten Generaldirektor Gamani Corea der UNCTAD. Abendskonnte ich aus dem Kenyattatower übers Radio in die Schweiz berichten, undüber Telex füllte ich die Printmedien reichlich. Dazu musste man abendshinter den Journalisten aller Welt anstehen, dann rasch das Lochband stanzen,wieder anstehen und es durch eine zweite Maschine rattern lassen – undschon war der Text in der Schweiz. Dort musste er natürlich von einemTypografen richtig gesetzt und in die Druckmaschine eingegeben werden.

Die Doppelstellung als Berichterstatter und als Beobachter derEntwicklungsorganisationen verschaffte mir guten Zugang zur SchweizerDelegation, die in den entscheidenden Phasen von Paul Jolles, dem Direktorder Handelsabteilung, geleitet wurde. Mit ihm hatte ich schon zwei oder dreiJahre zuvor am Fernsehen über Multinationale debattiert. Damals und inNairobi imponierten mir seine souveräne Bonhomie und Offenheit. Insidereröffneten mir nachher, man habe in der ständigen Wirtschaftsdelegationdarauf geachtet, den 30-jährigen Kritiker auflaufen zu lassen, «de le prendrede haut». Das war aber nicht nötig. Ich war kritisch genug, auch der anderenSeite gegenüber, also gegenüber den schwadronierenden Drittweltrhetorikernam Kongress. Zur Schlusssitzung kam übrigens, als Gastgeber der folgendenKonferenz, Präsident Ferdinand Marcos mit Gattin Imelda aus den Philippinenangereist. Dazu stellte man im nüchternen Konferenzsaal zwei enorme Throneauf, in rotem Sitzsamt mit barockem Goldrahmen. Marcos wurde in devotester

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Weise willkommen geheissen, and peachy Imelda sat gracefully there.Zur Umarmungsstrategie der Schweizer gehörte vielleicht auch eine

Einladung zum Essen in der Schweizer Botschaft. Botschafter Pestalozzi undich assen nur zu zweit, an den Stirnseiten eines langen Tisches, bedient voneinem eleganten Schwarzen in weissen Handschuhen. Es war wie in deroberen Etage von Onkel Toms Hütte.

Oder eher der «Washinton Consensus»?

Während der Konferenz erhielt ich eine Einladung, in Washington mitExperten der Weltbank zu sprechen. Ich flog hin, hatte zusammen mit 20anderen Journalisten viele Besprechungen, darunter mit dem PräsidentenRobert McNamara. Tage später war ich wieder in Nairobi. Wäre es noch nötiggewesen, so gewann ich damals Achtung vor diesen Fachleuten, die nicht demin der europäischen Linken verbreiteten Feindbild entsprachen. Die Weltbankund noch mehr der Weltwährungsfonds wurden als «stille Würger»schlechtgemacht, weil sie überschuldeten Entwicklungsländern vorschrieben,die Budgets im Innern und die Handelsbilanz gegen aussen ins Gleichgewichtzu bringen, bevor es neues Geld gab. Die Entwicklungsbewegten taten, als obstaatliche und fiskalische Solidität ein Verbrechen oder nur reichen Ländernangemessen seien – was für ein Rassismus! Zwecks solider Haushalte musstensolche Länder die demagogischen Subventionen oder Preissenkungen fürNahrungsmittel oder Benzin streichen, worauf oft Revolten ausbrachen. Dochdie Bauern der gleichen Länder hatten dann erstmals gute Preise und musstennicht in die Hauptstädte abwandern, um wenigstens als Konsumentensubventioniert zu werden. Schon 1975 war ich auf Distanz zum Referendumlinker und entwicklungsbewegter Kreise um Rudolf Strahm gegen dieBeteiligung der Schweiz an der IDA(International Development Association)-Filiale der Washingtoner Institutionen gegangen. Wenn diese Agentur,

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zusammen mit Privatkapital, eben eine Entwicklung bewirken konnte –warum nicht. Aber das passte manchen Ideologen nicht. Viele Jahre späterreiste eine Parlamentarierdelegation ebenfalls zu Weltbank undWeltwährungsfonds, worauf eine sozialdemokratische Nationalrätin Zürichserstaunt kundtat, eigentlich seien deren Vertreter fachkundige und vernünftigeLeute.

Die Doktrin der Weltbank und des Weltwährungsfonds ergänzte sich um2000 immer mehr auch mit Forderungen nach «governance», wozu dann sogardie UNO den «Global Compact» entwickelte. Die Liste der zehn Grundsätzeliest sich vordergründig wie eine Aufforderung an private Firmentätigkeit inarmen Ländern. Doch in der Sache kämpft die Liste gegen Willkür, Sklaverei,Korruption und Umweltschlamperei. Man sah ein, dass ohne Demokratie,Rechtssicherheit, Eigentumsrechte und Weltmarktorientierung für armeLänder kein Staat zu machen war. Die asiatischen Länder, inklusive China,hatten dies seit Anfang der 1970er-Jahre beherzigt. Dieser «WashingtonConsensus» wird seit dem Anstoss von Deng Xiaoping 1978 zur erfolgreichenEigenentwicklung durch die geschlossene Parteikaste Chinas wieder geritzt.Diktatur und Entwicklung zusammen scheinen möglich. Die Kaste in Chinaergänzt sich aber selbst, erzwingt ein halbwegs nicht korruptes Verhalten derKader – und sie hat v. a. Erfolg. Das Rennen ist noch offen, aber eines istsicher: Die Geldtransfers – bilateral oder multilateral – endeten in Bürokratieund Wirkungslosigkeit, zumindest gemessen an den Ansprüchen und den inBewegung gesetzten Summen.

Das Unbeweglichste sind oft die Köpfe

Mit meinen Publikationen nach 1992 wies ich immer wieder auf dieseZusammenhänge hin. Schon 1986 legte ich einer nationalen KonferenzDrittweltbewegter zu deren grossem Erstaunen im Kursaal Bern eine

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kritischere Solidarität mit Drittweltregimen ans Herz. Es gab leider keineDiskussion, wie immer, wenn in der Schweiz etwas Ungewohntes aufgetragenwird. Natürlich haben dies auch schon gewichtigere Stimmen gesagt. ZumBeispiel vor Kurzem etwa die in Sambia gebürtige Dambisa Moyo mit ihremBuch Dead Aid. Aber schon 1995 publizierten Silvio Borner, Aymo Brunettiund Beatrice Weder ihr Buch Political Credibility and Economic Development.Sie brachten das schöne Beispiel, dass der bolivianische Präsident Hugo BanzerSuárez 1990 ein Dekret Nummer 22407 zum Schutz der Privatinvestitionenerliess. Doch dieser einsame Entscheid konnte jederzeit mit Dekret Nummer22408 widerrufen werden. Niemand wird also wegen eines Fetzens Papier Geldim Lande anlegen.

Doch wer liest schon auf Englisch!Es gelang mir bis heute weder auf Französisch noch auf Deutsch, die

Entwicklungskreise gegen den CFA-Franc aufzubringen. Er ist eines dergröberen Entwicklungshemmnisse, durch Frankreich ausgelöst. Denn einDutzend westafrikanische Länder, ehemalige Kolonien, banden ihre Währungan den Franc, heute an den Euro, nach einem halben JahrhundertEntkolonialisierung, die deshalb nur auf dem Papier erfolgte. Wenn ihreInflation stärker ist als jene in Europa, wird es immer verlockender, Güter zuimportieren und immer schwieriger zu exportieren. Es wird für dieOberschicht auch immer verlockender, Geld zu diesem überhöhten Kurs nachFrankreich zu verschieben. Ausserdem wurden die westafrikanischenExporteure durch den jahrelangen Zerfall des Dollarkurses und damit derasiatischen Währungen ihrer Konkurrenten sabotiert. Das kümmert aber garniemanden.

Die alte Entwicklungspolitik in den Köpfen – und in den Parlamenten –abzustreifen, gelang bisher nicht. Den CFA-Franc als neokolonialeAusbeutungsmaschine darzustellen, auch nicht.

Unmöglich blieb es auch, den Kritikern der Globalisierung die Tobin-Taxauszureden, also ihre heissgeliebte Besteuerung von Devisentransaktionenweltweit. Abgesehen davon, dass es technisch und politisch unmöglich wäre,

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macht es auch wirtschaftlich keinen Sinn. Aber die wirkliche Alternative, eineSteuer auf Flugbenzin, ähnlich wie auf Autos, weltweit zu erheben und aufder benennbar kleinen Zahl der Raffinerien der Welt einzutreiben, wurde nierichtig erwogen oder gar ausgearbeitet. Diese Belastung hätte den Vorteil desriesigen Güter- und Personentransports gegenüber der Strasse oder dem Schiffaufgehoben. Es hätte die Wertschöpfungsketten der Firmen dort reduziert, wotiefpreisige und schwere Güter leichtfertig rund um den Globus verschobenwerden. Aber nichts tat sich.

Sammlung der UnmöglichkeitenIch könnte eine Liste von Themen machen, die mir und anderen in 20 Jahrenpublizistischer Tätigkeit zu traktandieren nicht gelungen ist. Nicht weil wirKritiker alles richtig sehen, aber weil die nationale Debatte (und eigentlichauch jene ganz Kontinentaleuropas) ausserordentlich konventionell an denThemen der alten Industriegesellschaft hängt: Es interessieren arm/reich,Opfer/Täter, Gewinner/Verlierer, Geld/Ethik, Nord/Süd und anderescheinbare Gegensätze. Nicht gelungen sind Debatten um– die Entwicklung des Südens dank Rechtssicherheit und Weltmarkt anstattdurch Entwicklungshilfe,

– die Mitbeteiligung der Arbeitenden zwecks Vermögensstreuung,

– den Ersatz der Steuern durch Belastung des unvermehrbaren Bodens,– den Landwirtschaftsprotektionismus,– die Internalisierung von Energiekosten durch individuelleHeizkostenabrechnung, gestrichene Berufsfahrtenabzüge im Steuerrecht undVersicherungspflicht des Atomstroms für den GAU,– die freie Wahl der Schule dank Vouchers sowie der Pensionskassen, derLeistungserbringer durch die Krankenkassen,– die von Linken geforderten Steuerabzüge, die den mittleren und oberenSchichten zugute kommen, wie eine Studie des Bundesrates zeigt,

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– die fehlenden Naturwissenschafter, doch der Übertritt in Sekundarschuleund wieder ins Gymnasium verlangt meist zwei Sprachnoten und nur eine inMathematik, sodass man die mathematisch Begabten gezielt aussiebt, und alleSekundarschulen verschmelzen Biologie, Chemie, Physik, Geschichte insSchmusefach Natur-Mensch-Umwelt, ohne Methoden und ohne Berufsbilder,– das gemässigte Urheberrecht, um elektronische Bücher auf Deutsch oderFranzösisch herunterzuladen,– die arbeitsanreizende Sozialhilfe, die tief einsetzen muss, wenn ein Haushaltnichts arbeitet, dann ihm aber die Hälfte oder mehr von dem lassen, was erselbst mit Arbeiten hinzu verdient,– den sozialen Wohnungsbau, der Gettos schafft und alles verschlimmert, undprivate Wohninvestitionen entmutigt. Wirklich Arme sollen Geld für dieMiete, wo auch immer, bekommen,– ein sicheres Bankensystem ohne Buchgeldschöpfung («narrow banking»,Vollreservenbanken). Die Banken sind Vermögensverwaltungsbanken undvermitteln alle Anlagen für die Kunden, ohne sie in die eigene Bilanz zunehmen,– die Rückkehr oder den Aufbruch zum Goldstandard der Währungen,ergänzt um private Notenausgabe, ohne Notenbanken.

Geld, Dollar, Finanzkrisen – alles ein Dauerthema

Wie notwendig die zwei letzten Punkte des intellektuellen Programms imKästchen wären, zeigte die Finanzkrise 2008. Das Geldsystem nahm schonJahrzehnte vorher seinen unheilvollen Lauf. Am Sonntagabend des 15. August1971 trat der Imperator der Welt vor die Kameras und gestand den Bankrottein. Präsident Richard Nixon bedeutete, dass die Notenbanken der Welt keineUS-Dollars mehr gegen Gold eintauschen konnten. Das Geldsystem der Weltwar 1944 in der Konferenz von Bretton Woods so festgelegt worden: Alles

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Gold lag nach dem Krieg in den USA für die Waffenlieferungen ans BritishEmpire und für Schulden anderer Staaten, weshalb fortan die Notenbankender Welt Dollarguthaben als Reserven hielten. Die USA versprachen, diese US-Dollars allenfalls in Gold umzutauschen. Das ganze Weltwährungssystem wardamit indirekt auf Gold gegründet (Gold-Exchange-Standard). Wichtig zurGeld- und Reservenversorgung der Welt war, dass die USA ein Handels- oderKapitalverkehrsdefizit hatten, um US-Dollars in die Welt zu setzen. DieLieferantenländer konnten dann die gewonnenen US-Dollars als Grundlageder Geldausgabe im Inland benutzen. In der Bilanz der Notenbanken standendamit, einfach gesagt, als Schuld die Notenausgabe, als Guthaben diezugrundeliegenden, goldgesicherten US-Dollars.

Die Bedingung, dass dieses Weltwährungssystem funktionierte undgenügend Transaktionsgeld hatte, war also das Handels- undErtragsbilanzdefizit der USA. Das Land des Währungsankers musste sichsystemgetreu schwächen, was der Ökonom Robert Triffin seit 1960 bemängelte(Triffin-Dilemma) und der französische Finanzminister Valérie GiscarddfEstaing als «privilège exorbitant» bezeichnete. Wie der Euro heute war auchdas US-Dollar-System von Politikern gegen jede wirtschaftliche Vernunft undmit kurzfristigem Horizont eingerichtet worden.

Bereits ab 1961 überstiegen die US-Dollars in der Welt die Goldmenge inden USA – das System war unterdeckt. Dies sprach sich herum, und dieNotenbanken holten ihr Gold in den USA ab, zuletzt im August 1971 dieBanque de France und die Schweizerische Nationalbank. Da zog Nixon dieNotbremse. Ich war entsetzt und ahnte, dass ein Zeitalter zu Ende ging. ImStudium am Institut de hautes études in Genf, das für mich erst ein Jahrzurücklag, hatten wir diese Fragen immer wieder gewälzt.

Von da an mutierte die internationale Geldwirtschaft in die flexiblen, freidurch den Markt bestimmten Wechselkurse eines reinen Papiergeldsystems, inwelchem im Keller der Notenbanken rechtlich kein Gold mehr irgendwasirgendwem garantierte. Es zirkulierte nun Fiatmoney, also willkürlichgeschaffenes Geld, das nur auf dem Vertrauen des Publikums beruhte. Es gab

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für die Geldvermehrung keine reale Grenze mehr. Man machte nach 1982 dieNotenbanken von der Politik unabhängig. Diese reduzierten ihre eigeneGeldschöpfung, um die Inflation abzubremsen. Das gelang notdürftig, mitvielen Schwankungen und Irrungen.

Die Noten der Zentralbanken fanden in jedem Land irgendwann ihren Wegauf ein Konto der Bank A. Diese freute sich und erteilte an einen Kundeneinen Kredit, den dieser an seine Lieferanten auf Bank B überwies. Dieseerteilten wieder Kredite, die als Verbuchung zu Einlagen auf den Banken C, Dund E wurden. Auf der ursprünglichen Notenbankgeldmenge baute sich durchdiese Verbuchungen eine viel grössere Geldmenge auf – Buchgeldschöpfunggenannt. Die einzelne Bank tat nichts Unrechtes; ihre Bilanz hatte bei denSchulden die Einlagen, bei den Guthaben die erteilten Kredite – und sie lebtevon der Zinsdifferenz. Aber die Banken schufen Geld als System. Nur warendie Guthaben allgemein in kürzerer Frist rückzahlbar als die erteilten Kredite.Wenn das Publikum in Panik geriet und seine Einlagen zurückzog, war und istjede einzelne Bank zahlungsunfähig, die Raiffeisenbanken wie dieGrossbanken.

Diese Labilität bildet den Ursprung aller immer intensiverenBankregulierungen und Aufsichten. Diese Labilität erschütterte das westlicheFinanzsystem nach dem Konkurs von Lehman Brothers am 15. September2008. Der riesige Bodensatz an kurzfristigen Geldern, welche normalerweisezwischen den Banken als Einlagen zirkulierten, fror innerhalb von Stundenein. Die Banken gaben einander keine Einlagen mehr und zogen sie zurück;das Publikum tat dasselbe. Praktisch alle westlichen Banken waren illiquid.

Die gängige Interpretation von Politikern, Ethikern, Sozialwissenschafternund Populärautoren sieht die Ursachen der Finanzkrise in der Gier, in denBoni, in der «strukturierten Verantwortungslosigkeit» (die emeritierteSoziologin Claudia Honegger), in den Finanzinstrumenten (Derivaten,Verbriefungen, Hedgefonds) – kurz: in einem bunten Strauss von Vorwürfen,die man schon immer gerne erhob. Auch der Schlussbericht des FinancialCrisis Inquiry Report der offiziellen US-Kommission trägt auf 540 Seiten

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geschwätzig, aber ungewichtet alle möglichen Umstände vor.

Vollreservenbanken als wahre Sicherheit

Wenn es eine Struktur gab, die Verantwortung für die Finanzkrise hatte, danndas Papiergeldsystem mit Buchgeldschöpfung der Banken, worauf sich diePolitik 1944 eingerichtet hatte und die seither gut von ihr und von derverursachten Inflation lebte. Ausserdem war der unmittelbare Anlass dieebenfalls von der US-Innenpolitik forcierte Eigentumsstreuung beimHausbesitz, welche die 2000 Milliarden fauler Hypothek als Material der Kriselieferte. Die Instrumente konnten nun wirklich wenig dafür. Wenn manausserdem die Gier als systemgewollte Triebfeder einbezieht, also dasEigeninteresse der Banken, aber auch der Kreditnehmer, der Millionen vonHypothekarschuldnern zu Tiefzinsen und Höchstbelehnungen in den USA, inSpanien, Irland und Osteuropa, dann gibt es keinen Raum für die seltsamemoralische Empörung über Banken und Banker. Alles war politisch so gewolltund eingerichtet.

Als Abhilfe kann man nun entweder ein striktes Trennbankensystem oderein Vollreservenbanksystem errichten, wo die Banken nur Vermögenswerteverwalten, aber diese ausserhalb ihrer Bilanz direkt auf Rechnung der Kundenin Immobilien, Aktien, Obligationen und Geldmarktfonds investieren, wo alsodie Geldschöpfung nur durch die Notenbank stattfindet. Oder denGoldstandard. Oder die Notenausgabe durch private Banken, die imWettbewerb um Solidität gegenüber dem Publikum stehen, wie von 1848 bis1907 in der Schweiz und von 1789 bis 1913 in den USA. Oder mit Banken,deren Obligationengläubiger im Krisenfall die Guthaben in Aktienumtauschen und die Bank sofort und ohne Staatshilfe sanieren müssen(«contingent convertible bonds»). Oder aber man akzeptiert die Frivolität desgegenwärtigen Systems und sucht die Schuld nicht bei den Banken.

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Hingegen steht man im Jahr 2011 genau so verblüfft und ahnungsvoll dawie 1971 beim Zusammenbruch des Golddevisenstandards vor derexplodierenden Geldmenge. Diesmal allerdings steht man vor dem Aufkaufder früheren, schlechten Kreditpakete aus den Banken durch die Notenbanken,vor deren Aufkauf schlechter Staatspapiere in den USA und durch dieEuropäische Zentralbank (EZB) sowie vor der massiven Kreditstützung undGeldschöpfung durch den Internationalen Währungsfonds (IWF). Wenn dieWehleidigkeit aller Beteiligten, also der Banken, Politiker, Firmen undGewerkschaften, anhält und wenn mit diesen Mitteln immer weiter Liquiditätgeschaffen wird, muss eine Inflation oder ein allgemeiner Kladderadatschfolgen. Denn die Schulden sind immer noch da, wurden aber vervielfacht undauf alle denkbaren Bilanzebenen geschoben – von Haushalten in Banken, inStaatsschulden, in Notenbanken und in den Weltwährungsfonds.

Als Kinder spielten wir mit den 1000-Lire-Noten meines Grossvaters, derin den 1920er- und 1930er-Jahren ererbte Grundstücke aus seinemitalienischen Heimatdorf verkauft und den Erlös in eineZigarrenschachtel gelegt hatte. Schon damals, besonders aber nach demKrieg, waren sie wertlos. Die abgegriffenen Noten in schlechtem Papierwaren immer unser beliebtes Spielzeug.

Dagegen erhielt mein Urgrossvater väterlicherseits, Johann FerdinandKappeler, zu seiner Pensionierung als Bankangestellter, so erzählte mansich in der Familie, in den 1920er-Jahren den letzten Lohn und seineAbfindung in Frauenfeld in einem grossen Etui. Darin prangte in derMitte auf Samt eines der damals neuen 100-Franken-Goldstücke, rundherum in weiten Bögen 10er- und 20er-Goldstücke. Der Goldstandard, woGeld gleich Gold war, machte dies möglich. Im Gegensatz zum immernoch vorhandenen Papierramsch aus Italien sind diese Goldstücke späterverkauft oder in Erbgängen verteilt worden.

Jedenfalls illustriert diese familiäre Geschichte das berühmte Gesetzdes englischen Financiers Thomas Gresham aus dem 16. Jahrhundert:

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«Das schlechte Geld verdrängt das gute Geld» (aus der Zirkulation undaus dem Gesichtsfeld).

Es ist heute unmöglich, die erwähnten Alternativen des Trennbankensystems,der Vollreservenbanken oder des Goldstandards in die Debatte einzubringen.Es würde ein Minimum an Durchblick und ein Maximum anVeränderungswillen erfordern. Ausserdem fällt es nicht in die Schubladenrechts/links und ist im gängigen Gehirn also unhandlich.

Liberalisierte Kommunikation – neue Netze oder Bürokratie?

Angesichts der hereinbrechenden Welt der Netze erging an mich 1996 durchBundesrat Moritz Leuenberger der Auftrag, eine «groupe de réflexion» zuleiten, welche die notwendigen Massnahmen vorschlagen sollte. Durch meinjahrelanges Leiden in 30 anderen Bundeskommissionen aller Art gewitzt,wollte ich Tempo machen und einige wenige, aber realisierbare Vorschlägeeinbringen. Wir schafften es in nur neun Monaten, inklusive Übersetzungen.Die Mitglieder der Kommission waren vorgegeben und buntzusammengesetzt: der Verleger Michael Ringier, die Künstlerin Pipilotti Rist,der Uhrenunternehmer Nicolas Hayek, die Konsumentenanwältin SimonettaSommaruga, der junge Jurist David Rosenthal und andere. Letzterer brachtefruchtbare Beiträge, weil er von der neuen Informatik etwas verstand. MichaelRingier ging nie aus sich heraus, entweder weil sein Konzern eigene Feuer amKochen hielt oder gar keine. Nicolas Hayek fehlte manchmal oder schlief inden Sitzungen. Pipilotti Rist hatte ein, zwei eher extravagante Ideen, undSimonetta Sommaruga sah immer viele, viele Gefahren. Das war’s.

Als Folge wurde ich in die neu geschaffene EidgenössischeKommunikationskommission (ComCom) gewählt – eine echte Behörde, nurdem Bundesgericht unterstellt, welche den nunmehr geöffneten

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Kommunikationsmarkt organisieren musste. Zu meinen Wahlchancen trugenvielleicht weniger meine Fähigkeiten bei, sondern vielmehr die Absenz vonInteressenbindungen. Man konnte fast niemanden in dem kleinen Land finden,der die neuen Medien beackerte und nicht schon eingebunden war.

Ab 1998 galt das neue Fernmeldegesetz, die Telefonie war von der Postabgespalten und die Mobilfunknetze sollten unter die Bewerber ausgeschriebenwerden. Ich hatte übrigens schon als SGB-Sekretär in der Vernehmlassung zurersten, kleinen Liberalisierung des Telefongerätemarktes 1986 dieLiberalisierung auch der Sprachdienste eingefügt. In letzter Minute sah diesder Vertreter der PTT-Gewerkschaft im SGB-Vorstand, und der Passus, alsodie Forderung nach wirklicher Liberalisierung, wurde gestrichen. Sie kam erst1998. Die Schweizer Industrie und Post scheiterten 1983, ein eigenesintegriertes Fernmeldesystem zu entwickeln und die Digitalisierungeinzuführen. Die alte PTT hatte die drei führenden Firmen derelektromechanischen Telefonie (Siemens-Albis, Hasler und Standard Telefonund Radio der amerikanischen ITT-Gruppe) in eine Entwicklungsgruppezusammengerufen. Sie brachten aber nichts zuwege. DieGeschäftsprüfungskommission des Parlamentes stellte später fest, dass die PTTdilettantisch vorgegangen war und dass die grossen ausländischenMutterhäuser zweier dieser Firmen die Informationen eher zurückgehalten alsbeigesteuert hatten, ja vielleicht sogar technisches Wissen für dieerfolgreicheren eigenen Entwicklungen anzapften. Eine interne Quelle sagtemir, eine dieser zwei Auslandsfirmen wollte gar keine ernsthafte Offerteeinreichen, weil die PTT auf einer Kostenkontrolle bestand. Lieber lieferte dieFirma ihr eigenes System vom Ausland her. Ich riet Fritz Reimann, demPräsidenten des SGB, in der Öffentlichkeit von «einer Katastrophe, schlimmerals eine Firmenschliessung» zu sprechen. Denn dieses Scheitern besiegelte eineeigenständige schweizerische Telekommunikationsindustrie auf allen Ebenen,aber dies wurde in der Öffentlichkeit völlig passiv aufgenommen. Hingegenereifern sich sonst alle, linke wie bürgerliche Politiker, über jedeBetriebsschliessung. Die Einstellung der Automontage von General Motors in

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Biel 1973 oder die Schliessung von Firestone 1976 in Baselland, die spätereSchliessung der Wagonfabrik Schlieren, der Brauerei Cardinal, immerhin allesreife, alte Branchen, entfachten nationales Fieber, Vorwürfe, Resolutionen undAktionen allseits. Doch eine verpasste Riesenchance wie dasInformationssystem wurde nicht erkannt. 1945 übrigens war die Hasler AGnoch gleich gross wie der schwedische Konzern Ericsson gewesen. Nach demScheitern der eigenen digitalen Entwicklung mutierte sie aber trotz der Fusionmit Autophon zum Zwerg. Beide waren verwöhnte, langsame Hauslieferantender alten PTT. Das Modell «Telefon 1929» von Hasler stand noch in unseremHaushalt der 1950er-Jahre, so langsam lief der Fortschritt, und es stand dort alsMietmodell der PTT. Sie entschieden und teilten den Haushalten zu, wasfrommte. Die Hasler war ausserdem eine Stiftung des kinderlosen Inhabersgeworden, wobei Stiftungsrat, Verwaltungsrat und Geschäftsleitung vonHasler sich personell vielfach überschnitten – dieser Teig ging nicht mehr auf.

Liberalisierte Netze bieten «service public», gerade sie

Wie die neue Welt der Kommunikation nach 1998 nun funktionieren sollte,wäre eigentlich auch ein Punkt auf obiger Liste, der dem Publikum nichtgeläufig wird, weil es auch hier immer nur im Schema Entweder/oder denkenkann – nämlich staatlicher «service public» oder Liberalisierung undPrivatisierung. Und dann stört noch der Profit, während eben der Staat mitdem eleganten französischen Begriff des «service public» verklärt wird. Doches ging bei der ComCom, wie später beim Strom oder bei der Schiene, um dieneuen technischen Spielarten, welche die alten Monopole technischaufbrachen. Es wurde nun möglich, mit mehreren privaten Netzennebeneinander billig durch die Lüfte zu telefonieren oder die Elektrizitätelektronisch fein zu verteilen und abzurechnen, genauso wie die Achsenzahlder verschiedenen Bahngesellschaften, die über ein Schienennetz rollten.

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Die Architektur solcher neuer Netze mit vielen Betreibern ist einfach: Esbraucht ein technisch bedingtes Verteilnetz (Schienen, Strommasten), dasnicht dupliziert werden sollte. Darauf fahren verschiedene Betreiber imWettbewerb, die von einem Regulator ausgewählt werden, von derWettbewerbskommission von Absprachen abgehalten werden und allenfallseine minimale Versorgung der Kunden zusichern müssen. Das alleszusammen ist ebenfalls ein perfekter, aber wettbewerblicher «service public»,und der Staat ist nur Schiedsrichter, nicht Mitspieler.

Doch die Zukunft erstickt in Rekursen

Für die Zuteilung der ersten Generation des Mobiltelefons wählte dieComCom einen Kriterienwettbewerb. Die Bewerber mussten eingeben, wie sieden Dienst gestalten wollten. Daraus wollte die Kommission dann diegeeignetsten Offertsteller auswählen. In einer Sitzung im altenCluniazenserpriorat Münchenwiler bei Murten im Kanton Freiburg kämpftenwir uns durch viele Laufmeter eingereichter Ordner, die allerdings durchunseren «technischen Arm», das Bundesamt für Kommunikation, schoneingesehen und vorsortiert worden waren. Wir bewilligten die GesellschaftenDiax Mobile und Orange, während die Swisscom als Erbin des alten Monopolsschon gesetzt war.

Später, für die Zuteilung der neuen Generation der Frequenzen, der UMTS-Welt, wollte die ComCom wie im übrigen Europa eine Versteigerungdurchführen. In manchen Ländern hatten diese Versteigerungen 10 MilliardenEuro je Bewerberfirma eingebracht. Manche Politiker warfen der anstehendenVersteigerung in der Schweiz aber vor, dadurch die Kunden mit überteuertenDiensten zu übervorteilen. Schliesslich wurden in der Kommission dieEingaben für die vier möglichen Netze geöffnet – es waren genau vier.

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Deshalb entschloss sich die ComCom in einer recht dramatischenTelefonkonferenz am Abend nach Ablauf des Bewerbedatums, die vierKonzessionen zum voraus festgelegten Minimalpreis von je 50 MillionenFranken zu erteilen. Teils die gleichen Politiker brüllten nun, dass man das«Volksvermögen» der Frequenzen verschleudert habe. Aber wenn niemandzahlen will, hat auch der Kaiser selbst sein Recht verloren.

So bauten die Mobilfunkgesellschaften schon beim ersten System ihreeigenen Netze auf. Ich hatte vorgeschlagen, eine eigene, einzigeNetzgesellschaft zu erlauben, welche die Antennen baut und in welche sich dieBetreibergesellschaften einmieten könnten. Dies hätte der Volkswirtschaft undden Kunden mehrere Milliarden erspart. Aber ich kam damit nicht durch.Auch hier hätte man die Architektur eines einzigen physischen Netzes in Formder Masten gehabt, das von konkurrierenden Betreibern gemietet undbetrieben worden wäre.

Was ich gegenüber dieser schönen Architektur der Grundsätze in derComCom-Praxis allerdings mit wachsendem Entsetzen wahrnahm, war dieunermessliche Rekursmanie und Verrechtlichung, welche die Politik imVerwaltungsverfahren eingebaut hatte. Es hagelte bei den einfachsten wiekomplexesten Entscheiden Rekurse, und immer trafen Dutzende, manchmalHunderte von Seiten an Rechtsschriften hochmögender ZürcherAdvokaturbüros ein. Man rekurrierte schon mal gegen den Entscheid, eineAusschreibung oder einen Bietwettbewerb zu machen, dann zum Entscheid,wer zugelassen wurde, dann natürlich gegen jeden endgültigen Entscheid derComCom. Dabei rekurrierten oft auch jene Gesellschaften, die beim Entscheidgewonnen hatten, nur für den Fall, dass der mit Sicherheit eintreffende Rekursder Verlierer Erfolg vor Gericht hätte. Auch jeder einzelne Verfahrensschrittwurde bis vor das Bundesgericht bestritten, und es wurde festgelegt, welcheAkten eingereicht oder dem anderen Wettbewerber gezeigt werden mussten,so z. B. Rekurse für die Abdeckung von Geschäftsgeheimnissen in diesenAkten, Rekurse dagegen, Rekurse gegen einen von der ComCom gewähltenExperten, Rekurse gegen gesetzte Fristen usw.

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In der ComCom diskutierten wir manchmal länger über die Gefahr einesRekurses als über die Richtigkeit der Sache, je nachdem, ob man sich so oderanders entschied.

Ausserdem hatte es das Parlament absichtlich unterlassen, der ComCom,wie im Ausland, eine gestaltende Kompetenz zu geben, nämlich Ex-ante-Verfügungen zu erlassen. Die ComCom konnte meist nur reagieren, wenn sieVerfehlungen oder Rekurse antraf. Bei der folgenden Revision desFernmeldegesetzes versah die Swisscom die Kommissionsmitglieder desParlaments mit detaillierten Listen von Anträgen, um ihre dominante Stellungzu sichern. Die Parlamentarier waren in der Doppelrolle der Regulatoren wieder Begünstigten der Swisscom, die über die Jahre Milliarden Franken in dieStaatskasse aus Aktienverkäufen und Dividenden einwarf und noch einwerfenwird.

Die neuen Wurzeln der Bürokratie – und wie man sie trimmt

Vor der Einrichtung eines Bundesverwaltungsgerichts hatte jedes Departementeine Rekurskommission. Diese waren auch aus Fachleuten wie Architektenund Unternehmern zusammengesetzt und urteilten als letzte Instanz und mitAugenmass, also mit geziemendem Ermessen. Sie urteilten oft auch rascher.Mit dem neuen Verwaltungsgericht wurden die Verfahren vervielfacht – über50 Gesetze aller grossen Tätigkeitsfelder des Bundes verweisen nun auf dieseUmstandsmühle, die nur aus Juristen besteht und sich mit bereits mehrerenhaarsträubenden, papierenen Fehlentscheiden unglaubwürdig gemacht hat. ImErgebnis laufen unendliche Verfahren allein schon in der Verwaltung, dannneu bis zum Bundesverwaltungsgericht, gegen dessen Entscheide oft nochbeim Bundesgericht rekurriert werden kann. Es gibt nun also eine Stufe mehr,obwohl die Parlamentarier bei seiner Errichtung versprachen, nun werde alleseinfacher.

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Mein Schluss aus diesen Erfahrungen wie aus allgemeinerBürokratiebeobachtung: Es braucht im Verwaltungsverfahren dramatischmehr Ermessen. Die Juristen tun so, als ob man heute noch wie unter LudwigXIV. Leute ohne Gerichtsverfahren in die Bastille einsperrte und nunRechtsmittel dagegen geschaffen werden müssten. Doch auf dieser Schieneder Rechtsmittel ist man so weit schon übers Ziel hinausgeschossen, dassUnrecht gerade daraus entsteht, nämlich Rechtsverweigerung, blockierteEntscheide und amputiertes Eigentum. «Unintended consequences», einmalmehr.

Zusätzlich muss die Haftung des Staates und seiner Beamten entsprechendeingeschränkt werden, damit die Angst davor die Behörden nicht inschikanöse Kontrollen gegenüber dem Bürger treibt. Schliesslich sind auch dieMedien heute derart stark, gut informiert und beachtet, dass sie als vierteGewalt allfällig überdrehtes Ermessen wirkungsvoll anprangern undkorrigieren können.

Den Kontrast dazu bildet die oben geschilderte Welt der unmittelbarenNachkriegszeit: das bürgerlich-industriell-gewerbliche Milieu der damaligenSchweiz. Kurzer Prozess wurde da im wörtlichen Sinne gemacht, besser, keineProzesse, sondern direkte Auseinandersetzungen. Die Kauf-, Miet- undSchuldverträge waren früher lakonisch, man kann dies inIndustriejubiläumsschriften sehen. Ein, zwei Seiten, anklingend an diewichtigen Begriffe aus dem OR, und die Sache war geregelt. EinArbeitsvertrag musste nicht schriftlich sein, was war, das galt, auch vorGericht.

Oder die Rassismusbekämpfung: In den schwersten Zeiten der 1930er-Jahrebrauchte die Schweiz kein Gesetz dazu und wehrte sich in gefahrvollererUmgebung besser als heute. Heute hören die Gutmenschen eine rassistischeBemerkung, sagen nichts und rennen eine Woche später zum Richter, der einhalbes Jahr später urteilt. Besser wäre immer noch ein sofortiger Widerspruch,

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ein Aufruhr, meinetwegen eine lustvolle Saalschlacht.Das anwaltschaftliche Reden hat ins Tierreich übergegriffen. Die

Verordnung zum Tierschutzgesetz ist unglaublich geschwätzig, trölt über 158Seiten, will Hundehalterkurse, verlangt Augenkontakt mit den Tieren undartgerechtes Halten von Beutetieren, untersagt das Beschneiden derHühnerflügel und will für das Hüten von mehr als drei Schweinen ein Diplom.Oder die Rauchverbote, oder Datenschutz allüberall, auch zugunsten vonTroubleshootern, weil man ihre Fotos nicht ins Internet stellen soll.Funktionäre und Richter stehen vor der Freiheit des Publikums.

Dies alles hat tiefe Wurzeln: Soziologie und Psychologie klären seit gut 100Jahren auf. Sie kreieren neue Mythen. Doch wenn diese AnalysenVerschiedenheit, Ungleichartigkeit und Ungleichheit feststellen, dann wirftsich die westliche Gesellschaftstechnik darüber und biegt alles gerade. Siekorrigiert, sie kompensiert Jugend, Alter, Gender, Immigranten,Melancholische, Schulschwache, Landstreicher, Kokser, Raucher,Schwergewichtige und Abweichende. Der Staat stellt sich dahinter, zahlt,befiehlt, gewährt den sozialtechnischen Interventionsberufen Tarifpunkte.Denn der Staat – seine Politiker – haben die «outcomes», die Ergebnissegarantiert, in Geldwerten die Gleichheit versprochen. Die Schilderung, dieErklärung von Unterschieden und Leidenslagen durch Soziologie undPsychologie wurden zur Anklage, die Betroffenen zu Opfern, der Staat zumallmächtigen Korrektor. Das Ziel der Gleichheit ist allerdings illusorisch, dieMittel sind allmählich zu teuer, die rechtliche Zurückbindung derLeistungsfähigeren behindert deren Grundrechte und Erfolge.Wissenschaftliche Erklärung von Ungleichheit muss kein Auftrag werden, umalles umzubiegen.

Bücher schreiben – Erfolg und Misserfolg

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Nach einiger Erfahrung im Schreiben und nach meiner Zeit alsausserordentlicher Professor für Sozialpolitik am Institut de hautes études enadministration publique der Universität Lausanne legte ich zwei Anliegen inBuchform vor. Das eine blieb stecken, das andere zog. Stecken blieb meineForderung in Die neue Schweizer Familie nach einer Beteiligung der jungenVäter an der Kinderpflege in den ersten schwierigen Jahren, ergänzt durchKrippen und später abgelöst durch Tagesschulen. Frauen sind heute gleich gutausgebildet wie Männer, doch wenn sie die doppelte Last an Kindern undBeruf schultern müssten, wählen sie oft den Beruf, und Europa stirbt gebildetund reich aus. Alle Förderungen richten sich immer an die Frauen, sie wollenihnen diese Quadratur des Kreises erleichtern, ich will sie abschaffen. Dagegenhat ein solcher Haushalt mit gleicher Kinderaufsicht der Frauen und Väterzwei 70-Prozent-Einkommen, was staatliche Stützungen unnötig macht, undbeide Partner bleiben im Beruf. Die Forderung nach vorübergehender Teilzeitfür Jungväter ist eine Forderung an diese selbst, dann auch an die Firmen.Aber das verführt die Linken und Feministinnen kaum, sie halten sich immeran den Staat. Immerhin wurde ich oft zu Vorträgen eingeladen, und immerzeigten sich dort viele Ehepaare, welche diese Rollenverbindung praktizierten.Meine Frau und ich übrigens auch, weshalb ich im Lebenslauf «cc»: «childcare», trage. Das schlug ich im Buch als Label, als echten Leistungsausweis imCurriculum für Jungväter vor, neben den anderen hochtönendenBuchstabengruppen MBA, HR, CFO usw.

Das Buch Sozial, sozialer, am unsozialsten hingegen hatte eine eherspürbare Wirkung. Man sollte auch in der Sozialpolitik ein nüchternesMenschenbild haben, also mit Menschen rechnen, die rechnen können. Dasführt zu aktivierenden Politiken für Arbeitslose, Invalide undSozialhilfeempfänger. Ich stellte an zahllosen Veranstaltungen fest, dass diemeisten Sozialarbeitenden längst diese Ansicht pflegten, weil sie unter denVerrechtlichungen litten, weil sie unter den Geldempfängern nicht nur armeOpfer sahen, weil die spezialisierten Anwälte sie nervten, welche dieausufernden Hilfegesetze ausnutzen und dann noch den Sozialbehörden

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Rechnungen stellen. Auch verbreitet sich ausserhalb und innerhalb derSozialarbeit immer mehr die Einsicht, dass die Tarife der SKOS(Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe) übertrieben hoch sind, wenn sie50000 Franken und mehr für eine Familie im Jahr zusagen und dann dochwieder fast Franken für Franken davon abziehen, was die Familie selbstverdient. Aber wenn die SKOS zu Modellen des angelsächsischen Raumsschritte, wo man vom Selbstverdienten deutlich mehr als die Hälfte belässt,dann müsste sie mit tieferen Tarifen einsteigen. Doch das gibt der Kopf nichtzu. Bei tieferen Tarifen und dafür mehr Ermessen für Zusätze durch dieSozialarbeitenden wäre diese Hilfe richtig. Viele sehen das schon. Es gibtnichts Mächtigeres als eine Idee, deren Zeit gekommen ist, sagte schon VictorHugo. Nur die meisten Politiker sehen immer noch nur Opfer, überbieten sichmit Zartheit und Entgegenkommen an Hilfesuchende, gerade auchBürgerliche. Sie haben einen Komplex der Erfolgreichen oder entstammenselbst immer mehr kleinbürgerlichen Schichten, die den Abstieg fürchten unddie völlige Abfederung aller Lebenslagen billigen.

Als Journalist erzielte ich im Tagesgeschäft sowohl Erfolge als auchFehldiagnosen. So schrieb ich in der Weltwoche etwa drei Jahre vor demUntergang von Swissair 2001 und dem Fastkonkurs von ABB nach 2002, dassFirmen mit nur noch 15 Prozent Eigenkapital in der Bilanz gefährdet seien.Oder ich schrieb zum Fünfjahresjubiläum des Euro am Silvester 2006 in derNZZ am Sonntag, dass sich die unterschiedliche Konkurrenzfähigkeit seinesNordens und Südens kumulieren und Spannungen bringen werde, und imAugust 2006 diagnostizierte ich steigende Büro- und Wohnungsleerstände imWesten sowie die Korrelation aller Anlagewerte, also ihr gleichzeitiger Fall,sollte eine Krise kommen.

Hingegen glaubte ich Anfang der 1990er-Jahre, Deutschland habe sich mitseinen steigenden Verregulierungen aus dem Weltmarkt verabschiedet,während die USA auf gloriosem Reichtumspfad seien. Es kam – aus heutigerSicht – genau umgekehrt. Die Schröder-Reformen und eine massvolleLohnpolitik stärkten Deutschland, die USA versinken im Schuldensumpf. Hier

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wurde ich meinerseits Opfer der unmerklichen, innerhalb kurzer Generationenvon 20 Jahren laufenden Veränderungen.

Übermacht der Politik: Verfassungsbrüche und Bundesbüchlein

Der Wehleidigkeit des anwaltschaftlichen Verfügens muss man die deftigenBrüche der Verfassung und des Volkswillens gegenüberstellen, welche sich dasParlament in den letzten 30 Jahren selbst gestattete, wo aber keine Wellen derEmpörung flattern, weil die meisten Politiker und Medien sich gar nicht daranerinnern wollten.

Als die Konsumentinnen 1983 ihre Preisüberwachungsinitiative beim Volkdurchbrachten, nahm das Parlament ganz einfach die Bankkartelle davon aus.Das war Verfassungsbruch. Erst nach einer zweiten, vor dem Volk ebenfallserfolgreichen Initiative der Konsumentenorganisationen kam es richtig.

Tricks und Kniffe beim VerfassungsbruchAls am 28. November 1982 die erste Preisüberwachungsinitiativeangenommen wurde, sagte Vizekanzler Achille Casanova schon einenTag später: «La commission des cartels s’est déclarée incompétente.»Davon wusste ich als Mitglied schon mal nichts. Man wollte offenbarsehr geheim vorgehen, denn die Bankkartelle sollten ausgenommenwerden. An der Sitzung der Kartellkommission vom 9. Dezember 1982sprach niemand von der wünschbaren Integration der Preisüberwachungin die Wettbewerbspolitik und damit in die Kompetenz der Kommission.Auf meine Frage hin wand sich der Sekretär Bruno Schmidhauser undgab zu, er erarbeite für Bundesrat Fritz Honegger ein Ausführungsgesetz,aber nur so als Eventuallösung, ohne Einschluss ins Kartellgesetz. Erwerde die Kommission auf dem Laufenden halten.

An der Sitzung vom 17. Januar 1983 der Kommission skizzierte

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Schmidhauser Umrisse eines möglichen solchen Gesetzes. Der Präsidentfand diesen Weg allerdings bedauerlich, zeigte aber keine Lust, sichanderswie einzusetzen. Als ich mit Fragen nachbohrte, zeigte es sich, dassder Gesetzesentwurf schon fertig war und vor Bundesrat Kurt Furgler lag– ohne dass die Kommission ihn gesehen hätte.

Ich versuchte darauf schriftlich, die Fédération romande desconsommatrices, das Konsumentinnenforum, das Mouvement populairedes familles, den Mieterverband und den SGB-Präsidenten undNationalrat Fritz Reimann auf Interventionen einzuschwören.

Dieses Vorgehen enthüllt eine Schwäche der schweizerischenDemokratie und die Stärke der Verwaltung: Die meisten Leute, durchausmit Ämtern und theoretischem Einfluss versehen, sind zu naiv, stellenkeine Fragen, und wenn einer diese Fragen stellt, schweigen sie weiter.Man ist als Kritiker immer sehr allein. Dann muss die Verwaltung nurMut zeigen und vorwärts machen, Tatsachen schaffen, und sie gewinnt.

Als die Kantone einen Kulturartikel in der Verfassungsabstimmung ablehnten,setzte das Parlament ihn einfach in den Entwurf der neuen Verfassung1999/2000, welche die Verfassung «nur nachführen» sollte und wo man ihnnicht separat ablehnen konnte. Das ist Verfassungsbiegung. Als das Volk 1977die Sommerzeit ablehnte, setzte sie das Parlament in Kraft.

Eine ungleich folgenschwerere Bestimmung schmuggelte das Parlament indie neue Verfassung, die ja nur «nachführen» sollte, was schon galt. Dochplötzlich kam da der Artikel 12 ins Grundrecht, der «Anspruch auf Hilfe» und«ein menschenwürdiges Dasein» zusichert. Damit wurde für alle auf demTerritorium Anwesenden eine Existenzgarantie ausgesprochen. Doch einesolche Garantie bei sehr löcherigen Grenzen gegen den Zuzug Elender ausaller Welt ist inkongruent. Ausserdem lehnt sich die Garantie desmenschenwürdigen Daseins stark in Richtung der kulturellen Definitionsolcher Stützung hinaus, die mit dem Wohlstandsniveau mitwachsen muss;man kann letztlich also auch Reisen, Auto und Unterhaltung darunter

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verstehen. Das stand vorher nicht in der Verfassung. Es wird aber Dutzendevon Milliarden mehr kosten als eine Magervariante.

Als das Volk die Mehrwertsteuer beschloss, war 1 Zusatzprozent der Steuervorgesehen, wenn «wegen der Entwicklung des Altersaufbaus dieFinanzierung der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung nichtmehr gewährleistet» ist. Das Parlament setzte dieses Prozent rasch in Kraft,nicht wegen der Altersengpässe, sondern weil die AHV zu stark ausgebautwar und die dürftige Konjunktur der 1990er-Jahre dies nicht finanzierte. Daswar ein Verfassungsbruch. In den Jahren nach 2011, wenn die BabyboomerRente wollen, wird genau dieses schon konsumierte Prozent fehlen, nämlich 3Milliarden jährlich und mehr. Der Verfassungsbruch kann übrigens immernoch in den Übergangsbestimmungen der Verfassung nachgelesen werden, woder oben erwähnte Satz «wegen der Entwicklung des Altersaufbaus» belassenwurde!

Und als mit viel Aplomb 2001 über eine Schuldenbremse für laufendeAusgaben abgestimmt wurde, eliminierte man damit klammheimlich diebestehende schärfere Bestimmung aus der Verfassung, wonach derBilanzfehlbetrag des Bundes abzutragen sei. Sie bestand seit Jahrzehnten, dochdas Parlament führte die Bestimmung nie aus. Die Schuldenbremse trägt dieSchulden nicht ab, sondern stabilisiert sie nur. Das war ein Verfassungsbruchdurch Irreführung des Volkes.

Allerdings wäre nun die Folgerung falsch, man wolle eineVerfassungsgerichtsbarkeit über die Entscheide von Volk oder Parlamenteinführen. Denn eine solche braucht es in Staaten wie den USA, wo dieVerfassung unendlich schwierig an neue Verhältnisse anzupassen ist (esdauerte für das letzte «Amendment» Nummer 27 ganze 203 Jahre). Aber dieBundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist die am meistengeänderte der ganzen Welt, und so ist das Volk fast alle Vierteljahre amDrücker, um Gesellschaft und Verfassung in Übereinstimmung zu bringen. Eskann darüber kein aufgeklärtes Organ geben, das es besser weiss.

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Eine wenigstens ein bisschen rationellere, aufgeklärtere Weise derVolksabstimmungen brachte eine Eingabe des SGB in den 1980er-Jahrenzuwege. Ich kritisierte darin, dass der Bundesrat mehrfach bei seinenErläuterungen zuhanden der Haushalte gegnerische Anliegen verkürzt odergar nicht dargestellt hatte. Wir verlangten, dass in solchen Erläuterungenkünftig die Initiatoren oder das Referendumskomitee selbst eine Seite mitseinen Argumenten gestalten dürfe. Dies wurde tatsächlich eingeführt und giltseither.

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Kapitel 9

Abgesang und Schluss

Ich bin immer noch Journalist, obwohl viele meiner ehemaligen Kollegen inVerwaltungsetagen, in Kommunikationsstellen von Konzernen undVerwaltungen, in eigene Kommunikationsbüros oder in die Frühpensionierungabgeschwirrt sind. Ich verschmähte auch sechs recht wichtigeVerwaltungsratssitze, zwei Chefredaktorenstellen, zwei Studieninstitute undviele Consultinganträge. Es ist in diesem kleinen, intensiv gewobenen Landschwer, sein Leben für die Information in Medien und Vorträgen freizuhalten.Man kann sich aber als einer der Akteure verstehen, welche die Gesellschaftsich selbst reflektieren lassen, als «Symbolanalyst». Dies ist überdies keinOpfer, sondern eine sehr schöne Sache, und leben kann man auch gut davon.

Das Protokoll daraus ist hiermit erstattet. Ich dachte, ich mache es, solangeich mich noch daran erinnern kann und solange die vielen Dokumente nachvielleicht mehrfachem Umziehen nicht verschwunden sind. Ich bin aber nochnicht fertig. Es geht weiter, die Gesellschaft, die Techniken, die weltgängigeSchweiz laufen weiter.

Die wirtschaftliche, gesellschaftliche Zukunftsrolle derSchweiz

Die Schweiz mutiert neben der US-Ostküste, Kalifornien, Südengland,Singapur, Shanghai und Südarabien zu einem der metropolitanen Pole derneuen Weltwirtschaft. Die regionalen Territorialverbünde wie die EU sindcharmante, damals notwendige, heute gleichmacherisch-behindernde Projekte

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der 1950er-Jahre.Die in der Schweiz wirksamen Treiber zum Weltgang dagegen sind die

Blockfreiheit, die eigene Währung, die Einwanderung Qualifizierter, die guteAusbildung in Lehre und Hochschule, der freie Arbeitsmarkt, die öffentlicheSicherheit und die funktionierende Infrastruktur, die Freude an Arbeit undGewinn. Die Folgen sind bereits da – Wohlstand, hoheArbeitsmarktbeteiligung, internationale, sich rasch veränderndeEinwohnerschaft, weltweite Wertschöpfungsketten mit Kopfwerk in derSchweiz.

Die künftige Rolle der schweizerischen Volkswirtschaft nach aussen undnach innen sollte es sein, ein erfolgreiches Modell im Wettbewerb derLösungen zu bleiben, und zwar für den Arbeitsmarkt, private Forschung,Bottom-up-Staatlichkeit, den föderalistischen Binnenwettbewerb, tiefeSteuern, ein verdichtetes Wohnen und das Verkehrswesen einer reichenBevölkerung.

Und neu wird es auch den Wettbewerb durch «regulatory arbitrage»brauchen: Im Anbieten tieferer, geringerer, vernünftigerer Regulierung, woimmer möglich. Damit gewinnt das Land an Bedeutung, an Zuzug, aber esstrahlt auch auf die ewigen Regulierer anderswo aus und behindert sie. Das isteine Aufgabe zur Verbesserung der Welt, der Staatenwelt! Ausscheren, gegenden Strich laufen, das ist ein Vorbild, nicht Mangel an Solidarität.

Ebenfalls soll dieses Land zu einem der Modelle an umweltverträglichemLeben werden. Eine Bevölkerung, die freiwillig bereits fast 100 Prozentrezykliert, was sie an Glas, Aluminium, Eisen, Batterien, Elektronikschrott,PET-Flaschen und Papier verbraucht, kann die nächsten Stufen vollintegrierter Kreisläufe nehmen. Sie praktiziert den kantschen kategorischenImperativ, ihr Verhalten «kann zum Gesetz für alle Vernunftwesen» werden.Vor allem wohnen und arbeiten müssen diese Millionen auf verdichtetemRaum, auch wenn es kommunale Kompetenzen begrenzt und Einschnitte imBodenrecht voraussetzt.

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Meine «innere Agenda» steht hinter diesem Text

Der Gesellschaftsphilosoph Isaiah Berlin sieht, wie er in seinem Buch DieWurzeln der Romantik schreibt, bei den Philosophen Georg W. F. Hegel,Johann G. Herder und Johann G. Fichte den Anfang der Staatsvergottung, daim Werk dieser Philosophen die Idee verankert wurde, dass Volk, Sprache,Staat und Gesellschaft eins seien. Auch von den totalitären Ideen Jean-JacquesRousseaus mit der «volonté générale» und dem «contrat social» führt einedirekte Blutspur zu Stalin, pflege ich zu sagen. Und Utopia von Thomas Morushätte, wäre sie verwirklicht worden, die maoistische Zwangsgesellschaft nochhinter sich gelassen.

Gemäss Isaiah Berlin wurden mit solchen holistischen Zielen, mit solchenumfassenden Gesellschaftszielen, alle verheerenden -ismen des 20.Jahrhunderts grundgelegt und gerechtfertigt: Kommunismus, Faschismus,Korporatismus, Nationalismus, Imperialismus, Rassismus. Heute noch sind diemeisten Franzosen und Deutschen instinktiv der Überzeugung, dass Visionen,Gesamtkonzepte und Staatskompetenzen wichtig sind, und die Politiker sowiedie Medien beider Länder lassen keinen Zweifel daran. Die EU versteinert diesgetreulich und dreidimensional.

Demgegenüber erklärt der methodologische Individualismus dieGesellschaft als Ergebnis individueller Ziele, Handlungen und Interessen. Dasich diese in einer offenen Gesellschaft und auf ihren Märkten für Produkteund Ideen gegenseitig in Schach halten, braucht es den grossen LeviathanStaat kaum, ausser für die Spielregeln dieses In-Schach-Haltens. Dieösterreichische Schule der Nationalökonomie zeigt überdies, dass derhandelnde Unternehmer die Welt gestaltet, nicht irgendwelche abstrakteGleichgewichtsannahmen neoklassischer und keynesianischer Ökonomie mit«consumption, investment, multiplicator».

Diese zwei grundsätzlichen Haltungen teilen die Welt in zwei Lager, früherlinks und rechts genannt, oft auch unter anderen Titeln. Will man dieGeografie bemühen, kann man aufgrund ihrer gesellschaftlichen

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Überzeugungen die Schweizer, die Süddeutschen, die Angelsachsen und dieAsiaten zu den Individualisten, Utilitaristen und Anarchisten rechnen, und dieübrigen Kontinentaleuropäer zu den Kommunitaristen, zu den zwangshaften,ängstlichen Staatsgläubigen. Der ganz grosse Rest der Welt ausserhalbFrankreichs und Deutschlands fragt also bei allem: «Was bringt’s, waskostet’s?» So bleibt man frei.

Auch die meisten kontinentaleuropäischen Staatskundebücher sehen in derPolitik und sogar in Parteien die Anwälte des Gemeinwohls.

Die Politologie der angelsächsischen Länder (Dennis C. Mueller schrieb einStandardwerk zu «public choice») geht aber davon aus, dass alle Menschen,alle Akteure aus Eigeninteresse im weiteren Sinne handeln, auf den Märktenwie auch in der Politik. Politiker und Parteien maximieren genauso wieprivate Bürger, nämlich Amtsdauern, Ämter, Einkommen und Subventionenfür ihre Wählergruppen. Der Staat ist der Pool, die Saldierung dieserAnsprüche. Eigeninteressen und Spieltheorien erklären die Handlungen derGruppen. Politiker sind Menschen, nicht Übermenschen oder selbstloseGönner.

Man kann dieses Eigeninteresse auch Selbstbezogenheit nennen: also dasStreben nach einer Mischung von Status, Glück, Geld, Macht und Ansehen.Das oft von Kritikern herumgebotene, oft absichtlich übertriebene Zerrbild desvöllig egoistischen, kurzsichtigen «homo oeconomicus» fasst dies nicht richtig.Diese Motive der Menschen spielen in vielen, ins persönliche Selbstbildintegrierten Kombinationen, von Warren Buffet bis Mutter Teresa, und wennsie es in Freiheit und ohne Gewalt tun, besteht eine offene Gesellschaft, undsie bewegt sich ziemlich gut fort.

Wenn Politiker, Parteien und Verwaltungen nicht rastlos dasAllgemeinwohl, sondern ihre Selbstbezogenheit verfolgen, gibt es ein Problem– sie haben dazu den Staat zur Verfügung. Und wenn sie wie in Westeuropader Hälfte der Haushalte viele Staatsleistungen zuhalten, beschaffen sich dieWähler ihre Mittel über die Wahlurnen, anstatt selbst über den Markt. DieGesellschaft versteinert. Politische Systeme müssen daher, wie die Sozialpolitik

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selbst, mit Menschen rechnen, die rechnen und rechnen können, also Machtbrechen, nicht kumulieren. Dazu gehören Volksrechte, föderalistischerWettbewerb, aber nicht kontinentale Grossunionen mit in sie eingeschriebenenVisionen des «immer engeren Zusammenschlusses» und der Regulierungen«im Sinne des Fortschritts», wie es die EU-Verfassung seit 1958 will.

In Frankreich, Deutschland und der Schweiz aber kennt man diesepolitische Theorie der stets maximierenden Politiker kaum. Missstände werdenbeklagt und mit Appellen zu bewältigen versucht. Hans MagnusEnzensbergers hilflose Kritik an der Entmündigung Europas durch die EU isttypisch dafür – auch er kennt offenbar die angelsächsischen (undschweizerischen) Regeln der Politikbegrenzung nicht.

Die Kontrolle über die Politiker, welche das Gewaltmonopol des Staatesschrankenlos nutzen möchten, liegt im Wettbewerb der Lösungen durch denFöderalismus der Teilstaaten und durch den Vergleich sowie die Freizügigkeitder Bürger. Und natürlich in weitestgehenden, nicht von Verfassungsjuristenbedrängten Volksrechten. Gemäss modernen Historikern brachte dieseVielfarbigkeit der Lösungen den nachmittelalterlichen EntwicklungssprungEuropas. Als letzte Notbremse gegen politische Entscheide bleiben die Fakten,bleibt die – wirtschaftliche – Krise, welche alles aushebelt. Der Markt dringtimmer durch alle Ritzen. Eine Gesellschaft lernt immer nur durch Krisen.

Dieses Protokoll zeigte nur die letzten 50 Jahre – aber welch ein Abenteuer,welch ein Entwicklungssprung!

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Lebenslauf

Beat Kappeler, geboren 1946 in Villmergen, Aargau, und aufgewachsen inHerisau, Appenzell Ausserrhoden

1959–1961Sekundarschule in der Klosterschule St. Gallen

1961–1965Gymnasium Friedberg

1965–1966Kollegium Appenzell, Matura Typus A

1966–1970Studium in Genf, Abschluss mit Lizenziat (ès sciences politiques) am InstitutUniversitaire de hautes études internationales, heute HEID genannt

1970–1971Studium in Westberlin

1972–1977Freier Wirtschaftsjournalist, u. a. bei der Nationalzeitung und der Weltwoche

1977–1992Geschäftsführender Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB)

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1993–2002Autor der Weltwoche

1996–2000Professor für Sozialpolitik an der Universität Lausanne

1998–2007Mitglied der Eidgenössischen Kommunikationskommission

1999Dr. h. c. der Universität Basel

HeuteKommentator bei der NZZ am Sonntag und Le TempsReferent in SKU (Schweizerische Kurse für Unternehmensführung), AdvancedManagement Program

Verheiratet mit Dr. Franziska Rogger, Autorin und Universitätsarchivarin inBern, Vater zweier Kinder, cc (d. h. «child care»)

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Publikationen

Hans Eisenring/Beat Kappeler: Man kann alles lernen (Hrsg. und Mitautor),

Stämpfli: Bern 2011.Beat Kappeler: Sozial, sozialer, am unsozialsten, Verlag Neue Zürcher

Zeitung: Zürich 2007.Beat Kappeler: Was vermag Ökonomie? Silvio Borner, Bruno S. Frey, Kurt

Schiltknecht zu wirtschaftlichem Wert, Wachstum, Wandel undWettbewerb (Hrsg.), Verlag Neue Zürcher Zeitung: Zürich 2007.

Beat Kappeler: Die neue Schweizer Familie, Nagel & Kimche: Zürich 2004.Beat Kappeler: EU: Ohne Konzept kein Beitritt. Der Bundesrat ist nicht

europafähig, Reinhardt-Verlag: Basel 2001.Beat Kappeler: Wirtschaft für Mutige, Frankfurter Allgemeine Buch:

Frankfurt/Main 2000.Beat Kappeler: Quelles politiques sociales? Leurs techniques, leurs effets,

leur éthique, les défis futurs, Arcadia-Verlag: Solothurn 1999 (vergriffen).Beat Kappeler: Regieren statt revidieren. Eine Streitschrift wider die

Verfassungsreform, Weltwoche-Verlag: Zürich 1996.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Titelgestaltung: Atelier Mühlberg, Basel

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