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1 Wie zeitgemäß ist der Umgang mit dem Leiden? Leiden, ein Grundthema der Menschheit Leiden, ein Grundthema in der Existenzanalyse Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung in Existenzanalyse April 2020 eingereicht von Melitta Klauß eingereicht bei Mag. Karin Steinert eingereicht bei Mag. Doris Fischer-Danzinger angenommen am……………………. von…………………………. angenommen am…………………….. von…………………………..

Wie zeitgemäß ist der Umgang mit dem Leiden? Leiden, ein

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Wie zeitgemäß ist der Umgang mit dem Leiden?

Leiden, ein Grundthema der Menschheit – Leiden, ein Grundthema in der

Existenzanalyse

Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung in Existenzanalyse

April 2020

eingereicht von Melitta Klauß

eingereicht bei Mag. Karin Steinert

eingereicht bei Mag. Doris Fischer-Danzinger

angenommen am……………………. von………………………….

angenommen am…………………….. von…………………………..

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Zusammenfassung

Der Grundgedanke der vorliegenden Arbeit lautet: Leiden gehört zum Menschsein und es

liegt in der Natur des Menschen, dass er leidet. Dieses Leiden umfasst alle Bereiche des

Daseins. Untermauert wird diese Behauptung durch viele Beispiele aus der Geschichte und

Kunst, aus der Religion, aus dem Alltag des Menschen. Der unterschiedliche Umgang mit

dem Leiden – von Akzeptanz bis Verleugnung – ist ein Thema dieser Arbeit. Die Frage,

welche Antworten die Existenzanalyse zum Thema Leiden geben kann, wird untersucht. Die

Existenzanalyse nimmt sich dieses Leidens an. Sie ist eine Methode, die dem Leiden einen

Platz einräumt, sich mit ihm auseinandersetzt und den Patienten dazu befähigt, das erlittene

Leid einzuordnen, es zu verstehen und letztendlich zu integrieren, um ein selbstbestimmtes

Leben zu gestalten. Um dieses Ziel zu erreichen, bedient sich die Existenzanalyse unter

anderem des Strukturmodells der vier Grundmotivationen, sowie des Prozessmodells der

Personalen Existenzanalyse (PEA). Berücksichtigt werden in der Reflexion die

Schwierigkeiten der Betroffenen, ihr Leid überhaupt zu benennen und die Bedingungen,

unter denen eine Psychotherapie gelingen kann. Persönliche Erfahrungen in der eigenen

Biographie, Veränderung im Bezug zum Leiden in der Ausbildung und in der Tätigkeit als

Psychotherapeutin runden die Arbeit ab. Schlüsselwörter:

Leiden, Existenzanalyse, Grundmotivationen, PEA, Akzeptanz, Verleugnung

Summary

The basic consideration of the present thesis is: Suffering belongs to the human being and it

is the nature of mankind to suffer. This suffering is present in all areas of existence. This

statement is supported by many examples from history and art, from religion, from the

everyday life of people. The various kinds of dealing with the suffering – from acceptance to

denial – are an issue in the current paper. The question, which answers the Existential

Analysis can offer to the topic of suffering, will be examined. Existential Analysis is a method,

which gives room for suffering, which deals with it, and enables the patient to classify the

endured suffering, to understand and at long last to integrate it, so he can shape his life in a

self-determined way. In order to reach this target, the Existential Analysis applies amongst

other things the structural model of the four fundamental motivations and the process

model of the Personal Existential Analysis (PEA). In the reflection also the difficulties of the

affected people to name their suffering and the conditions for the success of psychotherapy

are considered. Personal experience in the own biography, changes related to suffering in

the education and the work as a psychotherapist round off my final thesis.

Key words:

Suffering, Existential Analysis, fundamental motivations, Personal Existential Analysis,

acceptance, denial

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Inhalt

1 Vorwort ............................................................................................................................... 6

2 Aufbau der Arbeit ............................................................................................................... 6

3 Einleitung ............................................................................................................................ 7

4 Ein geschichtlicher Querschnitt .......................................................................................... 7

4.1 Das Altertum ................................................................................................................ 7

4.2 Die Neuzeit .................................................................................................................. 8

5 Ein religiöser Querschnitt.................................................................................................... 8

5.1 Buddhismus ................................................................................................................. 9

5.2 Die anderen Weltreligionen ........................................................................................ 9

5.3 Kreuzweg und Kardinal König ...................................................................................... 9

6 Ein künstlerischer Querschnitt .......................................................................................... 11

6.1 Die Dichtkunst in der Antike ...................................................................................... 12

6.2 Die klassische Musik .................................................................................................. 12

6.3 Die bildende Kunst ..................................................................................................... 13

6.4 Die Literatur ............................................................................................................... 13

7 Die Philosophie und das Leid ............................................................................................ 14

7.1 Arthur Schopenhauer ................................................................................................ 14

7.2 Friedrich Nietzsche .................................................................................................... 14

8 Alltag des Leides, Leiden im Alltag .................................................................................... 15

8.1 Die Kindheit ............................................................................................................... 15

8.2 Die Jugend.................................................................................................................. 17

8.3 Der Erwachsene ......................................................................................................... 18

8.4 Das Alter .................................................................................................................... 19

8.5 Das Leiden in den Medien ......................................................................................... 20

9 Nach der Jahrtausendwende ............................................................................................ 21

9.1 Die Vereinigten Staaten ............................................................................................. 21

9.2 Europa ........................................................................................................................ 21

9.3 Die Gegenwart ........................................................................................................... 22

9.4 Aktuelles .................................................................................................................... 24

10 Die Bedeutung des Leides in der Psychologie und Medizin .......................................... 26

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11 Das Leiden in der Existenzanalyse (und Logotherapie) ................................................. 27

11.1 Sigmund Freud ........................................................................................................... 28

11.2 Viktor Frankl .............................................................................................................. 28

11.3 Alfried Längle ............................................................................................................. 29

11.4 Eine allgemeine Betrachtung ..................................................................................... 29

11.5 Copingreaktionen ...................................................................................................... 30

11.6 Die Psychotherapie .................................................................................................... 31

11.7 Vier Grundmotivationen ............................................................................................ 32

11.8 Die Personale Existenzanalyse (PEA) ......................................................................... 35

11.9 Tor des Todes ............................................................................................................. 36

12 Zwei Fallbeispiele .......................................................................................................... 36

13 Persönliches................................................................................................................... 38

14 Resümee und Schlussgedanken .................................................................................... 39

15 Danksagung ................................................................................................................... 40

16 Literaturliste .................................................................................................................. 41

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„Nur eine Hoffnung soll mir bleiben,

nur eine unerschüttert stehn:

solang der Erde Keime treiben,

so muss sie doch zugrunde gehen.

Tag des Gerichtes. Jüngster Tag!

Wann brichst du an in meiner Nacht?

Wann dröhnt er, der Vernichtungsschlag, mit dem die Welt zusammenkracht?

Ihr Welten, endet euren Lauf!

Ew´ge Vernichtung nimm mich auf!

Wann alle Toten auferstehn, dann werde ich in Nichts vergehn, in Nichts vergehn…“

Der fliegende Holländer; Oper von Richard Wagner, 1843 uraufgeführt in Dresden, 1. Akt

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1 Vorwort

Anfangs beschäftigten mich zwei Begriffe, mit denen ich in meiner Arbeit als

Psychotherapeutin immer wieder konfrontiert wurde: Leisten und Leiden. Das Erstgespräch

schloss oft mit der Frage: „Wann kann ich wieder arbeiten?“ Oder dem Wunsch: „Ich

möchte, dass alles wieder wie früher ist/wird, da habe ich funktioniert.“ Oder Ähnlichem.

Schienen diese Fragen auf den ersten Blick einen Gegensatz zum Leiden darzustellen, so

stellte sich bei genauerem Hinsehen heraus, dass Leisten in diesem Zusammenhang

eigentlich einen Teil des Themas Leiden ausdrückt. Oft schien es mir, dass sich die Klienten

selbst gar nicht darüber im Klaren waren, wie groß ihr Leidensdruck war. Sie kamen mit dem

Therapieziel einer Lösung für ihr Leid, ohne dieses jedoch genau definiert zu haben. Diese

wiederkehrenden Phänomene haben mich dazu bewogen, mich mit dem Thema Leiden

intensiver auseinander zu setzen.

2 Aufbau der Arbeit

Zum einen ist das Leiden schon immer Teil der menschlichen Erfahrung gewesen, zum

anderen hatte der Mensch auch schon immer ein ambivalentes Verhältnis zu diesem Thema.

Leiden ist allgegenwärtig und wird doch so wenig gesehen. Die vorliegende Arbeit geht von

dieser These aus, die durch viele Beispiele aus Geschichte und Kunst, Religion und Alltag

untermauert wird (Kapitel 4-9). Mein erstes Anliegen ist nun, mich auf die Spurensuche des

Leidens in den verschiedenen Bereichen des menschlichen Daseins zu begeben und ihm

einen Platz einzuräumen, ohne es zu bewerten. Das eigentliche Ziel der Arbeit beschäftigt

sich mit dem Beitrag, den die Existenzanalyse leisten kann, dem Leiden einen Stellenwert zu

verleihen (Kapitel 10-11). Meine Frage hierfür lautet: Welche Lösungsvorschläge kann die

existenzanalytische Methode den Betroffenen bieten, trotz des Leidens zu einem

selbstbestimmten Leben, zu ihrem Existenzvollzug, zu kommen. Berücksichtigt werden dabei

die Schwierigkeiten der Patienten im Umgang mit dem Thema, ihre Vermeidungstaktiken

und Copingstrategien. Ich untersuche die Bedingungen, die es braucht, um zu einem

Hinschauen zu kommen und versuche der Frage, wozu es überhaupt gut sein soll, sich mit

dem Leiden zu beschäftigen, auf den Grund zu gehen (Kapitel 11).

In einem weiteren Kapitel setze ich mich mit dem eigenen Umgang mit dem Leid

auseinander und schildere, wie mich die Ausbildung und meine Tätigkeit als Therapeutin im

Zugang zum und Umgang mit dem Leid verändert haben (Kapitel 13).

Ein Resümee meiner Gedanken zum Leiden im 21. Jahrhundert unter Berücksichtigung der

offenen Aspekte, sowie zwei Fallbeispiele aus meiner unmittelbaren Praxis runden die Arbeit

ab (Kapitel 12 und 14).

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3 Einleitung

In der Psychotherapie sind wir, wie in anderen Gesundheitsberufen, überwiegend mit der

leidvollen Seite des menschlichen Daseins konfrontiert. In der Leistungsgesellschaft, die

geprägt ist von einem Drang zur Selbstoptimierung, der mittlerweile erschreckend

wahnhafte Züge annimmt, findet dieses Leid keinen Platz. Obwohl dieser Zwang an sich das

Leidvolle impliziert; sprechen wir hier ja nicht von Optimierungslust, also einem liebevoll

zugewandten Umgang mit sich selbst. Auf den ersten Blick scheint es sich vielleicht lediglich

um einen äußeren Vorgang zu handeln, ein zweiter Blick verrät jedoch sehr schnell, dass da

ebenso im Inneren des Menschen, in seiner Psyche ein Ungleichgewicht herrscht, das seinen

Ausdruck in einer mehr oder weniger stark manipulierten und unechten Darstellung sowohl

des äußeren als auch des persönlichen Escheinungsbildes findet. Diese Momentaufnahme

der 2000er Jahre verleitet zu einer schnellen Antwort, nämlich, dass der Umgang mit dem

Leiden weniger denn je zeitgemäß ist. Was ich jedoch schon an dieser Stelle sagen kann, ist,

dass Leiden aktueller ist als wir uns vielleicht bewusst sind.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Leiden zwar schon immer existierte, ein Umgang

mit dem Thema jedoch weder verbrieft noch sonst irgendwie überliefert ist.

4 Ein geschichtlicher Querschnitt

Die Geschichte beschränkt sich in ihrer Darstellung des Geschehenen mehr auf ein „Was hat

sich ereignet?“, und wenig auf ein „Wie erging es den Menschen dabei?“; so bleibt das

Leiden der Menschheit weitgehend unbeschrieben. Ich versuche in meinen willkürlich

herausgegriffenen Beispielen etwas davon gleichsam herauszufiltern und zu den Fakten

dazuzustellen.

4.1 Das Altertum

Über das Leiden der Steinzeitmenschen ist nichts bekannt; die 37.000 Jahre alten

Höhlenmalereien geben nicht wirklich Aufschluss über deren Gefühlswelt. Wir wissen, dass

diese einem andauernden Überlebenskampf ausgesetzt waren. Es ist anzunehmen, dass

diese physischen Belastungen auch ihre psychische Entsprechung fanden. Dass einige dieser

Hominiden nicht auf natürliche Weise, oder durch eines der damals lebenden gefährlichen

Tiere den Tod fanden, sondern durch die Hand eines Zeitgenossen, gilt aufgrund von

Knochenfunden, deren Schädel eingeschlagen waren, als erwiesen. „Homo homini lupus“

(Der Mensch ist dem Menschen Wolf); nimmt man Thomas Hobbes (1588-1679) Aussage

wörtlich, so passt das perfekt zu der Schlussfolge, dass schon immer der Mensch sein

eigener größter Feind ist. Demzufolge trägt er zumindest eine Mitverantwortung für das Leid

in der Welt.

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Die in der Frühbronzezeit 3000 v. Chr. entwickelte und im 19. Jh. entschlüsselte Keilschrift

liefert als älteste erhaltene Aufzeichnungsart ebenso mehr Namen und Zahlen als

Informationen über den seelischen Zustand der damals Lebenden. Dass der frühe Mensch

seine Toten jedoch nach bestimmten Riten und Vorschriften bestattete, ihnen Gräber baute

und Grabbeigaben mit auf die Reise ins Jenseits gab, lässt den Schluss zu, dass ihm neben

dem Glauben an ein Leben im Jenseits zumindest die Ahnung einer anderen Dimension als

der rein körperlichen, innewohnte. Eindrucksvoll wird uns dies anhand der ägyptischen

Pyramiden vermittelt als ein Sinnbild des Wunsches, es möge nach dem Ableben irgendwie –

womöglich in einer anderen Welt – weitergehen, weil der Gedanke an eine „endgültige

Endlichkeit“ für diese Menschen so schwer aushaltbar war. Das ist allerdings nur eine der

vielen Interpretationsmöglichkeiten; wir wissen es eigentlich nicht.

4.2 Die Neuzeit

Die Geschichte unserer Vorfahren ist immer wieder mit Kriegen verbunden. Dass Krieg einen

leidvollen Zustand für eine Gesellschaft bedeutet, kann man als gegeben ansehen. Die Frage,

ob neben den Opfern auch die Täter leiden, ist nicht so schnell zu beantworten. Die

besondere Schwierigkeit bei Ereignissen, die mehrere Menschen betreffen, ist, dass der

Einzelne diese individuell erlebt, es also genau genommen keine objektive Sicht der Dinge

gibt. Einem Außenstehenden ist es vielleicht möglich, eine wertfreie, neutrale Perspektive

einzunehmen, ihm fehlen unter Umständen Details, weil er nicht Teil der eigentlichen

Geschichte ist. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass auch eine neutrale Person, durch eigene

Vorerfahrungen geprägt, keine wirklich objektive Aussage tätigen kann.

5 Ein religiöser Querschnitt

Der Glaube ist – wie das Leid – untrennbar mit der Menschheit verbunden und fand schon

immer seinen Niederschlag in den verschiedenen Religionen.

Die Naturgötter, aber auch die Götter in der Antike waren unberechenbar und mussten

durch Gebete, Riten und Opferungen günstig gestimmt werden, eine Garantie für den Erfolg

gab es trotzdem nicht. Sie waren die Herrscher über Gedeih und Verderb der Sterblichen,

eigentlich eine ausweglose Situation, die unsere Vorfahren bewältigen mussten. Und

trotzdem müssen sie einen Weg aus der Misere gefunden haben, der sie vor dem Aufgeben

und Aussterben bewahrt hat. Vielleicht haben sie eine innere Kraft gespürt, die sie

weitermachen und das Leid irgendwie überwinden ließ, weil das Leben für die Menschheit

schon immer einen Wert darstellte. Oder, es verhielt sich ganz einfach: Der dem Menschen

eigene Überlebenstrieb hat letztendlich für das Fortbestehen des Menschen gesorgt.

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Die Religion hingegen hat das Leiden als wesentlichen Bestandteil in ihre Lehren einbezogen,

es entsteht der Eindruck, Glaube bzw. Religion „ist“ Leiden. Die Frage, ob es überhaupt einen

Gott gibt, ist und bleibt eine philosophische und theologische, das Leid hingegen ist Realität.

5.1 Buddhismus

Der Buddhismus, mehr eine Philosophie als eine Religion, hat in der Verwerfung des Lebens

eine Antwort auf dessen Sinn gefunden – Leid des Leidens, Leid der Veränderung, Leid der

Bedingtheit – bedeutet Leben ist Leiden. Auch, wenn den Gläubigen ein Weg aus dem Leiden

in Aussicht gestellt wird, beinhalten die sogenannten „Vier edlen Wahrheiten“ das Leid in

seiner ganzen Dimension.

5.2 Die anderen Weltreligionen

Religion hat also immer mit Leiden zu tun? Es scheint so, fügen sich das Christentum und der

Islam ebenfalls in diese Tradition, wie auch das Judentum als Vorläufer beider

Weltreligionen. Im Islam soll der Glaube an die Vorherbestimmung dem Gläubigen

Schicksalsschläge erleichtern. Der Tod ist im Islam der Übergang in eine andere Stufe der

Existenz. Im Jenseits ernten die Muslime die Früchte ihrer Taten. Mit dem Konzept „Leiden

im Diesseits, Belohnung im Jenseits“ schließt sich der Islam den monotheistischen Religionen

an.

Da wir in unserer westlichen Welt überwiegend der christlichen Kirche angehören, soll dieser

Glaubensgemeinschaft eine längere Betrachtung eingeräumt werden. Das Leben und Wirken

Jesu befasste sich – so scheint es – ausschließlich mit dem Leiden seiner Mitmenschen. Er

predigte die Nächstenliebe, heilte Kranke und brachte damit die Möglichkeit einer

Überwindung des Leides im Hier und Jetzt herein.

Die Frage nach dem Sinn des Leidens ist eine ewige Frage der Menschheit. Die Theodizee

(griech: Gerechtigkeit Gottes), ein von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) geprägter

Begriff, geht der Frage nach, warum Gott in seiner Allmächtigkeit das Leiden zulässt. Sie hat

bis heute keine allgemein gültige Antwort gefunden, wie auch die Glaubensrichtung per se

dazu keine eindeutige Auskunft gibt. Die mögliche Antwort ist eng verbunden mit der

Auslegung ihrer Dogmen durch die Gläubigen und deren Religionsvertreter.

5.3 Kreuzweg und Kardinal König

Zum Thema Leiden gab Kardinal König (1905-2004) anlässlich eines Vortrages am

Symposium „Von der Erkenntnis des Leides“ im Stift Altenburg im Juni 1988 folgende

Antwort:

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„Ihrer Einladung entsprechend und im Sinne Ihres Symposiums ist es meine Aufgabe, auch

eine Antwort zu versuchen – als Mensch und als Christ – auf die Frage, die das Leid an uns

richtet. Das Leid als menschliche Grunderfahrung im Leben eines jeden von uns erhält seine

besondere Note gerade in unserer und durch unsere Zeit. Es ist dies nicht nur

hineingeschrieben in die Konzentrationslager und Gefängnisse der jüngsten Vergangenheit;

nicht nur hineingeschrieben in die endlosen Friedhöfe der Kriege und blutigen Kämpfe in

weiterer und jüngerer Vergangenheit, bis herauf in unsere Gegenwart. Ich hoffe im Sinne

Ihrer bisherigen Vorträge und Gespräche das Leid, im Gegensatz zu Liebe und Freude, nicht

nur als Begriff oder als theoretisches Phänomen zu deuten, sondern als je persönlich

zugefügtes Böses, mit all dem, was persönlich kränkend und verletzend ist. So wie Krankheit

und Schicksalsschläge, so wie Angst und Verzagtheit zum Leben des Menschen gehören, so

sind Leid und Tod ein wesentlicher Bestandteil der conditio humana.“

Später in seiner Ansprache lieferte Kardinal König folgende Erklärung:

„Einen Schritt weiter führt die Erkenntnis, dass Leiden einen fürbittenden und erlösenden

Wert hat. Das wird etwa in der Gestalt Moses sichtbar, wenn er sein von Leid und Schmerz

zerrissenes Leben hingeben will, um sein schuldig gewordenes Volk zu retten. Bei Jesajas

kommt es zu einer neuen Beschäftigung mit dem Knecht Jahwes. Der Knecht Jahwes ist im

Alten Testament ein Ehrentitel. Dieser soll das Leid in all seinen ärgerniserregenden Formen

erfahren. Er wird von Jesaja geschildert als Mann der Schmerzen, der nicht einmal mehr das

Mitleid erregt. Die Schuld liegt aber nicht bei ihm, sondern bei uns Menschen. Darin liegt der

Höhepunkt des Ärgernisses. Alles Leid und alle Sünden der Welt werden auf den Knecht

Gottes bei dem Propheten Jesajas geladen. Und weil der das alles im Gehorsam auf sich

nimmt, erlangt er für alle Frieden und Heil. Von dem eindrucksvollen Messiasbild des alten

Bundes, im Vorentwurf der Propheten, werden wir zu Jesus und den Schriften des Neuen

Bundes geführt, um unserer Frage nachzugehen und um eine erhellende Antwort zu finden.“

Und weiter: „So wird das Leid zugleich ein Mittel der Reinigung des Glaubens: es kann den

Menschen lösen von der selbstsüchtigen Weltgebundenheit und ihn freimachen für die

größeren Zusammenhänge zwischen der Vergänglichkeit des Irdischen und einem

Hinüberweisen auf eine andere Existenz, einem Leben ohne Tod. Aus dieser anderen Welt ist

Christus gekommen, um dafür Zeuge zu sein und Wegweiser zugleich; damit alle, die an ihn

glauben, Lebensgemeinschaft haben mit ihm.“

Ist die Bibel an sich schon ein Buch voller Gewalt, so versteht es die katholische Kirche in

ihrer Auslegung des Alten und Neuen Testaments zusätzlich den Schuldbegriff untrennbar

mit dem Leid zu verbinden. Die Auswirkung dieser Sichtweise auf die gläubigen Katholiken

bleibt hier unbesprochen, die Schuldfrage verdient ein eigenes Sich-Auseinandersetzen.

Jedes Jahr wird zu Ostern, dem höchsten Fest im Kirchenjahr des Leidens und der

Auferstehung Jesu Christi gedacht. In den 14 Kreuzwegstationen (lat. Via dolorosa, dt. Der

Leidensweg) wird anschaulich bebildert, welches Leid Jesus vor seiner Hinrichtung

durchlaufen musste.

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1. Jesus wird zum Tode verurteilt

2. Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern

3. Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz

4. Jesus begegnet seiner Mutter

5. Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz zu tragen

6. Veronika reicht Jesus das Schweißtuch

7. Jesus fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz

8. Jesus begegnet den weinenden Frauen

9. Jesus fällt zum dritten Mal unter dem Kreuz

10. Jesus wird seiner Kleider beraubt

11. Jesus wird ans Kreuz genagelt

12. Jesus stirbt am Kreuz

13. Jesus wird vom Kreuz genommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt

14. Der heilige Leichnam Jesu wird in das Grab gelegt

Die Kreuzigung Jesu verweist nicht zuletzt auf einen „schlagenden“ Gott (Halbfas 2010, 134).

Das Kreuz ist Sinnbild des zu (er)tragenden Leides im Diesseits. Vertrieben aus dem Paradies

ist der Mensch dazu verdammt, seine Sünden zu büßen, Erlösung von seinem Leiden wird

ihm erst im Jenseits zuteil. Diese Auffassung lässt allerdings die Frage offen, wie das Leiden

zu ertragen ist.

6 Ein künstlerischer Querschnitt

Ganz allgemein betrachtet, ist die Fähigkeit zum künstlerischen und kreativen Ausdruck

jener Bereich des menschlichen Daseins, den man als ausgleichendes Geschenk an den

Menschen für sein Leiden-Müssen ansehen kann.

Wie kaum auf einem anderen Gebiet, so findet der Mensch in der Kunst und Literatur eine

Möglichkeit, seinen Gefühlen, Ausdruck zu verleihen. Der Künstler stellt sein Werk, etwas,

das aus ihm entsteht und daher auch etwas von ihm in sich trägt, dem Betrachter und

Zuhörer zur Verfügung und gewinnt so eine Distanz zu seinen inneren Vorgängen, die

durchaus schmerzvoll sein können. Der Zuhörer oder Betrachter wiederum hat Gelegenheit

in sicherem Abstand einem Echo, das das Werk in ihm auslöst, nachzuspüren, es zu

reflektieren. Erleichterung im Leid kann er im besten Fall durch ein Berührt-Werden des

Dargestellten erfahren.

Dieser Prozess läuft scheinbar nachhaltiger über die Tragödie, also über das Leid, als über die

Komödie, also die Freude ab. (Anm.: Tragödie und Komödie sind hier nicht nur im

eigentlichen, sondern auch in metaphorischem Sinne gemeint.)

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6.1 Die Dichtkunst in der Antike

Einen möglichen Beweis dafür liefert ca. 460 v. Chr. die griechischen Tragödie. Sie behandelt

die schicksalhafte Verstrickung des Protagonisten, der in eine so ausweglose Lage geraten

ist, dass er durch jedwedes Handeln nur schuldig werden kann. Die herannahende sich

immer deutlich abzeichnende Katastrophe lässt sich trotz großer Anstrengung der

handelnden Personen nicht abwenden.

Auch die Römer hinterließen hierzu viele Beispiele. Der 43 v. Chr. geborene Ovid (eig. Publius

Ovidus Naso) zählte neben Vergil und Horaz zu den größten Poeten der klassischen Epoche.

Bekannt wurde er vor allem durch seine „Metamorphosen“. Es handelt sich dabei um

Verwandlungsgeschichten, nach griechischem Vorbild, die meisten davon enden tragisch.

Wird das Schicksal für erlittenes Unglück verantwortlich gemacht, gibt der Mensch die

Gestaltung seines Lebens eigentlich aus der Hand.

6.2 Die klassische Musik

Ein sehr anschauliches Beispiel aus der Musik ist die Oper „Carmen“ von Georges Bizet

(1838-1875); obwohl als „oper comique“ konzipiert, ist sie alles andere als komisch. Die

Protagonistin Carmen und ihr Geliebter, und dann kurzerhand durch den Stierkämpfer

Escamillo ersetzte Sergeant Don José, durchlaufen alle Stufen psychischer und physischer

Abgründe. Die in Sevilla spielende Oper endet schließlich für die Frau letal. Dieser Oper ist

etwas gelungen, was nur selten stattfindet. Ihre Musik hat den Weg in den Mainstream

gefunden. Viele ihrer Lieder sind heute quasi Allgemeingut, sie werden in verschiedenen

Interpretationen gesungen. Es ist die Geschichte einer unglücklichen Liebe, die vermutlich

niemandem fremd ist.

Auch den Wagner-Helden ergeht es schlecht! So wie Siegfried, der Drachentöter,

letztendlich von seinem Gegenspieler Hagen von Tronje gemeuchelt wird, ist der Ring der

Nibelungen, deren Grundlage das Nibelungenlied bildet, eine Geschichte voller Gewalt und

Leiden, an und durch Frauen gleichermaßen wie an und durch Männer.

Richard Wagner (1813-1883) ist ein Meister der Inszenierung des menschlichen Leidens,

seine Musik unterstreicht die Dramatik perfekt. Jedes Jahr pilgern auch heute noch

ungefähr 2000 Wagnerianer und Wagnerianerinnen nach Bayreuth zu den Festspielen.

Das alles lässt die Schlussfolgerung zu, dass der Mensch sehr gut über das Leid affiziert

werden kann, weil das eine Erfahrung ist, die er gut kennt. Das Tragische, das Dramatische,

das Traurige haben ihre Faszination offensichtlich nie verloren. Wird es auf einer Bühne –

also in einer Distanz zum Betroffen-Sein – dargestellt, ist es wahrscheinlich leichter zu

ertragen; ob es zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Leid kommt, hängt vom

Erleben des Einzelnen ab.

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6.3 Die bildende Kunst

Exemplarisch in der bildenden Kunst ist das sehr bekannte Gemälde „Der Schrei“ von Edvard

Munch (1863-1944). Es zeigt eine menschliche Figur unter rotem Himmel, die ihre Hände

gegen den Kopf presst, während sie Mund und Augen angstvoll aufreißt. Die

Bildbeschreibung soll sich mit einem Tagebucheintrag des Künstlers vom 22. Jänner 1892

decken. Dort heißt es: „Ich ging mit zwei Freunden die Straße entlang – die Sonne ging unter

– ich fühlte einen Hauch von Wehmut. Der Himmel färbte sich plötzlich blutig rot – ich blieb

stehen, lehnte mich todmüde gegen einen Zaun – sah die flammenden Wolken wie Blut und

Schwerter – den blauschwarzen Fjord und die Stadt. Meine Freunde gingen weiter – ich

stand da, zitternd vor Angst und ich fühlte, wie ein langer, unendlicher Schrei durch die

Natur ging.“ (Originaltagebücher des Malers)

Von Vincent van Gogh (1853-1890) stammen einige Gemälde, die anschaulich das

menschliche Leid zeigen. Neben dem im Jahre 1882 entstandenen Bild „Trauernder alter

Mann“ ist wohl das „Self-Portrait with a Bandaged Ear“ das bekannteste. Das Abschneiden

des eigenen Ohres ist selbstzerstörerisch und bedeutet eine Selbstverstümmelung. Das ist

ein eindeutiger Hinweis auf ein enormes inneres psychisches Leid des Malers.

Die Schüttbilder des Malers und Aktionskünstlers Hermann Nitsch sind für mich ebenfalls

Ausdruck eines inneren Schmerzes. Und das nicht nur wegen der Verknüpfung von (echtem)

Blut und religiösen Inhalten. Am besten wird dieser in den „Orgien-Mysterien-Spielen“

nachvollziehbar. Sie gehen – wie so vieles – auf die griechische Tragödie zurück, auf die

Mythen und Katastrophen der Nibelungen und vieles mehr.

Es sind scheinbar immer wieder dieselben Themen, die den Menschen bewegen, es ist das

ungelöste Thema des Leides, gleichzeitig bleibt der Mensch auch ein unerlöster.

6.4 Die Literatur

In der Literatur ist Shakespeare (1564-1616) ein gutes Beispiel für den dichterischen

Ausdruck des Themas. Er nimmt sich der Tradition der griechischen Tragödie an. Seine

Theaterstücke umfassen neben Komödien und Romanzen eine Vielzahl an Dramen und

Tragödien, die traurige Geschichte von „Romeo und Julia“ zählt auch heute noch zu den

bekanntesten Schilderungen.

Auch einem Johann Wolfgang von Goethe war das Leid nicht fremd. Schon im Titel weist sein

Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ auf den traurigen Inhalt hin. Da berichtet der

junge Rechtspraktikant Werther bis zu seinem Suizid über seine unglückliche

Liebesbeziehung zu der mit einem anderen Mann verlobten Lotte.

Die Liste der Berühmtheiten, die dem eigenen oder fremden Leiden in ihren Werken Gestalt

verliehen, lässt sich endlos fortsetzen. Die Theater und die Museen und die Bücher sind voll

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von menschlichem Leid!

7 Die Philosophie und das Leid

Aus dem Genre der Philosophie möchte ich exemplarisch zwei Philosophen herausgreifen:

Arthur Schopenhauer (1788-1860) und Friedrich Nietzsche (1844-1900).

7.1 Arthur Schopenhauer

Rüdiger Safranski beschreibt in seinem „Schopenhauer und Die wilden Jahre der

Philosophie“ (Safranski 2010) Biographisches, das schon einen Zug in Richtung zum ihm

später nachgesagten Pessimismus aufweist.

„Nach dem Rausch der Höhe die Mühe der Ebene. Das Flachland ruft. Am Ende der Reise

droht das Comptoir, wo der Teufel auf die Seele des Weltenbummlers wartet, zunächst in

Gestalt des Großkaufmanns Kabrun in Danzig, dann als Senator Jenisch in Hamburg. Die

letzten Wochen der Reise sind bereits von diesen düsteren Aussichten überschattet. Man

merkt es am Stil der Aufzeichnungen im Reisetagebuch. Mit Ausnahme der Bergbesteigung

im Riesengebirge sind die Eintragungen flüchtig, lustlos, routiniert. Die allerletzte Eintrag

vom 25. August 1804 lautet: ‚…Im Himmel ist Ruhe. Alles endet hienieden.‘

Dann folgt von selbst, dass ein solcher Mensch, der in allen Wesen sich, sein innerstes und

wahres Selbst erkennt, auch die endlosen Leiden alles Lebenden als die seinen betrachten

und so den Schmerz der ganzen Welt sich zueignen muss. Ihm ist kein Leiden mehr fremd…

Er erkennt das Ganze, fasst das Wesen derselben auf und findet es in einem steten Vergehn,

nichtigem Streben, innerem Widerstreit und beständigem Leiden begriffen, sieht, wohin er

auch blickt, die leidende Menschheit und die leidende Thierheit, und eine hinschwindende

Welt….“ (ebd., 85)

Wenn man diese Zeilen liest, wird die ganze Intensität eines Leidenden spürbar.

Schopenhauer ist im Gegensatz zu seinem Artgenossen Nietzsche sehr alt geworden.

Vielleicht hat der „Wille“, der in seinen Schriften immer wieder vorkommt (siehe z. B.: Die

Welt als Wille und Vorstellung) das notwendige Gegengewicht zur lebensverneinenden

Grundhaltung gebildet?

7.2 Friedrich Nietzsche

Die heroische Bejahung des Leides ist die bekannte Antwort Friedrich Nietzsche.

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In seinem „Jenseits von Gut und Böse“ (Nietzsche 1999) schlägt er sich mit den

Grausamkeiten des Lebens herum. Da ist keine Hoffnung auf Erlösung, keine Möglichkeit,

dem Leid zu entrinnen und trotzdem sind seine Schriften von eigenartiger Schönheit und

gleichzeitig berührt die Verzweiflung des Philosophen.

„Sich gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der Ausbeutung enthalten, seinen Willen dem

des Anderen gleichsetzen: dies kann in einem gewissen groben Sinne zwischen Individuen

zur guten Sitte werden, wenn die Bedingungen dazu gegeben sind (nämlich deren

tatsächliche Ähnlichkeit und Kraftmengen und Wertmaßen und ihre Zusammengehörigkeit

innerhalb Eines Körpers). Sobald man dies Prinzip aber weiter nehmen wollte und

womöglich gar als Grundprinzip der Gesellschaft, so würde es sich sofort erweisen als Das,

was es ist: als Wille zur Verneinung des Lebens, als Auflösungs- und Verfallsprinzip. Hier

muss man gründlich auf den Grund denken und sich aller empfindsamen Schwächlichkeit

erwehren: Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden

und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und

mindestens Ausbeutung – aber wozu sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen,

denen von alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist?“ (ebd., 1014)

Betrachtet man dieses Kaleidoskop an Beispielen, entsteht der Eindruck, das Leid sei zugleich

Ursprung und Notwendigkeit, Bedeutendes und Bleibendes zu schaffen. Kunst macht Kultur,

Kultur schafft Identität und diese Identität ist Voraussetzung für ein Erleben von Werten.

Diese Werte wiederum sind eine treibende Kraft in unserem Leben. Ob das Leid dafür

notwendig ist, ist schwer festzustellen; es durchdringt den Menschen von Zeit zu Zeit, und

bei manchen findet es seinen Ausdruck in der Kunst. Wieviel Absicht dahinter steht, dem

Leid eine Antwort zu geben, ist nicht beweisbar. Außer vielleicht durch den Künstler selbst.

8 Alltag des Leides, Leiden im Alltag

8.1 Die Kindheit

Wird ein Kind geboren, markiert der erste Schrei den Beginn eines Lebens als etwas Vitales

und Erfreuliches. Während man bei der Frau von „Geburtswehen“ spricht, ist noch nicht

geklärt, wie das Neugeborene dieses In-die-Welt-Geworfen-Werden erlebt. Leidet es

darunter aus dem dunklen warmen Uterus ins grelle kalte Licht des Lebens gestoßen zu

werden? Es ist anzunehmen, dass uns Menschen das Leiden schon in die Wiege gelegt wird.

Auch die Freude der Eltern bleibt nicht ungetrübt. Wer in Wien mit öffentlichen

Verkehrsmitteln unterwegs ist, hat sicher schon die Empörung der Umwelt erlebt, wenn ein

Kind schreit. Sind die Mutter oder der Vater nicht nervenstark, dies zu ignorieren, lernt das

Baby seine erste Lektion: Weinen ist unerwünscht. Ausgehend von der Prämisse, dass ein

Kind nicht einfach so schreit, sondern, dass dies die ihm einzig zur Verfügung stehende

16

Möglichkeit ist, seinem im Moment durchlebten Leid Ausdruck zu verleihen, ist da im Alltag

wenig Platz für diese menschlichen Regung. Es ist noch keine hundert Jahre her, dass

Neugeborene ihre Tage eingewickelt in ein Kissen irgendwo in einem Zimmer schlafend –

oder auch schreiend – verbrachten und nur zum Stillen geholt wurden in der Annahme, ein

Neugeborenes würde ohnehin nichts von dieser seiner Welt mitbekommen. Heute wissen

wir sehr viel mehr über die Entwicklung unserer Kinder. Der Umgang mit dem Leiden bleibt

trotzdem ein komplizierter.

Die Not des Kindes, die im Weinen und Schreien ihren Ausdruck findet, erzeugt sowohl auf

Seiten des Kindes, als auch auf Seiten des Erwachsenen ein Erleben der eigenen Hilflosigkeit.

Dazu schreibt Arno Gruen in seinem Buch „Der Verrat am Selbst“ (Gruen 2018, 93): „Wenn

das Kind nie zu spüren bekommt, dass es um seiner selbst willen geachtet und geliebt wird,

wird aus der Hilflosigkeit, mit der es auf allen seinen Entwicklungsstufen konfrontiert ist,

eine unaufhaltsame Angst.“

Und später: „Das Entscheidende ist, dass viele Frauen trotzdem immer bereit waren, auf die

Hilflosigkeit ihrer Kinder einzugehen. Die Hilflosigkeit des Säuglings, eingebettet in die

Lebendigkeit und Freude der Mutter, wird nicht als Bedrohung oder Druck erfahren. Sie

führt für das Kind zur Entdeckung, dass ihm geholfen wird, die Welt zu erfassen und zu

erreichen. Gleichzeitig führt eine solche Empfänglichkeit einer Mutter – durch ihr Erleben

der eigenen Kreativität – zur Verlässlichkeit und Erweiterung ihrer empathischen

Fähigkeiten. Dieses Entfalten der empathischen Wahrnehmungsfähigkeit fördert nicht nur

das Wachstum des Kindes durch die angemessene Antwort auf seine Bedürfnisse, sondern

verstärkt auch die Gefühle der Mutter für Angemessenheit, Kraft und Freude.“ (ebd., 95)

Gemeint ist hier, dass Frauen im Allgemeinen eher gewöhnt sind, mit Leid umzugehen und

es auszuhalten, weil sie als Mütter immer wieder mit dem Leid ihrer Kinder konfrontiert

sind.

Positiv ist zu bemerken, dass seit 1984, dem Erscheinungsjahr des Buches, mittlerweile

Männer und Väter die Erfahrung der Anstrengung, dem kindlichen Leiden adäquat zu

begegnen, mit den Frauen und Müttern teilen.

Das Erleben einer Hilflosigkeit als Reaktion auf das eigene oder fremde Leid ist ein Gefühl,

auf das wir immer wieder zurückfallen. Die Antwort auf Leiden ist hier – wenn auch ein

anderes – wieder Leiden.

Geht man in der Entwicklung des Kindes einen Schritt weiter und beobachtet den Umgang

mit Kleinkindern, so kann man zunehmend eine Tendenz zum „schnellen Trösten“

feststellen. Das Leid wird nicht benannt, sondern es wird dem Kind suggeriert, möglichst

rasch von diesem unangenehmen Gefühl wegzugehen. Das Leiden wird als „nicht so

schlimm“ bezeichnet bzw. es wird überhaupt ignoriert. Damit gilt für das Kind die subtile

Botschaft: „So bist du eine Belastung.“ – und letztendlich: „So darfst du nicht sein!“ Mit jeder

Wiederholung dieser Reaktion der Bezugsperson wird der Weg in eine Leiderfahrung

17

geebnet, die die Person auch noch dann in ihrem Denken und Handeln negativ beeinflusst,

wenn sie schon lange erwachsen ist.

8.2 Die Jugend

Der folgende Ausschnitt eines Beitrages mit dem Titel „Phänomenologische Analyse von

Vorbildern für Leiderfahrungen Jugendlicher“, geschrieben von Ekatarina Sveshnikova (2016)

wirft ein gutes Bild auf psychologische Probleme, denen Psychotherapeuten dann später in

ihrer Arbeit mit Jugendlichen begegnen: „Leiderfahrungen im Sinne der Existenzanalyse ist

ein Prozess tiefer persönlicher Verarbeitung eines Verlustes von grundlegenden

Existenzbedingungen. Bei modernen Jugendlichen, die psychologische Hilfe suchen, zeigt

sich oftmals das Vorherrschen psychodynamischer Muster im Umgang mit einem Verlust

und das Fehlen persönlicher Verarbeitung einer Lebenssituation. Wir nehmen an, dass dies

durch die Tatsache bedingt ist, dass es in ihrer Lebenserfahrung keine nennenswerten

Beispiele von persönlicher Leidverarbeitung, an welchen sie sich orientieren können, gibt.“

(Sveshnikova 2016, 25)

Meiner Generation hat die Jugendkultur Mickey Mouse und Coca-Cola gebracht. Die Eltern

und Lehrer fürchteten, die Comics würden zu einer Wortverarmung und der Konsum von

Cola zu Leberschäden führen. Beides ist nicht eingetroffen. Die Technisierung unserer Zeit

brachte den Kindern Video-Spiele, Smartphones und Social Media. Ego-Shooter (der Spieler

agiert aus der Ich-Perspektive in einer dreidimensionalen begehbaren Spielewelt und

benützt Waffen, mit denen er andere Spieler oder computergesteuerte Gegner bekämpft)

machen den Eltern und Lehrern Sorgen. Ein Zusammenhang zwischen diesen brutalen

Spielen und einer Zunahme an Aggressionen wird erforscht, ist aber nicht auszuschließen.

Instagram (ein werbefinanzierter Onlinedienst zum Teilen von Fotos und Videos) verkauft

eine Welt geschönter und gefakter (engl.: fake, für Fälschung) Charaktere. Die Jugendlichen

bewegen sich so in einem Kosmos vollkommener Abhängigkeit vom Urteil anderer

Altersgenossen. Erwachsene tun sich schwer mit dieser Realität, weil sie entweder selbst

darin zu verhaftet sind oder keinen Zugang zur Welt ihres Nachwuchses finden. Deren

Wirklichkeit ist folgerichtig geprägt von Bewertungen und Wertevorschreibungen anonymer

Teilnehmer. Es fällt leichter sich im Internet zu verstecken, und gleichsam aus dem

Hinterhalt ein negatives Urteil abzugeben. Schwäche und Leiden haben in diesem

Universum, so scheint es, wenig Berechtigung. So wird Z.B. die Bezeichnung „Opfer“ zum

Schimpfwort umfirmiert.

Es wird geliked (engl.: like, für gefallen), gedissed (engl.: dislike, für missfallen), gemobbt,

sogenannte Influencer (engl: to influence, für beeinflussen), das sind Menschen mit hoher

Präsenz in den sozialen Medien, geben den Takt vor. Was oft fehlt, ist eine ehrliche

persönliche Auseinandersetzung, wie auch im Artikel von Sveshnikova oben beschrieben.

Dieses Bearbeiten einer Flut von Informationen und Urteilen braucht unbedingt die Führung

18

Erwachsener und die Auseinandersetzung mit dem, was die Jugendlichen in ihrem Inneren

erleben. Dort, wo es unterlassen wird, bekommt das Leiden der Kinder und Jugendlichen

allerdings eine neue Dimension. Im schlimmsten aller Fälle wird ein Kind durch die ständige

öffentliche, und andrerseits nicht fassbare, weil oft anonyme, Entwertung in den Selbstmord

getrieben.

Als Trost bleibt uns Erwachsenen allenfalls die Hoffnung, dass andere Zeiten über kurz oder

lang auch Menschen mit den entsprechenden Anforderungen in die Welt bringen.

8.3 Der Erwachsene

Später, in der Arbeitswelt, wird der Leistungsdruck nicht geringer, die Folgen sind hier z. B.

als Diagnose Burnout bekannt. So als würde der Mensch aus Leidenschaft für eine Sache

verbrennen und nicht am Leiden selbst. In seinem Buch „Leben in der Arbeit? – Existenzielle

Zugänge zu Burnout-Prävention und Gesundheitsförderung“ verwenden die Autoren Alfried

Längle und Ingeborg Künz (Längle, Künz 2016, 29) unter anderem ein Stadienmodell nach

Freudenberger/North, um den Verlauf von Burnout zu beschreiben.

Stadium 1 Der Zwang, sich zu beweisen

Stadium 2 Verstärkter Einsatz

Stadium 3 Subtile Vernachlässigung eigener Bedürfnisse

Stadium 4 Verdrängung von Konflikten und Bedürfnissen

Stadium 5 Umdeutung von Werten

Stadium 6 Verstärkte Verleugnung der aufgetretenen Ergebnisse

Stadium 7 Rückzug

Stadium 8 Beobachtbare Verhaltensänderung

Stadium 9 Depersonalisation/Verlust des Gefühls für die eigene Persönlichkeit

Stadium 10 Innere Leere

Stadium 11 Depression

Stadium 12 Völlige Burnout-Erschöpfung

Schon beim Lesen spürt man mit jedem Punkt eine Zunahme des Leidensdruckes. Und

irgendwie erinnern diese 12 Stufen an die 14 Stationen des im vorigen Kapitel erwähnten

Kreuzweges. Im Überblick (Längle, Künz 2016, 21) ist Folgendes zu lesen: „Burnout ist eine

langdauernd zu hohe Energieabgabe für zu geringe Wirkung bei ungenügendem

Energienachschub.“ Die Autoren sehen als eine allgemeine Grundlage für Burnout, wenn

sich Stress mit dem Gefühl der Hilflosigkeit, der Ausweglosigkeit, einem Sich-gefangen-

Fühlen paart und diese Situation länger anhält bzw. chronisch wird.

Stress versperrt den Weg in einen Umgang mit Leid, könnte man da herauslesen. Oder, dass

der Patient sein Leiden gar nicht mehr im Blick hat. Sein Ziel ist vielleicht, das Leiden

loszuwerden, ohne ihm noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

19

8.4 Das Alter

Am Ende der aktiven Dienstzeit, in der Pension, warten neue Herausforderungen. Es scheint,

als bliebe wieder keine Zeit zu leiden oder dem Leiden nachzuspüren, und so einen

möglicherweise notwendigen Verarbeitungsprozess anzustoßen. Die Sechzig-plus-

Generation ist in der Reklame mehr denn je eine begehrte Zielgruppe für Konsumgüter und

Dienstleistungen. Apropos Werbung: Diese trägt ihren Teil zur Negation des Leidens insofern

bei, als sie mit ihren Produkten ein blitzartiges Verschwinden desselben in Aussicht stellt. Oft

mit der Botschaft unterlegt, dass kein Ausfall geduldet wird, man brauche ja nur die richtigen

Gegenmittel einzunehmen bzw. anzuwenden. Mittlerweile gilt das nicht nur mehr für

physische Beeinträchtigung, sondern immer öfter für psychische oder nicht geklärte

Symptome. Da besteht die Gefahr einer Bagatellisierung und eines vollkommenen Hinaus-

und Verdrängens menschlichen Leidens. Das ist für die Betroffenen doppelt schmerzhaft,

werden sie in ihrem Leid ohnehin wenig wahrgenommen und wenn doch, dann werden ihre

Symptome heruntergespielt und müssen möglichst schnell wieder verschwinden.

Ein anderes Licht als das glänzende wirft die enorme Zunahme des Pflegebedarfs auf die

älteren und alten Menschen. Die Tatsache, dass wir immer älter werden, hat auch ihre

Schattenseiten. Denn natürlich altern nicht alle Menschen ohne Krankheit und Leiden. Auf

dem Land lebten die Großeltern meistens bei ihren Kindern in der Großfamilie, die Pflege

oblag zwar schon immer überwiegend den Frauen, doch eingebettet (im wahrsten Sinne des

Wortes) in den Familienalltag war es vielleicht einfacher, das Leid der Angehörigen

gemeinsam zu tragen. Gibt es keine Alternative, zwingt die Realität eher zur Annahme des

Gegebenen, so scheint es.

Heute verschwinden die Pflegebedürftigen in Häusern, die sich Seniorenresidenz nennen,

oder sie werden durch eine 24-Stunden-Pflege versorgt und dürfen in den eigenen vier

Wänden die letzte Lebenszeit verbringen. Ich glaube, dass die meisten Probleme das

Anspruchsdenken der Verwandten mit sich bringt. Sie tun sich schwer, mit den

Veränderungen der Angehörigen zu Recht zu kommen. Ihr Gegenüber ist oft nicht mehr

dieselbe Person, die sie viele Jahre erlebten. Die Folge wiederum ist eine Hilflosigkeit;

diesmal erleben sie nicht die Eltern mit dem Kind, sondern die Kinder mit dem Elternteil. Das

Leid ist auf beiden Seiten groß, weil sie der Situation machtlos ausgeliefert sind und unter

Umständen nie den Umgang mit Unveränderlichem gelernt haben.

„Was einem bleibt: die nackte Existenz“ – schreibt Viktor E. Frankl in seinem Buch

„…trotzdem Ja zum Leben sagen“ nach der Schilderung seiner Ankunft im

Konzentrationslager (Frankl 2013, 33f).

„Während wir noch auf die Dusche warten, erleben wir so recht unser Nacktsein: dass wir

jetzt wirklich gar nichts mehr haben außer diesen unseren nackten Körper (unter Abzug

seiner Haare), dass wir jetzt nichts weiter besitzen als unsere buchstäblich nackte Existenz.

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Was ist noch als Bindeglied zu unserem früheren Leben geblieben? Mir z. B. die Brille und

der Gürtel…“ (ebd.)

Die Situation am Lebensende ist eine ähnliche; die Frage, was geblieben ist, sehr

gegenwärtig. Wenn nichts mehr möglich ist, so können wir immer noch „aushalten“, die

Situation mit den Betroffenen gemeinsam aushalten. Frankl hat diesem Phänomen in seiner

Logotherapie den Weg gewiesen (siehe Kapitel 9).

8.5 Das Leiden in den Medien

Neben dem Verdrängen des Leides existiert ein zweites Phänomen: Leiden wird

instrumentalisiert, indem sich Betroffene medienwirksam über erlittenes Unglück in

übertrieben theatralischer Pose ausbreiten. Dabei verliert das Geschehene an Echtheit und

Wahrheit; es berührt nicht (mehr). Man könnte nun den Betreffenden unterstellen, es ginge

ihnen ohnehin nicht um Mitgefühl, sondern lediglich um Aufmerksamkeit. Der Zuseher bleibt

ratlos.

Das Fernsehen bietet dem Konsumenten einige TV-Sender, deren Sendungen sich

hauptsächlich um das Leid der Menschen drehen. Da wird so viel Leid gezeigt, fast möchte

man sagen, zelebriert, und trotzdem lassen einen die Geschichten seltsam kalt. Ein Mehr an

Details dieser an sich sehr traurigen Schicksale schafft offensichtlich nicht automatisch ein

Mehr an Empathie.

Sendungen, in denen die Teilnehmer faktisch rund um die Uhr beobachtet werden, zeugen

von einem enormen inneren Druck der Menschen, die sich für dieses Format zur Verfügung

stellen. Schreien diese Teilnehmer förmlich nach dauernder Beachtung, weil das Leben sonst

nicht auszuhalten ist? Die Szenarien finden gänzlich im Oberflächlichen statt, der Zuseher

wiederum kann aus der Beobachterperspektive ungeniert und ungestraft seine (zumeist

negativen und bösartigen) Kommentare und Bewertungen abgeben. Die Frage, ob dieser

Vorgang eine Art Ventil darstellt, oder diese TV-Formate das Gemeine im Menschen erst

hervorrufen, ist nicht so eindeutig zu beantworten. Im tiefsten Inneren sitzt da sowohl vor

als auch im Fernsehgerät ein tiefer, schwer erträglicher Schmerz, der mit untauglichen

Mitteln verdrängt wird.

Jedenfalls vermisse ich im öffentlichen Raum einen ausgewogenen Umgang mit dem Thema

Leiden. Neben einem durchaus erlaubten unterhaltsamen Zugang ist das Vermitteln einer

Echtheit, einer Authentizität wünschenswert, die zu einer Auseinandersetzung und in der

Folge zu einem guten Umgang mit dem Thema führen kann.

21

9 Nach der Jahrtausendwende

9.1 Die Vereinigten Staaten

Die Popkultur versteht es sehr gut, ihr Publikum zu unterhalten, kommen die bekanntesten

und berühmtesten Künstler meist aus den USA, dem Land der großen Shows in Las Vegas

und einer sagenhaften Filmindustrie in Hollywood. Salopp gesagt sind die Amerikaner

Meister der Inszenierung, aber auch der Illusionen. Schon von je her ist Amerika das Land

der unbegrenzten Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten sind nicht automatisch positiv

konnotiert. Viele Leute bleiben auf der Strecke; beides ist Realität, sowohl grenzenloser

Reichtum als auch grenzenloses Elend – viel gravierender ist der Unterschied dort als in

Europa. Der Anführer dieser darwinistischen Gesellschaft ist derzeit ein Mann mit geringer

Impulskontrolle, der alles niedertrampelt, was sich ihm in den Weg stellt. Er ist sehr beliebt,

zeigt er doch vor, was man tun muss, um seinen eigenen Schmerz nicht wahrnehmen zu

müssen; nämlich, die anderen leiden lassen! Das Wahlsystem spiegelt auf gewisse Weise

wider, wie das Land funktioniert: The winner takes it all.

In einigen Bundesstaaten existiert noch die Todesstrafe, ein anachronistischer Zugang zum

Verbrechen, der sehr vom Rachegedanken geleitet ist. Rüstungsindustrie und Waffenlobby

tragen ebenfalls zur Leidvermehrung bei. Auch, wenn beide immer wieder betonen, es ginge

hauptsächlich um die Verteidigung. In der „Corona-Krise“ ist der Bedarf an Munition dort

gerade ungeheuer groß, während in Österreich lediglich das WC-Papier ausverkauft ist. Ein

deutliches Indiz dafür, wie verschieden die Nationen mit Krisen umgehen. (Natürlich ist die

Angelegenheit komplexer als hier beschrieben.)

Die amerikanische Filmindustrie unterhält uns mit Blockbuster, die meisten folgen

demselben Muster. Gut und Böse sind schwarz-weiß gezeichnet, der Held des Filmes hat alle

Rechte und auch das Unrecht auf seiner Seite. Das angeblich Gute siegt am Ende, selten

ohne Hinterlassung einer Spur des Blutes und vieler ausgelöschter Menschenleben. Die

schnelle Bildfolge schafft eine Distanz zum Geschehen und verhindert eine differenzierte

Wahrnehmung des Gesehenen. Das Schicksal des Einzelnen kann gar nicht mehr erfasst

werden. Symptomatisch ist auch die Häufung der Superhelden; da wird überhaupt in einer

virtuellen Welt agiert, die jegliche Auseinandersetzung mit der Realität verneint. Es scheint

vielmehr eine Sehnsucht nach einem starken Anführer, der alle Probleme löst, zu geben. Das

ist eine gefährliche Entwicklung, die nicht verhindern kann, dass die Menschen leiden und

die den Menschen auch keinen hoffnungsvollen Umgang mit Leid anbietet.

9.2 Europa

Vergleiche ich die im europäischen Raum produzierten Krimis mit den amerikanischen

Actionspektakeln, so reihen sich hier ebenfalls Mord und Totschlag aneinander, ohne beim

22

Zuseher Emotionen zu wecken. Dies führt zum Eindruck, die Gesellschaft würde zusehends

ihre Fähigkeit zur Empathie verlieren.

Das Gegenprogramm sind Verfilmungen von Romanen und Geschichten, die unglaubliche

und unglaubwürdige Schicksalsschläge zum Thema haben, diese noch mit rosa Zuckerguss

servieren. Ein Bisschen „Bergdoktor“ – der Arzt, der alles heilt – ist sehr entspannend.

Bedenklich wird es dort, wo die Zuseher die Idylle auf das wirkliche Leben übertragen und

sich eine unrealistische Erwartungshaltung aneignen, die fast zwangsläufig zu Enttäuschung

führt. Sie lenken vom Eigentlichen, vom Eigenen ab und schieben das Leid und den Schmerz

in den Hintergrund. Es geht hier nicht so sehr um den Einfluss auf den einzelnen, sondern auf

gesellschaftliche Phänomene, die in der einen oder anderen Art ihre Auswirkung auf ein Volk

ausüben. Hier wird eine Wirklichkeit beschönigt, dort wird sie geleugnet. Was in beiden

Welten gänzlich zu fehlen scheint, ist ein Angebot an Lösungsmöglichkeiten.

9.3 Die Gegenwart

Wir leben in einem Umfeld, das von einigen als Spaßgesellschaft bezeichnet wird. Das sagt

schon sehr viel über unseren Umgang mit dem Leiden aus. Fragt man Jugendliche nach ihren

Wünschen in der Gegenwart, so lautet die Antwort häufig „Party machen und Spaß haben“;

wobei das Wort Party mehr ein Lebensgefühl beschreibt als die Feste an sich. Dieses lässt

sich aber nicht verordnen, und auch durch den Konsum von Substanzen nicht dauerhaft und

nur unzureichend generieren. Ein Alles-ist-Möglich, wie uns oft suggeriert wird, genügt nur

theoretisch für ein erfolgreiches Leben. Entscheidend ist, ob der Mensch „seine“ Möglichkeit

auch ergreifen kann um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. In ihrer Zukunft drehen sich

die Ziele vieler jungen Menschen um Karriere und Geld. Da kippt das Leben in eine

Ernsthaftigkeit, in der das Leisten zum Hauptthema wird. Meine Befürchtung dabei ist, dass

das Eigene, das Individuelle, letztendlich auf der Strecke bleibt zugunsten eines Leistens, um

den eigentlichen Schmerz nicht spüren zu müssen.

Das Lied „20/30“ von „Scheibsta & die Buben“, einer Salzburger Hip-Hop-Band, drückt dieses

Welterleben und auch Werterleben sehr treffend und tief blickend aus. Für mich ist das Lied

ein Beispiel für einen zeitgemäßen Umgang mit dem Thema Leiden.

„Du bist Ende 20 oder Anfang 30

Alles was du tust wurde immer angezweifelt

Du bist antriebslos und hast Angst zu scheitern

Und Freunde meinen, du bist blass wie eine Wasserleiche

Neulich wolltest du den Rahmen bei der Bank erweitern

Weil ein Freigeist wie du manchmal nichts verdient

Aber dein Antrag war dann leider abzuweisen

Kein fixes Einkommen bedeutet kein Kredit

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Aber Sicherheiten waren für dich eh nie richtungsweisend

Du hüllst dich viel lieber in den weißen Rauch der Hirtenpfeife

Und sollte es wieder einmal Probleme geben

Lässt du die Zeit vergehen und wartest bis sie sich von alleine lösen

Ende 20, Anfang 30, ständig auf der Flucht vor Langeweile

Es wird Zeit, endlich voran zu schreiten

Es ist eine lange Reise

Doch es leuchtet jetzt schon rot auf deiner Tankanzeige…

Dein Nadelstreifenanzug wurde maßgeschneidert

Eine halbe Ewigkeit schon auf der Butterseite

Alles Samt und Seide auf deiner Luxusreise

Und bei der Jahresfeier lobt dich die Chefetage

Für die besten Geschäftszahlen in den letzten Jahren

Tobender Applaus nach deiner Podiumsansprache

Du verschwindest kurz aufs Klo, ziehst dir Koks durch deine Nase

In deiner Garage direkt unter dem Apartment

Parkst du jeden Abend deinen scheiß Ferrari und gehst schlafen

Aber manchmal wachst du auf, völlig Schweiß gebadet

Denn du lebst in einer Seifenblase, deiner Seifenblase…“

„Form over Substance“, die Form steht über dem Inhalt, das gilt mittlerweile für viele

Bereiche. Ursprünglich heißt es ja „Substance over Form“; der Ausdruck kommt aus der

Wirtschaft und bedeutet eigentlich eine Betrachtungsweise des Bilanz-, Handel- und

Steuerrechts, wonach bilanzielle Sachverhalte im Zweifel nach dem wirtschaftlichen Ergebnis

und weniger nach ihrer Form zu beurteilen sind. Ein willkürliches Beispiel herausgegriffen:

Auf eine Schönheitsoperation umgelegt, bedeutet dieses Form vor Inhalt, dass die äußere

Erscheinung zwar optimiert wird – auch dafür gibt es keine Garantie – die Substanz, wie

Wesen, Charakter und sogenannte „innere Werte“, aber nicht automatisch mitzieht. Dieser

Effekt ebnet unter Umständen den Weg in eine Sucht, sich weiter verändern zu lassen, weil

der eigentliche Schmerz nicht behandelt wird.

Was hier sichtbar wird, ist ein typisches Leiden unserer Zeit, nämlich die Beziehungslosigkeit

zum Selbst und zur Welt. Während sich die 3. und 4. Welt viel mit den Themen der 1.

Grundmotivation beschäftigt – hier geht es oft ums Überleben – geht es in der 1. und 2.

Welt tendenziell mehr um Themen der 2. Grundmotivation – dem Erleben. (Das bedeutet

allerdings nicht, dass die 3. Und 4. Grundmotivation keine Rolle spielen). Trotz Dating-Apps

leiden viele Menschen am Ende des Tages unter Einsamkeit. Grundsätzlich macht es die

Vielzahl an Wahlmöglichkeiten, die einem Leben offenstehen, nicht leichter, Entscheidungen

zu treffen. Gleichzeitig steigt ja auch die Anzahl der Optionen, gegen die man sich

entscheidet. Die Betroffenen suchen den Ausweg im Konsum, bezahlt wird mit

Cryptowährung. Mit Konsum gegen das Leiden angehen, ist eine – wie mir scheint –

24

verbreitete Vorgehensweise. Zu einer Annäherung an den eigentlichen Schmerz kommt es

dabei nicht.

Dabei hat sich ein Trend entwickelt, das Leben zu planen wie ein Unternehmen.

Kindergarten, Schule, Universität, Studienrichtung, Wohnort, Bekanntenkreis, alles ist

konfigurierbar. Das hat zur Folge, dass das Eigene sich unter diesen Umständen erst gar nicht

entwickelt, oder auf dem Weg nach oben verloren geht. Ein dauernden Erfolgsdruck,

schlimmstenfalls ein „Burnout“, verursachen dauerhaftes Leid. Dieses Szenario muss sich

nicht zwangsläufig und in jedem Falle so entwickeln, es ist aber – wie die steigenden Zahlen

an Erkrankten zeigen – nicht unwahrscheinlich. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei über 10%

an einer „herkömmlichen Depression“ oder „Depression durch Arbeit (Burnout)“ zu

erkranken.

Leisten bedeutet in erster Linie Schutz vor Leiden. In weiterer Konsequenz führt diese

Reaktion zu noch mehr Leiden, geht es dabei immer um ein Tun ohne Dabeisein.

Als Gegenentwurf zu diesen rasanten Phänomenen dürfen die Konzepte Entschleunigung

und Achtsamkeit gewertet werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass in diesen Strömungen

das Leiden (s)einen Platz findet. Es ist schon als positiv zu bewerten, wenn jemand gut auf

sich schaut; sich aber nie aus der Komfortzone herauszubewegen und sich mit dem

Negativen im Leben auseinanderzusetzen, verhindert vielleicht eine mögliche oder gar

notwendige Entwicklung.

All diese Tendenzen und Strömungen sind ein Hinweis darauf, dass das Leid trotz vieler

Erkenntnisse, die die Medizin und die Psychologie in der Zwischenzeit über den Menschen

gewonnen haben, so unerwünscht ist, wie eh und je. Es ist weder modern, zu leiden, noch

opportun; es herrscht vielleicht Angst, das Leid könnte „geweckt“ werden, wenn man ihm zu

viel Platz einräumt. Tatsache ist, dass durch eine Auseinandersetzung kein Leid neu

geschaffen wird; es ist immer schon vorhanden.

9.4 Aktuelles

Seit ca. einem Monat ist nun ein Leid in der ganzen Welt so sichtbar, dass es niemandem

gelingt, es beiseite zu schieben: Das COVID-19, besser bekannt unter dem Namen „Corona-

Virus“. In einer nie vorstellbaren Geschwindigkeit hat sich das Virus ausgehend von China

über den ganzen Globus verbreitet. Corona drängt alles andere in den Hintergrund. Jeder ist

auf die eine oder andere Art betroffen; gesundheitlich, sozial, emotional oder wirtschaftlich.

Das öffentliche Leben ist faktisch lahmgelegt, die Bürger werden angehalten, zu Hause zu

bleiben und so wenig soziale Kontakte wie möglich zu pflegen, da das Virus extrem

ansteckend ist, und der Krankheitsverlauf – besonders bei Risikogruppen – auch tödlich sein

kann. Um die Kurve der Verbreitung möglichst flach zu halten, gehen wir in eine verordnete

Isolation. Das wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, sich seinem Selbst zu widmen. Es ist jedoch

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anzunehmen, dass eher die Streaming-Dienste und das Online-Shopping von dieser

aufgezwungenen Auszeit profitieren werden.

„Man kam auf die Idee, innerhalb der Stadt bestimmte besonders stark betroffene Viertel zu

isolieren und nur den Menschen, deren Dienste unentbehrlich waren, zu erlauben, sie zu

verlassen. Die bisher dort Wohnenden konnten nicht umhin, diese Maßnahme als eine

gezielt gegen sie gerichtete Schikane zu sehen, und hielten auf alle Fälle im Gegensatz dazu

die Bewohner der anderen Viertel für freie Menschen. Diese wiederum fanden in ihren

schweren Stunden Trost in der Vorstellung, dass andere noch weniger frei waren als sie. ‚Es

gibt immer einen, der noch mehr Gefangener ist als ich‘, war der Satz, der damals die einzige

mögliche Hoffnung zusammenfasste.“ Diese Zeilen stammen aus Albert Camus „Die Pest“

(Camus 2013, 191) entstanden 1947. Sie zeigen sehr deutlich die Dynamik, der die Menschen

in einer Pandemie ausgesetzt sind. Und Camus liefert auch noch eine Erklärung mit, deren

Scharfsinn jede Entwicklung und Veränderung überdauerte: „Er war nicht unzufrieden mit

der Wendung, die die Ereignisse nahmen. Manchmal äußerte er Tarrou gegenüber den Kern

seines Denkens mit Bemerkungen wie: ‚Sicher, es geht nicht besser, aber wenigstens sitzen

alle im selben Boot.‘“ (ebd., 220) Und es fällt der Satz: „Die einzige Art, die Leute zusammen

zu bringen, besteht immer noch darin, ihnen die Pest zuschicken.“ (ebd., 221) Später dann

liefert der Schriftsteller eine mögliche Lösung: „Als Tarrou zu Ende geredet hatte, ließ er ein

Bein baumeln und klopfte leicht mit dem Fuß auf die Terrasse. Nach einem Schweigen

richtete sich der Arzt etwas auf und fragte, ob Tarrou eine Vorstellung von dem Weg habe,

den man einschlagen müsse, um zum Frieden zu kommen. ‚Ja, Mitgefühl.‘“ (ebd., 289)

Es sind nicht so sehr die tatsächlichen Einschränkungen, die den Menschen in den „reichen“

Ländern zu schaffen machen, sondern der Verlust der Wahlmöglichkeit. Da wird sehr

deutlich, wie wichtig dem Menschen die Entscheidungsfreiheit ist. Ist es eine Ironie des

Schicksals, oder eine Notwendigkeit, dass der Mensch erst über Leid, in diesem Fall über

Verlust, erfährt, was ihm wichtig ist?

Der aktuelle französische Ministerpräsident Emmanuel Macron spricht kämpferisch von

einem Krieg, in dem wir uns befinden. Der brasilianische Presidente Jair Bolsonaro und der

britische Premier Boris Johnson versuchten es erst einmal im Fluchtmodus, sie leugneten die

Gefährlichkeit des Virus. Der amerikanische Präsident Donald Trump suchte nach Schuldigen.

Mittlerweile ist jedoch in der ganzen Welt die Botschaft der Gefahr angekommen. Der

Präsident der Russischen Föderation verhält sich auffällig ruhig. Unser Bundeskanzler

Sebastian Kurz äußert sich, wie auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, aus

meiner Sicht tendenziell sachlich und faktenbasierend, das ist zumindest der erste Schritt in

Richtung Umgang mit Leiden.

Das, was die Menschen derzeit beschäftigt, kennen wir in der Existenzanalyse als typische

Themen der ersten Grundmotivation, die unter den Schlagworten „Raum, Schutz und Halt“

zusammengefasst werden können. Sie zielen auf ein mögliches Gefahrenpotenzial ab. Da ist

kein Raum: Quarantäne, Ausgangssperre und die Verantwortung den Mitmenschen

26

gegenüber schränken wegen der hohen Ansteckungsgefahr den Bewegungsradius ein, das

erzeugt auch eine innere Enge. Schutz gibt es kaum, handelt es sich bei der Bedrohung um

ein Virus, das unsichtbar und unberechenbar jeden befallen kann und gegen das es noch

keine Medizin oder Impfung gibt. Die dritte Komponente, der Halt, wird aufgrund der

herrschenden Ausgangsbeschränkungen sowohl was die Familie betrifft, als auch die

Gesellschaft, lose. Kontakte über Telefon oder Internet können ein reales Zusammensein

nicht ersetzen. Wir brauchen einander. Wir erleben gerade das Paradoxon, dass wir

äußerlich Abstand zum Nächsten halten sollen, innerlich jedoch zusammenrücken möchten.

Jetzt kommt es darauf an, wieviel Halt jeder in sich selbst findet. Diese Aufgaben zu lösen

können durchaus als existenzielle Erfahrungen angesehen werden. Und der Leidensdruck

wird mit Dauer der Einschränkungen in dieser Ausnahmesituation nur noch größer.

Das Leiden drängt sich in Form des Corona-Virus gleichsam mit Gewalt in unser aller Leben

mit der Forderung es anzuschauen und seinen individuellen, eigenen Umgang zu finden. Es

fordert eine unbedingte Antwort, von jedem einzelnen, von den Nationen, uns Menschen.

Welche Lösungsvorschläge die Existenzanalyse bietet, untersuche ich im Kapitel 11.

10 Die Bedeutung des Leides in der Psychologie und Medizin

Die Beschäftigung mit den Bereichen der Medizin und der Psychologie gleicht einer

Beschäftigung mit dem Außen vs. dem Innen des Menschen, wobei das Außen für den

Körper und seine Vorgänge und das Innen für die Psyche und ihre Erscheinungen steht: Für

gewöhnlich nimmt der Mensch seine Umwelt bewusst in erster Linie (zuerst) über äußere

Eindrücke und erst in zweiter Linie über innere Vorgänge wahr. Das Unbewusste klammere

ich hier absichtlich aus. Das Außen, das Sichtbare ist immer leichter zu fassen als das Innere,

weitgehend Unsichtbare. Die Geschichte der Medizin z. B. blickt auf eine uralte Tradition

zurück. Laut einem Wikipedia-Eintrag (Zeittafel medizinischer Fortschritte, 01.04.2020)

wurde in der Felshöhle von Riparo Villabruna in Norditalien 1988 der kariöse Backenzahn

eines 14000 alten Individuums gefunden, dessen Loch mit einer sehr kleinen spitzen

Steinklinge bearbeitet wurde, um infiziertes Gewebe zu entfernen. Einem anderen

Wikipedia-Eintrag (Psychologie, 01.04.2020) entnehmen wir, dass sich das Wort Psychologie

erstmals in der Mitte des 17. Jahrhunderts bezeugt findet. Auch, wenn wir annehmen, dass

der Mensch schon lange spürte, dass ihm neben dem Somatischen noch etwas Anderes (ein

Psychisches) innewohnt, ist bis zu (s)einer „offiziellen Erkenntnis“ ziemlich viel Zeit

vergangen. Zwischenzeitlich gibt es viele Nachschlagewerke in der Medizin, die helfen,

physische Leiden zu diagnostizieren und zu katalogisieren. In der Psychotherapie hingegen

steht der ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health

Problems), neben dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Disorders) zur Verfügung,

psychische Symptome zu ordnen und Krankheiten zu benennen, ein Büchlein mit gerade

einmal etwas über 500 Seiten! Was letztendlich Ärzten und Therapeuten gemein ist, ist ein

27

mehr oder weniger intensives Sich-Zuwenden, das Sich-Auseinandersetzen mit dem Leiden

der Patientin und dem Anspruch dieses zumindest zu lindern.

Wenn Therapierichtungen ihren Fokus mehr auf die Lösung von Problemen legen und

weniger – wie z. B. in den humanistischen Orientierungen – auf die Sinn- und Wertsuche,

gehen sie eigentlich vom Leiden weg.

Neu ist hier ein Trend zu Kurztherapien. Zum einen haben Kassenärzte immer weniger Zeit

pro Patient zur Verfügung, zum anderen gibt es – vorerst nur in den USA – eine Reihe an

Psychotherapien, deren Dauer von Beginn an mit wenigen Einheiten festgelegt wird. Diese

sind z. B. Interpersonal psychotherapy, Cognitive analytic therapy oder Solution-focused

therapy.

In „Psychotherapy. A Very Short Indroduction” von Tom Burns & Eva Burns-Lundgren

werden diese wie folgt beschrieben: „What these and other brief or time-limited therapies

share is the sense that because time is at a premium, every session counts. Both parties have

to make active use of the time available to them. A focus is created at a very early stage, and

the patient or client plays an active role in addressing the difficulties, both within and

between sessions. There is also an unspoken belief that once people do things differently,

those around them will respond differently, and therefore much of the working through will

occur naturally within these relationships. Obstacles in this process can be anticipated in the

therapy, and new alternatives practiced. In this way, the therapy quickly starts to look

towards the future and draws on the persons own resources. This in itself reduces the risk of

dependency with its potential to undermine confidence and represents one of the major

advantages of time limited psychotherapy.“ (Burns, Burns-Lundgren 2015, 57)

Um beurteilen zu können, ob diese Formen der Therapie einen wirksamen Umgang mit

Leiden darstellen können, müsste man ihre Wirkungsdauer besser untersuchen; sie

entsprechen jedenfalls einem aktuellen Zeitgeist, der geprägt ist von schnellen Lösungen.

Die Phänomenologie (griech.: etwas zeigt sich), ein in der Existenzanalyse elementares

Werkzeug, schließt dieser Zugang a priori aus.

11 Das Leiden in der Existenzanalyse (und Logotherapie)

In diesem Kapitel versuche ich auszuführen, was das Besondere der Existenzanalyse in Bezug

auf das menschliche Leiden ausmacht. Welche Werkzeuge und Modelle stellt sie uns als

Therapeutinnen der Existenzanalyse zur Verfügung, um in einen hilfreichen Umgang mit dem

Leiden der Patienten zu kommen? Welche Lösungswege gibt es existentiell gesehen aus der

Krise?

28

11.1 Sigmund Freud

Beschäftigt man sich mit der Psychotherapie, kommt man an Sigmund Freud (1856-1939)

natürlich nicht vorbei. Als Mediziner und Österreicher, war er schon alleine durch diesen

Umstand prädestiniert die menschliche Seele in der – wie es Erwin Ringel (1921-1994) so

treffend formulierte - Brutstätte der Neurose, zu erforschen (Ringel 1984, 9).

Das Psychotherapeutische Rad hat sich mittlerweile auch in der Psychoanalyse

weitergedreht, geblieben sind uns Phänomene wie Übertragung, Gegenübertragung, das

Über-Ich und vieles mehr. Wenn auch heute viele seiner Thesen umstritten sind, oder sich

als falsch herausstellten, so ebnete er den Weg für eine ganzheitliche Betrachtung des

Menschen. Freud hat jedenfalls klar ausgesprochen, dass Leiden nicht immer nur somatisch

bedingt ist.

11.2 Viktor Frankl

Viktor E. Frankl (1905-1997) hat sich schon aufgrund seiner Biografie mit dem Begriff des

Leidens intensiv auseinandergesetzt. Er verbrachte viele Jahre in Konzentrationslagern und

hat über diese Zeit einige Bücher geschrieben. Ein späteres Werk heißt „Das Leiden am

sinnlosen Leben“. „Nun hat es der Arzt als solcher immer wieder mit leidenden Menschen zu

tun und so denn auch mit unheilbar Kranken, Menschen also, die sich – und eben auch ihn –

mit der Frage konfrontieren, ob ihr Leben, angesichts eben ihres unabänderlich gewordenen,

ja unabwendbar gewesenen Leidens nicht ganz und gar sinnlos geworden ist. Der Arzt ist

dann vor die Aufgabe gestellt, seinen Patienten nicht nur, wie es immer schon zu den

Aufgaben ärztlichen Handelns gehört hatte, arbeits- und, darüber hinaus, auch noch

genussfähig zu machen, sondern nun geht es um die Leidensfähigkeit, eine dritte Aufgabe.

Die Leidensfähigkeit aber ist letztendlich nichts anderes als die Fähigkeit, das zu

verwirklichen, was ich als Einstellungswerte bezeichne… Worauf es, ärztlich oder – besser

gesagt: Vom Kranken her gesehen, ankommt, ist die Haltung, in der sich einer der Krankheit

stellt, die Einstellung mit der er sich mit der Krankheit auseinandersetzt. Mit einem Wort:

worauf es ankommt, ist die rechte Haltung, ist das rechte, aufrechte Leiden echten

Schicksals. Das Wie des Tragens notwendigen Leidens birgt möglichen Sinn… Tatsächlich:

aufs Tragen kommt es an – darauf, wie man das Schicksal trägt, sobald man es nicht mehr in

die Hand nehmen, vielmehr nur noch auf sich nehmen kann. Mit anderen Worten: wo keine

Handlung mehr möglich ist – die das Schicksal zu gestalten vermöchte –, dort ist es nötig, in

der rechten Haltung dem Schicksal zu begegnen.“ (Frankl 2013, 80)

Frankls Sinnsuche und Sinnantwort sind fast gänzlich auf ein Außen, auf ein Ergebnis, auf

den Sinn an sich gerichtet. „Es ist keine Schande, sein Ziel nicht zu erreichen, aber es ist eine

Schande kein Ziel zu haben“, ist sein Credo. Wie aber kommt der Mensch zu seinem Sinn?

Was ist, wenn sich ein Sinn dem Menschen gänzlich entzieht? Wenn das Leiden des

Patienten nicht darin besteht, seinen Sinn nicht verwirklichen zu können, sondern seinen

29

Sinn überhaupt finden zu können.

11.3 Alfried Längle

Die Brücke zur Sinnfindung baute Alfried Längle (geb. 1951). Er hat die Existenzanalyse zur

anerkannten Methode in der Psychotherapie weiter ausgebaut. Plötzlich spielen das Selbst,

das Ich-mit-Mir eine ebenso große Rolle wie das Ich-und-die-Welt. Welche Auswirkungen

das auf die Therapieinhalte hat, werden wir noch sehen. Er prägte den Begriff der

„Grundmotivation“ (es existieren vier davon), ebenso den Begriff der „Personalen

Existenzanalyse“ (PEA).

Alfried Längle hat in einer Publikation unter dem Titel „Warum wir leiden?“ (Längle 2009)

eine Erklärung des Leidens und seiner Phänomene aus Sicht der Existenzanalyse ausgeführt.

„Es leidet die Seele, wenn wir mit Zerstörung konfrontiert sind. Wir leiden, wenn ein Wert

oder eine Bedingung für ein gutes Leben verlorengeht. Leiden und Schmerz stellt unser

Leben ganz oder teilweise in Frage, bedroht die Liebe zum Leben. – Heilung verlangt Finden

der Fähigkeiten und Kräfte der Person, um aus ihren Quellen den zerstörerischen Bereichen

und Abgründen der Existenz zu begegnen. Dabei können wir nicht nur in unterschiedlicher

Art, sondern auch an unzähligen Themen und Inhalten leiden. Leiden ist vielfältig im Wie und

im Woran. Das Beleuchten seiner Themen macht uns das Leiden verständlicher, das Kennen

seiner Inhalte schafft einen existentiellen Zugang zum Umgang mit Leid. So kann auf das

Leiden gezielt eingegangen und der Entstehung einer seelischen Störung (z. B. Angst,

Depression, Hysterie, Sucht, PTSD) zuvorgekommen werden.“ (Längle 2009)

11.4 Eine allgemeine Betrachtung

Hinter jedem Leiden steht ein Schmerz. Dieser wird unter anderem durch ein zu viel oder zu

wenig von „etwas“ verursacht. Im einfachsten Fall hat der Betroffene Hunger, geht zum

Kühlschrank und holt sich etwas zum Essen oder Trinken. Das Leiden ist kurz und nicht allzu

intensiv. Dass in anderen Ländern Menschen tatsächlich verhungern oder verdursten, zeigt

den großen Spielraum, an dem, was als Mangel (vs. Überfluss), angesehen werden kann. Das

Erleben eines Menschen ist immer subjektiv, es bleibt für den anderen nur vorstellbar; wie

es dem anderen wirklich geht, wissen wir nicht. So wissen wir auch nicht, wie und wie stark

der andere tatsächlich leidet.

Unablässig ist unser Körper, gesteuert durch die Schaltzentrale Gehirn, damit beschäftigt, in

uns die sogenannte Homöostase, also ein Gleichgewicht in unserem Inneren zu schaffen

bzw. aufrecht zu erhalten. Gelingt unserem internen System diese Aufgabe nur mehr

unzureichend, sendet er über den Körper entsprechende Symptome von leichtem

Unbehagen bis zu unerträglichem Schmerz aus. Sind diese Symptome körperlich zuordenbar,

wird die betroffene Person nicht zögern, sich Erleichterung zu schaffen oder Hilfe zu suchen.

30

Anders hingegen verhält es sich mit dem seelischen Schmerz. Auch die Psyche benützt den

Körper um sich auszudrücken, hat sie ja sonst keine andere Möglichkeit. Viele Menschen

geraten in einen Zustand der Hilflosigkeit, wenn ihre körperlichen Symptome nicht die

entsprechende ärztliche Diagnose finden. Schieben sie das Störende beiseite, geraten sie

womöglich in einen Kreislauf aus Verdrängung und Leiden. Mein Eindruck ist, dass

psychische Krankheiten von den Betroffenen und Ihrer Umwelt noch immer schwerer

akzeptiert werden als körperliche Leiden.

Erreicht die Spannung ein individuell bestimmtes Ausmaß, eigentlich schon ein Übermaß,

entschließen sich manche Patienten zu einer Psychotherapie. (Deshalb kommen die

narzisstischen Persönlichkeiten so selten in unsere Praxis. Diese erzeugen nicht selten einen

Leidensdruck in ihrem unmittelbaren Umfeld; der eigene wird verdrängt, geleugnet,

überspielt.) Findet diese Spannung keinen Abbau, ist der Weg von einem anfänglichen

gestört-Werden zu einem in letzter Konsequenz gestört-Sein gut geebnet.

Das größte Leiden des Menschen geht vom Wissen um seine Endlichkeit aus. Nicht nur die

Tatsache, dass wir alle sterben müssen, sondern auch der Umstand, dass dies jederzeit

passieren kann, erzeugt einen – so würde ich es bezeichnen – „Grunddruck“. Je nachdem,

wie der Einzelne gelernt hat, mit Schwierigem umzugehen, reagiert er auf diesen im

Hintergrund wirkenden Faktor. Kommt nun noch eine Anforderung aus dem täglichen Leben

hinzu, oder gar ein Schicksalsschlag oder etwas sehr Problematisches, zeigt sich das

eigentliche Wesen des Betreffenden in aller Deutlichkeit. Von einer völligen Verleugnung des

Leides bis zum Zerbrechen an Selbigem ist da alles möglich. Es gibt aber auch Menschen,

denen ein gesunder Umgang mit den Anforderungen eigen ist. Was genau die Gründe und

Eigenschaften dieser Personen ausmacht, ist Gegenstand vieler Forschungen.

Nicht zu unterschätzen ist die Einstellung der Gesellschaft zum Leiden. Der Zeitgeist, die

Mode bestimmen den Umgang zu großen Teilen mit. In meiner persönlichen Wahrnehmung

befinden wir uns derzeit in einem Zeitalter, das – in einem Bild ausgedrückt – wie im

schnellen Vorlauf eines Videorekorders verläuft. Ein Umstand, der es unmöglich macht, die

eigentliche Handlung des Filmes aufmerksam zu verfolgen. Die Geschwindigkeit lässt wenig

Raum für eine eingehende Auseinandersetzung mit dem, noch dazu recht unangenehmen,

Thema.

11.5 Copingreaktionen

Der Mensch hat meistens schon sehr früh aus dem Erlernten und seinen Erfahrungen

Strategien entwickelt, mit Leidsituationen umzugehen. Diese sind, nicht nur in der

Psychologie, unter dem Begriff „Coping“ durchaus bekannt, sie sollen Erträglichkeit und

Schutz vor Verletzung schaffen. Erfolgt das Coping automatisch, dann spricht man von

„Copingreaktion“. Diese Reaktion erfolgt automatisch, d. h. ohne eine bewusste

Entscheidung für das eigene Handeln zu treffen. Dieses Nicht-anders-Können, bietet im

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ersten Moment zwar die gewünschte Entlastung, verursacht aber in weiterer Folge unter

Umständen noch mehr Leid, wird die Situation durch eine Copingreaktion zwar abgewehrt,

aber nicht gelöst. Dieses Problem tritt besonders bei den fixierten Copingreaktionen auf,

denn hier reagiert der Mensch immer gleich auf Bedrohung, er wird sozusagen gesteuert, ein

Umstand der noch dazu dem Kontroll- und Sicherheitsbedürfnis des Menschen stark

widerspricht. Und eigentlich können wir hier auch nicht von einem In-den-Umgang-Kommen

sprechen.

Selten werden diese Copingreaktionen im Älterwerden den gänzlich neuen Umständen eines

Erwachsenseins angepasst. Und irgendwann stellt der Mann oder die Frau fest, dass diese

Mechanismen nicht mehr greifen, nicht mehr wirksam sind. Manche versuchen dann

verzweifelt ein „Mehr vom Demselben“, manche versuchen selbst auf alle erdenklichen

Arten, diesen Kreislauf zu unterbrechen, manche überlegen, wie schon erwähnt, eine

Psychotherapie.

Bekannt sind einige dieser Phänomene der Copingreaktionen auch unter der Bezeichnung

„fight, flight and freeze“ (Walter Canon, 1871-1945). Die Kampfbereitschaft zeigt sich in der

Aggression, der Wut, im Hass; die Flucht im Rückzug, im sich Distanzieren. Wenn gar nichts

mehr geht, bleibt nur mehr das sich Todstellen. Alle diese Reaktionen kennen wir auch aus

der Tierwelt. Neben diesen drei Reaktionsweisen gibt es auch noch die Möglichkeit einer

„paradoxen Bewegung“, mit der ich mich etwas genauer beschäftigen werde, weil sie sehr

gut in ein Dogma unserer Zeit passt, nämlich „Funktionieren und Leisten“.

Ich schließe an das in meiner Arbeit bereits beschriebene „Burnout“ an. Als typische

Symptome haben wir zu Beginn der Krankheit ein Ankämpfen gegen das Gefühl eines

Leistungsverlustes; also ein Leugnen, ein Nicht-wahr-haben-Wollen der Tatsachen. Dieses

Gefühl wird übersteuert durch den Zwang, sich zu beweisen, im Zwang, sich noch mehr und

intensiver in die Arbeit zu stürzen. Es ist der bodenlose Schmerz, der bevorstehende

Zusammenbruch, der verhindert werden soll, und dann letztendlich doch eintritt. Paradoxer

Weise ist das Erreichen des tiefsten Punktes im Leiden der Moment, in dem der Betroffene

oft Hilfe sucht und nicht der Beginn des Leidensweges. Der Moment, in dem neben der Kraft

auch jeglicher Widerstand zu verschwinden scheint. Dass dies erst spät passiert, zeigt wie

schwer es den Menschen fällt, sich dieser sensiblen und schwierigen Seite des eigenen

Lebens zuzuwenden.

Dazu braucht es Zeit, Mut und einen geschützten Rahmen.

11.6 Die Psychotherapie

Den richtigen Rahmen bietet z. B. eine Psychotherapie. Gewöhnlich gut geschulte

Therapeutinnen und Therapeuten bilden ein gefestigtes Gegenüber in einem sicheren

Setting. Ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens ist für den Hilfesuchenden enorm

wichtig. Denn weder der Patient noch der Therapeut weiß vorher, was in der Therapie

32

passieren wird. Es braucht also einen Wert, der das Risiko des ungewissen Verlaufes einer

Psychotherapie rechtfertigt. Für ein Gelingen muss dieser Anreiz, dieser Wert in der Person

selbst liegen. Um in einen nachhaltigen Umgang mit seinem Schmerz zu kommen, muss der

Patient bereit sein, seinen eigenen Weg zu finden, das setzt die innere Bereitschaft, sich dem

eigenen Leiden zuzuwenden, voraus.

Die Existenzanalyse ist eine Methode, die dem Leid sehr viel Beachtung einräumt, bevor sie

mit dem Patienten Lösungen erarbeitet. Sie stützt sich in ihrer Methode unter anderem auf

das Strukturmodell der vier Grundmotivationen.

11.7 Vier Grundmotivationen

Auf das Leiden bezogen bedeutet das auf der

1. Grundmotivation: Das Anerkennen, Sehen, dass Schmerz ist. Das klingt einfacher als es

letztendlich ist. Besteht, wie in den meisten Fällen, keine unmittelbare Lebensbedrohung,

nimmt der Klient das Leid als solches oft gar nicht mehr wahr. Er hat über die Jahre eine Art

Toleranz gegenüber dem Leid entwickelt und kommt in Psychotherapie, um eine Lösung für

seine Probleme zu finden, ohne diese jedoch genau definiert zu haben. Das Offensichtliche

wurde nie benannt. Sichtbar wird dieses Phänomen in der Tatsache, dass Klienten oft sehr

schlimme Ereignisse aus ihrem Leben schildern, in einer Art als wären diese das Normalste

auf der Welt. Natürlich hat dieser Umgang mit dem Erlebten genau den Grund, dass das

Schreckliche, das Erlittene, das Leid nicht ständig im Vordergrund stehen und so ein

möglichst „normales“ und erträgliches Leben ermöglicht wird. Der Verdrängungsprozess

funktioniert jedoch so nachhaltig, dass es dem Patienten anfangs große Mühe bereitet, sein

Leid wieder in den Blick zu bekommen. „Woran leidet der Patient eigentlich?“, ist die Frage

auf allen vier Grundmotivationen. In der Psychose, in der Angst- und Panikstörung hat die

Person keinen Zugriff auf ihr Leiden; sie „ist“ das Leiden. Wichtig ist der Beziehungsaufbau

für das Vertrauen, erst dann kann sich die Therapeutin sachlich und ruhig dem Leid nähern.

Fakten werden angefragt und die Probleme aus Sicht der Patientin aufgelistet und

geschildert. Wichtig dabei ist, dem Betroffenen zu zeigen, dass sein persönliches Erleben der

Gradmesser ist, um einen Zustand als leidvoll zu bezeichnen. So selbstverständlich das auch

klingt, für manche Menschen bedeutet diese Haltung ein ernst-genommen-Werden, wie sie

es so nicht oft erlebt haben. Oft urteilt nämlich das Umfeld, ob ein Zustand als Leiden

empfunden werden darf und wie intensiv dieses Leiden zu erleben ist.

Anders ausgedrückt, könnte man sagen, dass nicht nur der Patient als Mensch, sondern auch

das Leiden als solches einen Platz haben muss, wo es sein darf.

Speziell zu Beginn einer Psychotherapie ist der phänomenologische Zugang, ein wesentliches

Werkzeug der Existenzanalyse, sehr hilfreich, dem Leiden auf die Spur zu kommen.

33

Die Existenzanalyse geht nicht davon aus, dass Psychotherapeuten Experten sind, die mehr

über den Patienten wissen als dieser selbst. Sie verwendet den Begriff der Epoché, der

bedeutet für die Therapeutin, dass alle Annahmen, jede eigene Erfahrung beiseite gestellt

werden. Es wird der phänomenologische Gehalt geborgen, das, worum es „eigentlich“ geht,

das, was absichtslos auftaucht. Das erfordert viel Geduld auf beiden Seiten, denn um

Lösungen geht es hier noch nicht. Es handelt sich in erster Linie um den Anspruch, das

Gegenüber zu verstehen, um so auch ein mögliches Verstehen des Betreffenden für sich

selbst einzuleiten.

Zusammenfassend könnte man sagen, dass die Existenzanalyse nicht eher den nächsten

Schritt unternimmt, bevor sie den Patienten in seinem Leiden erfasst hat, und auch der

Patient sein Leiden versteht und anerkennt.

2. Grundmotivation: Hier stellt sich die Frage nach dem „Wie – ist das für den Betroffenen?“

Da ist Leid, da wird Leid erlebt. Der Leidende ist seine eigene Referenzgröße. Es gibt keine

objektive Messung, ab wann ein Zustand als Leid empfunden werden kann. Da es in der 2.

Grundmotivation um Beziehungen geht, wird erforscht, wie die Patienten in der Beziehung

mit sich selbst umgehen. Meine Erfahrung dazu ist Folgende: Wurde ihnen schon sehr früh

signalisiert, dass Leid unerwünscht ist, haben sie diese Haltung zumeist übernommen und

einen schlechten Umgang mit sich selbst entwickelt. Dort, wo es eigentlich Trost bedurfte,

nämlich im Leiden, machen sich die Personen noch zusätzlich Vorwürfe, dass sie leiden. Das

Umfeld handelt wenig hilfreich, indem es das Leid herunterspielt oder schlechte Ratschläge

erteilt. Oft kommt noch der Leistungsdruck als verstärkend hinzu. Es fällt den Patienten

entsprechend schwer, zu beschreiben, wie sich das Leid, der Schmerz anfühlen. Über einen

körperlichen Zugang gelingt es manchmal, zur Seele, zu den Gefühlen, letztendlich zum

Schmerz vorzudringen. Können die Patienten schlussendlich aussprechen, dass es ihnen

schlecht geht, dass sie leiden, und wie sich dieses Leid anfühlt, empfinden sie nicht selten

eine merkbare Entlastung. Oft reagieren die Patienten mit den Themen im „Selbst“

(Selbstannahme, Selbstbewusstsein, Selbstliebe etc.) mit Rückzug oder Aggression auf diese

Anfrage des „Wie?“. Das erfordert von den Therapeuten eine hohe Frustrationstoleranz, und

nicht selten erleben sie die eigene Hilflosigkeit dem Leid ihrer sich ihnen anvertrauten

Menschen gegenüber. In solchen Situationen nicht in ein Mitleiden zu verfallen, ist eine

wichtige Anforderung an die Therapeutin.

3. Grundmotivation: Sie hat das Thema des Eigenen zum Inhalt. „Was macht mich aus und

darf ich so sein, wie ich bin?“ Analog dazu könnte man sagen: „Darf ich so leiden, wie es mir

entspricht?“ Viele Klienten antworten darauf spontan: „Natürlich darf ich so sein!“ Bei

genauerem Nachfragen stellt sich meistens heraus, dass die Angelegenheit so einfach nicht

ist. Es existieren Ansprüche; im besseren Fall sind es eigene, im schlechteren fremde.

Grundsätzlich sind Ansprüche ja etwas Positives, sie bringen den Menschen dazu in

Bewegung zu kommen, voranzuschreiten, sich zu entwickeln. Aber, wie bei vielem, können

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diese einen zusätzlichen Leidensdruck verursachen. Es kann also durchaus hilfreich sein, die

Ansprüche zu ordnen. Welche Ansprüche sind fremdbestimmt und erzeugen so im

schlimmsten Fall ein Gefühl des Selbstverlustes? Die Ziele des Klienten werden auf ihre

grundsätzliche Machbarkeit überprüft. Es wird ebenfalls geklärt, ob sie tatsächlich dem

persönlichen Anliegen entsprechen. Dazu ist es wichtig, auf der 2. Grundmotivation sein

Mögen gut erforscht zu haben. Dies wiederum ist nur möglich, wenn der Patient nicht in

Themen der 1. Grundmotivation gefangen ist.

So können sich Hilfesuchende mit verschiedenen Anliegen und Problemen auf den

verschiedenen Grundmotivationen bewegen. Das, was dem Patienten als am dringlichsten

erscheint, wird gewöhnlich auch zuerst bearbeitet. Dabei kann es durchaus passieren, dass

zwischen den Grundmotivationen gewechselt wird, weil z. B. ein Angstthema auftaucht, das

verhindert, dass der Patient unter diesen Umständen überhaupt „sein“ kann, um sich weiter

mit dem betreffenden Leidthema zu beschäftigen. Es sind immer wieder die Sicherheit, der

sichere Boden, der sichere Raum, die leicht ins Wanken geraten. Und obwohl die letzte

Sicherheit nicht existiert, muss der Mensch einen Weg finden, in diesem Spannungsfeld sein

Leben trotzdem gestalten zu können.

4. Grundmotivation: Das Gestalten ist ein Thema dieser Grundmotivation, sie beinhaltet die

Frage nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens und der Möglichkeiten, den einmal

erkannten Sinn ins Leben zu bringen. Sie setzt voraus, dass es auf den Grundmotivationen 1

bis 3 keine wesentlichen Probleme oder unentdeckte Leiden gibt. Erst dann ist an die

Planung der Lösung und an die entsprechende Umsetzung zu denken. Hier geht es auch

darum, anzuerkennen, dass es manchmal keine für alle Beteiligten optimale Lösung gibt,

sondern „die unter den gegebenen Umständen bestmögliche Lösung, abgestimmt auf mich

und meine Welt“. Scheint keine Lösung möglich, so liegt der Sinn des Leidens vielleicht in der

Erfahrung, das Leiden aushalten zu können, ohne daran zugrunde zu gehen. Die Menschen

sterben meistens nicht am Leiden selbst, sondern an einer Krankheit, einer Verletzung, am

Alter; nur dann, wenn sie das Leiden nicht aushalten können und Suizid begehen.

Alfried Längle spricht neben dem körperlichen und seelischen Leid (Längle 2009) noch von

einem existenziellen Leid, als „vom Typus der Vergeblichkeit, der Sinnlosigkeit: Es ist ein

Leiden an der Orientierungslosigkeit, am fehlenden größeren Zusammenhang, in dem wir

unser Leben und unser Handeln verstehen können, an der Erfolglosigkeit, an der sinnlosen

Schicksalshaftigkeit, Hoffnungslosigkeit gebiert schließlich Verzweiflung.“ (Längle 2009)

Die Person ist in der Existenzanalyse ein wichtiger Begriff. Die Person (siehe dazu auch

Personale Existenzanalyse) ist nicht beschreibbar, aber anfragbar; sie erscheint in ihrer

individuellen Antwort auf diese Anfrage, wird als Wesen oder Persönlichkeit

wahrgenommen. Ist sie verschüttet, das bedeutet, nicht auffindbar, haben wir es fast immer

mit einer Persönlichkeitsstörung zu tun.

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Alfried Längle nennt passend dazu das „persönlichen Leid“ (Längle 2009). „Dieses ist geprägt

vom Typus der Selbstentfremdung, des nicht sich selbst Seins: Es ist ein Leiden am Verlust

von Identität, von dem, was wesentlich ist für eine erfüllte Existenz, von Kongruenz mit sich

selbst (Rogers). Das geschieht, wenn uns andere abwerten, nicht sehen, lächerlich machen,

die Intimsphäre verletzen, unsere Grenzen verletzen, uns übergehen; wenn wir

Ungerechtigkeit erleben – oder selbst anderen nicht gerecht werden, wenn uns

Gewissensbisse peinigen.“ (ebd.)

11.8 Die Personale Existenzanalyse (PEA)

In der Methode der Personalen Existenzanalyse (PEA) spielt die Person eine wesentliche

Rolle. Es handelt sich dabei um ein Prozessmodell, das gut anzuwenden ist, besonders, wenn

der Patient nicht versteht, warum er in bestimmten Situationen immer gleich fühlt oder

handelt. Es hilft bei Entscheidungen und zeigt auf, wo im Prozess zwischen der Krise und

dem Ausweg bzw. der „Lösung“ der Klient steht. Man könnte die PEA als Modell bezeichnen,

mit dessen Hilfe man unter anderem Schritt für Schritt dem Leiden auf die Spur kommen

kann. Es klärt den Ursprung, die Bedeutung des Leides und bringt den Leidenden zu einer

Stellungnahme, d. h., das Leiden wird in den Mittelpunkt gestellt, der Betroffene stellt sich

dazu.

Die vier Schritte sind folgende:

PEA 0: Wir stellen die Grundfrage: „Was liegt vor?“ Hier geht es im Wesentlichen um die

Einholung von Informationen, um sich einen Überblick über die Lage zu schaffen. Es wird so

lange nachgefragt, bis ein Eindruck der Situation entsteht und bis die Therapeutin die

Umstände für das Leid des Patienten versteht.

PEA 1: Die Grundfrage lautet: „Wie ist das für Sie?“ Es entsteht ein Eindruck über die

Schwere des Leides und der Zusammenhänge. Mit den primären Emotionen und dem ersten

Impuls verbunden ist die Botschaft, die beim Betroffenen ankommt. Diese enthält keine

Aussage über deren objektiven Wahrheitsgehalt, sondern darüber, wie der Klient die

Situation erlebt und was ihm das über sich sagt.

PEA 2: „Was halten Sie davon?“ Zielt auf eine innere Stellungnahme der Patientin ab. Auf

dieser Stufe des Prozesses geht es um das Verstehen der eigenen Person und ihrer

Beweggründe für das Leiden, auf die Wertezusammenhänge. Hier geht es auch um einen

Blick auf den anderen, auf den, der das Leiden verursacht hat. Es wird das Gewissen

angefragt, das Spürbare im tiefsten Inneren; es geht um die persönliche Meinung zum

Geschehenen. Oft gibt es hier Verständnis für den Täter, es dauert jedoch, bis der Patient

erkennt, dass er Opfer geworden ist und dass ihm Unrecht geschah. Kann der Patient die

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Ursache seines Leides dann zuordnen, wird sein Wille angefragt. In etwa in der Art: „Was

würden Sie da am liebsten tun?“ Dieser Akt weist bereits auf eine mögliche Handlung zur

Befreiung aus dem leidvollen Zustand hin.

PEA 3: „Wie können Sie das realisieren, was Sie wollen?“ führt zum Ausdruck, zum Vollzug

der Handlung hin. Gefiltert durch Einbeziehung des Möglichen und Nützlichen, unter

Berücksichtigung der Konsequenzen wird mit dem Patienten ein mögliches Vorgehen

ausgearbeitet.

Die Patientin sollte dann ein Nachlassen des Leidensdruckes verspüren, eine innere Ruhe. Ist

das nicht der Fall, dann muss die „Lösung“ angepasst werden, oder es gibt noch ein Problem

auf dem Weg dorthin.

11.9 Tor des Todes

Ein effizientes Werkzeug ist auch das „Tor des Todes“, als maximale Zuwendung zum Leiden.

Hier wird das Leiden in der Fantasie noch gesteigert, indem Situationen nach dem Motto:

„Was kann im schlimmsten Fall passieren?“ durchgespielt werden. „Was ist als ärgstes

Szenario vorstellbar? Würde ich das überleben?“ Hat sich der Patient erst einmal mit dem

Schlimmsten auseinandergesetzt, merkt er zumeist, dass er das Leid aushalten könnte und

nicht daran zugrunde gehen würde.

12 Zwei Fallbeispiele

Gegen Ende meiner Arbeit möchte ich zwei Fallbeispiele aus meiner Tätigkeit als

Psychotherapeutin bringen, die einen (un)möglichen Umgang mit Leiden schildern. Es

handelt sich dabei um paradoxe Versuche, aus dem Kreislauf Leiden herauszufinden, indem

die Betroffenen fast mit Gewalt gegen dieses Leiden angehen. Sie sind mir aufgrund der

enormen Schwierigkeiten der Patienten, sich und ihr Leid in den Blick zu bekommen, in

Erinnerung geblieben.

Ein Mann, Mitte 40, litt – wie er mir schilderte – seit seiner Kindheit an Depressionen. Diese

erklärte er sich mit dem Elternhaus, den wenig liebevollen Umgang, der dort herrschte, und

dem Umstand, dass er schon sehr früh im elterlichen Betrieb mithelfen musste, seine

Ausbildung vernachlässigte, und eigentlich Zeit seines Lebens nur ausgenützt wurde.

Deutlich spürbar waren seine Wut auf seine Umwelt, die ihm andauernd übel mitspielte und

die Trauer – die er allerdings nicht als solche erkannte – über seine Einsamkeit. Er sah das

Versagen klar bei den anderen, denn er selbst bemühte sich doch so sehr um Freundschaft

und wäre überhaupt ein fehlerloser Mensch. Sehr schnell wurde klar, dass er eigentlich

unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung litt, die von seinen depressiven Zuständen

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mehr schlecht als recht verdeckt wurde. Es war ihm unmöglich, seine Gefühle zu

beschreiben, und er reagierte auf die Bitte, zuerst einmal seine körperlichen Vorgänge zu

schildern mit Ablehnung und Abwertung. Angesprochen auf seine Erwartungen in der

Therapie, forderte er sehr deutlich eine Lösung seiner Probleme von mir, denn ich sei ja

schließlich dafür zuständig. Nach ungefähr zwei Monaten kam er plötzlich gut gelaunt in die

Therapiestunde und meinte, er wisse jetzt, was er zu tun hätte. Ein Video auf „YouTube“

hätte ihm die Lösung gezeigt. Er müsse ja nur „anders“ denken. Wie er dieses „anders

Denken“ genau umsetzen sollte und was das konkret bedeutete, konnte oder wollte er mir

allerdings nicht sagen. Der Patient kam weiter in Therapie und hat diese einige Stunden

danach beendet, um einen Reha-Aufenthalt anzutreten. Wachstum braucht Zeit, ein Anders-

Denken auch, eine schnelle, schmerzlose Lösung existiert nicht.

Eine Frau, Ende 50, war verzweifelt, weil ihr Ehemann eine Krebsdiagnose erhalten hatte.

Von ihrer Persönlichkeitsstruktur her histrionisch veranlagt, war sie in ihrem Redefluss kaum

zu bremsen. Ich vermutete auch eine Sozialphobie, insgesamt eine sehr schwierige

Kombination. Ich hatte den Eindruck, dass der Ehemann derjenige war, der ihr den

notwendigen Halt gab, aber auch den Alltag bestimmte. Sehr schnell wurde klar, dass die

Angst der Patientin nicht nur dem Gesundheitszustand ihres Mannes galt, sondern noch

mehr der Vorstellung, das Leben alleine bewältigen zu müssen. Viele Stunden lang war es

der Frau nicht möglich über die Krankheit ihres Mannes zu sprechen, sie weinte sehr viel und

war verzweifelt über das Schicksal ihres Ehemannes. Im Laufe der Therapie erwähnte sie

einen Verein, in den sie und ihr Mann zu monatlichen Treffen gingen. Es handelte sich bei

dieser Gemeinschaft um Menschen, die zusammen positive Gedanken in die Welt und das

Universum schicken, um Leidenden sozusagen heilende Energie zukommen zu lassen. Die

Patientin stand unter großem Druck, weil es ihr nicht gelang, nur „gute“ Gedanken zu

denken! Sie fürchtete, dass, wenn sie es nicht schaffte, positiv zu denken, sie schuld daran

wäre, wenn ihr Mann stirbt. Immer wieder sagte sie sich und mir vor: „H. wird wieder

gesund.“

Da trafen nun 2 Konzepte aufeinander, die einander nahezu ausschließen. Ein Übergehen

der Ängste durch angeordnetes positiv Denken und die Psychotherapie, die sich dem Leid

und den Ängsten zuwendet und sich mit ihnen auseinandersetzen will. Mit Fortschreiten der

Therapie hat die Klientin erkannt, dass Gedanken ihre eigene Dynamik besitzen, und dass es

unmöglich und auch nicht notwendig ist, sie zu steuern und zu beherrschen. Was zu Beginn

nicht vorstellbar war, trat nach einigen Monaten ein; sie verließ den Verein ohne schlechtes

Gewissen. Sie hat es geschafft, ihr Schicksal und ihr Leid anzunehmen und verbrachte das

letzte Jahr mit ihrem Mann, so gut es ihr unter den gegebenen Umständen möglich war.

Ihrem Wesen nach bleibt sie eine ängstlich vermeidende Persönlichkeit, hat jedoch gelernt,

besser damit umzugehen. Sie kommt weiter in Therapie.

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13 Persönliches

Betrachte ich die Geschichte meines eigenen Leidens, so erging es mir nicht anders als den

meisten meiner Patienten. Ich hatte eine schwierige Kindheit, die geprägt war von

körperlichen Misshandlungen und seelischem Missbrauch. Dieser Umstand wurde über die

Jahre so selbstverständlich, so alltäglich, dass ich gar nicht mehr auf Verletzungen reagierte.

Außerdem wollte ich kein Opfer sein. Die Rollen meiner Eltern waren klar ersichtlich verteilt:

Mein Vater war der impulsive Choleriker, meine Mutter die stille Dulderin, die das Aushalten

zu ihrer Tugend erhoben hatte. Ohne jetzt zu sehr in meine Biographie einzusteigen, kann

ich rückblickend sagen, dass ich unbewusst beider Umgang mit Leiden übernommen habe.

Im Selbstbezug war ich grausam, nach außen hin von einer gleichgültigen Kälte gegenüber

erlittenem Unrecht. Als meine Tochter geboren wurde, entwickelte ich mich zu einer Mutter,

die ihr Kind stets liebevoll (und sehr schnell) tröstete; hatte ich selbst als Kind ja so wenig

Trost erfahren. Insgesamt begleitete mich stets ein Gefühl der Inkongruenz, dem Gefühl um

ein Wissen um mein Wesen und im Gegensatz dazu mein Handeln, das diesem weitgehend

widersprach. Meine Copingstrategie war ein lösungsorientiertes Vorgehen. Das half mir

beruflich, privat jedoch hatte das zur Folge, dass ich zwar den Eindruck vor mir selbst

erweckte, ich wäre handlungsfähig, in Wahrheit aber meine Energie dazu verwendete, mein

wahres Leid vor mir zu verstecken. Als ich im Rahmen des Propädeutikums mein Praktikum

in einem Pflegeheim absolvierte, wurde mir schnell klar, dass ich hier mit Lösungsstrategien

nicht arbeiten konnte. Die meisten der Heimbewohner litten an Demenz, diesen Menschen

konnte ich nur begegnen, mit ihnen gemeinsame Zeit verbringen, im Grunde nur da sein. Ich

konnte ihr Leid mit ihnen aushalten, und den eigenen Zustand der Hilflosigkeit ertragen. In

diesem Sinne habe ich damals instinktiv einen wesentlichen Aspekt der Existenzanalyse

verstanden, ohne noch zu wissen, dass diese mein Fachspezifikum werden würde. Was blieb,

war trotz der Freude, die ich in meinem neuen Beruf fand, ein diffuses Gefühl im

Privatleben. Ich hatte meinen Sinn gefunden, wie ich freudig feststellte, doch die Freude

übertrug sich irgendwie nicht auf mein übriges Leben. Zu Beginn des Fachspezifikums

begann sich der viele Jahre lang unterdrückte Schmerz zu melden. Hinzu kam die Angst,

dieser Schmerz könnte so übermächtig losbrechen, dass er mich gleichsam in einen Abgrund

riss, aus dem ich nie wieder hinauffinden würde können. Ich durchlebte auch eine

depressive Phase, die wurde noch verstärkt durch den Anspruch, mir dürfe dies alles ja

aufgrund meines „Fachwissens“ nicht passieren bzw. ich müsste mir selbst helfen können.

Geholfen haben schließlich die Gruppenselbsterfahrung und am meisten die

Einzelselbsterfahrung, sie ermöglichten mir die Zuwendung zu meinem Leiden und die

Auseinandersetzung mit meiner Geschichte. Es meldete sich gefühlt alles, was ich jemals

verdrängt hatte, ich habe allmählich gelernt, die schmerzhaften Gefühle anzunehmen und

dem eigentlichen Ursprung auf den Grund zu gehen. Hatte ich zu Beginn des Prozesses noch

gehofft, ich könnte mein Leid auflösen, so weiß ich heute, dass das nicht möglich ist. Es

bleibt schmerzhaft und traurig, was mir widerfahren ist, aber es ist vorbei! Ich war Opfer,

aber ich bin es nicht geblieben. Für meine Arbeit und für mein eigenes Leben hat sich

wesentlich verändert, dass ich besser zuhören kann, ohne den Drang zu verspüren, sofort an

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eine Lösung zu denken, also das Leid des anderen auszuhalten. Das gilt sowohl für den

beruflichen als auch für den privaten Bereich. Die Erfahrung, Patienten in ihrem Leiden zu

begleiten und miterleben zu dürfen, wie sie einen Weg, ihren Weg, aus diesem Leiden

finden, ist etwas sehr Wertvolles und erfüllt mich mit Freude.

14 Resümee und Schlussgedanken

„Per aspera ad astra“ wird dem römischen Philosophen Seneca (1-65 n.Chr.) zugeschrieben,

es bedeutet frei übersetzt: „Durch Mühsal gelangt man zu den Sternen.“

Ein Mensch, der nie gelitten hat, ist nicht vorstellbar.

Obwohl das Leid ein Zustand ist, der dem Menschen entbehrlich erscheint, geht von ihm

gleichzeitig eine schwer zu beschreibende Faszination aus. Es existiert zwar auch eine

Forschung zum Thema Glück, und es wird versucht, diesem auf die Spur zu kommen, die

Ergebnisse und Erkenntnisse sind vergleichsweise dürftig. Ist Glück nun lediglich die

Abwesenheit von Leid? Es braucht sicher mehr, um Glück zu erfahren, wahr ist allerdings,

dass wir die Freude, ohne sie zu hinterfragen annehmen, während wir mit dem Unglück

hadern.

In unserer dualen Welt bedingt das eine jedoch das andere, und das eine ist bereits im

anderen enthalten. Beides, sowohl die Freude als auch das Leid können sein, und ich kann

ebenso sein, ist eine wesentliche Erkenntnis der 1. Grundmotivation.

Die Existenzanalyse ist also eine der Methoden in der Psychotherapie, die sich sehr stark

dem Leid zuwendet und sich mit diesem auseinandersetzt. Die Patienten machen dadurch –

manche zum ersten Mal in ihrem Leben – die Erfahrung, dass jemand da ist und mit ihnen

den Schmerz, der dem Leiden zugrunde liegt, aushält; nicht wertet und nicht weggeht.

Es scheint, dass das Leid auf dieser Welt in unbegrenztem Maße vorhanden ist; es generiert

sich gleichsam wie von selbst, taucht oft plötzlich und unerwartet auf. Das Glück hingegen ist

gefühlt begrenzt. Was wir Menschen dabei vielleicht übersehen, ist unsere grundsätzliche

Fähigkeit, Glück und Freude zu erleben, indem wir etwas für uns oder andere Wertvolles

schaffen. Dass wir diesen Prozess als Mühe und Anstrengung empfinden und diesen Weg

erst gar nicht als Möglichkeit in Betracht ziehen, ist ein eigenartiges Phänomen. Ist es

tatsächlich die Angst, wir könnten in unserem Versuch scheitern und uns dann noch elender

fühlen? Vielleicht steht und fällt der Wert einer Sache oder Tat mit dem Urteil unserer

Umwelt. Die Vorstellung in unseren Bemühungen falsch oder gar nicht gesehen zu werden

impliziert ein mögliches Leid, das der Mensch ja grundsätzlich zu vermeiden versucht. Oder,

wir befürchten, wir hätten nicht die Kraft und das Rüstzeug dafür. Es gibt ein Sprichwort, das

sinngemäß besagt, dass, je mehr wir besitzen, desto mehr Angst wir haben, etwas verlieren

zu können. Bedeutet dies vielleicht auch eine Zunahme der „Grundangst“, wir könnten all

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das mühsam Erworbene verlieren, die uns in unserem Leid festhält? Das Bekannte, auch

wenn es uns schadet, ist immer noch leichter zu ertragen als das Unbekannte, das vielleicht

– aber eben vielleicht auch nicht – Freudiges für uns bereithält. Das klingt tatsächlich ein

wenig nach Binsenweisheit; doch oft sind es die basalen und banalen, offensichtlichen

Tatsachen, die der Wahrheit am nächsten kommen.

Zusammenfassend kann man also sagen, dass es zwar schon immer sehr viel Leid gab und

gibt, und manche Bereiche des Lebens versuchen zumindest in einen Umgang mit dem Leid

zu kommen. In anderen Bereichen überwiegt der Eindruck, das Leid sollte möglichst

unsichtbar sein, was keinem brauchbaren Zugang zum Leiden darstellt. Die Existenzanalyse

lässt wie jede andere Psychotherapiemethode nichts verschwinden, sondern befähigt den

Patienten lediglich zur Integration des Leides. Was als schmerzhaft erlebt wurde, bleibt

schmerzhaft. Der wesentliche Erfolg liegt in der Erkenntnis und dem Begreifen, dass „es“

vorbei ist.

Es ist diese Hoffnung, dass alles im Leben vorbei geht, die dem Menschen Halt gibt. Sie ist

die Brücke zu einer Erfahrung, dass Leid überwindbar ist. Nichts ist danach mehr, wie es war.

Die Angst vor neuem Leid schwindet mit dem Wissen um diese Möglichkeit. Es braucht also

eine Sensibilität für das eigene und fremde Leid, ohne allerdings in einer Betroffenheit zu

erstarren und somit handlungsunfähig zu sein.

Frankl findet in seinem Buch „…trotzdem Ja zum Leben sagen“ zusammenfassende Worte,

die es besser nicht ausdrücken könnten: „Gekrönt aber wird all dieses Erleben des

heimfindenden Menschen von dem köstlichen Gefühl, nach all dem Erlittenen nichts mehr

auf der Welt fürchten zu müssen – außer seinen Gott.“ (Frankl 2006, 139)

15 Danksagung

Es war ein langer Weg, Danke allen, die mich begleitet haben.

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16 Literaturliste

Burns T & Burns-Lundgren E (2015) Psychotherapy. A Very Short Introduction. Oxford:

OXFORD

Camus A (2013) Die Pest. Hamburg: rororo

Frankl VE (2006) ...trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das

Konzentrationslager. München: Kösel-Verlag

Frankl VE (2013) Das Leiden am sinnlosen Leben. Freiburg: Herder

Gruen A (1986, 2018) Der Verrat am Selbst. München: dtv

Halbfas H (2002, 2010) Die Bibel erschlossen und kommentiert von Hubertus Halbfas.

Ostfildern: PATMOS

Kardinal König (1988) Von der Erkenntnis des Leides. Stift Altenburg

Längle A (2009) Warum wir leiden? In: Existenzanalyse 26, 1, 20-29

Längle A, Künz I (2016) Leben in der Arbeit? Existenzielle Zugänge zu Burnout-Prävention und

Gesundheitsförderung. Wien: facultas

Nietzsche F (1999) Menschliches-Allzumenschlisches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von

Gut und Böse. Köln: PARKLAND

Ringel E (1984) Die Österreichische Seele, 10 Reden über Medizin, Politik, Kunst und

Religion, Wien: BÖHLAU

Safranski R (1987, 2010) Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie. München:

HANSER

Sveshnikova E (2016) Phänomenologische Analyse von Vorbildern für Leiderfahrungen

Jugendlicher. In: Existenzanalyse 33, 1, 25 (Artikel geht von 25-31, Zitat ist von Seite 25)

Scheibsta & die Buben, 20/30, Lyrics

Wagner R (1843) Der fliegende Holländer, 1. Akt