Winckelmann - Schriften

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  • 8/13/2019 Winckelmann - Schriften

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    Johann Joachim Winckelmann

    Schriften

    Gedanken ber die Nachahmung der griechischen

    Werke ...

    Erinnerung ber die Betrachtung der Werke der

    Kunst

    Von der Grazie in Werken der Kunst

    Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom

    Beschreibung des Apollo im Belvedere

    Abhandlung von der Fhigkeit der Empfindung des

    Schnen ...

    Gedanken ber die Nachahmung

    der griechischen Werke

    in der Malerei

    und Bildhauerkunst

    Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehrdurch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst

    unter dem griechischen Himmel zu bilden. Alle Erfin-

    dungen fremder Vlker kamen gleichsam nur als der

    erste Same nach Griechenland und nahmen eine ande-

    re Natur und Gestalt an in dem Lande, welches Mi-

    nerva, sagt man, vor allen Lndern, wegen der gem-

    igten Jahreszeiten, die sie hier angetroffen, den Grie-

    chen zur Wohnung angewiesen, als ein Land, welches

    kluge Kpfe hervorbringen wrde.Der Geschmack, den diese Nation ihren Werken

    gegeben hat, ist ihr eigen geblieben; er hat sich selten

    weit von Griechenland entfernt, ohne etwas zu verlie-

    ren, und unter entlegenen Himmelsstrichen ist er spt

    bekannt geworden. Er war ohne Zweifel ganz und gar

    fremd unter einem nordischen Himmel, zu der Zeit, da

    die beiden Knste, deren groe Lehrer die Griechen

    sind, wenig Verehrer fanden; zu der Zeit, da die ver-

    ehrungswrdigsten Stcke des Correggio im knigli-

    chen Stalle zu Stockholm vor die Fenster, zu Be-deckung derselben, gehngt waren.

    Und man mu gestehen, da die Regierung des

    groen August der eigentliche glckliche Zeitpunkt

    ist, in welchem die Knste, als eine fremde Kolonie,in Sachsen eingefhrt worden. Unter seinem Nachfol-

    ger, dem deutschen Titus, sind dieselben diesem Lande

    eigen worden, und durch sie wird der gute Ge-

    schmack allgemein.

    Es ist ein ewiges Denkmal der Gre dieses Mon-archen, da zur Bildung des guten Geschmacks die

    grten Schtze aus Italien, und was sonst Vollkom-

    menes in der Malerei in andern Lndern hervorge-

    bracht worden, vor den Augen aller Welt aufgestellt

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    sind. Sein Eifer, die Knste zu verewigen, hat endlich

    nicht geruht, bis wahrhafte untrgliche Werke griechi-

    scher Meister, und zwar vom ersten Range, den

    Knstlern zur Nachahmung sind gegeben worden.

    Die reinsten Quellen der Kunst sind geffnet:glcklich ist, wer sie findet und schmeckt. Diese

    Quellen suchen heit nach Athen reisen; und Dresden

    wird nunmehr Athen fr Knstler.

    Der einzige Weg fr uns, gro, ja, wenn es mglich

    ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung

    der Alten, und was jemand vom Homer gesagt, da

    derjenige ihn bewundern lernt, der ihn wohl verstehen

    gelernt, gilt auch von den Kunstwerken der Alten,

    sonderlich der Griechen. Man mu mit ihnen, wie mit

    seinem Freunde, bekannt geworden sein, um den Lao-koon ebenso unnachahmlich als den Homer zu finden.

    In solcher genauen Bekanntschaft wird man, wie Ni-

    comachus von der Helena des Zeuxis, urteilen:

    Nimm meine Augen, sagte er zu einem Unwissen-den, der das Bild tadeln wollte, so wird sie dir eine

    Gttin scheinen.

    Mit diesem Auge haben Michelangelo, Raffael und

    Poussin die Werke der Alten angesehen. Sie haben

    den guten Geschmack aus seiner Quelle geschpft,und Raffael in dem Lande selbst, wo er sich gebildet.

    Man wei, da er junge Leute nach Griechenland ge-

    schickt, die berbleibsel des Altertums fr ihn zu

    zeichnen.

    Eine Bildsule von einer alten rmischen Hand

    wird sich gegen ein griechisches Urbild allemal ver-

    halten wie Virgils Dido, in ihrem Gefolge mit der

    Diana unter ihren Oreaden verglichen, sich gegen Ho-

    mers Nausikaa verhlt, welche jener nachzuahmen ge-sucht hat.

    Laokoon war den Knstlern im alten Rom ebendas,

    was er uns ist: des Polyklets Regel; eine vollkommene

    Regel der Kunst.

    Ich habe nicht ntig anzufhren, da sich in den

    berhmtesten Werken der griechischen Knstler ge-

    wisse Nachlssigkeiten finden: der Delphin, welcher

    der Mediceischen Venus zugegeben ist, nebst den

    spielenden Kindern; die Arbeit des Dioskorides,

    auer der Hauptfigur, in seinem geschnittenen Diome-des mit dem Palladio, sind Beispiele davon. Man

    wei, da die Arbeit der Rckseite auf den schnsten

    Mnzen der gyptischen und syrischen Knige den

    Kpfen dieser Knige selten beikommt. Groe Knstlersind auch in ihren Nachlssigkeiten weise,

    sie knnen nicht fehlen, ohne zugleich zu unterrich-

    ten. Man betrachte ihre Werke, wie Lucian den Jupi-

    ter des Phidias will betrachtet haben, den Jupiter

    selbst, nicht den Schemel seiner Fe.Die Kenner und Nachahmer der griechischen

    Werke finden in ihren Meisterstcken nicht allein die

    schnste Natur, sondern noch mehr als Natur, das ist,

    gewisse idealische Schnheiten derselben, die, wie

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    uns ein alter Ausleger des Plato lehrt, von Bildern,

    blo im Verstande entworfen, gemacht sind.

    Der schnste Krper unter uns wre vielleicht dem

    schnsten griechischen Krper nicht hnlicher, als

    Iphikles dem Herkules, seinem Bruder, war. Der Ein-

    flu eines sanften und reinen Himmels wirkte bei der

    ersten Bildung der Griechen, die frhzeitigen Leibes-

    bungen aber gaben dieser Bildung die edle Form.

    Man nehme einen jungen Spartaner, den ein Held mit

    einer Heldin gezeugt, der in der Kindheit niemals in

    Windeln eingeschrnkt gewesen, der von dem sieben-

    ten Jahre an auf der Erde geschlafen und im Ringen

    und Schwimmen von Kindesbeinen an war gebt wor-

    den. Man stelle ihn neben einen jungen Sybariten un-

    serer Zeit: und alsdann urteile man, welchen von bei-den der Knstler zu einem Urbilde eines jungen The-

    seus, eines Achilles, ja selbst eines Bacchus nehmen

    wrde. Nach diesem gebildet, wrde es ein Theseus, bei

    Rosen, und nach jenem gebildet, ein Theseus, beiFleisch erzogen, werden, wie ein griechischer Maler

    von zwei verschiedenen Vorstellungen dieses Helden

    urteilte.

    Zu den Leibesbungen waren die groen Spiele

    allen jungen Griechen ein krftiger Sporn, und dieGesetze verlangten eine zehnmonatliche Vorbereitung

    zu den olympischen Spielen, und dieses in Elis, an

    dem Orte selbst, wo sie gehalten wurden. Die grten

    Preise erhielten nicht allezeit Mnner, sondern mei-

    stenteils junge Leute, wie Pindars Oden zeigen. Dem

    gttlichen Diagoras gleich zu werden war der hchste

    Wunsch der Jugend.

    Seht den schnellen Indianer an, der einem Hirsche

    zu Fue nachsetzt. Wie flchtig werden seine Sfte,

    wie biegsam und schnell werden seine Nerven und

    Muskeln, und wie leicht wird der ganze Bau des Kr-

    pers gemacht. So bildet uns Homer seine Helden, und

    seinen Achilles bezeichnet er vorzglich durch die

    Geschwindigkeit seiner Fe.

    Die Krper erhielten durch diese bungen den gro-

    en und mnnlichen Kontur, welchen die griechischen

    Meister ihren Bildsulen gegeben, ohne Dunst und

    berflssigen Ansatz. Die jungen Spartaner muten

    sich alle zehn Tage vor den Ephoren nackend zeigen,die denjenigen, welche anfingen fett zu werden, eine

    strengere Dit auflegten. Ja, es war eins unter den

    Gesetzen des Pythagoras, sich vor allem berflssigen

    Ansatz des Krpers zu hten. Es geschah vielleichtaus eben dem Grunde, da jungen Leuten unter den

    Griechen der ltesten Zeiten, die sich zu einem Wett-

    kampf im Ringen angaben, whrend der Zeit der Vor-

    bungen nur Milchspeise zugelassen war.

    Aller belstand des Krpers wurde behutsam ver-mieden, und da Alcibiades in seiner Jugend die Flte

    nicht blasen lernen wollte, weil sie das Gesicht ver-

    stellte, so folgten die jungen Athenienser seinem Bei-

    spiele.

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    Nach dem war der ganze Anzug der Griechen so

    beschaffen, da er der bildenden Natur nicht den ge-

    ringsten Zwang antat. Das Wachstum der schnen

    Form litt nichts durch die verschiedenen Arten und

    Teile unserer heutigen pressenden und klemmenden

    Kleidung, sonderlich am Halse, an den Hften und

    Schenkeln. Das schne Geschlecht selbst unter den

    Griechen wute von keinem ngstlichen Zwange in

    seinem Putze: die jungen Spartanerinnen waren so

    leicht und kurz bekleidet, da man sie daher Hftzei-

    gerinnen nannte.

    Es ist auch bekannt, wie sorgfltig die Griechen

    waren, schne Kinder zu zeugen. Quillet in seiner

    Kallipdie zeigt nicht so viel Wege dazu, als unter

    ihnen blich waren. Sie gingen sogar so weit, da sieaus blauen Augen schwarze zu machen suchten. Auchzur

    Befrderung dieser Absicht errichtete man Wett-

    spiele der Schnheit. Sie wurden in Elis gehalten; der

    Preis bestand in Waffen, die in dem Tempel der Mi-nerva aufgehngt wurden. An grndlichen und gelehr-

    ten Richtern konnte es in diesen Spielen nicht fehlen,

    da die Griechen, wie Aristoteles berichtet, ihre Kinder

    im Zeichnen unterrichten lieen, vornehmlich weil sie

    glaubten, da es geschickter mache, die Schnheit inden Krpern zu betrachten und zu beurteilen.

    Das schne Geblt der Einwohner der meisten

    griechischen Inseln, welches gleichwohl mit so ver-

    schiedenem fremden Geblte vermischt ist, und die

    vorzglichen Reizungen des schnen Geschlechts da-

    selbst, sonderlich auf der Insel Skios, geben zugleich

    eine gegrndete Mutmaung von den Schnheiten

    beiderlei Geschlechts unter ihren Vorfahren, die sich

    rhmten, ursprnglich, ja lter als der Mond zu sein.

    Es sind ja noch jetzt ganze Vlker, bei welchen die

    Schnheit so gar kein Vorzug ist, weil alles schn ist.

    Die Reisebeschreiber sagen dieses einhellig von den

    Georgianern, und ebendieses berichtet man von den

    Kabardinski, einer Nation in der krimischen Tartarei.

    Die Krankheiten, welche so viel Schnheiten zer-

    stren und die edelsten Bildungen verderben, waren

    den Griechen noch unbekannt. Es findet sich in den

    Schriften der griechischen rzte keine Spur von Blat-

    tern, und in keines Griechen angezeigter Bildung, welcheman bei Homer oft nach den geringsten Zgen

    entworfen sieht, ist ein so unterscheidendes Kennzei-

    chen, wie Blattergruben sind, angebracht worden. Die

    venerischen bel und die Tochter derselben, die eng-lische Krankheit, wteten auch noch nicht wider die

    schne Natur der Griechen. berhaupt war alles, was

    von der Geburt bis zur Flle des Wachstums zur Bil-

    dung der Krper, zur Bewahrung, zur Ausarbeitung

    und zur Zierde dieser Bildung durch Natur und Kunsteingeflt und gelehrt worden, zum Vorteil der sch-

    nen Natur der alten Griechen gewirkt und angewen-

    det, und kann die vorzgliche Schnheit ihrer Krper

    vor den unsrigen mit der grten Wahrscheinlichkeit

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    zu behaupten Anla geben.

    Die vollkommensten Geschpfe der Natur aber

    wrden in einem Lande, wo die Natur in vielen ihrer

    Wirkungen durch strengere Gesetze gehemmt war,

    wie in gypten, dem vorgegebenen Vaterlande der

    Knste und Wissenschaften, den Knstlern nur zum

    Teil und unvollkommen bekannt geworden sein. In

    Griechenland aber, wo man sich der Lust und Freude

    von Jugend auf weihte, wo ein gewisser heutiger br-

    gerlicher Wohlstand der Freiheit der Sitten niemals

    Eintrag getan, da zeigte sich die schne Natur unver-

    hllt zum groen Unterrichte der Knstler.

    Die Schule der Knstler war in den Gymnasien, wo

    die jungen Leute, welche die ffentliche Schamhaftigkeit

    bedeckte, ganz nackend ihre Leibes-bungen trieben. Der Weise, der Knstler gingen

    dahin: Sokrates, den Charmides, den Autolycus, den

    Lysis zu lehren; ein Phidias, aus diesen schnen Ge-

    schpfen seine Kunst zu bereichern. Man lernte da-selbst Bewegungen der Muskeln, Wendungen des

    Krpers; man studierte die Umrisse der Krper oder

    den Kontur an dem Abdrucke, den die jungen Ringer

    im Sande gemacht hatten.

    Das schnste Nackende der Krper zeigt sich hierin so mannigfaltigen, wahrhaften und edlen Stnden

    und Stellungen, in die ein gedungenes Modell, wel-

    ches in unseren Akademien aufgestellt wird, nicht zu

    setzen ist.

    Die innere Empfindung bildet den Charakter der

    Wahrheit, und der Zeichner, welcher seinen Akademi-

    en denselben geben will, wird nicht einen Schatten

    des Wahren erhalten ohne eigene Ersetzung desjeni-

    gen, was eine ungerhrte und gleichgltige Seele des

    Modells nicht empfindet, noch durch eine Aktion, die

    einer gewissen Empfindung oder Leidenschaft eigen

    ist, ausdrcken kann.

    Der Eingang zu vielen Gesprchen des Plato, die er

    in den Gymnasien zu Athen ihren Anfang nehmen las-

    sen, macht uns ein Bild von den edlen Seelen der Ju-

    gend und lt uns auch hieraus auf gleichfrmige

    Handlungen und Stellungen an diesen Orten und in ihren

    Leibesbungen schlieen.

    Die schnsten jungen Leute tanzten unbekleidet aufdem Theater, und Sophokles, der groe Sophokles,

    war der erste, der in seiner Jugend dieses Schauspiel

    seinen Brgern machte. Phryne badete sich in den

    eleusinischen Spielen vor den Augen aller Griechenund wurde beim Heraussteigen aus dem Wasser den

    Knstlern das Urbild einer Venus Anadyomene, und

    man wei, da die jungen Mdchen in Sparta an

    einem gewissen Feste ganz nackend vor den Augen

    der jungen Leute tanzten. Was hier fremd scheinenknnte, wird ertrglicher werden, wenn man bedenkt,

    da auch die Christen der ersten Kirche ohne die ge-

    ringste Verhllung, sowohl Mnner als Weiber, zu

    gleicher Zeit und in einem und ebendemselben Tauf-

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    steine getauft oder untergetaucht worden sind.

    Also war auch ein jedes Fest bei den Griechen eine

    Gelegenheit fr Knstler, sich mit der schnen Natur

    aufs genaueste bekanntzumachen.

    Die Menschlichkeit der Griechen hatte in ihrer bl-

    henden Freiheit keine blutigen Schauspiele einfhren

    wollen, oder wenn dergleichen in dem ionischen

    Asien, wie einige glauben, blich gewesen, so waren

    sie seit geraumer Zeit wiederum eingestellt. Antiochus

    Epiphanes, Knig in Syrien, verschrieb Fechter von

    Rom und lie die Griechen Schauspiele dieser un-

    glcklichen Menschen sehen, die ihnen anfnglich

    einAbscheu waren. Mit der Zeit verlor sich das menschli-

    che Gefhl, und auch diese Schauspiele wurden Schu-

    len der Knstler. Ein Ktesilas studierte hier seinensterbenden Fechter, an welchem man sehen konnte,

    wieviel von seiner Seele noch in ihm brig war.

    Diese hufigen Gelegenheiten zur Beobachtung der

    Natur veranlaten die griechischen Knstler, nochweiter zu gehen. Sie fingen an, sich gewisse allgemei-

    ne Begriffe von Schnheiten sowohl einzelner Teile

    als ganzer Verhltnisse der Krper zu bilden, die sich

    ber die Natur selbst erheben sollten; ihr Urbild war

    eine blo im Verstande entworfene geistige Natur.So bildete Raffael seine Galatea. Man sehe seinen

    Brief an den Grafen Baldasare Castiglione: Da die

    Schnheiten, schreibt er, unter dem Frauenzimmer

    so selten sind, so bediene ich mich einer gewissen

    Idee in meiner Einbildung.

    Nach solchen ber die gewhnliche Form der Ma-

    terie erhabenen Begriffen bildeten die Griechen Gtter

    und Menschen. An Gttern und Gttinnen machte

    Stirn und Nase beinahe eine gerade Linie. Die Kpfe

    berhmter Frauen auf griechischen Mnzen haben

    dergleichen Profil, wo es gleichwohl nicht willkrlich

    war, nach idealischen Begriffen zu arbeiten. Oder

    man knnte mutmaen, da diese Bildung den alten

    Griechen ebenso eigen gewesen, als es bei den Kal-

    mcken die flachen Nasen, bei den Chinesen die kleinen

    Augen sind. Die groen Augen der griechi-

    schen Kpfe auf Steinen und Mnzen knnten diese

    Mutmaungen untersttzen.

    Die rmischen Kaiserinnen wurden von den Grie-chen auf ihren Mnzen nach eben diesen Ideen gebil-

    det. Der Kopf einer Livia und einer Agrippina hat

    ebendasselbe Profil, welches der Kopf einer Artemisia

    und einer Kleopatra hat.Bei allen diesen bemerkt man, da das von den

    Thebanern ihren Knstlern vorgeschriebene Gesetz,

    die Natur bei Strafe aufs beste nachzuahmen, auch

    von andern Knstlern in Griechenland als ein Gesetz

    beobachtet worden. Wo das sanfte griechische Profilohne Nachteil der hnlichkeit nicht anzubringen war,

    folgten sie der Wahrheit der Natur, wie an dem sch-

    nen Kopf der Julia, Kaiser Titus' Tochter, von der

    Hand des Euodus, zu sehen ist.

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    Das Gesetz aber, die Personen hnlich und zu

    gleicher Zeit schner zu machen, war allezeit das

    hchste Gesetz, welches die griechischen Knstler

    ber sich erkannten, und setzt notwendig eine Absicht

    des Meisters auf eine schnere und vollkommenere

    Natur voraus. Polygnot hat dasselbe bestndig beob-

    achtet.

    Wenn also von einigen Knstlern berichtet wird,

    da sie wie Praxiteles verfahren, welcher seine kindi-

    sche Venus nach seiner Beischlferin Kratina gebildet,

    oder wie andere Maler, welche die Lais zum

    Modell der Grazien genommen, so glaube ich, sei es

    geschehen ohne Abweichung von gemeldeten allge-

    meinen groen Gesetzen der Kunst. Die sinnliche

    Schnheit gab dem Knstler die schne Natur, dieidealische Schnheit die erhabenen Zge; von jener

    nahm er das Menschliche, von dieser das Gttliche.

    Hat jemand Erleuchtung genug, in das Innerste der

    Kunst hineinzuschauen, so wird er durch Verglei-chung des ganzen brigen Baues der griechischen Fi-

    guren mit den meisten neuern, sonderlich in welchen

    man mehr der Natur als dem alten Geschmacke ge-

    folgt ist, vielmals noch wenig entdeckte Schnheiten

    finden.In den meisten Figuren neuerer Meister sieht man

    an den Teilen des Krpers, welche zusammenge-

    drckt sind, kleine, gar zu sehr bezeichnete Falten der

    Haut; dahingegen wo sich ebendieselben Falten in

    gleichgedrckte Teile griechischer Figuren legen, ein

    sanfter Schwung eine aus der andern wellenfrmig er-

    hebt, dergestalt, da diese Falten nur ein Ganzes und

    zusammen nur einen edlen Druck zu machen schei-

    nen. Diese Meisterstcke zeigen uns eine Haut, die

    nicht angespannt, sondern sanft gezogen ist ber ein

    gesundes Fleisch, welches dieselbe ohne schwlstige

    Ausdehnung fllt und bei allen Beugungen der flei-

    schigen Teile der Richtung derselben vereinigt folgt. Die

    Haut wirft niemals, wie an unsern Krpern, be-

    sondere und von dem Fleisch getrennte kleine Falten.

    Ebenso unterscheiden sich die neuern Werke von

    den griechischen durch eine Menge kleiner Eindrcke

    und durch gar zu viele und gar zu sinnlich gemachte

    Grbchen, welche, wo sie sich in den Werken derAlten befinden, mit einer sparsamen Weisheit, nach

    der Masse derselben in der vollkommenern und vlli-

    gern Natur unter den Griechen, sanft angedeutet und

    fters nur durch ein gelehrtes Gefhl bemerkt werden.Es bietet sich hier allezeit die Wahrscheinlichkeit

    von selbst dar, da in der Bildung der schnen grie-

    chischen Krper, wie in den Werken ihrer Meister,

    mehr Einheit des ganzen Baues, eine edlere Verbin-

    dung der Teile, ein reicheres Ma der Flle gewesen,ohne magere Spannungen und ohne viele eingefallene

    Hhlungen unserer Krper.

    Man kann nicht weiter als bis zur Wahrscheinlich-

    keit gehen. Es verdient aber diese Wahrscheinlichkeit

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    die Aufmerksamkeit unserer Knstler und Kenner der

    Kunst, und dieses um so viel mehr, da es notwendig

    ist, die Verehrung der Denkmale der Griechen von

    dem ihr von vielen beigemessenen Vorurteile zu be-

    freien, um nicht zu scheinen, der Nachahmung dersel-

    ben blo durch den Moder der Zeit ein Verdienst bei-

    zulegen.

    Dieser Punkt, ber welchen die Stimmen der Knstler

    geteilt sind, erforderte eine ausfhrlichere

    Abhandlung, als in gegenwrtiger Absicht geschehen

    knnen.

    Man wei, da der groe Bernini einer von denen

    gewesen, die den Griechen den Vorzug einer teils

    schnern Natur, teils idealischen Schnheit ihrer Fi-

    guren hat streitig machen wollen. Er war auerdemder Meinung, da die Natur allen ihren Teilen das er-

    forderliche Schne zu geben wisse; die Kunst bestehe

    darin, es zu finden. Er hat sich gerhmt, ein Vorurteil

    abgelegt zu haben, worin er in Ansehung des Reizesder Mediceischen Venus anfnglich gewesen, den er

    jedoch nach einem mhsamen Studium bei verschie-

    denen Gelegenheiten in der Natur wahrgenommen.

    Also ist es die Venus gewesen, welche ihn Schn-

    heiten in der Natur entdecken gelehrt, die er vorherallein in jener zu finden geglaubt hat und die er ohne

    die Venus nicht wrde in der Natur gesucht haben.

    Folgt nicht daraus, da die Schnheit der griechischen

    Statuen eher zu entdecken ist als die Schnheit in der

    Natur und da also jene rhrender, nicht so sehr zer-

    streut, sondern mehr in eins vereinigt, als es diese ist?

    Das Studium der Natur mu also wenigstens ein ln-

    gerer und mhsamerer Weg zur Kenntnis des voll-

    kommenen Schnen sein, als es das Studium der An-

    tiken ist, und Bernini htte jungen Knstlern, die er

    allezeit auf das Schnste in der Natur vorzglich wies,

    nicht den krzesten Weg dazu gezeigt.

    Die Nachahmung des Schnen der Natur ist entwe-

    der auf einen einzelnen Vorwurf gerichtet, oder sie

    sammelt die Bemerkungen aus verschiedenen einzel-

    nen und bringt sie in eins. Jenes heit, eine hnliche

    Kopie, ein Portrt machen; es ist der Weg zu holln-

    dischen Formen und Figuren. Dieses aber ist der Weg

    zum allgemeinen Schnen und zu idealischen Bilderndesselben, und derselbe ist es, den die Griechen ge-

    nommen haben. Der Unterschied aber zwischen ihnen

    und uns ist dieser: die Griechen erlangten diese Bil-

    der, wren auch dieselben nicht von schnern Kr-pern genommen gewesen, durch eine tgliche Gele-

    genheit zur Beobachtung des Schnen der Natur, die

    sich uns hingegen nicht alle Tage zeigt, und selten so,

    wie sie der Knstler wnscht.

    Unsere Natur wird nicht leicht einen so vollkom-menen Krper zeigen, dergleichen der Antinous Ad-

    mirandus hat, und die Idee wird sich ber die mehr als

    menschlichen Verhltnisse einer schnen Gottheit in

    dem vatikanischen Apollo nichts bilden knnen. Was

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    Natur, Geist und Kunst hervorzubringen vermgend

    gewesen, liegt hier vor Augen.

    Ich glaube, ihre Nachahmung knne lehren, ge-

    schwinder klug zu werden, weil sie hier in dem einen

    den Inbegriff desjenigen findet, was in der ganzen

    Natur ausgeteilt ist, und in dem andern, wie weit die

    schnste Natur sich ber sich selbst, khn aber weis-

    lich, erheben kann. Sie wird lehren, mit Sicherheit zu

    denken und zu entwerfen, indem sie hier die hchsten

    Grenzen des menschlich und zugleich des gttlich

    Schnen bestimmt sieht.

    Wenn der Knstler auf diesen Grund baut und sich

    die griechische Regel der Schnheit Hand und Sinne

    fhren lt, so ist er auf dem Wege, der ihn sicher zur

    Nachahmung der Natur fhren wird. Die Begriffe desGanzen, des Vollkommenen in der Natur des Alter-

    tums werden die Begriffe des Geteilten in unserer

    Natur bei ihm lutern und sinnlicher machen. Er wird

    bei Entdeckung der Schnheiten derselben diese mitdem vollkommenen Schnen zu verbinden wissen,

    und durch Hilfe der ihm bestndig gegenwrtigen er-

    habenen Formen wird er sich selbst eine Regel wer-

    den.

    Alsdann und nicht eher kann er, sonderlich derMaler, sich der Nachahmung der Natur berlassen in

    solchen Fllen, wo ihm die Kunst verstattet, von dem

    Marmor abzugehen, wie in Gewndern, und sich mehr

    Freiheit zu geben, wie Poussin getan; denn derjeni-

    ge, welcher bestndig andern nachgeht, wird niemals

    vorauskommen, und welcher aus sich selbst nichts

    Gutes zu machen wei, wird sich auch der Sachen

    von anderen nicht gut bedienen, wie Michelangelo

    sagt. Seelen, denen die Natur hold gewesen,

    Quibus arte benigna

    Et meliore luto finxit praecordia Titan,

    haben hier den Weg vor sich offen, Originale zu wer-

    den.

    In diesem Verstande ist es zu nehmen, wenn de

    Piles berichten will, da Raffael zu der Zeit, da ihn

    der Tod bereilt, sich bestrebt habe, den Marmor zu

    verlassen und der Natur gnzlich nachzugehen. Derwahre Geschmack des Altertums wrde ihn auch

    durch die gemeine Natur hindurch bestndig begleitet

    haben, und alle Bemerkungen in derselben wrden bei

    ihm durch eine Art einer chemischen Verwandlungdasjenige geworden sein, was sein Wesen, seine Seele

    ausmachte.

    Er wrde vielleicht mehr Mannigfaltigkeit, grere

    Gewnder, mehr Kolorit, mehr Licht und Schatten

    seinen Gemlden gegeben haben, aber seine Figurenwrden dennoch allezeit weniger schtzbar hierdurch,

    als durch den edlen Kontur und durch die erhabene

    Seele, die er aus den Griechen hat bilden lernen, ge-

    wesen sein.

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    Nichts wrde den Vorzug der Nachahmung der

    Alten vor der Nachahmung der Natur deutlicher zei-

    gen knnen, als wenn man zwei junge Leute nhme von

    gleich schnem Talente und den einen das Alter-

    tum, den andern die bloe Natur studieren liee. Die-

    ser wrde die Natur bilden, wie er sie findet. Als ein

    Italiener wrde er Figuren malen vielleicht wie Cara-

    vaggio, als ein Niederlnder, wenn er glcklich ist,

    wie Jacob Jordaens, als ein Franzose wie Stella; jener

    aber wrde die Natur bilden, wie sie es verlangt, und

    Figuren malen wie Raffael.

    Knnte auch die Nachahmung der Natur dem

    Knstler alles geben, so wrde gewi die Richtigkeit

    im Kontur durch sie nicht zu erhalten sein. Diese mu

    von den Griechen allein erlernt werden.Der edelste Kontur vereinigt oder umschreibt alle

    Teile der schnsten Natur und der idealischen Schn-

    heiten in den Figuren der Griechen, oder er ist viel-

    mehr der hchste Begriff in beiden. Euphranor, dernach des Zeuxis Zeiten sich hervortat, wird fr den

    ersten gehalten, der demselben die erhabenere Manier

    gegeben.

    Viele unter den neueren Knstlern haben den grie-

    chischen Kontur nachzuahmen gesucht, und fast nie-mandem ist es gelungen. Der groe Rubens ist weit

    entfernt von dem griechischen Umrisse der Krper,

    und in denjenigen unter seinen Werken, die er vor sei-

    ner Reise nach Italien und vor dem Studium der Anti-

    ken gemacht hat, am weitesten.

    Die Linie, welche das Vllige der Natur von dem

    berflssigen derselben scheidet, ist sehr klein, und

    die grten neueren Meister sind ber diese nicht al-

    lezeit greifliche Grenze auf beiden Seiten zu sehr ab-

    gewichen. Derjenige, welcher einen ausgehungerten

    Kontur vermeiden wollen, ist in die Schwulst verfal-

    len, der diese vermeiden wollen, in das Magere.

    Michelangelo ist vielleicht der einzige, von dem

    man sagen knnte, da er das Altertum erreicht, aber

    nur in starken muskulsen Figuren, in Krpern aus

    der Heldenzeit, nicht in zrtlich jugendlichen, nicht in

    weiblichen Figuren, welche unter seiner Hand zu

    Amazonen geworden sind.

    Der griechische Knstler hingegen hat seinen Kon-tur in allen Figuren wie auf die Spitze eines Haars ge-

    setzt, auch in den feinsten und mhsamsten Arbeiten,

    dergleichen auf geschnittenen Steinen ist. Man be-

    trachte den Diomedes und den Perseus des Dioskori-des, den Herkules mit der Iole von der Hand des Teu-

    cer und bewundere die hier unnachahmlichen Grie-

    chen.

    Parrhasius wird insgemein fr den Strksten im

    Kontur gehalten.Auch unter den Gewndern der griechischen Figu-

    ren herrscht der meisterhafte Kontur, als die Hauptab-

    sicht des Knstlers, der auch durch den Marmor hin-

    durch den schnen Bau seines Krpers, wie durch ein

  • 8/13/2019 Winckelmann - Schriften

    11/67

    koisches Kleid, zeigt. Die im hohen Stile gearbeitete

    Agrippina und die

    drei Vestalen unter den Kniglichen Antiken in Dres-

    den verdienen hier als groe Muster angefhrt zu wer-

    den. Agrippina ist vermutlich nicht die Mutter des

    Nero, sondern die ltere Agrippina, eine Gemahlin

    des Germanicus. Sie hat sehr viel hnlichkeit mit

    einer vorgegebenen stehenden Statue ebendieser

    Agrippina in dem Vorsaale der Bibliothek zu San

    Marco in Venedig. Unsere ist eine sitzende Figur,

    grer als die Natur, mit auf die rechte Hand gesttz-

    tem Haupte. Ihr schnes Gesicht zeigt eine Seele, die

    in tiefe Betrachtungen versenkt und vor Sorgen und

    Kummer gegen alle ueren Empfindungen fhllos

    scheint. Man knnte mutmaen, der Knstler habe dieHeldin in dem betrbten Augenblick vorstellen wol-

    len, da ihr die Verweisung nach der Insel Pandataria

    war angekndigt worden.

    Die drei Vestalen sind unter einem doppelten Titelverehrungswrdig. Sie sind die ersten groen Ent-

    deckungen von Herculanum, allein, was sie noch

    schtzbarer macht, ist die groe Manier in ihren Ge-

    wndern. In diesem Teile der Kunst sind sie alle drei,

    sonderlich aber diejenige, welche grer ist als dieNatur, der Farnesischen Flora und anderen griechi-

    schen Werken vom ersten Range beizusetzen. Die

    zwei andern, gro wie die Natur, sind einander so

    hnlich, da sie von einer und ebenderselben Hand zusein

    scheinen; sie unterscheiden sich allein durch die

    Kpfe, welche nicht von gleicher Gte sind. An dem

    besten Kopfe liegen die gekruselten Haare nach Art

    der Furchen geteilt, von der Stirne an bis da, wo sie

    hinten zusammengebunden sind. An dem andern

    Kopfe gehen die Haare glatt ber den Scheitel, und

    die vorderen gekruselten Haare sind durch ein Band

    gesammelt und gebunden. Es ist glaublich, da dieser

    Kopf durch eine neuere, wiewohl gute Hand gearbei-

    tet und angesetzt worden.

    Das Haupt dieser beiden Figuren ist mit keinem

    Schleier bedeckt, welches ihnen aber den Titel der

    Vestalen nicht streitig macht, da erweislich ist, da

    sich auch anderwrts Priesterinnen der Vesta ohneSchleier finden. Oder es scheint vielmehr aus den

    starken Falten des Gewandes hinten am Halse, da

    der Schleier, welcher kein abgesonderter Teil vom

    Gewande ist, wie an der grten Vestale zu sehen,hinten bergeschlagen liege.

    Es verdient der Welt bekanntgemacht zu werden,

    da diese drei gttlichen Stcke die ersten Spuren ge-

    zeigt zur nachfolgenden Entdeckung der unterirdi-

    schen Schtze von der Stadt Herculanum.Sie kamen an das Tageslicht, da noch das Anden-

    ken derselben gleichsam unter der Vergessenheit, so

    wie die Stadt selbst unter ihren eigenen Ruinen, ver-

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    graben und verschttet lag, zu der Zeit, da das traurige

    Schicksal, welches diesen Ort betroffen, nur

    fast noch allein durch des jngern Plinius Nachricht

    von dem Ende seines Vetters, welches ihn in der Ver-

    wstung von Herculanum zugleich mit bereilte, be-

    kannt war.

    Diese groen Meisterstcke der griechischen Kunst

    wurden schon unter den deutschen Himmel versetzt

    und daselbst verehrt, da Neapel noch nicht das Glck

    hatte, ein einziges herculanisches Denkmal, soviel

    man erfahren knnen, aufzuweisen.

    Sie wurden im Jahr 1706 in Portici bei Neapel in

    einem verschtteten Gewlbe gefunden, da man den

    Grund grub zu einem Landhause des Prinzen von El-

    beuf, und sie kamen unmittelbar hernach, nebst an-dern daselbst entdeckten Statuen in Marmor und Erz,

    in den Besitz des Prinzen Eugen nach Wien.

    Dieser groe Kenner der Knste, um einen vorzg-

    lichen Ort zu haben, wo dieselben knnten aufgestelltwerden, hat vornehmlich fr diese drei Figuren eine

    Sala terrena bauen lassen, wo sie nebst einigen andern

    Statuen ihren Platz bekommen haben. Die ganze Aka-

    demie und alle Knstler in Wien waren gleichsam in

    Emprung, da man nur noch ganz dunkel von dersel-ben Verkauf sprach, und ein jeder sah denselben mit

    betrbten Augen nach, als sie von Wien nach Dresden

    fortgefhrt wurden.

    Der berhmte Matielli, dem Polyklet das Ma und

    Phidias das Eisen gab (Algarotti), hat, ehe noch die-

    ses geschah, alle drei Vestalen mit dem mhsamsten

    Fleie in Ton kopiert um sich den Verlust derselben

    dadurch zu ersetzen. Er folgte ihnen einige Jahre her-

    nach und erfllte Dresden mit ewigen Werken seiner

    Kunst, aber seine Priesterinnen blieben auch hier sein

    Studium in der Draperie, worin seine Strke bestand

    bis in sein Alter, welches zugleich ein nicht unge-

    grndetes Vorurteil ihrer Trefflichkeit ist.

    Unter dem Wort Draperie begreift man alles, was

    die Kunst von Bekleidung des Nackenden der Figuren

    und von gebrochenen Gewndern lehrt. Diese Wis-

    senschaft ist nach der schnen Natur und nach dem

    edlen Kontur der dritte Vorzug der Werke des Alter-tums.

    Die Draperie der Vestalen ist in der hchsten Ma-

    nier. Die kleinen Brche entstehen durch einen sanf-

    ten Schwung aus den grten Partien und verlierensich wieder in diesen mit einer edlen Freiheit und

    sanften Harmonie des Ganzen, ohne den schnen

    Kontur des Nackenden zu verstecken. Wie wenig

    neuere Meister sind in diesem Teile der Kunst ohne

    Tadel!Diese Gerechtigkeit aber mu man einigen groen

    Knstlern, sonderlich Malern neuerer Zeiten, wider-

    fahren lassen, da sie in gewissen Fllen von dem

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    Wege, den die griechischen Meister in Bekleidung ihrer

    Figuren am gewhnlichsten gehalten haben,

    ohne Nachteil der Natur und Wahrheit abgegangen

    sind. Die griechische Draperie ist meistenteils nach

    dnnen und nassen Gewndern gearbeitet, die sich

    folglich, wie Knstler wissen, dicht an die Haut und

    an den Krper schlieen und das Nackende desselben

    sehen lassen. Das ganze oberste Gewand des griechi-

    schen Frauenzimmers war ein sehr dnnes Zeug; es

    hie daher Peplon, ein Schleier.

    Da die Alten nicht allezeit fein gebrochene Ge-

    wnder gemacht haben, zeigen die erhobenen Arbei-

    ten derselben, die alten Malereien und sonderlich die

    alten Brustbilder. Der schne Caracalla unter den K-

    niglichen Antiken in Dresden kann dieses besttigen.In den neuern Zeiten hat man ein Gewand ber das

    andere, und zuweilen schwere Gewnder, zu legen ge-

    habt, die nicht in so sanfte und flieende Brche, wie

    der Alten ihre sind, fallen knnen. Dieses gab folglichAnla zu der neuen Manier der groen Partien in Ge-

    wndern, in welcher der Meister seine Wissenschaft

    nicht weniger als in der gewhnlichen Manier der

    Alten zeigen kann.

    Carl Maratta und Franz Solimena knnen in dieserArt fr die Grten gehalten werden. Die neue vene-

    zianische Schule, welche noch weiter zu gehen ge-

    sucht, hat diese Manier bertrieben, und indem sie

    nichts als groe Partien gesucht, sind ihre Gewnder

    dadurch steif und blechern worden.

    Das allgemeine vorzgliche Kennzeichen der grie-

    chischen Meisterstcke ist endlich eine edle Einfalt

    und eine stille Gre, sowohl in der Stellung als im

    Ausdruck. So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig

    bleibt, die Oberflche mag noch so wten, ebenso

    zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei

    allen Leidenschaften eine groe und gesetzte Seele.

    Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laoko-

    on, und nicht in dem Gesichte allein, bei dem heftig-

    sten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in allen Mus-

    keln und Sehnen des Krpers entdeckt und den man

    ganz allein, ohne das Gesicht und andere Teile zu be-

    trachten, an dem schmerzlich eingezogenen Unterleibebeinahe selbst zu empfinden glaubt, dieser Schmerz,

    sage ich, uert sich dennoch mit keiner Wut in dem

    Gesichte und in der ganzen Stellung. Er erhebt kein

    schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laoko-on singt. Die ffnung des Mundes gestattet es nicht;

    es ist vielmehr ein ngstliches und beklemmtes Seuf-

    zen, wie es Sadolet beschreibt. Der Schmerz des Kr-

    pers und die Gre der Seele sind durch den ganzen

    Bau der Figur mit gleicher Strke ausgeteilt undgleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet

    wie des Sophokles Philoktetes: sein Elend geht uns

    bis an die Seele, aber wir wnschten, wie dieser groe

    Mann das Elend ertragen zu knnen.

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    Der Ausdruck einer so groen Seele geht weit ber

    die Bildung der schnen Natur: der Knstler mute

    die Strke des Geistes in sich selbst fhlen, welche er

    seinem Marmor einprgte. Griechenland hatte Knst-

    ler und Weltweise in einer Person und mehr als einen

    Metrodor. Die Weisheit reichte der Kunst die Hand

    und blies den Figuren derselben mehr als gemeine

    Seelen ein.

    Unter einem Gewande, welches der Knstler dem

    Laokoon als einem Priester htte geben sollen, wrde

    uns sein Schmerz nur halb so sinnlich gewesen sein.

    Bernini hat sogar den Anfang der Wirkung des Gifts

    der Schlange in dem einen Schenkel des Laokoon an

    der Erstarrung desselben entdecken wollen.

    Alle Handlungen und Stellungen der griechischenFiguren, die mit diesem Charakter der Weisheit nicht

    bezeichnet, sondern gar zu feurig und wild waren,

    verfielen in einen Fehler, den die alten Knstler Pa-

    renthyrsis nannten.Je ruhiger der Stand des Krpers ist, desto ge-

    schickter ist er, den wahren Charakter der Seele zu

    schildern. In allen Stellungen, die von dem Stande der

    Ruhe zu sehr abweichen, befindet sich die Seele nicht

    in dem Zustande, der ihr der eigentlichste ist, sondernin einem gewaltsamen und erzwungenen Zustande.

    Kenntlicher und bezeichnender wird die Seele in hefti-

    gen Leidenschaften, gro aber und edel ist sie in dem

    Stande der Einheit, in dem Stande der Ruhe. Im Lao-

    koon wrde der Schmerz, allein gebildet, Parenthyrsis

    gewesen sein; der Knstler gab ihm daher, um das

    Bezeichnende und das Edle der Seele in eins zu verei-

    nigen, eine Aktion, die dem Stande der Ruhe in sol-

    chem Schmerze der nchste war. Aber in dieser Ruhe

    mu die Seele durch Zge, die ihr und keiner andern

    Seele eigen sind, bezeichnet werden, um sie ruhig,

    aber zugleich wirksam, stille, aber nicht gleichgltig

    oder schlfrig zu bilden.

    Das wahre Gegenteil und das diesem entgegenste-

    hende uerste Ende ist der gemeinste Geschmack der

    heutigen, sonderlich [der] angehenden Knstler. Ihren

    Beifall verdient nichts, als worin ungewhnliche Stel-

    lungen und Handlungen, die ein freches Feuer beglei-

    tet, herrschen, welches sie mit Geist, mit Franchezza,wie sie reden, ausgefhrt heien. Der Liebling ihrer

    Begriffe ist der Kontrapost, der bei ihnen der Inbegriff

    aller selbst gebildeten Eigenschaften eines vollkom-

    menen Werks der Kunst ist. Sie verlangen eine Seelein ihren Figuren, die wie ein Komet aus ihrem Kreise

    weicht; sie wnschen in jeder Figur einen Ajax und

    einen Capaneus zu sehen.

    Die schnen Knste haben ihre Jugend sowohl wie

    die Menschen, und der Anfang dieser Knste scheintwie der Anfang bei Knstlern gewesen zu sein, wo

    nur das Hochtrabende, das Erstaunende gefllt. Solche

    Gestalt hatte die tragische Muse des schylus,

    und sein Agamemnon ist zum Teil durch Hyperbolen

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    viel dunkler geworden als alles, was Heraklit ge-

    schrieben. Vielleicht haben die ersten griechischen

    Maler nicht anders gezeichnet, als ihr erster guter Tra-

    gikus gedichtet hat.

    Das Heftige, das Flchtige geht in allen menschli-

    chen Handlungen voran; das Gesetzte, das Grndliche

    folgt zuletzt. Dieses letztere aber gebraucht Zeit, es zu

    bewundern; es ist nur groen Meistern eigen; heftige

    Leidenschaften sind ein Vorteil auch fr ihre Schler.

    Die Weisen in der Kunst wissen, wie schwer dieses

    scheinbare Nachahmliche ist,

    ... ut sibi quivis

    Speret idem, sudet multum, frustraque laboret

    Ausus idem.

    La Fage, der groe Zeichner, hat den Geschmack

    der Alten nicht erreichen knnen. Alles ist in Bewe-

    gung in seinen Werken, und man wird in der Betrach-tung derselben geteilt und zerstreut, wie in einer Ge-

    sellschaft, wo alle Personen zugleich reden wollen.

    Die edle Einfalt und stille Gre der griechischen

    Statuen ist zugleich das wahre Kennzeichen der grie-

    chischen Schriften aus den besten Zeiten, der Schrif-ten aus Sokrates' Schule, und diese Eigenschaften sind es,

    welche die vorzgliche Gre eines Raffael

    machen, zu welcher er durch die Nachahmung der

    Alten gelangt ist.

    Eine so schne Seele, wie die seinige war, in einem

    so schnen Krper wurde erfordert, den wahren Cha-

    rakter der Alten in neueren Zeiten zuerst zu empfin-

    den und zu entdecken, und was sein grtes Glck

    war, schon in einem Alter, in welchem gemeine und

    halbgeformte Seelen ber die wahre Gre ohne

    Empfindung bleiben.

    Mit einem Auge, welches diese Schnheiten emp-

    finden gelernt, mit diesem wahren Geschmacke des

    Altertums mu man sich seinen Werken nhern. Als-

    dann wird uns die Ruhe und Stille der Hauptfiguren

    in Raffaels Attila, welche vielen leblos scheinen, sehr

    bedeutend und erhaben sein. Der rmische Bischof,

    der das Vorhaben des Knigs der Hunnen, auf Rom

    loszugehen, abwendet, erscheint nicht mit Gebrdenund Bewegungen eines Redners, sondern als ein ehr-

    wrdiger Mann, der blo durch seine Gegenwart

    einen Aufruhr stillt, wie derjenige, den uns Virgil be-

    schreibt,

    Tum pietate gravem ac meritis si forte virum quem

    Conspexere, silent arrectisque auribus adstand,

    mit einem Gesichte voll gttlicher Zuversicht vor denAugen des Wterichs. Die beiden Apostel schwe-

    ben nicht wie Wrgeengel in den Wolken, sondern,

    wenn es erlaubt ist, das Heilige mit dem Unheiligen

    zu vergleichen, wie Homers Jupiter, der durch das

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    Winken seiner Augenlider den Olympus erschttern

    macht.

    Algardi, in seiner berhmten Vorstellung ebendie-

    ser Geschichte, in halb erhobener Arbeit an einem

    Altar der St. Peterskirche in Rom, hat die wirksame

    Stille seines groen Vorgngers den Figuren seiner

    beiden Apostel nicht gegeben oder zu geben verstan-

    den. Dort erscheinen sie wie Gesandte des Herrn der

    Heerscharen, hier wie sterbliche Krieger mit mensch-

    lichen Wallen.

    Wie wenig Kenner hat der schne St. Michael des

    Guido Reni in der Kapuzinerkirche zu Rom gefunden,

    welche die Gre des Ausdrucks, die der Knstler

    seinem Erzengel gegeben, einzusehen vermgend ge-

    wesen! Man gibt des Conca seinem Michael den Preisvor jenem, weil er Unwillen und Rache im Gesichte

    zeigt, anstatt da jener, nachdem er den Feind Gottes

    und der Menschen gestrzt, ohne Erbitterung mit

    einer heiteren und ungerhrten Miene ber ihmschwebt.

    Ebenso ruhig und stille malt der englische Dichter

    den rchenden Engel, der ber Britannien schwebt,

    mit welchem er den Helden seines Feldzugs, den Sieger

    bei Blenheim, vergleicht.Die Knigliche Galerie der Schildereien in Dresden

    enthlt nunmehr unter ihren Schtzen ein wrdiges

    Werk von Raffaels Hand, und zwar von seiner besten

    Zeit, wie Vasari und andere mehr bezeugen. Eine Ma-

    donna mit dem Kinde, dem h. Sixtus und der h. Bar-

    bara, kniend auf beiden Seiten, nebst zwei Engeln im

    Vordergrunde.

    Es war dieses Bild das Hauptaltarblatt des Klosters

    St. Sixti in Piacenza. Liebhaber und Kenner der

    Kunst gingen dahin, um diesen Raffael zu sehen, so

    wie man nur allein nach Thespi reiste, den schnen

    Cupido von der Hand des Praxiteles daselbst zu be-

    trachten.

    Seht die Madonna, mit einem Gesichte voll Un-

    schuld und zugleich einer mehr als weiblichen Gre,

    in einer selig ruhigen Stellung, in derjenigen Stille,

    welche die Alten in den Bildern ihrer Gottheiten herr-

    schen lieen. Wie gro und edel ist ihr ganzer Kon-

    tur!Das Kind auf ihren Armen ist ein Kind, ber ge-

    meine Kinder erhaben durch ein Gesicht, aus welchem

    ein Strahl der Gottheit durch die Unschuld der Kind-

    heit hervorzuleuchten scheint.Die Heilige unter ihr kniet ihr zur Seite in einer an-

    betenden Stille ihrer Seele, aber weit unter der Maje-

    stt der Hauptfigur, welche Erniedrigung der groe

    Meister durch den sanften Reiz in ihrem Gesichte er-

    setzt hat.Der Heilige dieser Figur gegenber ist der ehrwr-

    digste Alte, mit Gesichtszgen, die von seiner Gott

    geweihten Jugend zu zeugen scheinen.

    Die Ehrfurcht der h. Barbara gegen die Madonna,

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    welche durch ihre an die Brust gedrckten schnen

    Hnde sinnlicher und rhrender gemacht ist, hilft bei

    dem Heiligen die Bewegung seiner einen Hand aus-

    drcken. Ebendiese Aktion malt uns die Entzckung

    des Heiligen, welche der Knstler zu mehrerer Man-

    nigfaltigkeit, weislicher der mnnlichen Strke als der

    weiblichen Zchtigkeit, [hat] geben wollen.

    Die Zeit hat allerdings vieles von dem scheinbaren

    Glanze dieses Gemldes geraubt, und die Kraft der

    Farben ist zum Teil ausgewittert, allein die Seele,

    welche der Schpfer dem Werke seiner Hnde einge-

    blasen, belebt es noch jetzt.

    Alle diejenigen, welche zu diesem und andern Wer-

    ken Raffaels treten, in der Hoffnung, die kleinen

    Schnheiten anzutreffen, die den Arbeiten der nieder-lndischen Maler einen so hohen Preis geben, den

    mhsamen Flei eines Netscher oder eines Dou, das

    elfenbeinerne Fleisch eines van der Werff oder auch

    die geleckte Manier einiger von Raffaels Landsleutenunserer Zeit, diese, sage ich, werden den groen Raf-

    fael in dem Raffael vergebens suchen. Nach dem

    Studium der schnen Natur, des Kon-

    turs, der Draperie und der edlen Einfalt und stillen

    Gre in den Werken griechischer Meister wre dieNachforschung ber ihre Art zu arbeiten ein ntiges

    Augenmerk der Knstler, um in der Nachahmung

    derselben glcklicher zu sein.

    Es ist bekannt, da sie ihre ersten Modelle meisten-

    teils in Wachs gemacht haben; die neuern Meister

    aber haben anstatt dessen Ton oder dergleichen ge-

    schmeidige Massen gewhlt. Sie fanden dieselben,

    sonderlich um das Fleisch auszudrcken, geschickter

    als das Wachs, welches ihnen hierzu gar zu klebrig

    und zhe schien.

    Man will unterdessen nicht behaupten, da die Art,

    in nassen Ton zu bilden, den Griechen unbekannt

    oder nicht blich bei ihnen gewesen. Man wei sogar

    den Namen desjenigen, welcher den ersten Versuch

    hierin gemacht hat. Dibutades von Sikyon ist der erste

    Meister einer Figur in Ton, und Arcesilaus, der

    Freund des groen Lucullus, ist mehr durch seine Mo-

    delle in Ton als durch seine Werke selbst berhmt

    worden. Er machte fr den Lucullus eine Figur inTon, welche die Glckseligkeit vorstellte, die dieser

    mit 60000 Sesterzen erhandelt hatte, und der Ritter

    Octavius gab ebendiesem Knstler ein Talent fr ein

    bloes Modell in Gips zu einer groen Tasse, diejener wollte in Gold arbeiten lassen. Der Ton wre die

    geschickteste Materie, Figuren zu

    bilden, wenn er seine Feuchtigkeit behielte. Da ihm

    aber diese entgeht, wenn er trocken und gebrannt

    wird, so werden folglich die festeren Teile desselbennher zusammentreten, und die Figur wird an ihrer

    Masse verlieren und einen engeren Raum einnehmen.

    Litte die Figur diese Verminderung in gleichem Grade

    in allen ihren Punkten und Teilen, so bliebe ebendas-

  • 8/13/2019 Winckelmann - Schriften

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    selbe, obgleich verminderte Verhltnis. Die kleinen

    Teile derselben aber werden geschwinder trocken als

    die greren, und der Leib der Figur, als der strkste

    Teil, am sptesten; und jenen wird also in gleicher

    Zeit mehr an ihrer Masse fehlen als diesem.

    Das Wachs hat diese Unbequemlichkeit nicht; es

    verschwindet nichts davon, und es kann demselben

    die Gltte des Fleisches, die es im Poussieren nicht

    ohne groe Mhe annehmen will, durch einen andern

    Weg gegeben werden.

    Man macht sein Modell von Ton; man formt es in

    Gips und giet es alsdann in Wachs.

    Die eigentliche Art der Griechen aber, nach ihren

    Modellen in Marmor zu arbeiten, scheint nicht dieje-

    nige gewesen zu sein, welche unter den meisten heuti-gen Knstlern blich ist. In dem Marmor der Alten

    entdeckt sich allenthalben die Gewiheit und Zuver-

    sicht des Meisters, und man wird auch in ihren Wer-

    ken von niedrigem Range nicht leicht dartun knnen, dairgendwo etwas zuviel weggehauen worden.

    Diese sichere und richtige Hand der Griechen mu

    durch bestimmtere und zuverlssigere Regeln, als bei

    uns gebruchlich sind, notwendig gefhrt worden

    sein.Der gewhnliche Weg unserer Bildhauer ist, ber

    ihre Modelle, nachdem sie dieselben wohl ausstudiert

    und aufs beste geformt haben, Horizontal- und Per-

    pendikularlinien zu ziehen, die folglich einander

    durchschneiden. Alsdann verfahren sie, wie man ein

    Gemlde durch ein Gitter verjngt und vergrert,

    und ebensoviel einander durchschneidende Linien

    werden auf den Stein getragen.

    Es zeigt also ein jedes kleine Viereck des Modells

    seine Flchenmae auf jedes groe Viereck des Steins

    an. Allein weil dadurch nicht der krperliche Inhalt

    bestimmt werden kann, folglich auch weder der rechte

    Grad der Erhhung und Vertiefung des Modells hier

    gar genau zu beschreiben ist, so wird der Knstler

    zwar seiner knftigen Figur ein gewisses Verhltnis

    des Modells geben knnen, aber da er sich nur der

    Kenntnis seines Auges berlassen mu, so wird er be-

    stndig zweifelhaft bleiben, ob er zu tief oder zu flach

    nach seinem Entwurf gearbeitet, ob er zuviel oder zu-wenig Masse weggenommen.

    Er kann auch weder den ueren Umri, noch den-

    jenigen, welcher die inneren Teile des Modells, oder

    diejenigen, welche gegen die Mitte zu gehen, oft nurwie mit einem Hauch anzeigt, durch solche Linien be-

    stimmen, durch die er ganz untrglich und ohne die

    geringste Abweichung ebendieselben Umrisse auf sei-

    nen Stein entwerfen knnte.

    Hierzu kommt, da in einer weitlufigen Arbeit,welche der Bildhauer allein nicht bestreiten kann, er

    sich der Hand seiner Gehilfen bedienen mu, die nicht

    allezeit geschickt sind, die Absichten von jenem zu

    erreichen. Geschieht es, da einmal etwas verhauen

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    ist, weil unmglich nach dieser Art Grenzen der Tie-

    fen knnen gesetzt werden, so ist der Fehler unersetz-

    lich.

    berhaupt ist hier zu merken, da derjenige Bild-

    hauer, der schon bei der ersten Bearbeitung seines

    Steins seine Tiefen bohrt, so weit als sie reichen sol-

    len, und dieselben nicht nach und nach sucht, so, da

    sie durch die letzte Hand allererst ihre gesetzte Hh-

    lung erhalten, da dieser, sage ich, niemals wird sein

    Werk von Fehlern reinigen knnen.

    Es findet sich auch hier dieser Hauptmangel, da

    die auf den Stein getragenen Linien alle Augenblicke

    weggehauen und ebensooft, nicht ohne Besorgnis der

    Abweichung, von neuem mssen gezogen und ergnzt

    werden.Die Ungewiheit, nach dieser Art, ntigte also die

    Knstler, einen sicherern Weg zu suchen, und derjenige,

    welchen die franzsische Akademie in Rom

    erfunden und zum Kopieren der alten Statuen zuerstgebraucht hat, wurde von vielen, auch im Arbeiten

    nach Modellen, angenommen.

    Man befestigt nmlich ber einer Statue, die man

    kopieren will, nach dem Verhltnis derselben ein

    Viereck, von welchem man nach gleich eingeteiltenGraden Bleifden herunterfallen lt. Durch diese

    Fden werden die uersten Punkte der Figur deutli-

    cher bezeichnet, als in der ersten Art durch Linien auf

    der Flche, wo ein jeder Punkt der uerste ist, ge-

    schehen konnte. Sie geben auch dem Knstler ein

    sinnlicheres Ma von einigen der strksten Erhhun-

    gen und Vertiefungen durch die Grade ihrer Entfer-

    nung von Teilen, welche sie decken, und er kann

    durch Hilfe derselben etwas herzhafter gehen.

    Da aber der Schwung einer krummen Linie durch

    eine einzige gerade Linie nicht genau zu bestimmen

    ist, so werden ebenfalls die Umrisse der Figur durch

    diesen Weg sehr zweifelhaft fr den Knstler ange-

    deutet, und in geringen Abweichungen von ihrer

    Hauptflche wird sich derselbe alle Augenblicke ohne

    Leitfaden und ohne Hilfe sehen.

    Es ist sehr begreiflich, da in dieser Manier auch

    das wahre Verhltnis der Figuren schwer zu finden

    ist. Man sucht dieselben durch Horizontallinien, wel-che die Bleifden durchschneiden. Die Lichtstrahlen aber

    aus den Vierecken, die diese von der Figur abste-

    henden Linien machen, werden unter einem desto gr-

    eren Winkel ins Auge fallen, folglich grer erschei-nen, je hher oder tiefer sie unserem Sehpunkte sind.

    Zum Kopieren der Antiken, mit denen man nicht

    nach Gefallen umgehen kann, behalten die Bleifden

    noch bis jetzt ihren Wert, und man hat diese Arbeit

    noch nicht leichter und sicherer machen knnen; aberim Arbeiten nach einem Modell ist dieser Weg aus

    angezeigten Grnden nicht bestimmt genug.

    Michelangelo hat einen vor ihm unbekannten Weg

    genommen, und man mu sich wundern, da ihn die

  • 8/13/2019 Winckelmann - Schriften

    20/67

    Bildhauer als ihren groen Meister verehren, da viel-

    leicht niemand unter ihnen sein Nachfolger geworden

    ist.

    Dieser Phidias neuerer Zeiten, und der grte nach

    den Griechen, ist, wie man vermuten knnte, auf die

    wahre Spur seiner groen Lehrer gekommen, wenig-

    stens ist kein anderes Mittel der Welt bekannt gewor-

    den, alle mglichen sinnlichen Teile und Schnheiten

    des Modells auf die Figur selbst hinberzutragen und

    auszudrcken.

    Vasari hat die Erfindung desselben etwas unvoll-

    kommen beschrieben. Der Begriff nach dessen Be-

    richt ist folgender:

    Michelangelo nahm ein Gef mit Wasser, in wel-

    ches er sein Modell von Wachs oder von einer hartenMaterie legte. Er erhhte dasselbe allmhlich bis zur

    Oberflche des Wassers. Also entdeckten sich zuerst

    die erhobenen Teile, und die vertieften waren bedeckt,

    bis endlich das ganze Modell blo und auer demWasser lag. Auf eben die Art, sagt Vasari, arbeitete

    Michelangelo seinen Marmor; er deutete zuerst die er-

    hobenen Teile an und nach und nach die tieferen.

    Es scheint, Vasari habe entweder von der Manier

    seines Freundes nicht den deutlichsten Begriff gehabt,oder die Nachlssigkeit in seiner Erzhlung verur-

    sacht, da man sich dieselbe etwas verschieden von

    dem, was er berichtet, vorstellen mu.

    Die Form des Wassergefes ist hier nicht deutlich

    genug bestimmt. Die nach und nach geschehene Erhe-

    bung seines Modells aus dem Wasser von unten auf

    wrde sehr mhsam sein und setzt viel mehr voraus,

    als uns der Geschichtsschreiber der Knstler hat wol-

    len wissen lassen.

    Man kann berzeugt sein, da Michelangelo diesen

    von ihm erfundenen Weg werde aufs mglichste aus-

    studiert und sich bequem gemacht haben. Er ist aller

    Wahrscheinlichkeit nach folgendergestalt verfahren:

    Der Knstler nahm ein Gef nach der Form der

    Masse zu seiner Figur, die wir ein langes Viereck set-

    zen wollen. Er bezeichnete die Oberflche der Seiten

    dieses viereckigen Kastens mit gewissen Abteilungen,

    die er nach einem vergrerten Mastabe auf seinen Stein

    hinbertrug, und auerdem bemerkte er die in-wendigen Seiten desselben von oben bis auf den

    Grund mit gewissen Graden. In den Kasten legte er

    sein Modell von schwerer Materie oder befestigte es

    an dem Boden, wenn es von Wachs war. Er bespannteetwa den Kasten mit einem Gitter nach den gemachten

    Abteilungen, nach welchen er Linien auf seinen Stein

    zeichnete und vermutlich unmittelbar hernach seine

    Figur. Auf das Modell go er Wasser, bis es an die

    uersten Punkte der erhobenen Teile reichte, undnachdem er denjenigen Teil bemerkt hatte, der auf sei-

    ner gezeichneten Figur erhoben werden mute, lie er

    ein gewisses Ma Wasser ab, um den erhobenen Teil

    des Modells etwas weiter hervorgehen zu lassen, und

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    fing alsdann an, diesen Teil zu bearbeiten, nach dem

    Mae der Grade, wie er sich entdeckte. War zu glei-

    cher Zeit ein anderer Teil seines Modells sichtbar ge-

    worden, so wurde er auch, soweit er blo war, bear-

    beitet, und so verfuhr er mit allen erhobenen Teilen.

    Es wurde mehr Wasser abgelassen, bis auch dieVertiefungen hervorlagen. Die Grade des Kastens

    zeigten ihm allemal die Hhe des gefallenen Wassers

    und die Flche des Wassers die uerste Grundlinie

    der Tiefen an. Ebensoviel Grade auf seinem Steine

    waren seine wahren Mae.

    Das Wasser beschrieb ihm nicht allein die Hhen

    und Tiefen, sondern auch den Kontur seines Modells, und

    der Raum von den inneren Seiten des Kastens bis

    an den Umri der Linie des Wassers, dessen Gredie Grade der anderen zwei Seiten gaben, war in

    jedem Punkte das Ma, wieviel er von seinem Steine

    wegnehmen konnte.

    Sein Werk hatte nunmehr die erste, aber richtigeForm erhalten. Die Flche des Wassers hatte ihm eine

    Linie beschrieben, von welcher die uersten Punkte

    der Erhobenheiten Teile sind. Diese Linie war mit

    dem Falle des Wassers in seinem Gefe gleichfalls

    waagerecht fortgerckt, und der Knstler war dieserBewegung mit seinem Eisen gefolgt, bis dahin, wo

    ihm das Wasser den niedrigsten Abhang der erhobe-

    nen Teile, der mit den Flchen zusammenfliet, blo

    zeigte. Er war also mit jedem verjngten Grade in

    dem Kasten seines Modells einen gleichgesetzten gr-

    eren Grad auf seiner Figur fortgegangen, und auf

    diese Art hatte ihn die Linie des Wassers bis ber den

    uersten Kontur in seiner Arbeit gefhrt, so da das

    Modell nunmehr vom Wasser entblt lag.

    Seine Figur verlangte die schne Form. Er go vonneuem Wasser auf sein Modell, bis zu einer ihm dien-

    lichen Hhe, und alsdann zhlte er die Grade des Ka-

    stens bis auf die Linie, welche das Wasser beschrieb,

    wodurch er die Hhe des erhobenen Teils ersah. Auf

    ebendenselben erhobenen Teil seiner Figur legte er

    sein Richtscheit vollkommen waagerecht, und von

    deruntersten Linie desselben nahm er die Mae bis auf

    die Vertiefung. Fand er eine gleiche Anzahl verjng-

    ter und grerer Grade, so war dieses eine Art geome-trischer Berechnung des Inhalts, und er erhielt den

    Beweis, da er richtig verfahren war.

    Bei der Wiederholung seiner Arbeit suchte er den

    Druck und die Bewegung der Muskeln und Sehnen,den Schwung der brigen kleinen Teile und das Fein-

    ste der Kunst in seinem Modelle auch in seiner Figur

    auszufhren. Das Wasser, welches sich auch an die

    unmerklichsten Teile legte, zog den Schwung dersel-

    ben aufs schrfste nach und beschrieb ihm mit derrichtigsten Linie den Kontur derselben.

    Dieser Weg verhindert nicht, dem Modelle alle

    mglichen Lagen zu geben. Ins Profil gelegt, wird es

    dem Knstler vollends entdecken, was er bersehen

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    hat. Es wird ihm auch den ueren Kontur seiner er-

    hobenen und seiner inneren Teile und den ganzen

    Durchschnitt zeigen.

    Alles dieses und die Hoffnung eines guten Erfolgs

    der Arbeit setzt ein Modell voraus, welches mit Hn-

    den der Kunst nach dem wahren Geschmacke des Al-tertums gebildet worden.

    Dieses ist die Bahn, auf welcher Michelangelo bis

    zu Unsterblichkeit gelangt ist. Sein Ruf und seine Be-

    lohnungen erlaubten ihm Mue, mit solcher Sorgfalt

    zu arbeiten.

    Ein Knstler unserer Zeiten, dem Natur und Flei

    Gaben verliehen, hher zu steigen, und welcher

    Wahrheit und Richtigkeit in dieser Manier findet,

    sieht sich gentigt, mehr nach Brot als nach Ehre zuarbeiten. Er bleibt also in dem ihm blichen Gleise,

    worin er eine grere Fertigkeit zu zeigen glaubt, und

    fhrt fort, sein durch langwierige bung erlangtes

    Augenma zu seiner Regel zu nehmen.Dieses Augenma, welches ihn vornehmlich fhren

    mu, ist endlich durch praktische Wege, die zum Teil

    sehr zweifelhaft sind, ziemlich entscheidend gewor-

    den. Wie fein und zuverlssig wrde er es gemacht

    haben, wenn er es von Jugend auf nach untrglichenRegeln gebildet htte?

    Wrden angehende Knstler, bei der ersten Anfh-

    rung, in Ton oder in andere Materie zu arbeiten, nach

    dieser sichern Manier des Michelangelo angewiesen,

    die dieser nach langem Forschen gefunden, so knn-

    ten sie hoffen, so nahe wie er den Griechen zu kom-

    men.

    Alles, was zum Preise der griechischen Werke in

    der Bildhauerkunst kann gesagt werden, sollte nach

    aller Wahrscheinlichkeit auch von der Malerei derGriechen gelten. Die Zeit aber und die Wut der Men-

    schen hat uns die Mittel geraubt, einen unumstli-

    chen Ausspruch darber zu tun.

    Man gesteht den griechischen Malern Zeichnung und

    Ausdruck zu, und das ist alles; Perspektive,

    Komposition und Kolorit spricht man ihnen ab. Die-

    ses Urteil grndet sich teils auf halb erhobene Arbei-

    ten, teils auf die entdeckten Malereien der Alten (der

    Griechen kann man nicht sagen) in und bei Rom, inunterirdischen Gewlben der Palste des Mcenas,

    des Titus, Trajans und der Antoninen, von welchen

    nicht viel ber dreiig bis jetzt ganz erhalten worden,

    und einige sind nur in mosaischer Arbeit.Turnbull hat seinem Werke von der alten Malerei

    eine Sammlung der bekanntesten Stcke, von Camillo

    Paderni gezeichnet und von Mynde gestochen, beige-

    fgt, welche dem prchtigen und gemibrauchten Pa-

    pier seines Buchs den einzigen Wert geben. Unterdenselben sind zwei, wovon die Originale selbst in

    dem Kabinett des berhmten Arztes Richard Meads

    in London sind.

    Da Poussin nach der sogenannten Aldobrandini-

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    schen Hochzeit studiert, da sich noch Zeichnungen

    finden, die Annibale Carracci nach dem vorgegebenen

    Marcus Coriolanus gemacht, und da man eine groe

    Gleichheit unter den Kpfen in [des] Guido Reni

    Werken und unter den Kpfen auf der bekannten mo-

    saischen Entfhrung der Europa hat finden wollen, istbereits von andern bemerkt.

    Wenn dergleichen Freskogemlde ein gegrndetes

    Urteil von der Malerei der Alten geben knnte, so wrde

    man den Knstlern unter ihnen aus berbleib-

    seln von dieser Art auch die Zeichnung und den Aus-

    druck streitig machen wollen.

    Die von den Wnden des herculanischen Theaters

    mitsamt der Mauer versetzten Malereien mit Figuren

    in Lebensgre geben uns, wie man versichert, einenschlechten Begriff davon. Der Theseus, als ein ber-

    winder des Minotauren, wie ihm die jungen Athenien-

    ser die Hnde kssen und seine Knie umfassen, die

    Flora nebst dem Herkules und einem Faun, der vorge-gebene Gerichtsspruch des Dezemvirs Appius Claudi-

    us sind nach dem Augenzeugnis eines Knstlers zum

    Teil mittelmig und zum Teil fehlerhaft gezeichnet.

    In den meisten Kpfen ist, wie man versichert, nicht

    allein kein Ausdruck, sondern in dem Appius Claudi-us sind auch keine guten Charaktere.

    Aber eben dieses beweist, da es Malereien von

    der Hand sehr mittelmiger Meister sind, da die

    Wissenschaft der schnen Verhltnisse, der Umrisse

    der Krper und des Ausdrucks bei griechischen Bild-

    hauern auch ihren guten Malern eigen gewesen sein

    mu.

    Diese den alten Malern zugestandenen Teile der

    Kunst lassen den neuern Malern noch sehr viel Ver-

    dienste um dieselbe.In der Perspektive gehrt ihnen der Vorzug unstrei-

    tig, und er bleibt, bei aller gelehrten Verteidigung der

    Alten, in Ansehung dieser Wissenschaft, auf seiten

    der Neueren. Die Gesetze der Komposition und An-

    ordnung waren den Alten nur zum Teil und unvoll-

    kommen bekannt, wie die erhobenen Arbeiten von

    Zeiten, wo die griechischen Knste in Rom geblht,

    dartun knnen.

    In dem Kolorit scheinen die Nachrichten in denSchriften der Alten und die berbleibsel der alten

    Malerei auch zum Vorteil der neuern Knstler zu ent-

    scheiden.

    Verschiedene Arten von Vorstellungen der Malereisind gleichfalls zu einem hheren Grade der Vollkom-

    menheit in neuern Zeiten gelangt. In Viehstcken und

    Landschaften haben unsere Maler allem Ansehen

    nach die alten Maler bertroffen. Die schnern Arten

    von Tieren unter andern Himmelsstrichen scheinenihnen nicht bekannt gewesen zu sein, wenn man aus

    einzelnen Fllen, von dem Pferde des Marcus Aureli-

    us, von den beiden Pferden auf Monte Cavallo, ja von

    den vorgegebenen Lysippischen Pferden ber dem

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    Portal der St. Marcuskirche in Venedig, von dem Far-

    nesischen Stier und den brigen Tieren dieses

    Grupps, schlieen darf.

    Es ist hier im Vorbeigehen anzufhren, da die

    Alten bei ihren Pferden die diametralische Bewegung

    der Beine nicht beobachtet haben, wie an den Pferdenin Venedig und auf alten Mnzen zu sehen ist. Einige

    Neuere sind ihnen hierin aus Unwissenheit gefolgt

    und sogar verteidigt worden.

    Unsere Landschaften, sonderlich die niederlndi-

    schen Maler, haben ihre Schnheit vornehmlich dem

    lmalen zu danken; ihre Farben haben dadurch mehr

    Kraft, Freudigkeit und Erhobenheit erlangt, und die

    Natur selbst unter einem dickern und feuchtern Him-

    mel hat zur Erweiterung der Kunst in dieser Art nichtwenig beigetragen.

    Es verdienten die angezeigten und einige andere

    Vorzge der neuern Maler vor den alten in ein gre-

    res Licht, durch grndlichere Beweise, als noch bishergeschehen ist, gesetzt zu werden.

    Zur Erweiterung der Kunst ist noch ein groer

    Schritt brig zu tun. Der Knstler, welcher von der

    gemeinen Bahn abzuweichen anfngt oder wirklich

    abgewichen ist, sucht diesen Schritt zu wagen; abersein Fu bleibt an dem jhesten Orte der Kunst ste-

    hen, und hier sieht er sich hilflos.

    Die Geschichte der Heiligen, die Fabeln und Ver-

    wandlungen sind der ewige und fast einzige Vorwurf

    der neuern Maler seit einigen Jahrhunderten. Man hat

    sie auf tausenderlei Art gewandt und ausgeknstelt,

    so da endlich berdru und Ekel den Weisen in der

    Kunst und den Kenner berfallen mu.

    Ein Knstler, der eine Seele hat, die denken ge-

    lernt, lt dieselbe mig und ohne Beschftigung beieinerDaphne und bei einem Apollo, bei einer Entfh-

    rung der Proserpina, einer Europa und bei derglei-

    chen. Er sucht sich als einen Dichter zu zeigen und

    Figuren durch Bilder, das ist allegorisch, zu malen.

    Die Malerei erstreckt sich auch auf Dinge, die nicht

    sinnlich sind; diese sind ihr hchstes Ziel, und die

    Griechen haben sich bemht, dasselbe zu erreichen,

    wie die Schriften der Alten bezeugen. Parrhasius, ein

    Maler, der wie Aristides die Seele schilderte, hatsogar, wie man sagt, den Charakter eines ganzen

    Volks ausdrcken knnen. Er malte die Athenienser,

    wie sie gtig und zugleich grausam, leichtsinnig und

    zugleich hartnckig, brav und zugleich feige waren.Scheint die Vorstellung mglich, so ist es nur allein

    durch den Weg der Allegorie, durch Bilder, die allge-

    meine Begriffe bedeuten.

    Der Knstler befindet sich hier wie in einer Einde.

    Die Sprachen der wilden Indianer, die einen groenMangel an dergleichen Begriffen haben und die kein

    Wort enthalten, welches Erkenntlichkeit, Raum,

    Dauer usw. bezeichnen knnte, sind nicht leerer von

    solchen Zeichen, als es die Malerei zu unseren Zeiten

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    ist. Derjenige Maler, der weiter denkt, als seine Palet-

    te reicht, wnscht einen gelehrten Vorrat zu haben,

    wohin er gehen und bedeutende und sinnlich gemach-

    te Zeichen von Dingen, die nicht sinnlich sind, neh-

    men knnte. Ein vollstndiges Werk in dieser Art ist noch

    nicht vorhanden; die bisherigen Versuche sindnicht betrchtlich genug und reichen nicht bis an diese

    groen Absichten. Der Knstler wird wissen, wie

    weit ihm des Ripa Ikonologie, die Denkbilder der

    alten Vlker von van Hooghe Genge tun werden.

    Dieses ist die Ursache, da die grten Maler nur

    bekannte Vorwrfe gewhlt. Annibale Carracci, an-

    statt da er die berhmtesten Taten und Begebenhei-

    ten des Hauses Farnese in der Farnesischen Galerie,

    als ein allegorischer Dichter, durch allgemeine Sym-bole und durch sinnliche Bilder htte vorstellen kn-

    nen, hat hier seine ganze Strke blo in bekannten Fa-

    beln gezeigt.

    Die Knigliche Galerie der Schildereien in Dresdenenthlt ohne Zweifel einen Schatz von Werken der

    grten Meister, der vielleicht alle Galerien in der

    Welt bertrifft, und Se. Majestt haben, als der weise-

    ste Kenner der schnen Knste, nach einer strengen

    Wahl nur das Vollkommenste in seiner Art gesucht;aber wie wenig historische Werke findet man in die-

    sem kniglichen Schatze! Von allegorischen, von

    dichterischen Gemlden noch weniger.

    Der groe Rubens ist der vorzglichste unter gro-

    en Malern, der sich auf den unbetretenen Weg dieser

    Malerei in groen Werken als ein erhabener Dichter

    gewagt. Die Luxemburgische Galerie, als sein grtes

    Werk, ist durch die Hand der geschicktesten Kupferstecher

    der ganzen Welt bekannt worden.

    Nach ihm ist in neueren Zeiten nicht leicht ein er-habeneres Werk in dieser Art unternommen und aus-

    gefhrt worden, desgleichen die Cupola der Kaiserli-

    chen Bibliothek in Wien ist, von Daniel Gran gemalt

    und von Sedelmayr in Kupfer gestochen. Die Vergt-

    terung des Herkules in Versailles, als eine Allusion

    auf den Kardinal Hercules von Fleuri, von Le Moine

    gemalt, womit Frankreich als mit der grten Kompo-

    sition in der Welt prangt, ist gegen die gelehrte und

    sinnreiche Malerei des deutschen Knstlers eine sehrgemeine und kurzsichtige Allegorie; sie ist wie ein

    Lobgedicht, worin die strksten Gedanken sich auf

    den Namen im Kalender beziehen. Hier war der Ort,

    etwas Groes zu machen, und man mu sich wun-dern, da es nicht geschehen ist. Man sieht aber auch

    zugleich ein, htte auch die Vergtterung eines Mini-

    sters den vornehmsten Plafond des kniglichen

    Schlosses zieren sollen, woran es dem Maler gefehlt.

    Der Knstler hat ein Werk vonnten, welches ausder ganzen Mythologie, aus den besten Dichtern alter

    und neuerer Zeiten, aus der geheimen Weltweisheit

    vieler Vlker, aus den Denkmalen des Altertums, auf

    Steinen, Mnzen und Gerten, diejenigen sinnlichen

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    Figuren und Bilder enthlt, wodurch allgemeine Be-

    griffe dichterisch gebildet worden. Dieser reiche Sto

    wrde in gewisse bequeme Klassen zu bringen und durch

    eine besondere Anwendung und Deutung auf

    mgliche einzelne Flle, zum Unterricht der Knstler,

    einzurichten sein.Hierdurch wrde zu gleicher Zeit ein groes Feld

    geffnet, zur Nachahmung der Alten und [um] unse-

    ren Werken einen erhabenen Geschmack des Alter-

    tums zu geben.

    Der gute Geschmack in unsern heutigen Verzierun-

    gen, welcher seit der Zeit, da Vitruv bittere Klagen

    ber das Verderbnis desselben fhrte, sich in neueren

    Zeiten noch mehr verderbt hat, teils durch die von

    Morto, einem Maler, von Feltro gebrtig, in Schwanggebrachten Grotesken, teils durch nichts bedeutende

    Malereien unserer Zimmer, knnte zugleich durch ein

    grndlicheres Studium der Allegorie gereinigt werden

    und Wahrheit und Verstand erhalten.Unsere Schnrkel und das allerliebste Muschel-

    werk, ohne welches jetzt kein Zierat frmlich werden

    kann, hat manchmal nicht mehr Natur als Vitruvs

    Leuchter, welche kleine Schlsser und Palste trugen.

    Die Allegorie knnte eine Gelehrsamkeit an die Handgeben, auch die kleinsten Verzierungen dem Orte, wo

    sie stehen, gem zu machen.

    Reddere personae scit convenientia cuique.

    Die Gemlde an Decken und ber den Tren

    stehenmeistenteils nur da, um ihren Ort zu fllen und um

    die

    ledigen Pltze zu decken, welche nicht mit lauter Ver-

    goldungen knnen angefllt werden. Sie haben nichtallein kein Verhltnis mit dem Stande und mit den

    Umstnden des Besitzers, sondern sie sind demselben

    sogar oftmals nachteilig.

    Der Abscheu vor dem leeren Raum fllt also die

    Wnde, und Gemlde, von Gedanken leer, sollen das

    Leere ersetzen.

    Dieses ist die Ursache, da der Knstler, den man

    seiner Willkr berlt, aus Mangel allegorischer

    Bilder oft Vorwrfe whlt, die mehr zur Satire als zurEhre desjenigen, dem er seine Kunst weiht, gereichen

    mssen; und vielleicht, um sich hiervor in Sicherheit

    zu stellen, verlangt man aus feiner Vorsicht von dem

    Maler, Bilder zu machen, die nichts bedeuten sollen.Es macht oft Mhe, auch dergleichen zu finden,

    und endlich

    ... velut aegri somnia, vanae

    Fingentur species.

    Man nimmt also der Malerei dasjenige, worin ihr

    grtes Glck besteht, nmlich die Vorstellung un-

    sichtbarer, vergangener und zuknftiger Dinge.

  • 8/13/2019 Winckelmann - Schriften

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    Diejenigen Malereien aber, welche an diesem oder

    jenem Orte bedeutend werden knnten, verlieren das, was

    sie tun wrden, durch einen gleichgltigen oder

    unbequemen Platz, den man ihnen anweist.

    Der Bauherr eines neuen Gebudes,

    Dives agris, dives positis in foenore nummis,

    wird vielleicht ber die hohen Tren seiner Zimmer

    und Sle kleine Bilder setzen lassen, die wider den

    Augenpunkt und wider die Grnde der Perspektive

    anstoen. Die Rede ist hier von solchen Stcken, die

    ein Teil der festen und unbeweglichen Zieraten sind,

    nicht von solchen, die in einer Sammlung nach der

    Symmetrie geordnet werden.Die Wahl in Verzierungen der Baukunst ist zuwei-

    len nicht grndlicher: Armaturen und Trophen wer-

    den allemal auf einem Jagdhaus ebenso unbequem

    stehen wie Ganymedes und der Adler, Jupiter undLeda unter der erhobenen Arbeit der Tren von Erz

    am Eingang der St. Peterskirche in Rom.

    Alle Knste haben einen gedoppelten Endzweck:

    sie sollen vergngen und zugleich unterrichten, und

    viele von den grten Landschaftsmalern haben dahergeglaubt, sie wrden ihrer Kunst nur zur Hlfte ein

    Genge getan haben, wenn sie ihre Landschaften ohne

    alle Figuren gelassen htten.

    Der Pinsel, den der Knstler fhrt, soll in Verstand

    getunkt sein, wie jemand von dem Schreibegriffel des

    Aristoteles gesagt hat: Er soll mehr zu denken hinter-

    lassen, als was er dem Auge gezeigt, und dieses wird

    der Knstler erhalten, wenn er seine Gedanken in Al-

    legorien nicht zu verstecken, sondern einzukleiden ge-

    lernt hat. Hat er einen Vorwurf, den er selbst gewhltoder der ihm gegeben worden, welcher dichterisch ge-

    macht oder zu machen ist, so wird ihn seine Kunst be-

    geistern und wird das Feuer, welches Prometheus den

    Gttern raubte, in ihm erwecken. Der Kenner wird zu

    denken haben, und der bloe Liebhaber wird es ler-

    nen.

    Erinnerung ber die Betrachtung

  • 8/13/2019 Winckelmann - Schriften

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    der Werke der Kunst

    Willst du ber Werke der Kunst urteilen, so sieh

    anfnglich hin ber das, was sich durch Flei und Ar-

    beit anpreist, und sei aufmerksam auf das, was der

    Verstand hervorgebracht hat, denn der Flei kann sichohne Talent zeigen, und dieses erblickt man auch, wo

    der Flei fehlt. Ein sehr mhsam gemachtes Bild vom

    Maler oder Bildhauer ist, blo als dieses, mit einem

    mhsam gearbeiteten Buche zu vergleichen. Denn,

    wie gelehrt zu schreiben nicht die grte Kunst ist, so

    ist ein sehr fein und glatt ausgepinseltes Bild allein

    kein Beweis von einem groen Knstler. Was die

    ohne Not gehuften Stellen vielmals nie gelesener B-

    cher in einer Schrift sind, das ist in einem Bilde dieAndeutung aller Kleinigkeiten. Diese Betrachtung

    wird dich nicht erstaunen machen ber die Lorbeer-

    bltter an dem Apollo und der Daphne vom Bernini,

    noch ber das Netz an einer Statue in Deutschlandvom lteren Adam aus Paris. Ebenso sind keine

    Kennzeichen, an welchen der Flei allein Anteil hat,

    fhig zur Kenntnis oder zum Unterschiede des Alten

    vom Neuen.

    Gib Achtung, ob der Meister des Werks, welchesdu betrachtest, selbst gedacht oder nur nachgemacht

    hat, ob er die vornehmste Absicht der Kunst, die

    Schnheit, gekannt oder nach den ihm gewhnlichen

    Formen gebildet und ob er als ein Mann gearbeitet oder als

    ein Kind gespielt hat.

    Es knnen Bcher und Werke der Kunst gemacht

    werden, ohne viel zu denken (ich schliee von dem,

    was wirklich ist); ein Maler kann auf diese mechani-

    sche Art eine Madonna bilden, die sich sehen lt,und ein Professor sogar eine Metaphysik schreiben,

    die tausend jungen Leuten gefllt. Die Fhigkeit des

    Knstlers zu denken aber kann sich nur in oft wieder-

    holten Vorstellungen sowie in eigenen Erfindungen

    zeigen. Denn so wie ein einziger Zug die Bildung des

    Gesichts verndert, so kann die Andeutung eines ein-

    zigen Gedankens, welcher sich in der Richtung eines

    Gliedes uert, dem Vorwurfe eine andere Gestalt

    geben und die Wrdigkeit des Knstlers dartun. Platoin Raffaels Schule von Athen rhrt nur den Finger,

    und er sagt genug, und Figuren vom Zuccari sagen

    wenig mit allen ihren verdrehten Wendungen. Denn

    wie es schwerer ist, viel mit wenigem anzuzeigen, alses das Gegenteil ist, und der richtige Verstand mit

    wenigem mehr als mit vielem zu wirken liebt, so wird

    eine einzelne Figur der Schauplatz aller Kunst eines

    Meisters sein knnen. Aber es wrde den meisten

    Knstlern ein ebenso hartes Gebot sein, eine Bege-benheit in einer einzigen oder in ein paar Figuren, und

    dieses in Gro gezeichnet, vorzustellen, als es einem

    Skribenten sein wrde, zum Versuch eine ganz kurze

  • 8/13/2019 Winckelmann - Schriften

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    Schrift aus eigenem Stoff abzufassen, denn hier kann

    beider Ble erscheinen, die sich in der Vielheit ver-

    steckt. Eben daher lieben fast alle angehenden und

    sich selbst berlassenen jungen Knstler mehr, einen

    Entwurf von einem Haufen zusammengestellter Figu-

    ren zu machen, als eine einzige vllig auszufhren.Da nun das Wenige, mehr oder geringer, den Unter-

    schied unter Knstlern macht und das wenige Un-

    merkliche ein Vorwurf denkender empfindlicher Ge-

    schpfe ist, das Viele und Handgreifliche aber schlaf-

    fe Sinne und einen stumpfen Verstand beschftigt, so

    wird der Knstler, der sich Klugen zu gefallen be-

    gngt, im Einzelnen gro und im Wiederholten und

    Bekannten mannigfaltig und denkend erscheinen kn-

    nen. Ich rede hier wie aus dem Munde des Altertums.Dieses lehren die Werke der Alten, und es wrde

    ihnen hnlich geschrieben und gebildet werden, wenn

    ihre Schriften wie ihre Bilder betrachtet und unter-

    sucht wrden.Der Stolz in dem Gesicht des Apollo uert sich

    vornehmlich in dem Kinn und in der Unterlefze, der

    Zorn in den Nstern seiner Nase und die Verachtung

    in der ffnung des Mundes. Auf den brigen Teilen

    dieses gttlichen Hauptes wohnen die Grazien, unddie Schnheit bleibt bei der Empfindung unvermischt

    und rein wie die Sonne, deren Bild er ist. Im Laokoon

    siehst du bei dem Schmerz den Unmut (wie ber ein

    unwrdiges Leiden) in dem Krausen der Nase und

    dasvterliche Mitleiden auf den Augpfeln, wie einen tr-

    ben Duft, schwimmen. Diese Schnheiten in einem

    einzigen Drucke sind wie ein Bild in einem Worte

    beim Homer; nur der kann sie finden, welcher sie

    kennt. Glaube gewi, da der alten Knstler sowieihrer Weisen Absicht war, mit wenigem viel anzudeu-

    ten. Daher liegt der Verstand der Alten tief in ihren

    Werken; in der neueren Welt ist es meistenteils wie

    bei verarmten Krmern, die alle ihre Ware ausstellen.

    Homer gibt ein hheres Bild, wenn alle Gtter sich

    von ihrem Sitze erheben, da Apollo unter ihnen er-

    scheint, als Callimachus mit seinem ganzen Gesange

    voller Gelehrsamkeit. Ist ein Vorurteil ntzlich, so ist

    es die berzeugung von dem, was ich sage; mitderselben nhere dich zu den Werken des Altertums

    in Hoffnung, viel zu finden, so wirst du viel suchen.

    Aber du mut dieselbe mit groer Ruhe betrachten,

    denn das Viele im Wenigen und die stille Einfalt wirddich sonst unerbaut lassen wie die eilfertige Lesung

    des ungeschmckten groen Xenophon.

    Gegen das eigene Denken setze ich das Nachma-

    chen, nicht die Nachahmung. Unter jenem verstehe

    ich die knechtische Folge, in dieser aber kann dasNachgeahmte, wenn es mit Vernunft gefhrt wird,

    gleichsam eine andere Natur annehmen und etwas Ei-

    genes werden. Domenichino, der Maler der Zrtlich-

  • 8/13/2019 Winckelmann - Schriften

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    keit, hat die Kpfe des sogenannten Alexander zu Florenz

    und der Niobe zu Rom zu Mustern gewhlt.

    Sie sind in seinen Figuren zu erkennen (Alexander im

    Johannes zu S. Andrea della Valle in Rom und Niobe

    in dem Gemlde des Tesoro zu S. Gennaro in Nea-

    pel), aber doch sind sie nicht ebendieselben. Auf Stei-nen und Mnzen findet man sehr viele Bilder aus

    Poussins Gemlden; Salomon in seinem Urteil ist der

    Jupiter auf macedonischen Mnzen, aber sie sind bei

    ihm wie eine versetzte Pflanze, die sich verschieden

    vom ersten Grunde zeigt.

    Nachmachen ohne zu denken ist: eine Madonna

    vom Maratta, einen h. Joseph vom Barocci und ande-

    re Figuren anderswo nehmen und ein Ganzes machen,

    wie eine groe Menge Altarbltter auch in Rom sind.Ein solcher Maler war der krzlich verstorbene be-

    rhmte Masucci zu Rom. Nachmachen nenne ich fer-

    ner, gleichsam nach einem gewissen Formular arbei-

    ten, ohne selbst zu wissen, da man nicht denkt. Vondiesem Schlage ist derjenige, welcher fr einen Prin-

    zen die Vermhlung der Psyche, die ihm vorgeschrie-

    ben wurde, verfertigte. Er hatte vermutlich keine an-

    dere gesehen als die vom Raffael in Klein-Farnese;

    die seinige knnte auch eine Knigin aus Saba sein.Die meisten letzten groen Statuen der Heiligen in St.

    Peter zu Rom sind von dieser Art: groe Stcke Mar-

    mor, welche ungearbeitet jedes 500 Scudi kosten.

    Wer eine sieht, hat sie alle gesehen. Das zweite

    Augenmerk bei Betrachtung der Werke

    der Kunst soll die Schnheit sein. Der hchste Vor-

    wurf der Kunst fr denkende Menschen ist der

    Mensch oder nur dessen uere Flche, und diese ist

    fr den Knstler so schwer auszuforschen wie vonden Weisen das Innere desselben, und das Schwerste

    ist, was es nicht scheint, die Schnheit, weil sie, ei-

    gentlich zu reden, nicht unter Zahl und Ma fllt.

    Eben daher ist das Verstndnis des Verhltnisses des

    Ganzen, die Wissenschaft von Gebeinen und Mus-

    keln, nicht so schwer und allgemeiner als die Kennt-

    nis des Schnen; und wenn auch das Schne durch

    einen allgemeinen Begriff knnte bestimmt werden,

    welches man wnscht und sucht, so wrde sie dem,welchem der Himmel das Gefhl versagt hat, nicht

    helfen. Das Schne besteht in der Mannigfaltigkeit im

    Einfachen; dieses ist der Stein der Weisen, den die

    Knstler zu suchen haben und welchen wenige finden;nur der versteht die wenigen Worte, der sich diesen

    Begriff aus sich selbst gemacht hat. Die Linie, die das

    Schne beschreibt, ist elliptisch, und in derselben ist

    das Einfache und eine bestndige Vernderung, denn

    sie kann mit keinem Zirkel beschrieben werden undverndert in allen Punkten ihre Richtung. Dieses ist

    leicht gesagt und schwer zu lernen. Welche Linie,

    mehr oder weniger elliptisch, die verschiedenen Teile

  • 8/13/2019 Winckelmann - Schriften

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    zur Schnheit formt, kann die Algebra nicht bestimmen,

    aber die Alten kannten sie, und wir finden

    sie vom Menschen bis auf ihre Gefe. So wie nichts

    Zirkelfrmiges am Menschen ist, so macht auch kein

    Profil eines alten Gefes einen halben Zirkel.

    Wenn von mir verlangt wrde, sinnliche Begriffeder Schnheit zu bestimmen, welches sehr schwer ist,

    so wrde ich, in Ermangelung alter vollkommener

    Werke oder deren Abgsse, kein Bedenken tragen,

    dieselben nach einzelnen Teilen, von den schnsten

    Menschen genommen an dem Orte, wo ich schrieb, zu

    bilden. Da nun dieses jetzt im Deutschen nicht ge-

    schehen kann, so mte ich, wenn ich lehren wollte,

    die Begriffe der Schnheit verneinungsweise mich an-

    zudeuten begngen, ich mte mich aber aus Mangelder Zeit auf das Gesicht einschrnken.

    Die Form der wahren Schnheit hat nichtunterbro-

    chene Teile. Auf diesen Satz grndet sich das Profil

    der alten jugendlichen Kpfe, welches nichts Lineal-miges, auch nichts Eingebildetes ist, aber es ist sel-

    ten in der Natur und scheint sich noch seltener unter

    einem rauhen als glcklichen Himmel zu finden. Es

    besteht in der sanftgesenkten Linie von der Stirn bis

    auf die Nase. Diese Linie ist der Schnheit dermaeneigen, da ein Gesicht, welches, von vorne gesehen,

    schn scheint, von der Seite erblickt, vieles verliert, je

    mehr dessen Profil von der sanften Linie abweicht.

    Diese Linie hat Bernini, der Kunstverderber, in seinem

    grten Flor nicht kennen wollen, weil er sie

    in der gemeinen Natur, welche nur allein sein Vor-

    wurf gewesen, nicht gefunden, und seine Schule folgt

    ihm. Aus diesem Satze folgt ferner, da weder das

    Kinn noch die Wangen, durch Grbchen unterbro-chen, der Form der wahren Schnheit gem sein

    knnen. Es kann also auch die Mediceische Venus,

    die ein solches Kinn hat, keine hohe Schnheit sein,

    und ich glaube, da ihre Bildung von einer bestimm-

    ten schnen Person genommen ist, so wie zwei andere

    Venus in dem Garten hinter dem Palast Farnese offen-

    bare Portrtkpfe haben.

    Die Form der wahren Schnheit hat die erhobenen

    Teile nicht stumpf und die gewlbten nicht abge-schnitten; der