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1 Text 4: Wissenschaft und Subjekt. Nichtalgorithmisierbare Faktoren des Forscherhandelns 1 Klaus Fischer 1. Kann die wissenschaftliche Methode die Geschichte der Wissenschaften erklären? Nach einem sehr alten und immer noch einflußreichen Ideal ist die Wissenschaft ein rationales Unternehmen, das von unpersönlichen Regeln geleitet ist. 2 Der Forschungsprozeß beginnt nach der gängigen Methodenlehre mit einer Forschungsfrage – einem Problem, das sich in der Regel aus der Situation der Wissenschaft in einer bestimmten Zeit ableitet: ein bisher nicht erklärtes Phänomen, ein Widerspruch zwischen verschiedenen Deutungen eines experimentellen Befundes, die Unvereinbarkeit zweier gleichermaßen plausibler Hypothesen zu demselben Gegenstandsbereich, ein Mangel an Meßverfahren zur Erfassung einer theoretisch abgeleiteten Größe, eine Schwierigkeiten der Anwendung, etc. Die Antwort auf die Forschungsfrage besteht – zum Beispiel – in der Erfindung einer Hypothese mit möglichst großem Informationsgehalt, in einer neuen Deutung eines Phänomens, einer Theorie oder einer theoretischen Größe, in der Entwicklung eines Meßinstruments oder eines Operationalisierungsverfahrens. Jede Problemlösung muß nach nachvollziehbaren Kritierien getestet werden, sei es durch ein Experiment, eine logische Analyse, eine mathematische Berechnung oder ein rationales Abwägen von Argumenten. Erweist sich die vorgeschlagene Problemlösung als defekt – was früher oder später fast immer der Fall sein wird – dann muß eine neue gesucht und geprüft werden. Besteht die Problemlösung zunächst vor der Kritik, dann wird sich die Aufmerksamkeit der Forscher auf ein neues Problem richten, das sich wie das vorangehende aus dem Gang der Forschung ableitet. Als Erfolg sind die Bemühungen der Wissenschaftler dann zu bewerten, wenn die Kette der Forschungsfragen und Problemlösungen nicht abreißt und der Informationsgehalt der vorgeschlagenen Hypothesen im Zeitverlauf zunimmt. 1 Erschienen in: Hamid Reza Yousefi, Klaus Fischer, Rudolf Lüthe, Peter Gerdsen (Hg.), Wege zur Wissenschaft, Norhausen 2007 2 Einflußreiche Schriften aus dieser Tradition sind: Aristoteles [Analytica Posteriora], Francis Bacon [Novum Organon], Descartes [Regulae; Discours]; Rudolf Carnap, Die Aufgabe der Wissenschaftslogik, Wien 1935; Karl Popper, Logik der Forschung, Wien 1934. Siehe zusammenfassend: Larry Laudan, Science and Hypothesis, Dordrecht/Boston/London 1981. Zu den parmenideischen Ursprüngen dieses Ideals vgl. Helmut F. Spinner, Begründung, Kritik und Rationalität, Band 1, Braunschweig 1977. Zu dem in der Neuzeit insbes. im deutschen Sprachraum wichtigen Christian Wolff vgl. Juan Ignacio Gómez Tutor, Die wissenschaftliche Methode bei Christian Wolff (Christian Wolff, Gesammelte Werke, III. Abt. Bd. 90), Hildesheim u.a. 2004. Eine gegenläufige Tradition, die das nicht in Regel Faßbare der Wissenschaft in den Mittelpunkt stellt, geht auf die Sophisten zurück und wurde in der neuzeitlichen Philosophie durch Friedrich Nietzsche, Thomas S. Kuhn, Paul K. Feyerabend, die Radikalen Konstruktivisten (z. B. Ernst v. Glaserfeld, Heinz v. Foerster, Humberto Maturana) und die neue Soziologie des Wissens (David Edge, Michael Mulkay, Barry Barnes, Harry Collins, David Bloor, Karin Knorr-Cetina, Steve Woolgar, Bruno Latour, M. Nigel Gilbert, Andrew Pickering, u.v.a.) zu einer mächtigen Zeitströmung entwickelt. Der Einfluß dieser Tradition auf die Naturwissenschaften blieb jedoch vernachlässigbar.

Wissenschaft und Subjekt. Nichtalgorithmisierbare Faktoren des Forscherhandelns · 2013. 8. 19. · 1 Text 4: Wissenschaft und Subjekt. Nichtalgorithmisierbare Faktoren des Forscherhandelns

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Text 4: Wissenschaft und Subjekt. Nichtalgorithmisierbare Faktoren des Forscherhandelns1 Klaus Fischer 1. Kann die wissenschaftliche Methode die Geschichte der Wissenschaften erklären? Nach einem sehr alten und immer noch einflußreichen Ideal ist die Wissenschaft ein rationales Unternehmen, das von unpersönlichen Regeln geleitet ist.2 Der Forschungsprozeß beginnt nach der gängigen Methodenlehre mit einer Forschungsfrage – einem Problem, das sich in der Regel aus der Situation der Wissenschaft in einer bestimmten Zeit ableitet: ein bisher nicht erklärtes Phänomen, ein Widerspruch zwischen verschiedenen Deutungen eines experimentellen Befundes, die Unvereinbarkeit zweier gleichermaßen plausibler Hypothesen zu demselben Gegenstandsbereich, ein Mangel an Meßverfahren zur Erfassung einer theoretisch abgeleiteten Größe, eine Schwierigkeiten der Anwendung, etc. Die Antwort auf die Forschungsfrage besteht – zum Beispiel – in der Erfindung einer Hypothese mit möglichst großem Informationsgehalt, in einer neuen Deutung eines Phänomens, einer Theorie oder einer theoretischen Größe, in der Entwicklung eines Meßinstruments oder eines Operationalisierungsverfahrens. Jede Problemlösung muß nach nachvollziehbaren Kritierien getestet werden, sei es durch ein Experiment, eine logische Analyse, eine mathematische Berechnung oder ein rationales Abwägen von Argumenten. Erweist sich die vorgeschlagene Problemlösung als defekt – was früher oder später fast immer der Fall sein wird – dann muß eine neue gesucht und geprüft werden. Besteht die Problemlösung zunächst vor der Kritik, dann wird sich die Aufmerksamkeit der Forscher auf ein neues Problem richten, das sich wie das vorangehende aus dem Gang der Forschung ableitet. Als Erfolg sind die Bemühungen der Wissenschaftler dann zu bewerten, wenn die Kette der Forschungsfragen und Problemlösungen nicht abreißt und der Informationsgehalt der vorgeschlagenen Hypothesen im Zeitverlauf zunimmt.

1 Erschienen in: Hamid Reza Yousefi, Klaus Fischer, Rudolf Lüthe, Peter Gerdsen (Hg.), Wege zur Wissenschaft, Norhausen 2007 2 Einflußreiche Schriften aus dieser Tradition sind: Aristoteles [Analytica Posteriora], Francis Bacon [Novum Organon], Descartes [Regulae; Discours]; Rudolf Carnap, Die Aufgabe der Wissenschaftslogik, Wien 1935; Karl Popper, Logik der Forschung, Wien 1934. Siehe zusammenfassend: Larry Laudan, Science and Hypothesis, Dordrecht/Boston/London 1981. Zu den parmenideischen Ursprüngen dieses Ideals vgl. Helmut F. Spinner, Begründung, Kritik und Rationalität, Band 1, Braunschweig 1977. Zu dem in der Neuzeit insbes. im deutschen Sprachraum wichtigen Christian Wolff vgl. Juan Ignacio Gómez Tutor, Die wissenschaftliche Methode bei Christian Wolff (Christian Wolff, Gesammelte Werke, III. Abt. Bd. 90), Hildesheim u.a. 2004. Eine gegenläufige Tradition, die das nicht in Regel Faßbare der Wissenschaft in den Mittelpunkt stellt, geht auf die Sophisten zurück und wurde in der neuzeitlichen Philosophie durch Friedrich Nietzsche, Thomas S. Kuhn, Paul K. Feyerabend, die Radikalen Konstruktivisten (z. B. Ernst v. Glaserfeld, Heinz v. Foerster, Humberto Maturana) und die neue Soziologie des Wissens (David Edge, Michael Mulkay, Barry Barnes, Harry Collins, David Bloor, Karin Knorr-Cetina, Steve Woolgar, Bruno Latour, M. Nigel Gilbert, Andrew Pickering, u.v.a.) zu einer mächtigen Zeitströmung entwickelt. Der Einfluß dieser Tradition auf die Naturwissenschaften blieb jedoch vernachlässigbar.

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Soweit die vereinfachte Lehrbuchform. Viele Fragen bleiben darin offen. Ich nenne nur die folgenden:3 a. Woraus leiten sich die Ziele, Verfahren und Hypothesen der Forschung ab? b. In welcher Beziehung stehen sie zu Weltanschauungen, politischen Ideologien,

Religionen, usw.? c. Haben philosophische Positionen, paradigmatische Bindungen, kulturelle Milieus,

Weltanschauungen, Religionen, Ideologien einen Einfluß auf die Wahrnehmung von Problemen, Hypothesen, Fakten und Methoden?

d. Lassen Sozialisation und Leben innerhalb eines bestimmten kulturellen Milieus, unter der Dominanz einer bestimmten Weltanschauung, Ideologie oder Religion bestimmte Problemlösungen bereits vor jedem Test als plausibler erscheinen als andere?

e. Haben Wissenschaftler aus konkurrierenden Arbeitsgruppen, Disziplinen, Ländern, etc. bei der Wahl von Problemlösungen unterschiedliche Apriori-Präferenzen?

f. Haben individuelle Sozialisation, Lebensgeschichte, zufällige Begegnungen, persönliche Präferenzen, Motive und Begabungen einen Einfluß auf die Bestimmung der Ziele und Gegenstände der Forschung, auf die Wahl der Methoden und auf die Erfindung, Wahl oder Bewertung von Theorien?

g. Spielen Aspekte des sozialen, politischen und geistesgeschichtlichen Kontextes eine Rolle bei der Selektion von Forschungszielen, bei der Wahl und Bewertung von Hypothesen, bei der Auswahl von Testmethoden und bei der Bewertung der Testergebnisse?

h. Spielt die Machtstruktur innerhalb der sozial organisierten Wissenschaft beim Zustandekommen, bei der Bewertung und bei der Wirkung ihrer Ergebnisse eine Rolle?

i. Macht es langfristig einen Unterschied für die Wissenschaftsentwicklung, in welcher Reihenfolge Phänomene entdeckt und Theorien erfunden werden?

Ordnet man die in dieser Liste von Fragen genannten Variablen, dann erhält man drei Gruppen von Faktoren, die man in die Form einer drei- oder vierdimensionalen Matrix bringen kann. Die erste Achse der Matrix enthält die kognitiven Produkte der Forschung: Ziele, Probleme, Hypothesen, Theorien, Methoden, Experimente, Instrumente, Werte, Tatsachen, etc. Die zweite Achse enthält Variablen, die Eigenschaften der Person beschreiben: genetische Ausstattung, soziale Verortung, Sozialisation, Lebensgeschichte, zufällige Begegnungen, persönliche Präferenzen, Motive und Begabungen, etc. Die dritte Achse enthält Dimensionen und Merkmale des Kontextes, in den Individuum und Wissenschaft eingebettet sind: Zeit, Kultur, Technologien, Philosophien, Weltanschauungen, Ideologien und Religionen, soziale und politische Strukturen, Wirtschaft und Recht. Man kann die dritte Achse noch einmal zerlegen in einen Teil, der die Kontextvariablen des Wissenschaftssystem im engeren Sinne enthält (soziales System der Wissenschaft, Machtstruktur in Forschungsorganisationen, Wissenschaftsrecht, Labortechnologie, etc.) und in einen anderen Teil, der Kontextvariablen im weiteren Sinne enthält (Merkmale der Umwelt, in die das Wissenschaftssystem als ganzes eingebettet ist:

3 Daß die Geisteswissenschaften (und vielleicht auch die Sozialwissenschaften) nicht nur hinsichtlich ihrer Themen und Interessenlagen, sondern auch hinsichtlicher ihrer Inhalte anfälliger für ›externe‹ Einflüsse sind als die Naturwissenschaften, erscheint ohne näheren Beweis plausibel. Unsere Argumentation bezieht sich deshalb im folgenden hauptsächlich auf die Naturwissenschaften.Sie sind das härtere Problem, weil sie sich im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften (und teilweise auch den Sozialwissenschaften) auf eine präexistente Wirklichkeit beziehen.

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politisches, soziales, kulturelles, ökonomisches, rechtliches, religiöses System, Stand der Technik, etc.).4 Unter der Annahme, daß die genannten Achsen orthogonal zueinander stehen (also jeder Faktor jeder Achse mit jedem Faktor jeder anderen verknüpfbar ist) läßt sich aus dieser Matrix eine große Zahl von Forschungsfragen generieren, von den viele geeignet wären, das eingangs skizzierte Ideal der Wissenschaftsentwicklung zu erschüttern. Dies wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn sich zeigen würde, daß einige der oben unter den Punkten c bis h subsumierten Fragen positiv zu beantworten wären, wofür sehr vieles spricht. In der Tat gibt es Erscheinungen und Episoden der Wissenschaftsgeschichte, die Zusammenhänge der genannten Art belegen: - Die Konflikte um das Bild des Kosmos von der Antike bis ins 19. Jahrhundert5 - der Kampf um die Evolutionstheorie im späten 19. Jahrhundert6 - die Bewertung von Quantentheorie, Kybernetik und moderner Genetik im ehemaligen

Ostblock7 - die politischen Einflüsse auf die Wissenschaft im nationalsozialistischen Deutschland8 - die Konfundierung von Religion und wissenschaftlicher Entwicklungsgeschichte im

Kreationismus9 - die politische Deformierung der Wissenschaft in den USA unter der Bush-Administration10 - die Verzerrungen der Nachfragestruktur nach Forschungsergebnissen in einem unter

ökonomischen oder utilitaristischen Imperativen stehenden Umfeld11

4 Ein etwas anderer Ansatz, der aber in die gleiche Richtung geht, hat der Verfasser verfolgt in: Klaus Fischer, Wahrheit, Konsens und Macht. Systemische Codes und das prekäre Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik in der Demokratie, in: Klaus Fischer und Heinrich Parthey (Hg.), Gesellschaftliche Integrität der Forschung (Wissenschaftsforschung Jahrbuch 2005), Berlin 2006, 9-58 5 Ernst Zinner, Entstehung und Ausbreitung der copernicanischen Lehre, Erlangen 1943 (München: Beck 1988); Jerzy Dobrzycki (ed.), The Reception of Copernicus’ Heliocentric Theory, Dordrecht & Boston 1972; Jean Dietz Moss, Novelties in the Heavens. Rhetoric and Science in the Copernican Controversy, Chicago & London 1993; Rienk Vermij, The Calvinist Copernicans. The Reception ot the New Astronomy in the Dutch Republic, 1575-1750, Amsterdam 2002. 6 Dazu: Tom McIver, Anti-Evolution, A Reader’s Guide to Writings before and after Darwin, Baltimore & London 1992; David L. Hull, Darwin and His Critics. The Reception of Darwin’s Theory of Evolution by the Scientific Community, Chicago & London 1983; Eve-Marie Engels (Hg.), Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1995. 7 Loren R. Graham, Dialektischer Materialismus und Naturwissenschaften in der UdSSR, Erster Teil: Quantenmechanik/Relativitätstheorie/Ursprung und Aufbau des Weltalls), Frankfurt 1974; Gennady Gorelik, „Meine antisowjetische Tätigkeit..“. Russische Physiker unter Stalin, Braunschweig & Wiesbaden 1995; Hartmut Braun u.a. (Hg.), Mikrophysik und Marxismus, Berlin 1974. 8 Klaus Hentschel, Ann M. Hentschel (eds.), Physics and National Socialism. An Anthology of Primary Sources, Basel u. a. 1996: Ute Deichmann, Flüchten, Mitmachen, Vergessen. Chemiker und Biochemiker in der NS-Zeit, Weinheim u.a. 2001; Änne Bäumer, NS-Biologie, Stuttgart 1990; Markus Vonderau, ‚Deutsche Chemie’. Der Versuch einer deutschartigen, ganzheitlich-gestalthaften schauenden Naturwissenschaft während der Zeit des Nationalsozialismus, Dissertation Universität Marburg 1994; Eckart Menzler-Trott, Gentzens Problem. Mathematische Logik im nationalsozialistischen Deutschland, Basel u.a. 2001; Herbert Mehrtens & Steffen Richter (Hg.), Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie, Frankfurt 1980. Da die Geistes- und Sozialwissenschaften generell den nationalsozialistischen Ideen weniger Widerstand leisteten als die Naturwissenschaften, besteht an diesbezüglichen Studien kein Mangel. Wir verzichten daher auf eine Auswahl. 9 Ein neuerer Versuch zur Versöhnung der Standpunkte von Bibel und Wissenschaft ist: Robert J. Berry, Adam und der Affe. Gott, die Bibel und die Evolution, Düsseldorf 1989. 10 Chris Mooney, The Republican War on Science, New York 2005; Politics and Science in the Bush-Administration, prepared für Rep. Henry A. Waxman, United States House of Representatives. Committee on Government Reform – Minority Staff Special Investigation Division, August 2003 (im Internet verfügbar).

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- die Benachteiligung oder gar Ausgrenzung von Forschern, die mit wissenschaftlich unkonventionellen oder ›politisch inkorrekten‹Themen, Theorien oder Zielen assoziert werden12

- die komplementäre Bevorzugung von Forschern, die auf der Woge des Zeitgeistes schwimmen (und – zum Beispiel - »anwendungsorientierte Forschung in transnationaler Vernetzung« betreiben)

- die Auseinandersetzungen um das Bild des Menschen vom 17. Jahrhundert (La Mettrie) bis in die Gegenwart.13

Die Idee einer langfristig durch rationale Methoden determinierten Entwicklung der Wissenschaft ist damit zwar in Frage gestellt, aber noch nicht widerlegt. In seiner ›Methodologie der historiographischen Forschungsprogramme‹14 hat Imre Lakatos der Wissenschaftstheorie die Aufgabe gestellt, durch historische Forschung herauszufinden, welche Methodologie den Fortschritt der Wissenschaften am besten erklären kann.15 Lakatos wußte, daß eine solche Erklärung immer eine partielle bleiben würde. Wissenschaftler sind Menschen, die sich irren können, manchmal seltsame Vorlieben haben und zuweilen vor allem das sehen, was sie sehen wollen. Dies bedeutet noch nicht, daß die Wissenschaft ein irrationales Unternehmen ist. Es könnte sein, daß die Wissenschaftsentwicklung dennoch insofern rational bleibt, als zwar nicht alle, aber zumindest die wesentlichen Entscheidungen der Forscher den Regeln eines logisch schlüssigen Methodenkanons folgen. Die Lehrbuchform des wissenschaftlichen Fortschritts nimmt an, daß Erscheinungen und Episoden der genannten Art ebenso wie subjektive Faktoren nur in Form von zufälligen Störvariablen in den Prozeß der Wissenschaftsentwicklung intervenieren. Die Anstöße für die Entwicklung der Wissenschaft kommen aus ›objektiven Problemkonstellationen‹. Hypothesen werden getestet durch Konfrontation mit Tatsachen. Spezifische Motivlagen, persönliche Idiosynkrasien, kultureller oder religiöser Hintergrund der Beteiligten, Sozialisation, besondere Erfahrungen, die ›Zufälle des Lebens‹ sollten dabei allenfalls als Störvariablen wirken, die sich im statistischen Mittel ausgleichen und daher keine systematische Wirkung auf den Fortgang der Wissenschaft haben. Ungeachtet aller menschlichen Unzulänglichkeiten und aller

11 Philip Mirowsky & Robert Van Horn, The Contract Research Organization and the Commercialisation of Scientific Research, in: Social Studies of Science, Vol. 35:4 (2005), 503-549; Sheldon Krimsky, Science in the Private Interest, Lanham u.a. 2003. 12 Richard Milton, Verbotene Wissenschaften, Zweitausendeins 1996; Klaus Fischer, Die Funktion der Toleranz in der Ökologie des Wissens, in: Klaus Fischer & Hamid Reza Yousefi (Hg.), Die Idee der Toleranz in der interkulturellen, Nordhausen 2003, 51-83. 13 Manfred Tietzel, L’homme machine. Künstliche Menschen in Philosophie, Mechanik und Literatur, betrachtet aus der Sicht der Wissenschaftstheorie, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, Vol. 15:1 (1994), 34-71; Francis Crick, Was die Seele wirklich ist, München 1994; Wolf Singer, Ein neues Menschenbild? Frankurt 2003; Christian Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt 2004; Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, München & Wien 2001; Klaus Fischer, Drei Grundirrtümer der Maschinentheorie des Bewußtseins, in: Philosophia Naturalis 36 (1999), 53-90. 14 Imre Lakatos, Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationalen Rekonstruktionen, in: ders., Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme. Philosophische Schriften 1, Braunschweig und Wiesbaden 1982, 108-148. 15 Empirische Überprüfungsversuche insbesondere der Methodologien von Popper, Lakatos und Kuhn sind zu finden in: Arthur Donovan u.a. (eds.), Scrutinizing Science. Empirical Studies of Scientific Change, Baltimore und London 1992.

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intervenierenden Faktoren wäre Wissenschaft somit im Lichte einer Methodologie als rationale rekonstruierbar. Doch diese Annahme ist interpretationsbedürftig. Was bedeutet die Rationalitätsannahme? Eine unzweifelhaft damit verbundene Annahme lautet, daß eine Wissenschaft, die nach den Regeln eines vorausgesetzen Methodenkanons verfährt, ihrem Ziel, wahre Erklärungen für möglichst Alles zu finden, kontinuierlich näher kommt. Das letzte Ziel der Wissenschaft könnte man demnach in einer vollständigen Theorie der Wirklichkeit sehen, aus der alle beobachtbaren Phänomene und Regelmäßigkeiten ableitbar sind. Nur wenige Wissenschaftsphilosophen glauben, daß dieses Ziel tatsächlich jemals erreicht wird, aber viele (darunter die große Mehrheit der Naturwissenschaftler) glauben, daß die Wissenschaft auf dem Weg zu diesem Ziel ist. Vom Standpunkt dieses Ziels aus betrachtet, mag es in der Tat unerheblich sein, auf welchen Umwegen und Verirrungen sich die Forscher dieser ›Theorie von Allem‹ genähert haben. Ideologien, subjektive Vorlieben, kulturelle Prägungen, Schwingungen des Zeitgeistes, etc., mögen existieren, und sie mögen durchaus Wirkung entfalten; auf lange Sicht sind sie irrelevant, weil sie nur Fluktuationen auf dem Weg zum großen Ziel darstellen. Dieser Versuch, die Bedeutung außermethodologischer Faktoren zu minimieren, beruht jedoch auf zwei metaphysischen Voraussetzungen, nämlich (a) daß es eine vollständige Erklärung der Welt gibt und (b) daß eine solche Erklärung in der Reichweite von Homo Sapiens liegt. Bereits die Annahme, daß die Welt möglicherweise nicht statisch ist, sondern im Zuge ihrer Evolution neue Phänomene, Systeme und Regularitäten hervorbringt,16 könnte die Chancen auf die Entdeckung einer vollständigen Theorie des Kosmos (unabhängig von allen praktischen Schwierigkeiten) gegen Null konvergieren lassen. Das gleiche gälte, wenn chaotische Prozesse eine wesentliche Rolle in der Evolution des Kosmos und seiner Teilsysteme spielten.17 In diesen Fällen wäre eine vollständige Theorie eines kreativen Kosmos, der von emergenten Phänomenen, Systemen und Regularitäten beherrscht wird, erst ›am Ende der Zeit‹ möglich (sofern es dann noch Beobachter gibt, die ein solches Unternehmen zum Abschluß bringen könnten). Darüberhinaus müßte eine vollständige Theorie des Kosmos selbstbezüglich sein, das heißt, sie müßte in der Lage sein, ihre eigene Genese zu erklären. Dieser Zirkel könnte sehr wohl ein vitiöser sein. Zweifellos setzt die Vorstellung einer vollständigen Theorie von Allem zugleich voraus, daß das Induktionsproblem gelöst ist. Zu viele Voraussetzungen, um die Hoffnungen auf eine solche Theorie aufrechtzuerhalten – zumindest für einen Beobachter mit Realitätssinn! Ein anderes Argument gegen den Versuch, die Rationalität der Forschung auf ihre Methode zurückzuführen und subjektive Faktoren als vernachlässigbar zu erklären, lautet wie folgt. Selbst bei Annahme der Existenz einer vollständigen ›Theorie von Allem‹ ist keinesweg ausgemacht, auf welchen Wegen und Umwegen dieses Ziel erreicht wird. Da wir nicht wissen, ob die Abweichungen vom idealen Pfad im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts kleiner werden, könnte der Wissenschaftsprozeß zu jedem Zeitpunkt beliebig weit vom ihm entfernt sein. Und da das Telos ein fiktiver Punkt ist, der real nicht erreicht werden kann, können wir das Maß der aktuellen Abweichung vom idealen Pfad zur Wahrheit zu keiner Zeit klar bestimmen.

16 Dazu: Rupert Riedl, Die Strategie der Genesis. Naturgeschichte der realen Welt, München 1976; Erich Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist, München und Wien 1979; ders., Design for Evolution, New York 1975. 17 Dazu: Ilya Prigogine, Vom Sein zum Werden. Zeit und Komplexität in der Naturwissenschaft, München und Zürich 1979; David Ruelle, Zufall und Chaos, Berlin u.a. 1994; Bernulf Kanitscheider, Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum, Darmstadt 1993.

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2. Was treibt den Forscher an? Wir haben im vorangehenden versucht, Rolle und Bedeutung der nicht in methodologische Regeln faßbaren Faktoren und Dimensionen der Wissenschaftsentwicklung vom Prinzipiellen und Allgemeinen ausgehend zu bestimmen. Im folgenden werden wir den Blickwinkel umkehren und Episoden der Wissenschaftsentwicklung vom Singulären und Besonderen ausgehend analysieren. Betrachtet man die Biographien bedeutender oder weniger bedeutender Wissenschaftler und Naturforscher, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß jedes Forscherleben im komplexen Zusammenwirken seiner Komponenten einzigartig ist. In nahezu jedem Fall gibt es unvorhersehbare Ereignisse, die die Richtung des Lebens und der Forschung verändert haben, zufällige Begegnungen, die dem Denken eine neue Wendung gegeben haben, Erlebnisse in frühen Tagen, die im Rückblick eine entscheidende motivationale Wirkung gehabt zu haben scheinen oder eine wichtige Weiche gestellt haben. Können wir also wirklich – wie die Standardtheorien der Wissenschaft annehmen – davon ausgehen, daß das Forschungshandeln des Einzelwissenschaftlers hauptsächlich von objektiven Problemlagen (›Welt-3-Entitäten‹ im Sinne Karl Poppers) determiniert ist? Oder müssen wir nicht eingestehen, dass die Probleme, die die Forscher antreiben, oft nicht konsensfähig oder generalisierbar sind, sondern sich nur aus sehr spezifischen Umständen, subjektiven Triebkräften, synkretistischen Sichtweisen heraus verstehen lassen? Diese Frage bezeichnen wir im folgenden als das ›kleine Problem‹ der Individualität des Forscherhandelns. Das ›große Problem‹ besteht in folgendem: Wenn das einzelne Forscherleben erratisch, unprognostizierbar, durch Zufälle geprägt ist, wie plausibel bleibt dann die Vermutung, daß ›die Wissenschaft‹ davon nicht berührt wird? Ist sie doch das Ergebnis des Zusammenspiels der Handlungen und Ergebnisse der vielen zufallsgesteuerten Akteure. Ist es wirklich der Fall, daß sich die vielen kleinen und großen Zufälle individueller Biographie ausmitteln? Oder ist es in der Wissenschaft nicht vielmehr von großer Bedeutung, - in welcher Reihenfolge Entdeckungen, Erfindungen gemacht oder gedankliche

Konstruktionen entwickelt werden, - von wem sie gemacht oder entwickelt werden, - in welchem Fach, Spezialgebiet oder Labor, in welcher Arbeitsgruppe sie erfolgen, - in welcher Form, welcher Zeitschrift, welcher Sprache sie präsentiert werden, - in welcher Kultur oder in welchem politischen System sie erfolgen? Bei der Beantwortung der gestellten Fragen wird sich vermutlich herausstellen, daß zeitgeschichtliche, historische, soziale, politische, kulturelle und fachpolitische Faktoren und Randbedingungen auf vielfältige Weise mit individuellen Entscheidungen interagieren. Dennoch vermuten wir, daß sich der ›subjektive Faktor‹ nicht in jenen anderen Faktoren und Randbedingungen auflösen läßt. a) Klaudios Ptolemaios und die Gedanken Gottes In einigen erhaltenen Manuskripten ist dem Hauptwerk des Ptolemaios, der Mathematiké Sýntaxis, ein Epigramm vorangestellt, in dem es heißt: »Daß ich sterblich bin, weiß ich, und daß meine Tage gezählt sind. Aber wenn ich im Geiste den vielfach verschlungenen Kreisbahnen der

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Gestirne nachspüre, dann berühre ich mit den Füßen nicht mehr die Erde: am Tische des Zeus selber labt mich Ambrosia, die Götterspeise.«18 Dies ist – wie Barthel van der Waerden zu Recht schreibt – eine sehr alte Idee. Durch das Studium der Bahnen der Himmelskörper und der zugrundeliegenden Mathematik erhebt sich die Seele über das Irdische, um sich den Göttern zu nähern. Es ist die klassische griechische Idee der zweckfreien kontemplativen Wissenschaft. In ganz ähnlicher Form wie bei Ptolemaios finden wir diese Idee bei Johannes Kepler und später bei Albert Einstein. Kepler glaubte, mit Hilfe der Geometrie die ›Gedanken Gottes‹ lesen zu können und auf diese Weise den Schlüssel für die Harmonie der Sphären und für den göttlichen Weltplan zu finden. Die Gesetze der elliptischen Planetenbewegungen, auf denen sein heutiger Ruhm basiert, waren für ihn nur eine Abschweifung in diesem Bemühen – eine Abschweifung mit eher häßlichem Resultat: Ellipsen sind einer göttlichen Ordnung eigentlich unwürdig. Im Vergleich zu Kreisen sind sie ›zweite Wahl‹. Keplers Größe bestand darin, daß er diese unschönen Figuren dennoch akzeptierte – auf der Basis der Daten von Tycho Brahe, von denen er wußte, daß sie die besten waren, die bis dahin existierten. Wissen, was sich ›der Alte‹ gedacht hatte, als er die Welt schuf, wollte auch Albert Einstein. Was die drei Genannten (Ptolemäus, Kepler, Einstein) verbindet, war die Vorstellung, es müsse möglich sein, den wahren Code der Schöpfung zu lesen, die Harmonien der Welt, die ewigen Gesetze der Natur zu finden. In der modernen Wissenschaft finden wir diesen Gedanken auch in der säkularisierten Form des Begriffs der zweckfreien, reinen, auf die Struktur der Wirklichkeit zielenden Wissenschaft. Nur die gewünschte Erkenntnis, das Stillen des Verlangens nach Wissen, befriedigt den Anhänger dieses Ideals – nicht ihr Nutzen, ihr Marktwert, ihre soziale Erwünschtheit, ihr Gleichklang mit dem Zeitgeist oder ihre Übereinstimmung mit einer Ideologie oder Religion. Nur auf der Grundlage dieser Einstellung werden Fragen wie die folgenden sinnvoll: Kann ein derart mißgestaltetes System wie das ptolemäische wahr sein (Kopernikus)? Kann ein fiktiver Punkt wie das punctum aequans Teil der wahren Theorie des Kosmos sein (Kopernikus)? Ist die Bahn des Mars ein Kreis, ein Oval oder eine Ellipse (Kepler)? Welche Kräfte bewegen die Planeten (Kepler)? Kann man auf einem Lichtstrahl ›reiten‹ (Einstein)? Sollten und können wir die Naturgesetze so formulieren, daß sie unter allen Bewegungsverhältnissen ihre Form bewahren (Einstein)? Können wir uns ein Bild von der Welt der kleinsten Dimensionen machen (Heisenberg)? Fragen wie diese sind esoterisch und praxisfremd, und dennoch haben sie wissenschaftliche Revolutionen ausgelöst, die die Welt verändert haben. b) Berthold Schwarz und das geheime Wissen des Alchemisten Die Alchemie war im Mittelalter keine allgemein anerkannte Wissenschaft – obwohl sich auch Scholastiker wie Albertus Magnus oder Roger Bacon intensiv mit ihr befaßten. Bei ihren Versuchen, den Stein der Weisen oder das ›Elixier‹ herzustellen, erfand die Alchemie nebenbei das Schwarzpulver (das unter anderem in China schon vorher bekannt war). Der Mönch Berthold – genannt der ›Schwarze‹ – sprengte dabei einen Teil des Klosters in die Luft, worauf ihm seine Oberen Zellenarrest verordneten, um weiteres Unheil zu verhüten. Keine Wissenschaft verkörperte die Einheit von Theorie und Erfahrung, von Spekulation und Experiment – aber auch die Gefahren dieser Einheit – im Mittelalter so gut wie die Alchemie. Die experimentelle Praxis der Alchemie in dieser Zeit wird in folgender Passage, die dem ebenso kurzweiligen wie

18 B. L. van der Waerden, Die Astronomie der Griechen, Darmstadt 1988, 255f.

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lehrreichen Buch von Kurt Doberer über ›Die Goldmacher‹ entnommen ist, auf amüsante Weise beschrieben: »Konstantin Anklitzen wurde Zisterzienser-Mönch, um zu Sankt Blasien im badischen Schwarzwald studieren zu können. Er war ein feiner Naturbeobachter und eifriger Alchemist und zögerte nicht, seine Theorien sofort durch Experimente zu prüfen.« Im Jahre 1246 ging er nach Freiburg, wegen der besseren Möglichkeiten, seine Versuche fortzusetzen. Er war zum Franziskanerorden übergetreten und hatten den Klostername Bertholdus angenommen. »Aber bald nannte man ihn den Schwarzen Berthold, wegen der schrecklich gefährlichen Experimente, die er in der Klosterapotheke vornahm. Das Streben des Mönches Bertholdus war, das Quecksilber zu fixieren. Er wollte es hammerfest machen, damit es wie Silber wäre. Da mußte man erst den unruhigen Geist des Quecksilbers, den Basilisken töten! Und da der Geist dem Feuer feindlich ist und als Rauch entweicht, wenn man die Materie an das Feuer bringt, so mußte der Basilisk des Quecksilbers auch durch Feuer ausgetrieben werden können. Es mußte nur das richtige Feuer, die rechte Hitze und der günstige Zeitpunkt sein.[…] Er mischte den von Natur feurigen Schwefel mit dem von Natur aus kalten Salpeter und die beiden Gegner mischte er mit Quecksilber. Das ganze bettete er nach zünftiger Alchemistenart in einer Höhlung des Holzkohlenpulvers, mit dem der vorbereitete Schmelztiegel halb gefüllt war. Damit aber die heißen und kalten Geister nicht entweichen konnten, bevor sie ihren Kampf ausgefochten und den Geist des Quecksilber mitgerissen hatten, wurde der Tiegel durch einen angekitteten Deckel hermetisch verschlossen. Nun stellte Bertholdus das ganze an das Feuer und ließ den Blasebalg fauchen. Das Feuer sollte die Geister aggressiv machen. Und ob es sie kampflustig machte! Die Theorie stimmte ganz genau. Der feurig werdende Geist des Schwefels konnte es einfach neben dem kalten Salpeter nicht mehr aushalten. Er sprengte den Schmelztiegel mit einem kräftigen Knall. Aber der Schmelztiegel schien allzu wenig Widerstand geleistet zu haben. Er war zertrümmert, ehe die beiden Gegner ihren furchtbaren Kampf wirklich ausgefochten und den Geist des Quecksilbers mit getötet hatten. Jedenfalls war kein Silber in den umhergeschleuderten Überresten zu finden. Nun nahm Bertholdus aber den bronzenen Mörser der Apotheke, füllte ihn wieder mit seiner Mischung und verkeilte die obere Öffnung mit einer passenden Messingplatte. Damit es ihm nicht den Ofen zerschlagen sollte, stellte er diesmal den Mörser in die Mitte der Zelle und häufte nur glühende Kohlen herum. Dann blies er mit seinem Blasebalg kräftig in die Glut. Als der Mörser schließlich heiß genug war, machte sich der Effekt des Geisterkampfes mit einem ungeheuren Knall bemerkbar. Der Mönch Berthold fiel versenkt und schwarz auf den Rücken. Als er sich wieder zusammengerappelt hatte, da fand er den erzenen Mörser noch ruhig in der Mitte des Zimmers stehen. Nur der dicke messingne Keildeckel fehlte und, oh Wunder, der Mörser war bis zum letzten Krümchen leer. Nachdenklich und langsam blickte Bertholdus aufwärts an die Decke, ob wohl das Zeug dort kleben würde? Aber es war da nichts als ein Loch, das der dicke, klobige Metalldeckel durchgeschossen hatte.«19 Die theoretische Grundlage der Versuche des Schwarzen Berthold hat Albertus Magnus wie folgt beschrieben: »Die Alchemie geht diesen (der Natur folgenden) Weg. Sie vernichtet ein Metall durch Beseitigung seiner eigenen Wesensbestimmtheit; dann legt sie ihm mit Hilfe der in der Stoffmasse verbliebenen (den vier Elementen innewohnenden und den von den Gestirnen ausgehenden) Kräfte eine an dere Wesensform bei. Darum ist von allen alchemistischen Verfahrensweisen jene die wirksamste, die mit den gleichen Mitteln arbeitet wie die Natur. Das ist z. B. die Reinigung des Schwefels durch Kochen und Verfeinern, die Reinigung des Quecksilbers und schließlich die richtige Vermischung dieser Erzeugnisse mit dem Stoff des (zu

19 Kurt Doberer, Die Goldmacher, München 1987, 68ff.

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verwandelnden) Metalls. Dadurch und durch die darin wirkenden Kräfte läßt sich jedes Metall mit seiner wesentlichen Eigenart einführen.«20 Wir wissen heute, was wirklich geschehen war. Der schwarze Berthold hatte nicht den Basilisken des Quecksilbers ausgetrieben, sondern das Schießpulver erfunden, das man bald zum Anlaß nahm, neue Kriegswaffen zu konstruieren, denen die Befestigungen des Mittelalters nicht mehr gewachsen waren. Trotzdem kann man Konstantin Anklitzen deshalb nicht verurteilen. Die Wirkung seiner Experimente erstreckte sich in eine ganz andere Richtung als die von ihm intendierte. Überdies kannten die Chinesen das von ihm neu entdeckte Pulver schon mindestens 500 Jahre vorher. Aber sie entwickelten keine Kanonen, um mit dem Explosionsstoff den größtmöglichen Schaden anrichten zu können. c) Roger Bacon und die Rolle der Wissenschaft im Endkampf der Christenheit Auch Roger Bacon – Franziskaner, Naturphilosoph und einer der frühesten Propagandisten einer experimentellen Naturwissenschaft – war ein Freund der Alchemie. Obwohl er auch vieles von der Schulwissenschaft übernommen hat, hielt er von dieser nicht allzu viel. »Es sind mehr Geheimnisse des Wissens von einfachen, unbeachteten Männern entdeckt worden, denn von Berühmtheiten, diese sind geschäftig mit bekannten Dingen«, meint Bacon. Auch habe er mehr von einfachen Leuten gelernt als von bekannten Professoren. Dies alles war natürlich sehr verdächtig. Kein Wunder, daß Bacon 18 Jahre seines Lebens auf Anordnung des Ordensgenerals der Franziskaner, Bonaventura, im klösterlichen Zellenarrest bei Wasser und Brot, ohne Bücher und ohne Schreibzeug, verbringen mußte. Bacon war Schüler von Robert Grosseteste und Petrus Peregrinus (auch Pierre de Maricourt genannt). Ersterer wird von Alistair C. Crombie als Erfinder der experimentellen Methode bezeichnet, letzterer gilt heute als einer der Pioniere der experimentellen Erforschung des Erdmagnetismus. Bacon hatte eine sehr lebhafte Phantasie. In seinem ›Opus Majus‹ berichtet er über technologische Visionen – Unterseeboote, Flugzeuge, Automobile, Hitzestrahlen, chemische, biologische und akustische Kriegsführung –, die teilweise erst im 20. Jahrhundert realisiert wurden. Viele haben Roger Bacon deshalb für einen modernen Denker gehalten. Aber nichts wäre irreführender als dies. Roger Bacon wollte mit seinen revolutionären Technologien keineswegs ein wissenschaftlich-technologisches Zeitalter einläuten. Er wollte die Christenheit vor der Verderbnis retten und die Heiden besiegen und bekehren (in dieser Reihenfolge). Die Theologie stand bei ihm weiterhin unangefochten an der Spitze der Hierarchie der Wissenschaften. Bacon wähnt sich in einer Endzeit, er sieht Anzeichen der nahenden Tage des Antichristen. Deutliche Indizien dafür sieht er im Niedergang der Künste und der Wissenschaften. »Dieser ist weit mehr als nur ein Index der Katastrophe. Er ist ihr Zentrum. Denn ›der ganze Nutzen der Welt hängt am Studium der Weisheit.‹ [...] Die Vernachlässigung der Mathematik seit den letzten 30 oder 40 Jahren hat fast das gesamte Studium der lateinischen Christenheit zerstört. Denn wer von der Mathematik nichts versteht, kann keine andere Wissenschaft erlangen, ja mehr noch, er vermag noch nicht einmal seine eigene Ignoranz zu erkennen.« Roger Bacon geht davon aus, »daß sich auch der Antichrist der Macht der Weisheit bedient und daß der apokalyptische Endkampf letztlich auf dem Feld der Wissenschaften entschieden wird. Jenem ist bereits sein Wissen zur Macht geworden. Hier gilt es für die Christenheit durch das Studium der secreta naturae et artis und den Ausbau der Experimentalwissenschaft nachzurüsten […]. Denn dann könnten, in einer

20 Albertus Magnus, Ausgewählte Texte (hg. von Albert Fries), Darmstadt 1981, 89. Eine andere Übersetzung findet man bei Doberer, a.a.O., 52f.

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Art Präventivschlag der ecclesia militans, die Mittel der Astronomie und Geometrie, mit denen der Antichrist gegen die Kirche vorgehen wird, gegen dessen Agenten eingesetzt werden.« Bacon berichtet in diesem Zusammenhang über seine technischen Visionen – Unterseeboote, Flugzeuge, Automobile, chemische, biologische und akustische Kriegsführung. Er will »die Kraft gebündelter Strahlen gegen das ›Reich des Bösen‹ wenden«. Zwar seien die Entwicklungs- und Herstellungskosten für die benötigten Brennspiegel großer Reichweite hoch, doch sie wären im Einsatz gegen die Sarazenen oder Tartaren effektiver als ein ganzes Heer. Auch gegnerische Burgen könne man allein durch Strahlen aus diesem Brennspiegeln zerstören. Meier-Oeser konstatiert zu Recht, daß Bacon unter den Bedingungen der von ihm diagnostizierten ›apokalyptischen Situation‹ das Bemühen um die »Restitution der verlorengegangenen Weisheit« mit dem Programm und der heilsgeschichtlichen Aufgabe der renovatio mundi verknüpt. »Wissenschaftsreform wird so zur Universalreform, die machtvoll gegen einen mächtigen Gegner durchgesetzt werden muß. Insofern bildet die Apokalyptik nicht nur die historische Legitimationsgrundlage seines wissenschaftlichen Programms, sondern ist auch für die Konzeption von Wissenschaft selbst von Bedeutung. Was dabei herauskommt, ist naheliegenderweise kein kontemplatives, sondern ein ganz auf Nützlichkeit (utilitas), Praxis und Macht (potestas) ausgerichtetes Wissenschaftskonzept […].«21 Seine Wahrnehmung einer tödlichen Bedrohung der Christenheit und seine spezifische Diagnose der Ursachen dieser Bedrohung und der Möglichkeiten ihrer Abwehr hatte Roger Bacon zu einem Wissenschaftsideal geführt, das man vielleicht in der Neuzeit oder in der Gegenwart – unter den Bedingungen des ›Kampfes der Kulturen und Religionen‹ – nicht aber im weltabgewandten und fortschrittsfeindlichen Mittelalter gesucht hätte. d) Francis Bacon und die Macht des Wissens Insbesondere im 19. Jahrhundert hat man die Methode der neuen Wissenschaft oft auf Francis Bacon zurückgeführt. Das Titelbild von Bacons ›Instauratio Magna‹ – ein Schiff, das den engen Hafen verläßt und zwischen zwei riesigen Säulen in den unbekannten und unbegrenzten Ozean des Wissens hinaussegelt – ist ein passendes Symbol für das Programm der frühen englischen Royal Society. Doch es ist wichtig, die propagandistische Wirkung Bacons von den inneren Qualitäten seiner Wissenschaftstheorie zu unterscheiden. Grundlage des neuen Methodenkanons, den Bacon vorschlägt, ist eine vernichtende Diagnose der zeitgenössischen Wissenschaft – ähnlich wie bei seinem Namensvetter drei Jahrhunderte vorher, aber mit völlig neuer Begründung, die den Wechsel der Zeiten anzeigt. Wo Roger Bacon im Verfall der Wissenschaften und der Künste das Wirken des Antichristen sieht, dem man nur noch mit einer auf Mathematik und Experiment gegründeten Innovationsoffensive wirksam begegnen kann, will Francis Bacon die durch die scholastische Methode zementierte intellektuelle Stagnation auflösen. Einer Vermehrung unseres Wissens über die Natur steht in seiner Sicht vor allem die Dominanz einer falschen Methode im Wege. Weder die Methode der Empiriker noch die der Dogmatiker führe zu diesem Ziel. »Die Empiriker gleichen den Ameisen; sie sammeln und verbrauchen nur. Die Dogmatiker, die die Vernunft überbetonen, gleichen den Spinnen; sie schaffen Netze aus sich selbst. Das Verfahren der Biene aber liegt in der Mitte; sie zieht den Saft aus den Blüten der Gärten und Felder, behandelt und verdaut ihn aber aus eigener Kraft. Dem nicht unähnlich ist nun das Werk der Philosophie; es stützt sich nicht ausschließlich

21 Zitate aus: Stephan Meier-Oeser, Roger Bacon oder Doctor mirabilis und die Macht der Wahrheit, in: Gerald Hartung und Wolf Peter Klein (Hg.), Zwischen Narretei und Weisheit. Biographische Skizzen und Konturen alter Gelehrsamkeit, Hildesheim 1997, S. 115ff.

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oder hauptsächlich auf die Kräfte des Geistes, und es nimmt den von der Naturlehre und den mechanischen Experimenten dargebotenen Stoff nicht unverändert in das Gedächtnis auf, sondern verändert und verarbeitet ihn im Geist. Daher kann man bei einem engeren und festeren Bündnis dieser Fähigkeiten, der experimentellen und der rationalen, welches bisher noch nicht bestand, bester Hoffnung sein.«22 Die bisherige Wissenschaft krankte jedoch nicht nur am Mangel an einer richtigen Methode. Sie krankte auch an einer falschen Zielsetzung. »Es ist unmöglich, im Lauf richtig voranzukommen, wenn das Ziel selbst nicht recht gesteckt und festgemacht ist. Das wahre und rechtmäßige Ziel der Wissenschaften ist kein anderes, als das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Mitteln zu bereichern.[…] Das Ziel meiner Lehre ist die Entdeckung nicht von Beweisgründen, sondern von Künsten, nicht von Dingen, die mit Prinzipien übereinstimmen, sondern von Prinzipien selbst, nicht von Möglichem, sondern von fest formulierten, gültigen Aussagen über die Werke. So folgt aus der unterschiedlichen Zielsetzung unterschiedliches Ergebnis. Wird dort ein Gegner durch Disputieren besiegt, so soll hier die Natur durch die Tat unterworfen werden.«23 Dies spricht ein weiteres zentrales Motiv der Baconschen Philosophie an: Wissen und Macht treffen zusammen in der wahren Wissenschaft. Nur eine Wissenschaft, die auf Herrschaft über die Natur zielt, wird ihre Geheimnisse entziffern können. Dieses Wissen ist nicht kontemplativ, sondern nur experimentell zu gewinnen, in einem Prozeß, der sich auf die Nachahmung und die Manipulation der inneren Formen innerhalb der Natur richtet. »Die Natur nämlich läßt sich nur durch Gehorsam bändigen; was bei der Betrachtung als Ursache erfaßt ist, dient bei der Ausführung als Regel.«24 Wie stellt Bacon sich die Erneuerung der Wissenschaften vor? Seine Hoffnung stützt sich ganz auf ein neues Verfahren, das er ›wahre Induktion‹ nennt. Die gewöhnliche Induktion der bisherigen Wissenschaft ist unsystematisch, vorschnell und sprunghaft. Sie bemüht sich nicht aktiv um die Erarbeitung einer möglichst vollständigen Sammlung aller Fälle, die für die Beurteilung eines Satzes wichtig sind. Deshalb macht sie viele Fehler, weil sie ihre eigenen Möglichkeiten nicht ausschöpft und der Phantasie allzu früh das Feld überläßt. In Ermangelung einer wahrhaft erforschten Ordnung stülpt der Verstand der Natur einfach seine selbsterdichteten Formen über. Der erste Schritt zur Entdeckung der in der Natur wirkenden Formen ist die Erarbeitung eines umfassenden Überblicks über sämtliche Naturerscheinungen. Der Wissenschaftler muß alle Arten von Beobachtungsberichten sammeln und Literaturstudien betreiben, um die Geschichte der Phänomene zu entdecken, aber er muß auch selbst experimentieren, um entstandene Fragen zu beantworten, Lücken zu schließen oder Unstimmigkeiten zu bereinigen. Bacon stellt eine Liste der für den weiteren Fortschritt der Wissenschaften dringend erforderlichen Geschichten von Phänomenen zusammen – 130 nach der Numerierung Bacons, aber in Wahrheit viel mehr, weil er oft einige Punkte zusammenfaßt. In Wirklichkeit braucht Bacon nicht weniger als eine Naturgeschichte von Allem, weil er nicht vor Abschluß des induktiven Verfahrens sagen kann, was relevant sein wird. Nach dieser zunächst unsystematischen Sammlung des bisherigen Wissens über ein Phänomen in Form seiner Naturgeschichte kommt das Ordnen und Klassifizieren der Daten. Dabei wird Überflüssiges oder Falsches, weil nur auf dem Aberglauben der Leute Beruhendes, ausgeschieden. Bacon nennt 27 Kategorien von Fällen, in die die Beobachtungsberichte

22 Francis Bacon, Neues Organon I (hrsg. von Wolfgang Krohn), Hamburg 1990, 211 (Aphor. 95) 23 Bacon, Neues Organon I, 173 (Aphor. 81), 41. 24 Bacon, Neues Organon I, 80 (Aphor. 3).

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eingeordnet werden können.25 Er beklagt die Unzulänglichkeit der vorliegenden Daten und fordert eine Naturgeschichte, die nur die Phänomene selbst, rein und unvermischt mit jeglichem dogmatischen Bestandteil enthalten soll. Er konstatiert, »wie arm an Naturgeschichte wir sind. […] Oft war ich genötigt, Zusätze von der Art zu machen: ›Man versuche es, oder man erforsche es weiterhin.‹«26 Immer wieder betont Bacon die Offenheit des eigenen Unternehmens für Neuerungen und Verbesserungen. Er entwirft ein dynamisches Bild des wissenschaftlichen Fortschritts und liefert die entsprechenden Vorschläge zur sozialen Organisation der Wissenschaft gleich mit. Bacon ist gewissermaßen der Erfinder der Erfindung. Wenn schon der Nutzen einer einzelnen Erfindung sehr groß sein kann, meint Bacon, »um wieviel erhabener wird es nun erscheinen, etwas zu entdecken, wodurch alles andere leichter erfunden werden kann!«27 Nicht mehr die Religion hat in Bacons Philosophie die Führungsfunktion bei der Gestaltung der diesseitigen Welt, sondern die Wissenschaft. In seiner Utopie eines ›Neuen Atlantis‹ hat er den Entwurf eines Idealstaates vorgelegt, in dem eine nach dem Maßstab einer kollektiven Erfindungsmaschinerie mit eigener Binnenethik organisierte Wissenschaft – ein selbstgesteuertes System von Großforschungseinrichtungen gewissermaßen – die intellektuelle, soziale und ökonomische Führungsfunktion übernommen hat. Die hier im ›Hause Salomons‹ arbeitenden Wissenschaftler sind keine Genies, wie die Schöpfer der naturphilosophischen Systeme vergangener Zeiten, sondern Routiniers, die ihr Handwerk verstehen. Geniale Forscher sind Sand im Getriebe, da sie sich oft nicht an die Regeln halten und mit ihren ausgefallenen Ideen immer wieder den Konsens der Gemeinschaft stören. Wenn irgend jemand zu Recht als der Philosoph des Zeitalters der Big Science und der industrialisierten Wissenschaft gelten kann, dann Francis Bacon. Trotz dieser Betonung des Anwendungsaspekts war Bacon kein reiner Utilitarist.28 Wissen und Handeln sind bei Bacon zwei Seiten derselben Medaille, die immer zusammen gesehen werden müssen. Eine Wissenschaft, die nur auf Anwendung zielt, wird scheitern, auch dies hat Bacon erklärt. Andererseits ist eine wahre Wissenschaft, eine, die die Formen der Natur gefunden hat, eo ipso eine praktisch anwendbare Wissenschaft. Ein Vertreter des Hauses Salomon im Neuen Atlantis erläutert das Prinzip dieser Wissenschaftsgesellschaft: »Unsere Gründung hat den Zweck, die Ursachen des Naturgeschehens zu ergründen, die geheimen Bewegungen in den Dingen und die inneren Kräfte der Natur zu erforschen und die Grenzen der menschlichen Macht so weit auszudehnen, um alle möglichen Dinge zu bewirken.«29 e) Isaac Newton und das Wissen der Alten In den Standardwerken der Wissenschaftsgeschichte gilt Newton als brillanter Mathematiker, Begründer der Klassischen Mechanik, Hauptvertreter einer experimentellen, jeder Spekulation abgeneigten Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert. Wir wissen heute, daß diese Bewertung unvollständig und schief ist. Newton war ein mißtrauischer Einzelgänger, ein notorischer Geheimniskrämer, dem man seine Manuskripte förmlich entreißen mußte. Er war ein Häretiker – ein Arianer – der nicht an die heilige Dreifaltigkeit glaubte, aber er mußte dies vor aller Welt geheimhalten, denn er war Professor am Trinity College in Cambridge. Er war vermutlich der bedeutendste Mathematiker des 17. Jahrhunderts, neben vielem anderen (mit Leibniz) der

25 Bacon, Neues Organon II, 609 (Aphor. 52). 26 Bacon, Neues Organon II, 349 (Aphor. 14). 27 Bacon, Neues Organon I, 271 (Aphor. 129). 28 Vgl. Francis Bacon, Neues Organon I, 217f. (Aphor. 99). 29 Francis Bacon, Neu-Atlantis, Stuttgart 1992, 43.

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Erfinder der Infinitesimalrechnung (um 1665/66, erst 1704 publiziert), aber bei der Abfassung seines Hauptwerks 20 Jahre später verzichtete er auf die Verwendung dieses revolutionären Instruments und kehrte zu den geometrischen Methoden der Antike zurück, weil er die ›Modernen‹ und ihren Methoden verabscheute. Newton hat einen großen Teil seiner Arbeitszeit alchemistischen, theologischen und religionsgeschichtlichen Studien gewidmet. Er schrieb eine ›History of the Church‹, untersuchte die Proportionen des ›Tempels Salomons‹ und verfaßte theologische Traktate über die Natur Gottes. Er studierte die ›Apokalypse des Johannes‹ und das ›Buch Daniel‹ und befaßte sich mit der Chronologie der Alten Kulturen, auf deren Basis er eine neue Theorie der Weltgeschichte aufstellte. Er war der vermutlich beste Kenner alchemistischer Schriften und Ideen seiner Zeit und unterhielt in seiner eigenen Wohnung ein hervorragend ausgestattetes chemisches Labor, in dem die Feueröfen drei Jahrzehnte lang nur selten verloschen. John Maynard Keynes, der auf einer Auktion im Jahre 1936 einen großen Teil der damals als wissenschaftlich wertlose Kuriositäten betrachteten alchemistischen Manuskripte Newtons gekauft hat, um sie vor der Zerstreuung in alle Welt zu bewahren, bezeichnete Newton nach ihrer Sichtung als »den letzten der Magier«. Für Newton war das Universum eine Art Kryptogramm, das Gott einem kleinen Zirkel von Eingeweihten zur Auflösung überlassen hat. Diese Auflösung ist nur möglich, weil Gott die Welt mit Indizien versehen hat, die sich zum Teil in der Natur – in der Bewegung der Gestirne, im Aufbau der Elemente, usw. – zum Teil aber auch in uralten Schriften und Traditionen verbergen. Newton war davon überzeugt, daß er nur einen Teil dessen wiederentdeckt hatte, was die Alten (die Babylonier, Sumerer, Hebräer) bereits wußten. Das kopernikanische System, seine eigenen Ergebnisse auf den Gebieten der Optik und der Physik des Himmels und der Erde waren für Newton nur Wiederentdeckungen des verlorengegangenen Wissens der Alten. In einem unveröffentlichten Scholion zu Proposition VIII des 3. Buches der Principia erklärt Newton, daß man in der Harmonielehre des Pythagoras bei richtiger Entzifferung der Hinweise bereits die aus dem Gravitationsgesetz folgende Regel der umgekehrt quadratischen Abhängigkeit zwischen Schwingungszustand und Spannung finde.30 Aber Pythagoras verbarg sein Wissen hinter Allegorien und Symbolen, die von Aristoteles und Ptolemäus falsch gedeutet wurden. Newton folgt einer arkanen ideengeschichtlichen Tradition, in der Gott selbst als Ur-Alchemist und das 1. Buch Mose als allegorische Darstellung eines alchemistischen Prozesses verstanden wurde. Das Wissen darüber hatte Gott den Hebräern allerdings nur in Form von Gleichnissen enthüllt, deren Gehalt durch die Überliefung verdorben wurde. Newton glaubte, daß der ursprüngliche Sinn der göttlichen Offenbarungen durch umfassende Sichtung aller Quellen, extensives Experimentieren und kluges Interpretieren möglicherweise wieder ans Licht gefördert werden könnte. In einer unveröffentlichten Manuskriptnotiz aus den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts erklärte er: »So wie die Welt aus dem dunklen Chaos durch das Hervorbringen des Lichtes und durch die Trennung des ätherischen Firmamentes und des Wassers von der Erde geschaffen wurde, so bringt unsere Arbeit die Anfänge aus schwarzem Chaos und die erste Materie durch die Trennung der Elemente und die Beleuchtung der Materie hervor.«31 Diese Vorstellungswelt, die von einigen Wissenschaftshistorikern als die ›Chemische Philosophie‹ Newtons bezeichnet wurde, ist keineswegs ein Kuriosum, sondern steht in einem logischen, motivationalen und heuristischen Zusammenhang mit der Physik seines Hauptwerks. 30 Isaac Newton, aus dem Nachlaß von David Gregory, in: Newton, Die mathematischen Prinzipien der Physik (hrsg. von Volkmar Schüller), Berlin und New York 1999, 559. 31 Isaac Newton, zit. nach Jan Golinski, Das geheime Leben eines Alchemisten, in: John Fauvel et al., (Hg.), Newtons Werk. Die Begründung der modernen Naturwissenschaft, Basel u.a. 1993, 207.

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Ein verbindendes Glied war dabei der Begriff des Äthers. Der Äther war nicht nur im Rahmen der Optik wichtig, sondern in Newtons Augen zugleich auch der Träger immaterieller Kräfte wie der chemischen Valenzen, der Elektrizität, des Magnetismus und der Gravitation. Er glaubte, daß der Äther sogar der Schlüssel zu den Kräften der Seele und sogar zu dem Wirken Gottes in der Welt war. Über den Äther schien es ihm möglich, zu den ersten Ursachen des Kosmos vorzustoßen. In den ›Principia‹ entwirft er das Bild eines gewaltigen Kreislaufs der Natur, bei dem ständig Äther von außen auf die Erde einströmt, kondensiert, sublimiert, in die Erde ein-dringt, wieder verdampft und teilweise verschwindet. Aus einem anderen Manuskript Newtons mit dem Titel ›Die offenkundigen Gesetze und Prozesse der Natur in der Vegetation‹ wird klar, warum er glaubte, seine alchemistischen Forschungen vor den Augen der Öffentlichkeit verbergen zu müssen. In diesem Text unterschied Newton die Vorgänge der Natur in rein mechanische und in vegetative. »Die Nachahmung mechanischer Veränderungen in der Natur entspräche die gewöhnliche, vulgäre Chemie, während die Kunst, vegetative Prozesse anzuregen, eine ›subtilere, geheime und edle Arbeitsweise‹ sei. (...) Die Arbeit war feinsinnig, weil sie auf den der Natur eigenen vegetativen Wirkstoff zurückgriff – einen ›vegetativen Geist‹, der beschrieben wurde als eine ›außerordentlich feine und unvorstellbar kleine Materiemenge, die durch alle Stoffe hindurchgeht und deren Abtrennung nichts als eine tote und inaktive Masse zurücklassen würde‹ Diesen Geist unter die Kontrolle menschlicher Kunstfertigkeit zu bringen, würde bedeuten, zumindest potentiell die Wachstums- und Reifeprozesse der materiellen Welt zu beherrschen. Das war ein edles Ziel; im Falle des Erfolges würde der Mensch gottgleiche Macht erringen, denn Gott war der Schöpfer dieses Geistes, und der Geist war die Wirkkraft Gottes. Aber gerade weil diese Arbeitsweise so heilig war und potentiell solche Macht verlieh, war es auch notwendig, sie geheimzuhalten und den Augen der ›Vulgären‹ [...] nicht zugänglich zu machen.«32 Die Lösung des »geistigen Rätsels, das Newton darstellt«, sucht Rattansi in dessen Geschichtsbetrachtung, nach der »die Geschichte fortlaufend geformt wurde gemäß einem Plan der Vorhersehung, der – wenn auch nur nach seiner Erfüllung – als im göttlichen Wort vorgebildet aufgezeigt werden konnte«.33 In der Wiederentdeckung des wahren Weltsystems sah Newton »einen wesentlichen Teil des Prozesses […], der zur Wiederherstellung von Adams verlorenem Wissen führt. Sobald die Menschen die unendliche Macht Gottes und Seine Weise, Dinge zu gestalten und ständig über ihnen zu wachen, begriffen hätten, würden sie dadurch zu einem tieferen Verständnis und Einverständnis hinsichtlich ihrer Pflichten geführt werden, die sie Ihm und ihren Mitmenschen schuldeten. So würde auf die Wiederherstellung der wahren Wissenschaft eine Wiedereinsetzung der wahren Moralität folgen, die dann auf einer unver-fälschten Vorstellung von Gott und Seiner Voraussicht gründete. Beides zusammen stellte einen unerläßlichen Teil der Vorbereitung auf das mit der Wiederkunft Christi anbrechende Tausendjährige Reich dar.«34 f) Johann Friedrich Böttger und die Instrumentalisierung des Wissens Vor etwa 400 Jahren verkündete der Apothekergeselle Johann Friedrich Böttger, er könne unedle Metalle in Gold verwandeln. Mit dieser kühnen Behauptung begab er sich in Lebensgefahr.

32 Jan Golinski, a.a.O., 197f. 33 Piyo Rattansi, Newton und die Weisheit der Alten, in: John Fauvel et al., (Hg.), Newtons Werk. Die Begründung der modernen Naturwissenschaft, Basel u.a. 1993, 254. 34 Rattansi, a.a.O., 255.

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Schon viele Alchemisten hatten das gleiche getan und einige von ihnen beendeten ihr Leben als Betrüger am Galgen. Doch August der Starke war ein weltoffener Herrscher. Außerdem war er aufgrund seiner prunkhaften Staatsführung ständig in Geldnöten, und so ließ er Böttger nur festnehmen - sozusagen in Geiselhaft. Anstatt ihn in Ketten zu legen, um ihm als Betrüger den Prozeß zu machen, richtete er ihm ein Labor ein, damit er Gelegenheit hatte, für seine großsprecherische Behauptung den Beweis anzutreten. Er konnte sich gewissermaßen durch Gold auszulösen und seine Schuld tilgen, indem er dazu beitrug, den sächsischen Staatssäckel zu füllen. Den Strang als Alternative zum Erfolg vor Augen, experimentierte Böttger in seinem gut ausgestatteten, aber heißen und verräucherten Labor jahrelang – ohne Erfolg. Schließlich, nachdem ihm bedeutet worden war, daß sein Herrscher langsam die Geduld verlieren würde, reduzierte er auf Anraten seines Freundes Tschirnhaus seine Zielsetzung. Er erfand zunächst eine neue Art von Steinzeug – eine Art rotes Porzellan – das sich gut verkaufen ließ, obwohl es für das echte chinesische Porzellan keine Konkurrenz war. Doch dem sächsischen König reichte dies nicht. Nach weiterem langwierigen Experimentieren machte Böttger (wiederum mit Tschirnhausens Hilfe) den Fund seines Lebens – zwar kein Gold, aber eine Methode zur Herstellung von echtem Porzellan, das man bisher gegen Gold aus China besorgen mußte. Seine Herstellung war ein diffiziles Unternehmen, bei dem alles stimmen mußte oder das Produkt war verdorben – kein Wunder, daß es bisher niemandem gelungen war, die chinesischen Erzeugnisse zu imitieren. August der Starke war zufrieden, als ›Meißener Porzellan‹ erwies sich die Erfindung des Alchemisten Böttger in den kommenden Jahrzehnten als vorzügliche Einnahme-quelle des Sächsischen Staates. Dem Erfinder selbst hat seine Tat dennoch kein Glück gebracht, denn um das Staatsgeheimnis nicht in fremde Hände fallen zu lassen, hielt August ihn für den Rest seines kurzen Lebens unter Verschluß.35 g) Heinrich Schliemann und der Traum von Troja Heinrich Schliemann ist als Ausgräber Trojas bekannt. Nahezu jeder kennt seinen Namen, aber kaum jemand weiß, welche unglaubliche Lebens- und Liebesgeschichte sich dahinter verbirgt. Wieland Schmied hat anhand von Aufzeichnungen Heinrich Schliemanns versucht, seine Lebensgeschichte einfühlsam nachzuzeichnen. Schliemanns Begeisterung für Hellas und Troja beginnt schon sehr früh. »Mit zehn Jahren schreibt er – in schlechtem Latein – einen Aufsatz über den Trojanischen Krieg; das Bild des brennenden Troja hat er in einer Weltgeschichte für Kinder gefunden, und es überzeugt den Knaben, daß es diese Stadt und die feindlichen Helden, die um sie kämpfen, wirklich gegeben hat.« Von da an keimt in seinem Geist die Sehnsucht, dieses Troja, das in der Sicht anderer nicht viel mehr was als der Traum eines alten griechischen Geschichtenerzählers, wiederzufinden. Doch sein Weg zu diesem Ziel ist verschlungen, denn ein Studium kommt aus wirtschaftlichen Gründen nicht in Frage. »Mit vierzehn Jahren wird er aus der Schule genommen und bringt sich als Handlungsgehilfe durch, verkauft Heringe, Salz, Kaffee, Kartoffelbranntwein für einen jämmerlichen Lohn, schleppt Kisten und Fässer; gerade neunzehn ist er alt, als er sich dabei überhebt, einen Blutsturz erleidet und den Beruf verliert. Zehn Jahre später ist er selbständiger Kaufmann der ersten Gilde in Petersburg, reich, geachtet, und korrespondiert mit der halben Welt in fünfzehn Sprachen. Durch Abhärtung und mäßigen Lebenswandel hat er sich aus dem schwachen, kränklichen Knaben zu einem Mann von zäher Gesundheit entwickelt, der allen Strapazen gewachsen ist, der eiskalten Schlittenfahrt nach Moskau ebenso wie dem Ritt durch 35 Zu Böttger vgl.: Janet Gleeson, Das weiße Gold von Meißen, München & Zürich 1998; Rudolf Thiel, Ruhm und Leiden der Erfinder, Berlin & Wien 1944, 101-136.

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die arabische Wüste. Er hat sein Gedächtnis geschult und Sprachen gelernt, für die ersten braucht er ein halbes Jahr, dann schafft er es in sechs Wochen.«36 Er hat nun, als wohlhabender und weitgereister Kaufmann, der viele Sprachen kannte, die Voraussetzungen geschaffen, seinen Traum zu verwirklichen: Troja wiederzufinden. Er studiert in Paris Archäologie, verschlingt alle einschlägigen Fachbücher und Klassiker, die er findet, studiert die Sammlungen von Museen, liest Reiseliteratur, um sich vorzubereiten. Unglaubliche Hindernisse hat er bei der praktischen Verwirklichung seiner Grabungspläne noch zu überwinden. Doch am Ende steht der Erfolg. Er hat das als wirklich bewiesen, an das kein Fachmann glaubte. Er hat nicht nur das Troja Homers gefunden, sondern in Zuge seiner Arbeit – als Dilettant beginnend – neue Grundlagen für die Archäologie geschaffen und unser Bild des alten Griechenland verändert. »Vor Schliemann war die Archäologie nicht mehr als nur Kunst-Archäologie, auf das Ausgraben klassischer Kunstgegenstände gerichtet. Ihr ging es um den einzelnen wertvollen Gegenstand, die Statue, die Vase, den Tempel, nicht um das Gesamtbild einer Kultur. Erst seit Schliemann und den ungefähr gleichzeitig mit seinen ersten Grabungen einsetzenden Ausgrabungen des Deutschen Reiches in Olympia ist das Interesse zuerst auf die Schichtenfolge, auf die Bestimmung einer Kultur und des Menschenbildes einer Epoche gerichtet.[…] Er hat durch seine Ausgrabungen in Troja, Mykenae, Orchomenos und Tiryns die Grundlagen unserer Kenntnis der ägäischen Kultur geschaffen und damit wahrlich, wie er selbst voll Stolz schrieb, ›der Archäologie eine neue Welt‹ erschlossen. Kein Forscher hat vor ihm so weit zurückliegende Kulturen – die frühesten Schichten Trojas sind mehr als viereinhalbtausend Jahre alt – aufgedeckt. Er trug dazu bei, den Blickwinkel der Archäologie zu erweitern und auf das Gesamtbild einer urgeschichtlichen Kultur zu richten.«37 Ein ›richtiger Wissenschaftler‹ ist Schliemann nach Wieland Schmied dennoch nie geworden. Natürlich machte er auch sachliche Fehler, doch entscheidend ist für Schmied etwas anderes: »Ein Wissenschaftler darf nur eine Leidenschaft haben: die nach Objektivität; zu erkennen, was ist. Schliemann aber war immer davon besessen zu finden, was er finden wollte: Beweise für Homer. Sein Lerneifer, die Heranziehung anderer Wissenschaftler, die Verfeinerung der Grabungsmethoden: das alles waren nur Mittel für seinen Zweck.« Aber er war lernfähig und suchte stets die Meinungen von ›Autoritäten‹ heranzuziehen und gegen seine Deutungen abzuwägen. »Es ist ein Zeugnis für seine unerhörte Anpassungsfähigkeit an die Erfordernisse dieser Welt und ihre Realitäten, daß er, um sein Ziel zu erreichen, manches als notwendig hinnahm, was er zunächst entschieden ablehnte.«38 Schliemanns Lebens- und Wirkungsgeschichte ist der Stoff, aus dem Forscherlegenden gewebt werden. Sie zeigt die unwiederholbare Kombination von kulturellen Voraussetzungen, Begabungen, Motiven und Chancen, die die Voraussetzung für seinen Erfolg und für den von ihm ausgelösten Paradigmenwandel war. »Schliemanns Homer-Begeisterung ist ethisch: seine Begeisterung für die Helden Homers, vor allem für seine Frauengestal ten, Nausikaa und Penelope, ist die Begeisterung für das Gute, das zugleich schön und stark ist. […] Schliemann hat das vorarchaische, mythische Hellas in der Tiefe seiner Seele erlebt, und mit jeder seiner Handlungen wollte er wieder an die alte, heldische Zeit anknüpfen. Wenn er nach Griechenland und in die Türkei fuhr, so fuhr er nicht in das kleine Hellas und die damals noch mächtige Pforte der sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, sondern in die Welt Homers, in

36 Wieland Schmied, Heinrich Schliemann. Troja und Homer, Frankfurt 1990, 8. 37 Schmied, a.a.O., 11, 12. 38 Schmied, a.a.O., 16.

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der Achilles und Hektor lebendig waren in jedem Stein.«39 Nur die Sehnsucht nach dieser Welt machte Heinrich Schliemann und seine Leistung möglich. h. Wernher von Braun und der Weg zu den Sternen Nicht immer sind die Resultate der Arbeit der von einer Idee begeisterten oder sogar besessener Forscher so unschuldig wie im Falle von Heinrich Schliemann. Wernher von Braun gilt als der Vater der modernen westlichen Raumfahrt. Er wollte wie so viele andere Raumfahrtenthusiasten ›zu den Sternen‹, aber um auf diesem Weg voranzukommen, mußte er sich wie sein späterer russischer Gegenspieler Sergej Koroljow mit den Mächtigen arrangieren und Militärraketen bauen, deren Zweck das Töten von Menschen war. Beide waren bereit, diesen Preis zu zahlen. Beide nahmen in Kauf, der Sabotage verdächtigt zu werden, weil sie Ressoucen für eine ›verborgene Agenda‹ abzweigten, die die Konstruktion von Raketen vorsah, die in friedlicher Absicht in den Weltraum fliegen konnten. Inspiriert durch die frühe Lektüre der fantastischen Romane von Jules Verne gerät Wernher von Braun als junger Mann in den Kreis anderer begeisterter Raketenbasstler, die sich durch die technisch ausgefeilten Berechnungen Hermann Oberths anleiten ließen. Die Geschichte der frühen Raketenpioniere ist (wie die Schliemanns) eine Geschichte von innerer Begeisterung, Zurückweisung durch die Fachwelt und unbeugsamem Willen zum Erfolg. Die Pionierarbeit von Hermann Oberth ›Die Rakete zu den Planetenräumen‹, von der Universität Heidelberg als Dissertation abgelehnt und nur mit privaten Mitteln gedruckt, wurde zusammen mit dem Nachfolgewerk ›Wege zur Raumschiffahrt‹ zur Bibel der jungen Raketenbauer.40 Als ›Die Rakete zu den Planetenräumen‹ dem Gymnasiasten von Braun in die Hände fiel, war er von den darin enthaltenen Ideen so gepackt, daß er sich, um das Buch verstehen zu können, so sehr anstrengte, daß seine bisher eher bescheidenen schulischen Leistungen in Mathematik und Physik deutlich stiegen. Über den Kreis junger Enthusiasten im Verein für Raumschiffahrt (VfR), die in Berlin-Reinickendorf unter der Leitung Rudolf Nebels in kleinem Maßstab private Raketenversuche durchführten, schrieb ein Besucher: »Der Eindruck, den man mitnahm, war der eines besessenen Eifers, mit dem Nebels Leute an der Arbeit waren. Keiner dieser Männer war verheiratet, keiner rauchte oder trank. Sie gehörten uneingeschränkt einer Welt an, die von einer alles andere ausschließenden Idee beherrscht wurde.«41 Unter ihnen war auch der junge Wernher von Braun. Als die Versuche zunehmend größer und gefährlicher, die Finanzierung aber immer schwieriger wurde, mußte den Beteiligten klar werden, »daß die Entwicklung von Raketen nicht länger das Privatvergnügen einiger enthusiastischer Bastler bleiben konnte«.42 Das Militär schaltete sich ein

39 Schmied, a.a.O., 13, 14. 40 In der UdSSR gab es eine ähnliche Konstellation. Konstantin Ziolkowski beeinflußte und begeisterte den jungen Sergej Koroljow, der später zum ›Vater der russischen Raumfahrt‹ wurde, auf eine Weise, daß sich dieser wie Wernher von Braun dem Ziel verschrieb, die technischen Voraussetzungen für Reisen zu fernen Planeten zu schaffen – und wie letzterer prompt mit der Staatsmacht, die nur die militärische Nutzung der Rakete im Blick hatte, in Konflikt geriet. 41 Vittorio Marchis, Wernher von Braun. Der lange Weg zum Mond, Heidelberg 2001 (Spektrum Biographie), 21. Vgl. auch: Werner Buedeler, Geschichte der Raumfahrt, Künzelsau o.J.; Otto Merk, Raumfahrtreport, München 1967; David H. DeVorkin, Science with a Vengeance. How the Military Created the US Space Sciences After World War II, New York u.a. 1992. Eine sehr kritische Darstellung der Verwicklungen von Brauns in den NS-Staat gibt: Rainer Eisfeld, Mondsüchtig. Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei, Reinbek 1996 42 Marchis, a.a.O.

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und in der Folge wurden die Experimente auf den Versuchsplatz des Heereswaffenamtes in Kummersbach verlegt. Der zwanzigjährige Wernher von Braun wurde im Oktober 1932 zum Zivilangestellten des Heereswaffenamtes, das die Entwicklung der nicht vom Versailler Vertrag betroffenen Raketentechnologie mit Nachdruck vorantreiben wollte. Querverbindungen zur Universität machten es möglich, daß von Braun im April 1934 die Ergebnisse seiner Forschungen als Doktorarbeit einreichen konnte. Sie wurden jedoch als ›geheime Kommandosache‹ klassifiziert und blieben unveröffentlicht. Von Braun wurde 1937 technischer Leiter des neuen Versuchsgeländes in Peenemünde und damit zur entscheidenden Figur des größten deutschen militärtechnischen Entwicklungsunternehmens bis 1945. Endlich waren die materiellen und personellen Voraussetzungen für eine kontinuierliche Arbeit an den Raketenplänen gegeben, doch für von Braun war es ein Pyrrhussieg. Er baute keine Mondraketen, sondern die als V2 bekannt gewordene erste Fernrakete, die auf ihrem Flug zwar bis in den Weltraum vorstieß, nach ihrem Wiedereintritt in the Atmosphäre jedoch als Bombe auf dem Territorium des Gegners einschlug und Menschen tötete. Bei ihrer Produktion sind mehr Menschen umgekommen (zumeist KZ-Häftlinge und andere Zwangsarbeiter) als durch ihre Wirkung auf den Feind. Wissen und Arbeitskraft von Brauns fielen 1945 in die Hände der Amerikaner. Der beginnende Kalte Krieg zwischen den sich formierenden politischen Blöcken trieb die Raketenbauer in beiden Lagern wiederum in die Arme der Militärs, die auf Abschreckung durch atomare Interkontinentalraketen setzten. Wieder mußten die Pläne, eine ›Rakete zu den Planetenräumen‹ zu schicken, in der persönlichen Schublade bleiben. Eine geniale propagandistische Idee Koroljows, die Montage eines einfachen Senders mit dem Namen ›Sputnik‹ auf eine Testrakete, schockierte im Jahre 1957 die Amerikaner und eröffnete das Wettrennen der beiden Supermächte zum Mond. Von Braun standen im Gegensatz zu Koroljow, der bereits 1966 an den Spätfolgen einer zurückliegenden Gulag-Haft starb, alle gewünschten Ressourcen zur Verfügung. Er konnte seinen Traum, eine Rakete zu bauen, die Menschen auf einem fremden Himmelskörper und wieder zurück befördern konnte, 1969 erwirklichen. Doch seine Hoffnung, daß damit das Tor zum Kosmos aufgestoßen war, erfüllte sich nicht. Nach einigen weiteren Missionen zu Mond erlahmte das Interesse der Amerikaner an der teuren Raumfahrt. Ungeachtet aller politischen Lobbyarbeit gelang es von Braun nicht, die Regierung der USA für eine bemannte Marsmission zu gewinnen. Wenige Jahre später starb Wernher von Braun als einsamer und verbitterter Mann. Er hatte für die Verwirklichung seines Traums einen hohen, allzuhohen Preis bezahlt. Er hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und am Ende doch nur einen Teilerfolg errungen. i)Theodor Kaluza und die Fünfte Dimension Wesentlich unspektakulärer verlief das Leben des 1885 in Danzig geborenen Theodor Kaluza. Der Mathematiker Kaluza habilitierte bereits mit 24 Jahren, aber er mußte danach zwanzig Jahre auf eine ordentliche Professur warten, nicht zuletzt aufgrund einer relativ geringen Zahl von Publikationen, die zwar in der Regel hochwertig waren, aber keinen ausgeprägten Schwerpunkt aufwiesen und zudem oft zwischen Mathematik und Physik lagen. Bereits 1921 hatte Kaluza die Idee seines Lebens. Wie Einstein in seiner Speziellen Relativitätstheorie von 1905 die Vereinheitlichung der Maxwellschen Theorie mit der Mechanik mittels Einführung einer vierten Dimension gelungen war, so wollte Kaluza mit seinem genialen Entwurf Einsteins neue Allgemeine Relativitätstheorie von 1916 (die im wesentlichen eine Theorie der Gravitation und des Raumes war) mittels einer fünften Dimension mit dem Elektromagnetismus vereinheitlichte. Nur wenige Mathematiker interessierten sich für diese Idee oder leisteten (wie Oskar Klein oder

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Hermann Weyl) selbst Beiträge in ähnlicher Richtung. Da neue testbare Konsequenzen ausblieben, zeigten auch die Physiker kaum Interesse. Einer von ihnen war allerdings regelrecht elektrisiert: Albert Einstein. Er betrachtete Kaluza als kongenialen Geist, der möglicherweise die Lösung für ein Grundproblem der modernen theoretischen Physik gefunden hatte. In seiner Akademiearbeit ›Zu Kaluzas Theorie des Zusammenhangs von Gravitation und Elektrizität‹ von 1927 schrieb Einstein abschließend: »Zusammenfassend kann man sagen, daß Kaluzas Gedanke im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie eine rationelle Begründung der Maxwellschen elektromagnetischen Gleichungen liefert und diese mit den Gravitationsgleichungen zu einem formalen Ganzen vereinigt.«43 Kaluzas Theorie blieb unwiderlegt, wurde jedoch von den Physikern nach der Entdeckung zweier weiterer Grundkräfte, der schwachen und der starken Kernkraft, aufgrund ihrer Unvollständigkeit ad acta gelegt. Doch die Geschichte war damit nicht zu Ende. Die Idee der Vereinheitlichung blieb ein zentrales Motiv vieler theoretischer Physiker von Einstein und Heisenberg bis Hawking und Weinberg. Fünfzig Jahre nach ihrer Erfindung und lange nach dem Tod des Urhebers erlebte die Kaluza-Theorie eine machtvolle Renaissance, die ihren Höhepunkt vielleicht noch nicht erreicht hat.44 Die von Kaluza angewandten Konstruktionsprinzipien erwiesen sich allen anderen Versuchen zur Bildung einer alle Grundkräfte integrierenden Theorie als überlegen. Kaluzas Biographin faßt die Bedeutung von Kaluzas Theorie für die moderne Physik wie folgt zusammen: »Kaluza begründete durch seine fünfdimensionale Theorie ein Modell der Vereinheitlichung in höheren Dimensionen, das sich in der modernen theoretischen Physik durchsetzte. Man kann mit Recht behaupten, dass Kaluzas Theorie einen Paradigmenwechsel in der modernen Physik bewirkt hat: Der elfdimensionale Raum der heutigen Superstringtheorien beruht auf Kaluzas Vereinheitlichungsmodell aus seiner fünfdimensionalen Theorie. Nicht nur die Superstring- und M-Theorien beruhen auf Kaluzas Idee. In den letzten Jahren verwendet Lisa Randall in ihrer neuen Theorie Kaluzas Vereinheitlichungsmodell in seiner ursprünglichen Form, in der die fünfte Dimension als ausgedehnt angenommen wird, und nicht als zu einem winzigen Kreis zusammengerollt wie in Oskar Kleins Theorie von 1926. Dadurch erhält Kaluzas Theorie eine neue Bedeutung: In dem Ansatz von Lisa Randall wird der physikalische Raum nicht als elfdimensional wie in den Superstring- und M-Theorien, sondern als fünfdimensional wie in der Theorie Kaluzas angenommen. Zur Zeit steht eine experimentelle Bestätigung der Idee Kaluzas noch aus. Solch ein Experiment scheint die technischen Möglichkeiten prinzipiell zu überschreiten: Sollte es jedoch gelingen, die Höherdimensionalität des Raumes nachzuweisen, so würde Kaluzas Idee eine Renaissance der Physik auslösen, die vergleichbar wäre mit der Kopernikanischen Wende.«45 j) James Lovelock und die Früchte der geistigen Freiheit James Lovelock ist der Erfinder der Gaia-Theorie. Die Wahl dieses Namens aus der griechischen Mythologie (Gaia steht für Erde oder für die Erdgöttin) könnte den Eindruck erwecken,

43 Albert Einstein, Zu Kaluzas Theorie des Zusammenhangs von Gravitation und Elektrizität. Zweite Mitteilung, in: Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften (Physikalisch-mathematische Klasse), 17. Feb. 1927 (Reprint Berlin 1978), 30 44 Dazu Michio Kaku, Hyperspace. Eine Reise durch den Hyperraum und die zehnte Dimension, Berlin 1995; Brian Greene, The Elegant Universe. Superstrings, Hidden Dimensions, and the Quest for the Ultimate Theory, New York und London 1999. 45 Daniela Wuensch, Der Erfinder der 5. Dimension. Theodor Kaluza. Leben und Werk, Göttingen 2007, 633f. Vgl. auch Lisa Randall, Warped Passages. Unraveling the Mysteries of the Universe’s Hidden Dimensions, New York 2005.

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Lovelock sei ein romantischer Sonderling. Nichts könnte falscher sein als dies. Der Name stammt leitet sich aus dem Bestreben ab, für eine neue Idee einen schlagkräftigen und unverwechselbaren Namen: ein ›Markenzeichen‹ zu finden. Gefunden hat ihn nicht Lovelock, sondern einer seiner guten Bekannten, der Literatur-Nobelpreisträger William Golding. Weit davon entfernt, ein Romantiker zu sein, ist James Lovelock ein harter Empirist mit herausragenden analytischen und instrumentellen Fähigkeiten. Aus der unteren Mittelschicht in einem noch sehr klassenbewußten Großbritannien stammend, war Lovelock schon sehr früh ein Rebell, der niemals im Konsens der Mehrheit mitschwamm. Er schloß sich der Religionsgemeinschaft der Quäker an, war zeitweilig jedoch auch in engem Kontakt mit einer katholisch geprägten Gruppe – ohne daß er sich als besonders religiöse Menschen bezeichnete. Es war für ihn keine Frage der Weltanschauung oder des Prinzips, sondern eine Sache persönlicher Integrität und Identität. Zu Beginn des zweiten Weltkrieges verweigerte er den Wehrdienst (ein Entschluß, den er noch während des Krieges revidierte), doch er arbeitete in einem medizinisch-biochemischen Labor an kriegswichtigen Projekten. Immer auf der Suche nach neuen wissenschaftlichen Herausforderungen, betrieb Lovelock nach dem zweiten Weltkrieg zeitweise Auftragsforschung auf einem britischen Flugzeugträger. Die Liebe fürs Abenteuer und für das Meer, aber auch die Hoffnung auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse veranlaßte ihn, im Jahre 1971 auf eigene Kosten an einer Antarktis-Expedition auf dem Polarforschungsschiff Shackleton teilzunehmen. Auf dieser Expedition machte er mit einem von ihm entwickelten äußerst sensiblen Instrument (den Electron Capture Detector) Messungen an Spurenelementen, die für die Kontroverse um den Abbau der Ozon-Schicht entscheidend waren und die Politik zum Handeln zwangen. Das internationale Abkommen zur Einstellung der FCKW-Produktion war ein Resultat der von Lovelock angestoßenen Messungen. Ab den sechziger Jahren arbeitete Lovelock für etliche Jahre in den USA für die NASA und für das Jet Propulsion Laboratory an der Entwicklung wissenschaftlicher Instrumente, zumeist Detektoren, für die Raumfahrt. Nach weiteren Stationen gab er eine großzügig dotierte feste Stelle auf und ging mit weitaus geringeren Einkommensperspektiven zurück nach Großbritannien – nicht auf eine feste Stelle, sondern um Auftragsforschung und eigene Projekte zu betreiben, die vor allem seine geistige Unabhängigkeit sicherten und seine Kreativität herausforderten. Alles andere als ein Umweltaktivist, wie man vermuten könnte, hatte er unter anderem Beraterverträge mit Shell und anderen kommerziellen Firmen. Niemals von einem einzelnen Geldgeber abhängig, versuchte er ab den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Zusammenarbeit mit Gleichdenkenden, seine neue Vorstellung über die Selbstregulationsmechanismen des Lebens auf dieser Erde zu überprüfen und sowohl in Fachkreisen als auch in der interessierten Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. Erstaunlicherweise fand er den zweiten Teil er Aufgabe leichter als den ersten. Inzwischen sind die Prinzipien der Gaia-Theorie auch bei vielen Fachleuten angekommen und akzeptiert. Diese Theorie, auf die Lovelock nach eigenen Angaben »suddenly, just like a flash of enlightenment«46 in den sechziger Jahren während seiner Tätigkeit im Jet Propulsion Laboratory in den USA kam, behauptet, daß das Leben kein passives Erzeugnis bestimmter zufällig vorliegender Umweltkonstellationen ist, sondern daß es aktiv über seinen Metabolismus die äußeren Bedingungen für seine Existenz steuert – innerhalb gewisser Werte und mit begrenzten Elastizitäten.

46 Vgl. James Lovelock, Homage to Gaia. The Life of an Independent Scientist, Oxford 2000, 238.

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Lovelock erfuhr nach eigenen Angaben »virtually zero support from the British scientific establishment«.47 Er hatte neben außerordentlichen Fähigkeiten auch Glück und die Begabung, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Aber die Durchsetzung der Gaia-Hypothese ist auch seiner Zähigkeit zu verdanken, mit der er zwanzig Jahre lang mit privaten Mitteln neben seinen substantiellen wissenschaftlichen Tätigkeiten für seine Ideen gekämpft hat. 3. Fazit Was können wir aus den präsentierten kleinen Fallstudien lernen? Geben Sie eine Antwort auf die im ersten Teil der Arbeit aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Methode und Subjekt im Forschungshandeln der Einzelnen und im Wissenschaftsprozeß insgesamt? Zunächst konnten wir sehen, daß Wahrnehmung und Wirkung eines Forschers den Intentionen und Zielen dieses Forschers in vielen Fällen und manchmal in grotesker Weise widersprechen können. Wir konnten weiterhin sehen, daß die nichtintendierten Folgen der Arbeit eines Forschers oft sehr viel wichtiger sind als die intendierten. Ein großer Teil der Ergebnisse wissenschaftlicher Tätigkeit geht darauf zurück, daß aufmerksame Forscher zufällige Beobachtungen nicht ignoriert, sondern ernstgenommen und weiter erforscht haben. Was dem einen offensichtlich war, hielten andere für grundfalsch.48 Da die für die Nachwelt bedeutendsten wissenschaftlichen Ergebnisse eines Forschers sich mit dem Rezeptionsmilieu verändern,49 können wir schließen, daß die Bewertung eines Wissenschaftlers nicht nur von seinen Ideen und Leistungen, sondern mindestens ebensosehr von den Eigenschaften des Rezeptionsmilieus50 abhängt. Anhand der gezeigten Fälle können wir die große Vielfalt der möglichen individuellen Motivationslagen in ihrem Zusammenspiel mit geistesgeschichtlichen Voraussetzungen nur erahnen. An fast jedem namhaften Wissenschaftler lassen sich die komplexen Wechselwirkungen von äußeren Umständen und inneren Erlebniswelt, aber auch die Interventionen des Unvorhersehbaren, mehr oder weniger deutlich dokumentieren. Wären die entscheidenden Messungen zum Verbleib der ozonabbauenden Chemikalien ohne den von Lovelock entwickelten unglaublich empfindlichen Sensor rechtzeitig erfolgt? Oder hätte sich der Ozonabbau aufgrund der Unkenntnis oder Fehleinschätzung wichtiger chemischer Reaktionsketten unkontrolliert und mit desaströsen Folgen fortgesetzt, weil kein inernationales Abkommen zur Verminderung der Produktion der entscheidenen Reagenzien zustandegekommen wäre? Welche Form hätten die neueren Versuche zur Entwicklung einer vereinheitlichten Theorie aller Natürkräfte ohne das Vorbild der Kaluza-Theorie angenommen? Wäre Wernher von Braun auch ohne die Romane von Jules Verne und ohne die inspirierenden Arbeiten von Hermann Oberth zu einem Raumfahrtenthusiasten geworden? Oder ohne das Fernrohr, das ihm seine Mutter zur Konfirmation geschenkt hatte? Wären die Amerikaner ohne

47 James Lovelock, Freeing the Mind, in: Lewis Wolpert & Alison Richards (eds.), Passionate Minds. The Inner World of Scientists, Oxford 1997, 79. 48 So etwa die Wanderung der Kontinente, die für Alfred Wegener nach der Sichtung der vorliegenden Befunde auf der Hand lag, jedoch von der Fachwelt einhellig abgelehnt wurde, bis sie 1968 durch Tiefseebohrungen der Glomar Challenger und später durch direkte Messungen aus der Erdumlaufbahn nicht mehr zu leugnen war – mehr als dreißig Jahre nach Wegeners Tod. 49 Dies sahen wir an Kaluzas 5. Dimension. Ein anderes Beispiel ist Svante Arrhenius’ Modell der Erdatmosphäre von 1895, das im Zusammenhang mit dem ›Treibhaus-Effekt‹ zu neuem Ruhm gelangt ist. 50 Der Begriff des Rezeptionsmilieus umfaßt sowohl die Einbettung einer wissenschaftlichen Idee, Tatsache, Theorie etc. in die Systematik der Wissenschaften als auch die Einflüsse, die durch die Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Politik, Wissenschaft und Ökonomie, Wissenschaft und Kultur, etc. (Öffentlichkeit, Gesellschaft, Recht, Religion) gewissermaßen ›von außen‹ an die Wissenschaften herantreten.

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die Arbeit Wernher von Brauns (an der V2 in Deutschland und später an den Nachfolgemodellen in den USA) dennoch im Jahre 1969 auf dem Mond gelandet? Und wo stünde die Raumfahrt jetzt? Und wenn wir über unsere kleinen Fallstudien hinausehen und uns das o.g. ›große Problem‹ in Erinnerung rufen: Wie wäre die Entwicklung der Physik verlaufen, wenn Planck im Jahre 1900 nicht seine geniale Idee, daß Energieeinheiten in der Natur möglicherweise einen bestimmten Betrag nicht unterschreiten können (Quantenhypothese) mathematisch ausgearbeitet und vor dem Auditorium der Berliner Akademie präsentiert hätte? Hätte Newton die Principia schreiben können, wenn der geniale Däne Tycho Brahe nicht jahrzehntelang mit überdimensionierten Instrumenten Planetenpositionen gemessen hätte? Und – wenn diese einzigartigen Daten nicht zufälligerweise in die Hände eines gewissen Johannes Kepler gefallen wären, der daraus in jahrelanger Arbeit die elliptische Bahn des Mars berechnet und neue Planetengesetze entwickelt hätte? Hätte Darwin auch ohne die sich zufällig ergebende Möglichkeit, auf dem Militärschiff Beagle mitzufahren und über fünf lange Jahre ein gewaltiges Datenmaterial zu sammeln, die Evolutionstheorie entwickelt, ohne die die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des späten 19. Jhs. anders verlaufen wäre? Hätte die Theorie von Wallace, der eine Persönlichkeit ganz anderen Typs als Darwin war, die Lücke füllen können? Was wären Ernst Haeckel und seine ›Welträtsel‹ ohne Charles Darwin? Wie wäre der 2. Weltkrieg verlaufen, wenn die Kernspaltung nicht erst im Dezember 1938 von Hahn und Strassmann, sondern – was ohne weiteres möglich gewesen wäre – einige Jahre vorher entdeckt worden wäre? Diese Fragen können nur spekulativ beantwortet werden. Sicher ist jedoch, daß die realen Entwicklungen zumindest auf kurze und mittlere Sicht anders verlaufen wären als sie es taten. Was wir über chaotische Prozesse, Attraktoren und die großen Wirkungen kleiner Effekte wissen, legt jedoch die Vermutung nahe, daß die Wissenschaft und der von ihr beeinflußte Teil der Welt schon bei kleinen Veränderungen in gewissen Konstellationen einen ganz anderen Pfad hätten einschlagen können. In anderen Fällen hätte sich ihre Entwicklung vielleicht als erstaunlich resistent auch gegenüber großen Eingriffen erwiesen. Es bleibt der erstaunliche Schluß, daß sich der Wissenschaftsprozeß an vielen Punkten (technisch gesprochen: an seinen Bifurkationsstellen) als äußerst sensibel gegenüber winzigen Veränderungen der Ausgangsbedingungen verhält. Die Regeln der wissenschaftlichen Methode sind blind gegenüber diesen Variationen. Auch das Subjekt, der einzelne Forscher, kennt die Folgen seiner Eingriffe in den Prozeß nicht. Aber seine Ideen, seine Hoffnungen, Fähigkeiten, Bestrebungen und Sehnsüchte sind der Treibstoff, der ihn in Gang hält. Wie macht man gute Forscher? Indem man ihnen den Kanon des Wissens und die Regeln der wissenschaftlichen Methode einpaukt? Nein, so erzeugt man Bürokraten, die nicht die Phantasie und das Neue, sondern das Gewohnte und die Routine schätzen – nicht weil sie phantasielose Menschen wären, sondern weil die durch kreative Phantasie erzeugten Neuerungen Aufregung und Verwirrung stiften und daher ›Sand im eingefahrenen Getriebe‹ darstellen. Aufregung, kreatives Chaos ist aber genau das, was der echte Forscher sucht! Gute Forscher gewinnt man, indem man jungen Menschen die Sehnsucht nach Erkenntnis (oder nach einem anderen lohnenden Ziel, für das man Erkenntnis braucht) einpflanzt, indem man ihnen das Maß an Bildung vermittelt, das sie brauchen, um einen Anfang zu finden – und sie dann machen läßt.51

51 Vgl. dazu auch: Klaus Fischer, Was heißt Freiheit der Wissenschaft heute? in: Anselm Winfried Müller und Rainer Hettich (Hg.), Die gute Universität. Beiträge zu Grundfragen der Hochschulreform, Baden-Baden 2000, 83-106. Zu den ›nachgelagerten‹ Problemen der Forschungsförderung und –bewertung vgl. Klaus Fischer, Soziale und kognitive Aspekte des Peer Review Verfahrens, in: Klaus Fischer und Heinrich Parthey (Hg.), Evaluation wissenschaftlicher Institutionen. Wissenschaftsforschung Jahrbuch 2003, Berlin 2004, 23-62.

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