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WO DU NICHT BIST, KANN ICH NICHT SEIN Roman von Leni Behrendt Nach dem Tode des innig geliebten Stiefvaters geht es der jungen Silje sehr schlecht, denn sie hat gedarbt und gearbeitet, um dem Kranken die letzte Lebenszeit erträglicher zu machen. Nun ist sie verarmt und wird zu allem Unglück noch arbeitslos und krank. In diesem Zustand findet sie ihr Vormund, der gekommen ist, sich um sie zu kümmern. Nur mit Mühe kann er das stolze

Wo du nicht bist, kann ich nicht sein

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WO DU NICHT BIST, KANN ICH NICHT SEIN

Roman von Leni Behrendt

Nach dem Tode des innig geliebten Stiefvaters geht es der jungen Silje sehr schlecht, denn sie hat gedarbt und gearbeitet, um dem Kranken die letzte Lebenszeit erträglicher zu machen. Nun ist sie verarmt und wird zu allem Unglück noch arbeitslos und krank. In diesem Zustand findet sie ihr Vormund, der gekommen ist, sich um sie zu kümmern. Nur mit Mühe kann er das stolze

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Mädchen bewegen, in sein Haus zu ziehen. Im Hadebrecht-Haus wird Silje mit recht gemischten Gefühlen aufgenommen. Während einige Familienmitglieder sie voll ehrlicher Sympathie begrüßen, betrachten andere das schöne Geschöpf voll Mißtrauen und Eifersucht. Durch ihr freundliches, bescheidenes Wesen erobert sich Silje bald ihren Platz im Haus. Dann aber kommt es ohne ihr Verschulden zu schwerwiegenden Konflikten, die ihr manche trübe Stunde bringen und viel seelische Kraft und Selbstbeherrschung von ihr fordern.

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Wir verwenden Papier, das bis zu 70% aus Altpapier besteht. Das ist unser Beitrag zum Umweltschutz. Diese Ausgabe erscheint alle 4 Wochen im Martin Kelter Verlag (GmbH & Co.), Mühlenstieg 16-22, 2000 Hamburg 70, Postfach 70 10 09, Telefon: Sa.-Nr. (040) 68 28 95-0, Telefax (040) 68 28 95 50, Fernschreiber: 213.126 Verantwortlich: Verleger Otto Melchert. Im Verkaufspreis ist die gesetzliche Mehrwertsteuer enthalten. Gesamtherstellung: Norhaven Rotation A/S Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Gewähr. Abgebildete Personen auf dem Umschlag stehen in keinem Zusammenhang mit dem Roman. Diese Ausgabe darf weder in Leihbüchereien verliehen noch in Lesezirkeln geführt oder zum gewerbsmäßigen Umtausch bzw. Wiederverkauf verwendet werden. Printed in Denmark.

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Vor sich hin brummend, stieg der Mann die langen Treppen des großen Mietshauses empor. Du lieber Himmel, wo bekamen die Menschen, die hier im vierten Stock wohnten, bloß die Puste her, um diese unbequemen, ausgetretenen Stiegen tagtäglich erklimmen zu können! Die mußten ja Lungen wie die Rennpferde und Herzen wie die Büffel haben. Endlich war das schwere Werk geschafft, und der Mann stand erst einmal still, um zu verschnaufen. Indes ließ er seine Augen, die blauleuchtend unter buschigen weißen Brauen lagen, über die vier Türen schweifen, die diese Etage aufwies – zwei geradeaus, eine rechts, eine links. Namen waren daran vermerkt, fast ein Dutzend an der Zahl. Größtenteils Visitenkarten, bescheiden mit Reißzwecken an das braune Holz geheftet. Und auf solch einer Karte stand auch der Name, den er suchte. »Na, denn man zu!« brummte er verdrießlich, drückte den Finger auf den Klingelknopf und zuckte zusammen bei dem durchdringenden Ton, der die Stille zerriß. Wie ein Alarmzeichen schrillte er auf, wie ein SOS-Ruf. Er fiel dem Mann auf die Nerven, obwohl diese gewiß nicht zartbesaitet waren. Irgendwie empfand er diesen Ton wie den Hilferuf eines Menschen. Unbehaglich starrte er auf die braune Tür, die sich bald darauf öffnete. Vor ihm stand eine hagere, grobknochige Person mit einem verkniffenen Mund. Neugierig musterten ihn die Augen hinter scharfen Brillengläsern. Gott, in deine Hände! – schoß es dem Mann durch den Sinn. Mit dieser Dame da ist bestimmt nicht gut Kirschen essen. Wehe den Armen, die von ihr abhängig sind! »Sie wünschen?« fragte eine unangenehm krächzende Stimme kurzangebunden. Und ebenso erfolgte die Antwort: »Fräulein Berledes zu sprechen.« »In welcher Angelegenheit?« »Das geht Sie nichts an, verehrte Dame.« »Mein Herr, ich muß doch sehr bitten.«

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»Und ich auch«, unterbrach er sie schroff. »Ich bin es nämlich nicht gewohnt, meine Angelegenheiten auf neugierige Nasen zu binden. Ist Fräulein Berledes nun anwesend oder nicht?« Dieser Ton schüchterte die impertinente Laura Pfefferkorn denn doch ein. Es klang beinahe höflich, als sie jetzt sagte: »Das Fräulein ist eben aus dem Krankenhaus gekommen und daher sehr elend. Ich weiß nicht, ob ich Sie vorlassen darf, mein Herr.« »Bei mir als Vormund der jungen Dame können Sie es ruhig tun.« Nun war Laura Pfefferkorn doch überrascht. In ihren Augen brannte die Neugierde, die sie jedoch wohlweislich unterdrückte, weil sie nun ihrerseits der Ansicht war, daß mit diesem Herrenmenschen nicht gut Kirschen essen wäre. Sie bat ihn, näher zu treten und öffnete dann eine Tür, steckte den Kopf durch den Spalt und krächzte: »Fräulein, ein Herr föchte Sie sprechen. Er gibt an, Ihr Vormund zu sein. Kann das stimmen?« »Und wie das stimmt!« schob der Mann sie energisch zur Seite und betrat einen dürftig möblierten Raum, in dem ein junges Mädchen angekleidet auf dem Bett lag, nun hastig aufsprang und vor dem Eindringling stand. Doch ehe sie etwas sagen konnte, sprach er bereits, während er der vor Neugierde fast platzenden Laura Pfefferkorn die Tür vor der spitzen Nase zuschlug. »Ich bitte um Entschuldigung, daß ich so formlos hier eindringe. Aber anders wäre ich bei dem Zerberus da draußen nicht vorangekommen! Aber setz dich ja rasch hin, mein Kind. Du siehst mir nämlich so aus, als ob du gleich vor Schwäche zusammensinken müßtest.« Damit drückte er sie in den alten Sessel aus Weidengeflecht, der wie unwillig ächzte, und nahm dann selbst auf einem Stuhl so vorsichtig Platz, als hieße es, sich in Nesseln zu setzen. Denn der Hüne mit dem robusten Knochenbau wog immerhin seine guten zwei Zentner bei

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einer Größe von 1,85. Und in dieser dürftigen Bude war alles wackelig und morsch. Doch der Stuhl hielt, und der Mann sah zu dem Mädchen hin, das ihn unfreundlich musterte. »Wie kommen Sie überhaupt dazu, mich so ohne weiteres zu duzen?« fragte es ungehalten, was den Mann jedoch nicht zu beeindrucken schien. »Na, man immer hübsch friedlich, Kindchen!« meinte er nachsichtig. »Mit falschem Stolz, Trotz oder anderen Mätzchen imponierst du mir gar nicht. Ich vertrete als dein jetziger Vormund Vaterstelle an dir, und da wäre es ja lächerlich, wollte ich dich siezen. Zu deiner Orientierung: Ich heiße Onkel Philipp, merke dir das bitte. Warum hast du auf meinen Brief nicht geantwortet?« »Weil ich im Krankenhaus lag, als er hier eintraf«, entgegnete sie immer noch abweisend. »Ich fand ihn heute bei meiner Rückkehr erst vor.« »Nun, dann hast du ja darin lesen können, daß man mich zu deinem Vormund bestimmte. Ist es dir bekannt, daß man mir kurz nach dem Tod meines Sohnes einen Brief von ihm zustellte?« »Ja. Ich fand ihn in seinem Nachlaß und schickte ihn ab. Hat mein Stiefvater Sie etwa in dem Schreiben gebeten, mein Vormund zu werden?« »Ganz recht. Es war ein langer, sehr ausführlicher Brief, der mich genau über alles orientierte – auch darüber, daß mein Sohn deine Mutter und somit auch dich durch seinen Leichtsinn an den Bettelstab brachte – und daß du zuletzt gar deinen Stiefvater mit deinem kleinen Stenotypistinnengehalt mit unterhieltest…« »Bitte, Herr Hadebrecht.« »Onkel Philipp, wenn ich bitten darf.« »Aber ich kann doch einen Menschen, den ich zum erstenmal sehe, nicht gleich duzen!« begehrte sie auf, doch er winkte gemütlich ab. »Warum denn nicht? Ich kann’s ja auch.« Da gab sie es auf. War ja viel zu müde und matt, um sich

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gegen den Willen dieses Hünen aufzulehnen, der starr wie ein Fels zu sein schien. »Na schön – dann Onkel Philipp«, resignierte sie. »Es ist ja auch alles egal. Was ich für meinen Stiefvater tat, geht niemand etwas an, will ich meinen.« »Oho, mein Kind, und wie mich das etwas angeht!« grollte sein Baß jetzt auf. »Alles geht mich an, was dich betrifft. Auch daß du noch das letzte für deinen leichtsinnigen Stiefvater hingabst – nämlich die kleine Wohnung, die dir noch geblieben war. Die verkauftest du einem jungen Ehepaar, um dem Toten ein anständiges Begräbnis geben zu können. Du selbst krochst dann in dieser scheußlichen Bude unter und aßest dich nicht satt, weil du schon seit zwei Monaten arbeitslos bist und weil die Arbeitslosenunterstützung zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig ist, wie man so sagt. Kein Wunder, daß du nach alledem zusammenbrachst und ins Krankenhaus gebracht werden mußtest.« »Woher weißt du das denn alles?« lachte sie nervös dazwischen. »Das kann dir dein Sohn doch unmöglich auch noch geschrieben haben.« »Natürlich nicht. Denn bei den letzten Geschehnissen war er ja bereits tot. Aber man kann ja Erkundigungen einziehen, nicht wahr? Und nachdem das nun alles bestens geklärt ist, werde ich als Vormund mit meiner ersten Amtshandlung beginnen. Also: Du packst sofort deine Koffer und kommst mit mir in mein Haus, das fortan deine Heimat sein soll.« Nach diesen energischen Worten war es zuerst einmal still. Dann fragte das Mädchen spöttisch: »Und was soll ich da – etwa das Gnadenbrot essen?« »Mein liebes Kind, den Ton wollen wir erst gar nicht zwischen uns aufkommen lassen!« entgegnete der Mann zwar ruhig, doch es blitzte in seinen Augen gefährlich auf. »Vergiß bitte nicht, daß ich als dein Vormund eine gewisse Erziehungsberechtigung über dich habe und Verantwortung zugleich. Also kann ich nicht dulden, daß

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du nach dem Nervenfieber – ja, sieh mich nur so groß an, ich weiß auch davon – in dieser scheußlichen Bude bleibst und so elend, wie du bist, womöglich die Jagd nach einer Arbeitsstelle beginnst. Um überhaupt arbeiten zu können, brauchst du zuerst einmal Pflege, die dir in meinem Hause zuteil werden wird. Wenn du dann wieder auf der Höhe bist, werde ich dir zu einem Posten verhelfen, und zwar in meinem Betrieb, wo kein windiger Abteilungsleiter dich an die frische Luft setzen wird, weil du ihn bei seinen Belästigungen gehörig in die Schranken wiesest.« Jetzt mußte er über ihr verblüfftes Gesicht lachen. »Ja, ja, Kleine! Wie du siehst, bin ich über dich vollkommen im Bilde. Ich mußte mich doch schließlich vergewissern, über welch ein Persönchen ich die Vormundschaft übernehmen sollte. Und nun Schluß der Debatte! Und keine Widerrede, bitte ich mir aus. Pack deine Sachen, damit wir abfahren und noch vor Dunkelwerden nach Hause kommen können.« Silje Berledes hätte sonst wohl nicht so ohne weiteres über sich bestimmen lassen – denn sie besaß eine ziemliche Portion Eigenwillen und vor allem einen stark ausgeprägten Stolz. Aber jetzt war sie durch die schwere Krankheit so sehr geschwächt, daß sie einfach nicht die Kraft hatte, sich einem so starken Willen widersetzen zu können. »So sei es«, fügte sie sich gottergeben. »Ich komm ja jetzt doch nicht gegen dich auf. Dafür fühle ich mich zu elend.« »Nur gut, daß du das endlich einsiehst, mein Kind! Am besten ist, du packst jetzt einen Koffer mit dem Notwendigsten, alles andere kann deine Wirtin dir nachschicken. Oder traust du ihr nicht?« »Nein. Ich besitze zwar nicht viel, aber darunter doch einiges, woran ich hänge. Und das möchte ich nicht auch noch verlieren.« Müde erhob sie sich und trat an den Schrank, der so wurmstichig war, daß er in nächster Zeit wohl zusammenbrechen würde. Zwar besaß er ein Schloß, sogar

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einen Schlüssel, doch es gehörte eine Fertigkeit dazu, ihn zu handhaben. Endlich war es geschafft. Die beiden schon tief in den Angeln hängenden Türen öffneten sich, und der Mann, der dem allen mit Interesse zuschaute, konnte nun den Inhalt des Veteranen bequem übersehen. Auf der Holzstange hingen fein säuberlich über Bügel getan einige Kleider, und oben auf dem Brett lag ein Hut. Aber danach griff Silje jetzt nicht. Sie holte vom Boden ein unförmiges Etwas hervor, legte es auf den Tisch und mußte nun doch über das verdutzte Gesicht des Mannes lachen. »Hierin befindet sich eben das, woran mein Herz noch hängt«, erklärte sie. »Ich habe es in eine Decke genäht, um es vor neugierigen Augen – und Habgier zu schützen.« »Raffiniert getarnt«, schmunzelte er. »Darf man fragen, was in dem Monstrum steckt?« »Die Geige von meinem – Paps – « Weiter ging es nicht, die Stimme brach. Hastig wandte Silje sich ab, zog zwei Koffer unterm Bett hervor und begann zu packen. Das fiel ihr nicht leicht. Sie mußte immer wieder einhalten, um sich auszuruhen. »Bitte, Onkel Philipp«, sagte sie zuletzt schon ganz nervös. »Fahr heute allein, ich komme morgen nach.« »Darauf werde ich mich nun nicht verlassen«, versetzte er trocken. »Da fasse ich mich lieber in Geduld, bis du fertig bist.« »Du traust mir also nicht?« »Nein.« Da wandte sie sich brüsk ab und packte weiter. Zwei Bilder legte sie vorläufig zur Seite, auf die jetzt Hadebrechts Blick fiel. Das eine Bild zeigte ein klares, reines Frauenantlitz mit Madonnenaugen, das zweite ein Männerantlitz von bildhafter Schönheit. Was kostet die Welt? – schien der lachende Mund zu fragen. Ich kaufe sie und lege sie der Schönsten zu Füßen! »Deine Mutter?« fragte der Mann, auf das erste Bild zeigend.

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»Ja«, kam es knapp zurück. Sie schloß die beiden Koffer und fühlte sich so matt, daß sie sich in den Korbsessel fallen lassen mußte, bevor sie noch umsank. Das Gesicht war todblaß, die geschlossenen Lider zuckten, der Atem ging rasch und schwer. »Mach um Himmels willen jetzt nicht schlapp!« drang eine grollende Männerstimme an ihr Ohr. »Hast du heute überhaupt schon was gegessen?« »Doch, morgens im Krankenhaus«, kam die Antwort müde, und er brummte: »Wird schon was Rechtes gewesen sein! Mit dir in ein Lokal zu gehen, wage ich deiner miserablen Verfassung wegen nicht. Also werde ich für einen Imbiß sorgen.« »Bitte nicht!« unterbrach sie ihn hastig. »Ich habe wirklich keinen Hunger.« »Natürlich nicht, wenn man die Absicht hat, sich als Hungerkünstlerin auszubilden. Mädchen, Mädchen, ich komm mir beinahe so vor, wie von unserem Herrgott persönlich zu dir geschickt. Rühre dich ja nicht von der Stelle, bis ich zurückkehre!« Damit ging er, und Silje duselte erschöpft vor sich hin. Erschrocken fuhr sie auf, als Laura Pfefferkorn vor ihr stand. »Ach, Sie haben bereits gepackt, Fräulein«, bemerkte sie hämisch. »Da ist es ja gut, daß ich die Rechnung schon geschrieben habe. Sie bezahlen natürlich die Miete nicht nur für den angebrochenen Monat, sondern auch für den nächsten.« »Und möglichst für das ganze Jahrzehnt«, ironisierte eine Stimme hinter ihr, die sie wie gestochen herumfahren ließ. Da sie mit dem Rücken nach der geöffneten Tür stand, hatte sie nicht gemerkt, daß Hadebrecht eingetreten war. Nun sah sie ihn fassungslos an, und er lachte. »Ja, ja, meine geehrte Pfefferkörnin, es wird einem leicht ein Strich durch die Rechnung gemacht. Die Miete für den angebrochenen Monat November sei Ihnen zugebilligt, aber zum nächsten müssen Sie sich schon einen neuen

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Mieter für dieses konfortable Gemach suchen. Wieviel Zins erheben Sie denn monatlich dafür?« »Fünfundzwanzig Mark«, entgegnete Silje statt der verdatterten Laura, während sie das Geld hastig auf den Tisch zählte. Und siehe da, die ehrsame Jungfrau Pfefferkorn raffte die Scheine zusammen und entfloh. »Na also«, schmunzelte der Mann hinter ihr her. »Man muß mit solchen Leuten nur patent reden, dann weicht ihre Unverschämtheit der Feigheit. Hättest du kleines Schaf ohne mein Dazwischenkommen wirklich den Wucherzins gezahlt?« »Wahrscheinlich. Können wir jetzt aufbrechen?« »Noch nicht, erst wirst du etwas essen. Der Chauffeur wird gleich mit einem Imbiß erscheinen.« Und tatsächlich trat der Mann schon wenig später ein, gefolgt von Laura Pfefferkorn, die zuerst nach Luft schnappte und dann giftig loslegte: »Dieser Mann ist einfach ein Flegel.« »Ungefähr so wie ich, nicht wahr?« warf Hadebrecht augenzwinkernd dazwischen. »Aber es kann ja nicht jeder den Anstand mit Löffeln gegessen haben. Und nun verfügen Sie sich, das Zimmer ist nämlich bis Ultimo bezahlt.« Wutentbrannt zog Laurachen ab, und der Chauffeur lachte über das ganze Gesicht. »Solche Kreuzspinnen hab’ ich gern. Sie wollte mir nämlich den Eintritt verwehren. Und ich mußte schon Gewalt anwenden – wenn auch immerhin noch sanfte.« Damit stellte er ein papierumhülltes Etwas auf den Tisch, zog aus einer Tasche eine Flasche Wein, aus der anderen ein Glas und nahm dann Haltung an. »Befehl ausgeführt, Herr Hadebrecht.« »Danke, Schorlep. Nehmen Sie die beiden Koffer und verstauen Sie sie im Wagen. Dann warten Sie unten.« »Und dieses Monstrum auf dem Tisch?« »Das bringe ich.« Spielend hob der untersetzte Mann in der schlichten

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Chauffeurlivree die bestimmt nicht leichten Koffer hoch, entfernte sich, und sein Herr nahm vorsichtig das Papier von dem Gegenstand, der sich dann als ein Pappteller mit Gabelbissen entpuppte. Dann nahm er die Flasche, in welcher der Pfropfen nur lose steckte, füllte das Glas mit dem schweren, süßen Wein, schob es Silje hin, die wie teilnahmslos dasaß, und ermunterte: »So, mein Kind, wohl bekomm’s! Du sollst mal sehen, wie dir dieser Trank auf die Beinchen hilft.« Schweigend gehorchte Silje. Wie Feuer brannte es hinterher in ihrem leeren Magen. Das erschreckend bleiche Gesicht bekam langsam Farbe, ein zaghaftes Lächeln stahl sich um den Mund. Und als sie erst von den delikaten Bissen geschmeckt hatte, kam der Appetit. Es blieb kaum etwas auf dem Pappteller zurück. »Besser?« forschte ihr Gegenüber. »Ja, danke.« »Das habe ich mir so ungefähr gedacht. Nun leere noch einmal das Glas, dann wirst du sehen, wie rosig dir plötzlich die Welt erscheint.« Silja tat’s, und siehe da, sie fühlte sich wie von leichten Wolken getragen. Halb berauscht tat sie alles, was ihr Vormund von ihr verlangte. Ließ sich ohne Widerrede unten in den Fond des Autos betten, fürsorglich zudecken – und schlief gleich darauf vor Erschöpfung ein. Silje Berledes schlief noch immer tief und fest, als der schwere Wagen hielt. Wenn sie nicht so elend und schwach gewesen wäre, hätte sie sich selbst die Sorglosigkeit, mit der sie sich sozusagen entführen ließ, nicht verziehen. Aber jetzt war ihr alles gleichgültig, völlig gleichgültig. Nur schlafen dürfen, auslöschen all das, was ihr noch nicht einmal ganz neunzehnjähriges Dasein bedrückte! Und das war gewiß nicht wenig. Früher, ja, da war alles licht und hell in ihrem Leben gewesen. Als einziges Kind ihrer Eltern wuchs sie sorglos auf. Wohnte in einer schmucken Villa, bekam alles das, was ihr kleines Herz nur begehrte. Vermißte nur ab und zu den Vater, der als

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Inhaber eines großen, gutgehenden Geschäftes viel unterwegs war. Und kam er nach Hause, hatte er kaum Zeit für Weib und Kind. Sie spielten in seinem Leben eine Nebenrolle, zuerst kam für ihn sein Unternehmen. Dafür hetzte und jagte er, gönnte sich kaum eine Stunde Ruhe, bis dann kam, was bei so einem gehetzten Leben kommen mußte: Der noch nicht Fünfzigjährige erlag einem Herzschlag. Dieser plötzliche Tod berührte die Gattin nicht allzusehr. Denn erstens hatte sie ihren Mann, der zwanzig Jahre mehr zählte als sie, nicht aus Liebe geheiratet – und dann war er ihr durch seine fast dauernde Abwesenheit beinahe fremd geworden. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte sie sehr darunter gelitten, doch langsam resignierte sie. Ihr ganzes Glück war ihr Kind, die bildhübsche, sonnige Silje. Bis Frau Rena zwei Jahre nach dem Tod des Gatten den Geiger Thomas Brecht kennenlernte – da gab es noch ein anderes Glück für sie. Der leichtentflammte Künstler verliebte sich sozusagen Hals über Kopf in die Witwe, war von ihrer Madonnenschönheit wie berauscht. Und da auch ihr Herz dem Mann gleich beim ersten Sehen zuflog, wurde schon wenige Wochen später aus beiden ein seliges Paar. Und nun begann für Frau Rena ein glückvolles Leben. Alles, was sie in ihrer ersten Ehe so schmerzlich vermißt hatte, wurde ihr in der zweiten in verschwenderischem Maß zuteil. Stets begleitete sie den Gatten auf seinen Konzertreisen, und daß Silje, die damals elf Jahre zählte, auch mitkam, war eine Selbstverständlichkeit. Denn der Stiefvater liebte die Kleine zärtlich, und auch sie hing sehr an ihrem Paps. Die Schulbildung des Kindes machte den Eltern keinen Kummer. Es bekam eine Hauslehrerin, und damit gut! Ein Glück, daß Silje leicht begriff, sonst hätte sie bei dem unruhigen Leben von Stadt zu Stadt, von Land zu Land nicht viel gelernt. So jedoch bewältigte sie das vorgeschriebene Pensum spielend und erlernte die

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verschiedenen Sprachen überall im Lande selbst. So ging es drei Jahre, dann war die Zeit des Ruhmes für den Geiger vorbei. So steil sein Anstieg erfolgt war, so rapide ging es jetzt bergab. Er war eben zu sorglos gewesen. Hatte geglaubt, daß er immer der beliebte und umschwärmte Künstler bleiben müßte, ohne daß er sein Können vervollständigte. Zuerst ärgerte und empörte ihn sein Abstieg, doch dann wurde er gleichgültig. Ach was, mochten andere dem Ruhm nachjagen! Ihn ekelte das plötzlich an. Geld hatte er ja genug, also was konnte ihm schon passieren? Allein, bei dem verschwenderischen Leben, das er mit seiner kleinen Familie nach wie vor führte, schmolz sein Reichtum rasch dahin. Und als er eines Tages gewissermaßen pleite war, tröstete seine Frau ihn damit, daß ja auch sie über einen ganz netten Batzen verfügte. Sie hatte nach dem Tod ihres ersten Mannes das Geschäft verkauft und war auch sonst noch vermögend. Bedingungslos gab sie dem leichtsinnigen Gatten das Geld in die Hände, das er dann auch in gar nicht langer Zeit durchbrachte, wie er seine hohen Gagen und sein Erbe, das ihm der Vater schon längst auszahlte, bereits durchgebracht hatte. Es kam schließlich so weit, daß er nur noch einige tausend Mark besaß. Und da griff Silje ein, die mittlerweile sechzehn Jahre alt geworden war. Sie bewog die ratlosen Eltern, in ihre Heimatstadt zurückzukehren, was dann auch geschah. Dort verkaufte man die Villa und bezog eine kleine Wohnung, die man behaglich ausstattete. Alles andere aus der reichen Einrichtung des komfortablen Hauses wurde mit verkauft. Nun hatte man Geld und konnte wieder einmal herrlich und in Freuden leben. Die Warnung Siljes, die trotz ihrer Jugend und Verwöhnung viel vernünftiger war als die Eltern, doch mit dem Geld hauszuhalten, wurde lachend in den Wind geschlagen. Ach was, eine Weile konnte man von dem Geld schon leben. Außerdem würde der Geiger Stunden geben und damit schon den Lebensunterhalt für

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sich und die Seinen verdienen. Darauf jedoch wollte die skeptische Silje sich denn doch nicht hundertprozentig verlassen. Also setzte sie bei den Eltern durch, daß sie eine Handelsschule besuchen durfte. Und kaum, daß sie diese absolviert hatte, stand man in der kleinen komfortablen Wohnung vor dem Nichts – und diesmal endgültig. Denn Thomas Brecht hatte nach einer bösen Blutvergiftung, die ihn fast das Leben kostete, zwei Finger seiner linken Hand eingebüßt – und als gar noch bald darauf die heißgeliebte Gattin nach einer schweren Operation starb, war der Lebensmut des einst so strahlenden Mannes gebrochen. Er vegetierte nur noch dahin. Ließ sich von seiner Stieftochter, die eine Stellung gefunden hatte, von dem kleinen Gehalt mit unterhalten. Lebte nur noch auf, wenn Silje auf seiner kostbaren Geige, die sie wie ein Heiligtum hütete, musizierte. Dann gab er sich dem Wahn hin, daß seine sehr begabte Schülerin den Ruhm erlangen könnte, der einst ihm beschieden war. Aber dafür reichte das Können Siljes doch nicht aus. Zumal ihr die Zeit dazu fehlte, genügend zu üben und sich vollständig auf die Musik zu konzentrieren. Denn sie mußte ja tagsüber im Büro arbeiten und, wenn sie nach Hause kam, noch den kleinen Haushalt versehen. Hinterher war sie so müde, daß ihr wahrlich die Lust fehlte, noch stundenlang auf der Geige zu üben. So kam ihr Spiel zwar erheblich über den Dilettantismus heraus, genügte aber dennoch nicht, um von Kunstexperten anerkannt zu werden. Und da das Schicksal es nun einmal darauf abgesehen hatte, die kleine Familie, die einst vom Glück so sehr begünstigt war, niederzuzwingen, verlor Silje auch noch ihren Posten als Stenotypistin in der Fabrik. Nicht durch Unfähigkeit oder Pflichtverletzung, sondern weil der Juniorchef und Abteilungsleiter sich eine »handgreifliche« Abfuhr bei der empörten Angestellten holte, als er sie mit einer Liebesbezeugung belästigte.

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Denn Silje Berledes war das, was man ein bildschönes Mädchen nennt, dazu voll Grazie und Charme. Es ging etwas ungemein Stolzes, strahlend Reines von ihr aus – und das reizte den skrupellosen Verführer unbeschreiblich. Doch nachdem er die Ohrfeige weg hatte – und zwar in Gegenwart der anderen Stenotypistinnen im Saal – kannte seine Wut keine Grenzen. Und wie sagt ein volkstümliches Sprichwort: Wenn man den Hund schlagen will, findet sich auch der Stock. Nun, der Stock fand sich – und die Stenotypistin Silje Berledes wurde fristlos entlassen. Jetzt hieß es für sie, mit der kargen Arbeitslosenunterstützung nicht nur sich, sondern auch ihren Stiefvater durchzubringen. Das tapfere Mädchen tat’s – und war schier verzweifelt, als er ernstlich zu kränkeln begann. Da zählte sie nicht mehr die Pfennig ab, machte Schulden, um ihren geliebten Kranken nur ja päppeln zu können. Und als er dann doch einer schweren Lungenentzündung, die plötzlich hinzukam, erlag, wußte die verzweifelte Silje nicht, wie sie dem Toten ein würdiges Begräbnis geben sollte. Also verkaufte sie kurz entschlossen die kleine Wohnung an ein junges Ehepaar, begrub den Stiefvater, bezahlte die Schulden und bezog dann das erste beste möblierte Zimmer, das sich ihr bot. Zwar war es erbärmlich, kostete aber dafür auch nicht viel – und das war für Silje ausschlaggebend. Denn sie mußte mit dem wenigen Geld, das ihr noch geblieben war, haushalten auf lange Sicht. Eine Woche später brach sie dann zusammen und kam ins Krankenhaus. Erschrocken fuhr Silje aus tiefem Schlaf auf und starrte verständnislos um sich. Was war geschehen – wie kam sie hierher – auf den Sitz dieses komfortablen Autos? »Nun, Kleine, starr mich nicht so entsetzt an!« hörte sie nun eine lachende Männerstimme. »Wir sind angelangt.« »Wo angelangt?« »Zu Hause.«

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»Zu Hause -?« lauschte sie den Worten nach. »Ach, so was gibt’s ja gar nicht mehr für mich. Lassen Sie mich doch schlafen – ich bin ja so müde.« Damit legte sie sich mit einem tiefen Seufzer zurück und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein, wie man so sagt. Doch gleich darauf schreckte sie wieder auf, denn ein starker Arm hob sie aus dem Wagen und stellte sie behutsam auf die Füße. »Na, nun mal hoppla!« sprach dieselbe Stimme jetzt ermunternd, und da war Silje endlich wach. »Entschuldige, Onkel Philipp«, sagte sie hastig. »Ich war wirklich noch schlaftrunken.« »Hab’ ich gemerkt. Und nun mal rein in die gute Stube! Vertrau dich unserm Philchen an, dann bist du bestens aufgehoben.« Wer dieses Philchen war, sollte Silje erst zum Bewußtsein kommen, als sie sich in einem traulichen Gemach befand, in das sie durch die Halle und über die Treppe hinweg gelangte. Nun stand sie vor einem zierlichen weiblichen Wesen, das freundlich zu ihr sprach: »Kipp nur ja nicht aus den Schlorrchen, du kleines elendes Wurm! Setz dich hier auf den Diwan, für alles andere sorge ich dann schon.« Und Philchen tat’s. Ehe Silje sich recht versah, lag sie ausgekleidet in einem Bett, das weich und mollig war. Und ehe sie noch einen klaren Gedanken fassen konnte, schlief sie schon wieder tief und fest, während der Herr des Hauses seine Familie aufsuchte, die sich, außer der dazugehörigen Philine, im Wohnzimmer befand. Da war zuerst einmal die Gattin des Hünen, eine stille, feine Frau mit gütigem Gesicht unter weißem Haar, dann die Tochter Thea, eine üppige Blondine von vierunddreißig Jahren, die vor Jahresfrist verwitwet war und nun mit ihrem achtjährigen Töchterchen wieder im Elternhaus lebte, weil sie nach dem Tod des Gatten vor dem Nichts stand. Denn auch sie hatte dem geliebten Mann ihre reiche Mitgift bedingungslos in die Hände gegeben, die dieser

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jedoch erst angriff, als das Rauschgift ihn erbarmunglos in seinen Krallen hielt. Außerdem mußte man in den letzten Jahren von dem Geld noch leben, weil der Privatdozent seinen eigentlichen Beruf aufgeben mußte. Und was er dann mit kleinen schriftstellerischen Arbeiten verdiente, war gewiß nicht viel. Er siechte langsam dahin, und als er starb, mußten Frau und Kind im Hadebrecht-Haus Zuflucht suchen. Thea war eine phlegmatische Natur und gefiel sich darin, in »höheren Regionen zu schweben«. Konnte aber auch wiederum recht erdgebunden sein, wenn es um Geld ging. Sie hatte immer Angst, irgendwie zu kurz zu kommen. Also hatte das Ehepaar Hadebrecht an dieser Tochter nicht viel Freude. Nur ihr Jüngster, der jetzt dreißigjährige Eike, war so geworden, wie die Eltern es erhofften – bis auf seine Ehe, damit machte auch er ihnen Kummer. Sie paßte aber auch gar nicht zu dem ernsten, zielbewußten Mann, die brünette, kapriziöse Ilona, die sich den »schönen Eike« nun mal in ihr eigenwilliges Köpfchen gesetzt hatte und ihn dann auch nach vielen geschickten Bemühungen einfing. Denn der damals Sechsundzwanzigjährige, der gerade seinen Dr. jur. gemacht hatte, war noch zu wenig Frauenkenner, um die listige Ilona zu durchschauen. Ihm gingen erst die Augen nach der Hochzeit auf – und zwar schon bald. Ilona jedoch war zuerst so richtig glücklich, bis sie dann merkte, daß der Gatte sich nicht von ihr beherrschen ließ, wie sie es erwartet hatte. Da begann sie, ihm Szenen zu machen, die aber an seiner Gelassenheit abprallten wie an einem Felsen. Außerdem behagte der launenhaften, sehr verwöhnten Ilona das Leben in dem Hadebrecht-Haus nicht, das so ganz von dem Willen ihres Schwiegervaters beherrscht wurde. Sie konnte diesen »Despoten« nicht ausstehen und setzte ihm immer Widerstand entgegen, wobei sie jedoch stets den kürzeren zog. Und wenn sie dann vor Wut zu platzen glaubte, packte sie ihre Koffer und reiste zu ihren

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Eltern, die ständig unterwegs waren, schloß sich ihnen an – um schon nach einigen Wochen wieder plötzlich im Hadebrecht-Haus aufzutauchen. Für eine Weile fand sie es dann ganz erträglich in dem »Eulennest«, wie sie das komfortable Haus oft in ihrer Wut nannte – bis sie ihm wieder entfloh. Also ein ewiges Auf und Ab, das von dem Gatten nebst seiner Familie schon längst nicht mehr tragisch genommen wurde. Nicht einmal von dem jetzt zweieinhalbjährigen Töchterchen, das die Mutter durchaus nicht vermißte, weil es im Schoß der Familie so viel Liebe fand, wie sie ein Kind nun einmal haben muß, um recht gedeihen zu können. Heute jedoch war Ilona anwesend und hörte mit an, was der Herr des Hauses seiner Familie zu sagen hatte. Daß er die Stieftochter seines verstorbenen Sohnes ins Haus holen wollte, hatte er kurz vor seiner Abfahrt bereits erklärt. Jetzt erzählte er knapp, wie er das Mädchen vorgefunden hatte und daß es nach dem schweren Nervenfieber erst mal guter Pflege und gründlicher Erholung bedürfte. »Also, nun wißt ihr Bescheid«, schloß er seinen Bericht. »Ich bitte mir aus, daß ihr der Kleinen freundlich entgegenkommt, die jetzt hier ihr Zuhause haben soll. Habt ihr mich verstanden?« Wie bei einem grimmen Feldherrn schossen seine Blicke unter den buschigen Brauen hervor, so daß man nicht aufzumucken wagte. Nur Ilona, die schien sich dieser »Despotie« wieder einmal nicht beugen zu wollen. Die dunkelgrauen Augen funkelten vor Aufsässigkeit, über die rotlackierten Lippen kam es entrüstet: »Du kannst doch unmöglich von uns verlangen, Papa, daß wir diesem hergelaufenen Mädchen-« »Halt den Mund!« fuhr der Mann hart dazwischen. »Hier geschieht, was ich anordne. Wenn dir das nicht paßt, kannst du ja wieder mal deine Koffer packen!« »Philipp«, mahnte die Gattin leise, und da wandte er unter ihrem bittenden Blick den seinen ab. »Ist doch auch wahr!« brummte er. »Es ist einfach eine

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Infamie, das Mädchen als hergelaufen zu bezeichnen, das die Stieftochter meines verstorbenen Sohnes ist und einem untadeligen Hause entstammt. Die Kleine hat sich doch wirklich vornehm genug benommen, indem sie diesen Stiefvater, den sie hätte eigentlich verachten müssen, weil er sie durch seine Verschwendungssucht an den Bettelstab brachte, mit ihrer Hände Arbeit unterhielt. Die gar noch die Wohnung verkaufte, um ihm ein anständiges Begräbnis geben zu können, und selbst in einer Elendsbude unterkroch. Ich glaube nicht, daß sie mir so widerstandslos hierher gefolgt, wenn sie nicht so erbärmlich schwach und elend wäre. Denn Thomas hat ja in seinem Abschiedsschreiben ausdrücklich bemerkt, daß seine Stieftochter sehr stolz und eigenwillig ist. Die wird sich bestimmt nichts von uns schenken lassen, darauf könnt ihr euch verlassen!« Nach diesen scharfen Worten wagte selbst Ilona nichts mehr zu sagen. Die Kinder saßen eingeschüchtert da, weil sie ihren sonst so guten Opapa jetzt fürchteten; selbst die altkluge, von ihrer Mutter sehr verzogene Anka. Sie folgte ihrem Fräulein gern, das eben eintrat, um ihre beiden Schutzbefohlenen zum Abendessen zu holen und hinterher ins Bett zu bringen. Artig sagten sie Gute Nacht, wobei sie sich nur zögernd dem Großvater näherten. Als dieser sie jedoch freundlich anlachte, trollten sie zufrieden an der Hand ihres Fräuleins ab. Es wurde nun nicht mehr von Silje Berledes gesprochen. Jeder scheute sich, in Anwesenheit des Hausherrn das heikle Thema zu berühren. Erst als der Gestrenge nach dem Abendessen zum Stammtisch, der jeden Sonnabend stattfand, in die Stadt fuhr, wagte man wieder über den Zuwachs im Hause zu sprechen. »Ich glaube, mit dieser Silje werden wir noch viel Ärger haben«, seufzte Thea. »Ich weiß gar nicht, warum Papa sich so sehr für das fremde Mädchen einsetzt! Ja, wenn es noch die leibliche Tochter von Thomas wäre – aber so geht sie uns doch wirklich nichts an. Laß diesen spöttischen Blick,

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Eike, du machst mich damit nervös. Du hättest besser getan, Papa auszureden, das Fräulein ins Haus zu holen, statt ihn noch darin zu bestärken.« »Aber Thea!« mahnte die Mutter leise. »Vergißt du denn ganz, daß Thomas kurz vor seinem Tode den Vater flehentlich bat, sich seines verlassenen Stiefkindes anzunehmen?« »Ach was, Thomas hatte gar nichts mehr zu verlangen!« ereiferte Thea sich immer mehr. »Er hatte doch schon längst sein Erbe weg. Und da ist es eine Zumutung von ihm, uns seine Stieftochter aufzuhalsen, die nun Papa auch noch auf der Tasche liegt.« »Eben«, lächelte der Bruder ironisch. »Das ist nämlich bei dir der springende Punkt. Aber darf ich dich daran erinnern, daß auch du schon längst dein Erbe erhieltest, und du nun auch deinem Vater auf der Tasche liegst, sogar noch mit deiner Tochter?« Zuerst starrte sie ihn verblüfft an, dann fuhr sie empört auf. »Ich verbitte mir deine Anzüglichkeiten, hast du mich verstanden? Ich bin schließlich hier die Tochter des Hauses.« »Köstlich!« lachte Ilona amüsiert dazwischen. »Der Streit um das fremde Mädchen ist bereits entbrannt. Schade, daß der gestrenge Herr und Gebieter dieses Hauses ihn nicht mit anhören kann, der würde genauso wettern wie er es vorhin bei mir tat. Nur daß ich den Mut hatte, ihm ins Gesicht zu sagen, was ihr jetzt feige hinter seinem Rücken tut.« »Kinder, so gebt doch Ruhe!« bat die Mutter kläglich. »Ihr wißt genau, daß Vater trotz eures Protestes doch tut, was er will. Und er tat recht, daß er Fräulein Berledes herholte. Sie ist doch das Vermächtnis von Thomas an uns.« Bitterlich weinend drückte sie das Gesicht in die Hände, und da schwiegen die anderen betreten still. Drei Tage waren vergangen, nachdem Silje Berledes ins Hadebrecht-Haus kam. Sie hatte diese Zeit mit Essen und Schlafen verbracht und dabei Körper und Nerven

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wunderbar gestärkt. Doch nun wurde der Schlaf bei Tag immer kürzer, und sie begann sich zu langweilen. »Das ist gut«, behauptete Philchen, die ihre Schutzbefohlene immer noch liebevoll betreute. »Langeweile ist der beste Heilfaktor.« »Aber schwer zu ertragen.« »Nun, so wollen wir für Abwechslung sorgen. Sag mal, was befindet sich eigentlich in diesem unförmigen Paket? Ich bin sonst gewiß nicht neugieriger, als es einem weiblichen Wesen zukommt, aber dieses Monstrum da habe ich direkt zu suggerieren versucht.« »Wenn du Mut hast, öffne die mysteriöse Angelegenheit – aber mach dich auf alles gefaßt«, blitzte Silje sie mutwillig an. »Mädchen, mir wird ganz gruselig. Nichtsdestotrotz, die Neugierde ist stärker.« Dann griff sie zur Schere und war eifrig bemüht, die feinen Stiche zu durchschneiden. Wie ein Geduldspiel empfand sie es – und sah dann fast andächtig auf den Geigenkasten, den die Hülle endlich entblößte. »Die Geige von Paps«, kam eine tränenerstickte Stimme vom Bett her. »Ich habe sie auch noch als Heiligtum gehütet, als schon längst bei uns Schmalhans Küchenmeister war. Die Geige ist mein kostbarster Besitz.« Verstohlen wischte Philchen die Tränen fort, die ihr über die Wangen liefen, und versuchte, ihrer Stimme Festigkeit zu geben. Fast burschikos klang es, als sie fragte: »Und was befindet sich in diesem schäbigen Kasten?« »Darin liegen die wenigen Schmuckstücke, die meine Mutter bis zu ihrem Tod trug. Alles andere wurde verkauft.« »Soso«, tat Philchen gleichmütig, hob den Deckel von der wirklich schäbigen Pappschachtel und erblickte darin ein kostbares Medaillon an einer Platinkette, ein schwergoldenes Armband und einen Ring mit einem Kleeblatt aus Smaragden, eingefaßt von Brillanten. Eine wundervolle Arbeit, die schon allein dem aparten Schmuckstück großen Wert verlieh.

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»Mehr nicht«, fragte Philchen trocken, und da mußte das Mädchen trotz seines Kummers lachen. »Tante Philchen, du verlangst aber auch gar zu viel von meiner Armseligkeit! Die Geige mit dem Schmuck zusammen bedeutet immerhin ein Vermögen.« »Hm -- na ja. Kannst du nun wenigstens auf der Geige spielen, die du wie ein Zerberus zu hüten scheinst?« »Und ob!« strahlte es jetzt in den blauen Mädchenaugen auf. »Mein Paps hat mir doch Unterricht erteilt. Und er war ein großer Künstler, wenn das in diesem Hause auch nicht anerkannt wird.« »Das mußt du Grünschnäbelchen ja wissen«, brummte Philchen. »Schwing hier nicht so große Töne, spiel mir lieber etwas vor. Aber nicht so was Hochgeschraubtes, das kann mein einfältiges Gemüt nicht fassen.« Behutsam, als ob sie ein Heiligtum berührte, hob sie die Geige aus dem weichen Samt und reichte sie dem Mädchen hin, das dieses Kleinod ebenso behutsam entgegennahm. Um den Mund zuckte es wie verhaltenes Weinen, als Silje das Kinn an das glatte Holz legte, den Bogen ergriff und ihn leicht und federnd über die Saiten führte. Zuerst klang das Spiel noch unsicher und verworren, doch allmählich kristallisierte es sich zu klaren, weichen Tönen. »Leise flehen meine Lieder – «, klang die unvergessene Weise Schuberts süß durch das Gemach, und Philchen lauschte wie gebannt. Sie hinderte die Tränen nicht, die ihr über die Wangen liefen, in großen, glitzernden Tropfen. Die Erinnerung kam. Greifbar nahe sah Philchen den strahlend schönen Jüngling Thomas vor sich, der diese Weise so oft und gern spielte, diese Weise, die auch Philchen in ihrer Jugendblütezeit erklungen war, von Meisterhand hervorgezaubert. Denn auch er war ein Geiger gewesen, den sie mit achtzehn Jahren so schwärmerisch liebte und der diese Liebe lachend abtat, um in die Welt hinauszustürmen und dort Ruhm zu erringen. Wie lange war das her? Vierundzwanzig Jahre. Doch dem erschüttert lauschenden Philchen kam es vor, als wäre es

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gestern gewesen. Und dann hatte der Neffe Thomas wieder diese Weise gespielt und damit das Herz der Tante gewonnen. Sie war ihrem Zwillingsbruder Philipp bitter gram, daß er das Talent seines ältesten Sohnes nicht anerkennen, ihn durchaus zwischen Ziegel und Zement zwingen wollte. Aber Thomas ließ sich nicht halten. Genausowenig, wie der andere sich von der Liebe des Jungfräuleins Philchen halten ließ. Und auch Thomas war in die Welt hinausgestürmt, um auch, wie der andere, zu verderben und zu sterben? Wohl nicht ganz. Denn Thomas Brecht war immerhin sechsunddreißig Jahre alt geworden, hatte Ruhm errungen, hatte Liebe gegeben und genommen, ehe die Götter ihn abriefen in ihr Reich. Denn wen die Götter lieben, der stirbt jung, so überliefert uns der Grieche Plutarch. Philchen schreckte aus ihrer schmerzlichen Versunkenheit auf, als das herrliche Spiel verklang. Wie hilflos stand es da, das zweiundsechzigjährige Fräulein, das in seiner Jugend alle anderen Männer, die sich ihm werbend nahten, ausschlug um des einen willen. Ganz langsam, Schritt für Schritt, näherte sie sich dem Bett, von dem aus die junge Silje ihr mit bangen Augen entgegensah. Zart legten sich die weichen Männerarme um den Hals der Alternden, und eine tränenerstickte Stimme fragte: »Habe ich dir mit meinem Spiel weh getan, du liebes Tantchen?« »Ach was, wohlgetan hast du mir!« polterte das resolute Philchen noch den letzten Rest von Wehmut fort. »Du kannst was, Mädelchen. Schule von deinem Paps?« »Ja. Er wollte eine Künstlerin aus mir machen, aber leider reichte mein Können dafür nicht aus.« »Wohl dir, Silje! Schwer ist die Kunst, vergänglich ist ihr Preis, sagt Schiller im ›Wallenstein‹. Ein Glück also, daß die Kunst dich nicht unterjochen konnte. Es lebt sich ohne diesen Wahnwitz entschieden ruhiger und besser, mein

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Kind. Laß dich womöglich nicht doch noch in diese Klauen kriegen!« »Keine Angst!« lachte Silje. »So kunstbesessen bin ich nicht. Mir genügt schon das, was ich kann.« »Und das ist gewiß nicht wenig, Herzchen. Wenn das Eike wüßte, wie wunderbar du Geige spielen kannst, er würde vor Neid erblassen.« »Wer ist denn Eike?« fragte Silje neugierig, und Philchen lachte. »Ach so, den kennst du ja noch nicht. Eike ist der jüngere Bruder deines Paps, der auch wie dieser von Euterpe geküßt ist, wie es so schön heißt. Doch nur fürs Klavier, zur Geige langt der Kuß nicht. Aber das treibt er nur so nebenbei. Seine Hauptbeschäftigung gilt den Ziegeln und dem Zement.« »Komische Zusammensetzung!« lachte Silje fröhlich, und Philchen sah sie erstaunt an. »Wieso? Ziegel und Zement vertragen sich doch gut.« »Aber nur als Bausteine, nicht als Anhänger der Muse.« »Mädchen, du bist mir zu spitzfindig. Laß ab von den Musen, sag mir lieber, was du essen willst.« »Schon wieder mal? Ich komm mir ohnehin schon wie genudelt vor.« »Wenn übertreiben – dann richtig. Vorläufig kann von Nudeln noch gar keine Rede sein.« »Sag mal, Tante Philchen, wie lange gedenkst du mich eigentlich noch im Bett zu halten?« »Bis du kräftig genug bist, um fest auf deinen jetzt noch zitternden Beinchen zu stehen. So lange bleibst du in diesem Gewahrsam.« »Och, so übel ist das auch nicht«, streckte Silje sich wohlig im Bett. »Tante Phileleinchen, wie schön ist es doch, daß es dich gibt!« »Darüber freu ich mich auch immer«, kam die Antwort so trocken, daß Silje sich vor Lachen ausschütten wollte. Mit versteckter Rührung sah Philchen in das jetzt so strahlende Gesicht des jungen Menschenkindes, das der Bruder ihr erst

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vor einigen Tagen so warm ans Herz gelegt hatte. Nun, er konnte mit ihr zufrieden sein, denn ihre Betreuung hatte Wunder gewirkt. Eine Woche insgesamt dauerte die »Haft« Siljes, doch dann ließ sie sich nicht mehr länger darin halten. Sie drängte hinaus voll Ungeduld. »Na schön, steh auf«, gab Philchen nach. »Aber wehe, wenn du schlapp machst, dann kennt mein Zorn keine Grenzen!« Allein Silje machte durchaus nicht schlapp. Sie fühlte sich im Gegenteil so gekräftigt, daß Philchen sich entschloß, ihren Schützling jetzt endlich mit nach unten zu nehmen. Wohlweislich verschwieg sie dem Mädchen, was es erwartete. Ganz ohne Vorurteil sollte es in den Kreis derer treten, zu denen es fortan gehören sollte. Also trat Silje Berledes am Sonntagvormittag in das Wohngemach, in dem die Familie Hadebrecht versammelt war. Es herrschte an diesem Novembertag ein fahles Licht in dem weiten Raum. Aber schien es nicht plötzlich heller zu werden, als das fremde Mädchen auftauchte? Woran mochte das liegen? An dem zartfarbenen Kleid, den leuchtendblauen Augen, dem lichtbraunen Haar, über das Goldfunken gestreut zu sein schienen? Es mußte wohl so sein. Denn die Miene Siljes war gewiß nicht strahlend. Es lag im Gegenteil etwas stolz Abweisendes auf dem jungen Antlitz, das noch immer ein wenig blaß war. »Hier bringe ich euch meinen bisher so streng behüteten Schatz«, sprach Philchen munter in die beklemmende Stille hinein. Die Herren erhoben sich von ihrem Sitz und schauten ebenso gespannt wie die anderen auf Silje, die zögernd auf die Frau des Hauses zuging. »Willkommen bei uns!« bemühte sich die Dame, einen herzlichen Ton anzuschlagen, was jedoch nicht ganz gelang. Denn sie war durch die Erscheinung des Mädchens so überrascht, ja geradezu befremdet. Sie hatte ein kümmerliches, hilfloses Wesen erwartet – und nicht eine

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solche Schönheit mit dem selbstsicheren Auftreten und der stolzen Abwehr. »Danke«, entgegnete Silje leise, während sie sich artig über die feine Frauenhand neigte. Die Bewegung hatte etwas Zwangloses und Natürliches, wie es nur junge Mädchen haben können, die sich von Kindheit an in der besten Gesellschaft bewegten. »Der Anfang wäre ja nun mit der Frau des Hauses gemacht«, bemerkte Philchen trocken. »Nun weiter, mein Herz. Das ist meine Nichte, Frau Grotner, dies die Frau meines Neffen, hier er selbst – na, und den Herrn vom Ganzen kennst du ja schon. Und nachdem nun alles geklärt ist, wollen wir uns gemütlich hinsetzen.« Damit drückte sie Silje in einen der tiefen Sessel, setzte sich in den danebenstehenden, und nun nahmen auch die beiden Herren ihre Plätze wieder ein. »Potztausend, Marjellchen, du hast dich in der einen Woche ganz wunderbar herausgemacht!« blinzelte der Senior sein Mündel vergnügt an. »Da hat dich unser Philchen ja ganz nett aufgepäppelt.« »Ja, und deshalb bitte ich dich um Arbeit, Onkel Philipp«, warf sie hastig ein. »Du versprachst mir doch…« »Man immer sachte mit den jungen Pferdchen!« unterbrach er sie nun seinerseits. »So weit bist du wohl noch lange nicht – oder?« »Doch, frag nur Tante Philchen!« ging der Blick der wunderschönen Blauaugen flehend zu der Genannten hin, die ihr ermunternd zunickte. »Also, Philipp, tu ihr den Gefallen. Anders gibt sie ja doch keine Ruhe.« »Hm – wollen mal sehen. Was meinst du dazu, Eike?« »Das überlasse ich ganz dir, Vater«, klang nun eine sonore Männerstimme auf, der Silje nachlauschte wie einem Ton in Moll. Ihr Blick streifte den Mann, der zwanglos im Sessel lehnte und die Fingerspitzen gegeneinander tippte. Er hat Ähnlichkeit mit Paps – stellte sie rasch fest. Nur

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seine Gestalt ist höher und sportgestählt, das Gesicht härter geschnitten, hauptsächlich der Mund, die Augen sind blauer und kühler, das Haar blonder. Es haftet ihm etwas von einem Herrenmenschen an, während der Paps ein wenig sensibel wirkte. Weiter kam sie nicht in ihren verstohlenen Betrachtungen; denn die beiden Kinder traten ein. Doch ehe einer von den Erwachsenen noch zu Wort kommen konnte, sprach schon das altkluge Töchterlein Theas: »Sie sitzen mit hier, Fräulein? Aber wir wollen Sie doch gar nicht haben.« »Anka!« rief der Großvater streng dazwischen. »Was redest du denn da für einen Unsinn zusammen?!« »Aber Mami sagt das doch, und auch Tante Ilona«, wurde das vorher so kecke Stimmchen ganz kläglich. Sie eilte zur Mutter und schmiegte sich ängstlich an sie, die sie wie schützend umfaßte. »So ist’s richtig«, grollte der Senior. »Hätschle das vorlaute Gör nur noch, anstatt ihm den Schnabel zu beklopfen!« »Aber Papa, Anka ist doch ein Kind!« »Eben – und daher muß es erzogen werden.« »Ute is aber atig«, bemerkte jetzt die noch nicht ganz Dreijährige. »Nis, Opa?« »Na, hoffentlich!« zwinkerte er dem reizenden Mägdlein zu, das sich zutraulich zwischen seine Knie schob. »Dein Schnäbelchen kann manchmal auch recht fürwitzig sein.« »Dann tieg ich eins dauf, sagt Papi.« Über diese trockene Bemerkung mußten die Erwachsenen lachen. Und sie taten es gern, um die Peinlichkeit zu überbrücken, welche die Bemerkung der vorlauten Anka hervorgerufen hatte. Man quälte sich noch ungefähr eine Viertelstunde mit einem nichtssagenden Gespräch ab, dann sagte Philchen: »Hopp, mein Mädchen, nach oben mit dir! Dein Antrittsbesuch ist beendet. Mehr kann man deinen immer noch angegriffenen Nerven nicht zumuten.« Gehorsam erhob sich Silje. Eine leichte, zwanglose

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Verneigung, dann verließ sie mit Philchen das Zimmer. Und kaum, daß sie außer Hörweite waren, lachte Thea verärgert auf. »Lieber Himmel, die tut ja so, als wäre sie Majestät in Person!« »Was deine ungezogene Tochter sehr interessieren wird«, fuhr der Senior unwirsch dazwischen. »Raus mit euch, ihr Kleinzeug!« Eingeschüchtert trollten die Kinder ab und nun wandte sich der gereizte Mann an Tochter und Schwiegertochter. »Ihr sollt euch mal was schämen! Wenn ihr eure spitzen Zungen durchaus wetzen wollt, dann tut es wenigstens nicht in Gegenwart der Kinder. Was hat euch denn das Mädchen getan, daß ihr es so anfeinden müßt?« »Wir feinden es ja gar nicht an«, antwortete Ilona schnippisch, während Thea die gekränkte Miene aufsetzte, die man so gut an ihr kannte. »Wir sind nur der Ansicht, daß es hier nichts zu suchen hat.« »Ach, sieh mal an!« kniff der Mann die Augen zu und betrachtete das kapriziöse Persönchen ironisch. »Dann werdet ihr euch wohl zu einer anderen Ansicht bekehren müssen. Vorläufig bin nämlich ich immer noch der Herr im Hause und kann darin aufnehmen, wen ich will. Und wenn ihr da noch so sehr Gift und Galle speit – das Mädchen bleibt! Es hat nämlich ganz genau dasselbe Recht, hier zu sein, wie ihr beiden Mißgünstigen.« »Na, hör mal, Papa, das ist doch nun wohl ein Irrtum!« widersprach Ilona aufgebracht. »Ich bin die junge Herrin hier und Thea die Tochter des Hauses.« »Und Silje Berledes ist die Stieftochter meines ältesten Sohnes«, klang es hart dazwischen. »Also rechtlich gesehen meine Stiefenkelin. Noch etwas?« »Ach, es hat ja gar keinen Zweck, mit dir darüber zu reden«, trotzte Ilona, und ihr Schwiegervater lachte grimmig. »Eben darum laß es gefälligst bleiben. Schweigen soll ja Gold sein, wie ein Sprichwort sagt. Also beherzigt es in allem, was Silje Berledes betrifft.«

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Damit wandte er sich dem Sohn zu, der dem allen schweigend gefolgt war. »Hör zu, Eike. Ich habe mich entschlossen, die junge Dame in unserem Betrieb zu beschäftigen. Und zwar zuerst einmal als Hilfe meiner Sekretärin, die eine solche gut gebrauchen kann, weil ihr die Arbeit oft zu viel wird.« »Mir schon recht, Vater«, entgegnete der Sohn ruhig. »Da kann die junge Dame wenigstens nichts verpatzen.« »Wie meinst du das?« »Nun, sie ist immerhin Anfängerin – und soviel ich weiß, aus ihrer Arbeitsstelle fristlos entlassen.« »Jetzt fängst du auch schon an!« brauste der ohnehin schon tiefgereizte Mann auf. »Warum wurde sie wohl entlassen, he? Da zuckst du natürlich die Schultern.« »Was sollte ich denn wohl sonst tun, Vater?« »Erst einer Sache auf den Grund gehen und dann urteilen. Fräulein Berledes wurde deshalb fristlos entlassen, weil sie die Belästigung des Juniorchefs mit einer Ohrfeige beantwortete.« »Woher weißt du das denn?« »Aus dem Abschiedsschreiben von Thomas. Und angesichts des Todes pflegt man nicht zu lügen.« »Dann allerdings – « »Na also. Und nun Schluß mit den Anfeindungen gegen das Mädchen! Tut es alle im geheimen, wenn ihr nicht anders könnt, aber wagt euch damit ja nicht an die Oberfläche! Dann sollt ihr was erleben, ihr mißgünstige Bande!« Damit ging er hinaus, und Ilona lachte hämisch hinter ihm her. »Das Interesse an diesem Mädchen – na, ich will nichts gesagt haben.« Doch jetzt fuhr die Hausherrin, die vieles still und sanftmütig über sich ergehen ließ, denn doch empört auf. »Pfui, Ilona, schäm dich! Du hast einen ganz minderwertigen Charakter.« »Na, das ist denn doch die Höhe!« zeterte die junge Frau in

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den höchsten Tönen. »Und du sitzt da und läßt deine Frau beleidigen, mein Herr Gemahl?« »Verteidige dich doch, du hast ja sonst so ein gutes Mundwerk«, gab er achselzuckend zurück. Zuerst starrte sie ihn an, dann sprang sie auf und schrie: »Jetzt hab’ ich aber genug! Ich fahr zu meinen Eltern!« »Glückliche Reise«, wünschte der Gatte mit unerschütterlichem Gleichmut. Da raufte sie sich die Haare, drehte sich wie ein Wirbel um ihre eigene Achse und rannte davon. »Oh, mein Gott, das ist ja einfach nicht mehr zu ertragen!« jammerte Thea jetzt los. »Mit diesem Mädchen ist das Unheil unter unser Dach gekommen. Auch ich gehe – gehe mit meinem Kind hinaus in die Fremde.« Auch sie entschwand, aber nicht wutentbrannt wie vorhin die Schwägerin, sondern langsam, sehr wehleidig, wie gebrochen. Schmunzelnd wandte Eike sich an die Mutter, die verstört dasaß. »Na, Muttchen, willst du nicht auch diese Stätte der Tragik verlassen?« »Ach, Junge«, klagte sie. »Ich komme mir so vor, als wäre ich unter lauter Irre geraten. Hätte Vater das Mädchen doch nie hierhergebracht! Seinetwegen muß meine eigene Tochter nun das Elternhaus verlassen.« »Aber Muttchen, wie kannst du dich nur so einschüchtern lassen! Thea wird sich hüten, ihr Drohnendasein aufzugeben. Du kennst sie doch. Wenn sie nicht theatralisch werden kann, ist ihr nicht wohl.« »Leider ist es so«, seufzte die Mutter. »Und Ilona?« »Auch sie wird sich besinnen. Wenn nicht, mag sie gehen, daran sind wir nun wahrlich schon gewöhnt. Einige Wochen später ist sie ja doch wieder hier.« Nun verließ auch er das Zimmer, die Mutter folgte, und so hätte man sagen können: Die Tragikomödie ist aus, der Vorhang fällt. Indes saß Silje in ihrem Zimmer und hatte keine Ahnung davon, welch einen Streit ihr bloßes Erscheinen unten

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entfacht hatte. Müde saß sie da, hatte den Arm aufs Knie gestützt, die Hand im Haar vergraben, und sann wehmütig vor sich hin. Bis Philchen eintrat, die sich in ihrem Schlafzimmer, das neben dem Siljes lag, zu schaffen gemacht hatte. Da war es aus mit der Grübelei. »Na, nun mal nicht so trübsinnig, mein Mädchen!« sagte sie munter. »Du wirst doch nicht so töricht sein und etwas aufgeben wollen, das noch gar nicht richtig begonnen hat! Komm, wir ziehen uns an und gehen in ein Lokal, um dort Mittag zu essen. Denn auch ich habe keine Lust, mich unten an den Tisch zu setzen. Laß sie sich in die Haare kriegen, das machen wir nicht mit.« »Ach, Tante Philchen, es geschieht doch nur meinetwegen!« »Na, wenn schon. Die Gemüter werden sich schon langsam beruhigen.« »Es paßt mir aber nicht, hier als Eindringling betrachtet zu werden. Am liebsten ginge ich gleich auf und davon.« »Ei du, das wage nicht! Dein Vormund holt dich unter Garantie zurück. Der gehört nämlich nicht zu den Menschen, welche die letzte Bitte eines schon vom Tode Gezeichneten einfach ignorieren. Zumal dann nicht, wenn dieser Mensch noch sein Sohn ist, dem gegenüber er so etwas wie ein böses Gewissen hat. Also wirst du dich schon den Anordnungen deines Vormunds gutwillig fügen müssen. Wie alt bist du überhaupt?« »Silvester werde ich neunzehn.« »Ach, sieh mal an, da haben dir deine Eltern nicht den richtigen Namen gegeben. Eigentlich müßtest du Silvesta heißen.« Da mußte Silje denn doch lachen, so wenig ihr auch danach zumute war. »Ach, Tante Philchen, wenn ich dich nicht hätte!« »So freu dich darüber, und höre auf mich. Ich weiß nämlich in unserer lieben Familie gut Bescheid und kann dir somit ratend und helfend zur Seite stehen. Im großen und ganzen sind sie gar nicht so, die Leutchen. Sie wollen

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sich nur nicht unter den Willen des ›Despoten‹, wie Ilona ihren Schwiegervater zu bezeichnen beliebt, zwingen lassen und mucken auf, sofern er etwas über ihren Kopf hinweg bestimmt. Aber dann haut er mit der Faust auf den Tisch und sagt: ›Ich bin der Herr im Haus! ‹ – und schon ducken sich alle wieder, weil sie viel zu feige sind, um seinem Zorn standzuhalten. Was willst du überhaupt, du dummes Ding? Geht es dir hier nicht gut?« »Das schon – aber ich möchte kein Gnadenbrot essen.« »Gnadenbrot, wenn ich das schon höre! Das ist doch eine abgedroschene Phrase. Du wirst schon hier kein Gnadenbrot essen, sondern dir dein Brot regelrecht verdienen, indem du im Betrieb deines Vormundes arbeitest. Und daß Angestellte im Hause des Chefs wohnen und auch dort verpflegt werden, der Fall ist doch gar nicht mal so selten.« »Meinst du, Tante Philchen, daß mein Vormund damit einverstanden sein wird, wenn ich Kost und Logis hier bezahle?« »Das wird er bestimmt sein. Denn er pflegt den berechtigten Stolz eines Menschen stets anzuerkennen.« »Hoffentlich verdiene ich so viel, um diese Unterkunft überhaupt bezahlen zu können«, wurde Silje nun wieder zaghaft. »Denn ich gab ja schon für das Zimmer bei der Pfefferkorn fünfundzwanzig Mark im Monat. Und das war an diesem hier gemessen einfach eine Hundebude. Und die Verpflegung in diesem feudalen Haus wird bestimmt erstklassig sein.« »Deine Sorgen möcht ich haben!« bemerkte Philchen trocken. »Mein liebes Kind, zerbrich dir dein törichtes Köpfchen nicht. Zieh dich lieber an und komm. Mich hungert nämlich ganz beträchtlich.« Wenig später verließen sie das Haus, wobei es erst eine kleine Unterbrechung gab. Als sie nämlich aus der Portaltür treten wollten, gedachte Eike Hadebrecht, der Juniorchef der stolzen Hadebrechtwerke, dasselbe zu tun. Höflich zog er den Hut und fragte erstaunt:

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»Wo willst du denn hin, Tante Philchen? In zehn Minuten ist bereits Mittag.« »Eben, mein Sohn, daher wollen wir auch unseren Hunger stillen. Aber nicht im trauten Kreise der Familie, sondern außerhalb, damit uns nicht womöglich der Bissen im Hals stecken bleibt. Denn dieses arme Kind hier hat ja noch nicht das Geld, um die Bissen an eurem feudalen Tisch bezahlen zu können. Das bestelle hauptsächlich deiner Schwester Thea.« Sprach’s, nahm Silje unter den Arm und ließ den Verdutzten stehen, der dann auch Auskunft geben konnte, als der Hausherr bei Tisch fragte, wo denn seine Schwester und sein Mündel blieben. Eike wiederholte wörtlich, was Philchen gesagt hatte, und da lachte der Hüne grimmig auf. »Das habe ich kommen sehen!« Es wurde für alle ein recht ungemütliches Mahl, während sich das von Philchen und Silje urgemütlich gestaltete. Das Essen war vorzüglich, der Wein nicht minder, den die Tante bestellte. Schmunzelnd nahm sie wahr, wie die Wangen ihrer Schutzbefohlenen nach dem dritten Glas glühten, wie die Augen glänzten. Mit dem Herzchen zugleich floß auch der Mund über, und als Philchen mit ihrer leichtbedudelten Begleiterin das Lokal verließ, wußte sie genau Bescheid über das neunzehnjährige Leben der Silje Berledes. Jetzt lag diese wieder im weichen Pfühl und schlief tief und fest über alle Kümmernisse hinweg. Philchen ließ das junge Menschenkind, dem ihre Liebe und Sorgfalt gehörte, ruhig schlafen, als der Gong zum Abendessen rief. »Du kommst allein?« fragte der Bruder kurz. »Wo ist Silje?« »Sie schläft. Und der Schlaf ist ihr dienlicher als Speise und Trank.« Als man nach dem Essen, das wieder ungemütlich verlief, im Wohnzimmer saß, sprach Philchen über das, was ihren Schützling bedrückte. Aufmerksam hörten der Bruder und die anderen zu, und der Hausherr sagte dann zufrieden:

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»Genau so habe ich die Kleine eingeschätzt. Es freut mich wirklich, daß sie sich nichts schenken lassen will, das zeugt nämlich von Charakter. Nun, ihrem Stolz kann Genüge getan werden, sie soll Kost und Logis redlich bezahlen. Was dann von ihrem Gehalt übrigbleibt, ist gewiß nicht viel. Aber bei der Sparsamkeit, die sie ja schon bewiesen hat, wird sie auskommen. Was meinst du, Philchen, ob sie am ersten Dezember, also in vier Tagen, kräftig genug ist, um ihren Dienst versehen zu können?« »Das glaube ich schon. Was ihr vielleicht an Kraft fehlt, wird der feste Wille ausgleichen.« »Hier, Fräulein Luischen, bringe ich Ihnen Ihren Famulus«, schob Philipp Hadebrecht die errötende Silje seiner Sekretärin zu, die er seit zwanzig Jahren als tüchtige Mitarbeiterin achtete und schätzte. »Nehmen Sie ihn nur tüchtig heran, und betrachten Sie ihn nicht womöglich als Protektionskind!« »Sollte mir einfallen!« lachte die vierzigjährige Dicke, der die Gemütlichkeit sozusagen aus allen Nähten lugte. »So was gibt’s bei mir nicht. Sinekure ist und bleibt für mich ein Fremdwort.« Lachend verschwand der Seniorchef im Nebenzimmer, und Silje sah ihm so ängstlich nach wie ein Kind, das von der Mutter in einer fremden Umgebung allein gelassen worden ist. Das rundliche Fräulein Luischen mit dem gutmütigen Vollmondgesicht bemerkte es und lachte. »Nun, nun, Kindchen, man nicht so furchtsam! Ihnen geschieht hier nichts. Ich weiß ja, wie Sie unserm verehrten Senior als Vermächtnis des ältesten, tiefbetrauerten Sohnes ans Herz gewachsen sind – aber geschenkt soll Ihnen dennoch nichts werden.« Da lachte Silje ihr betörendes, goldiges Lachen, das sich dem Luischen sofort in das gute Herz stahl. »Das will ich ja auch gar nicht. Wie darf ich Sie nennen?« »Fräulein Luischen«, kam es schlicht zurück. »Das ist nämlich hier mein Ehrentitel. Und nun erzählen Sie mir

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mal, Kindchen, was Sie alles können.« »Das ist gewiß nicht viel«, bekannte Silje kläglich. »Zwei Jahre Handelsschule, ein halbes Jahr Praxis, drei Monate Arbeitslosigkeit – aus.« »Warum Arbeitslosigkeit?« »Weil der Juniorchef und Abteilungsleiter frech wurde.« »Wunderbar erklärt!« lachte Luischen gemütlich. »Hat’s geknallt?« »Und ob!« »Hach, das freut mich! Mir erging es nämlich einmal ebenso, denn auch ich war einmal jung und schön.« »Fräulein Luischen, ich glaube, ich habe doch noch ein bißchen Glück«, seufzte Silje, worauf die blauen, in Fett gepolsterten Äuglein sie verständnislos ansahen. »Wieso das?« »Weil ich Sie als direkte Vorgesetzte bekommen habe.« »Ach so – na ja, das ist allerdings immer Glückssache. Und nun wollen wir arbeiten.« Dazu war Silje gern bereit. Es waren in der ersten Zeit nur leichte Sachen, die sie zugeteilt bekam und die sie spielend erledigte. Und als der Senior sich bei Fräulein Luischen erkundigte, wie die Helferin sich mache, lachte die Sekretärin über das ganze gute Gesicht. »Unser Kind hat Köpfchen, Herr Hadebrecht. Dabei ist es bescheiden, willig und arbeitsam. Wenn das so bleibt, dann können wir lachen.« »Und warum sollte es nicht so bleiben?« »Weil neue Besen immer gut zu kehren pflegen.« »Vortrefflicher Vergleich«, schmunzelte er. »Na, werden wir leben, werden wir sehen.« Und sie lebten und sahen. Silje arbeitete nun bereits drei Wochen im Betrieb, und noch immer hatte ihr Eifer nicht nachgelassen. Es war ja auch kinderleicht, was Luischen ihrem Famulus zuteilte, aber gerade diese Kleinarbeit half der manchmal überbürdeten Sekretärin viel Zeit sparen. Silje machte ihre Arbeit Freude, und wenn sie nach Hause

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kam, wurde sie von Philchen mit Herzlichkeit erwartet. Sie hockten dann zusammen, lachten und schwatzten, waren so ein richtiges Treugespann, wenn auch ein ungleiches. Um die anderen im Hause kümmerten sie sich nicht, kamen nur zu den beiden Hauptmahlzeiten mit ihnen zusammen. Das Frühstück nahmen sie in Philchens Wohnzimmer ein, und der Nachmittagskaffee fiel für Silje aus, weil sie um die Zeit im Dienst war. Nur am Sonnabend und Sonntag nahmen sie unten daran teil, wenn auch höchst ungern, obwohl man sie jetzt vollkommen ungeschoren ließ. Auch Thea und Ilona, die damals ihre Drohung nicht wahrgemacht hatten, sondern im Hause geblieben waren. Erstere, weil sie nicht das Geld hatte, um sich eine andere Bleibe zu suchen, letztere, weil alles, was mit Silje Berledes zusammenhing, viel zu interessant war, um sich das entgehen zu lassen. Aber sie sowie Thea hatten sich das hinter die Ohren geschrieben, was der Senior ihnen sagte, und feindeten das Mädchen nicht mehr öffentlich an. Aber der Schmuck der Mutter, den Silje jetzt täglich trug, stach Thea doch gar zu sehr in die Augen, obwohl sie selbst ganz nett behängt war. Sollte womöglich der Papa dem Mädchen, in das er ja so vernarrt war…? Nun, der Sache mußte sie unbedingt auf den Grund gehen. Doch den Vater zu fragen, wagte sie nicht. Aber Philchen wußte da ja auch gut Bescheid. Also legte sie dieser die Frage vor, natürlich nicht im Beisein des Hausherrn und seines Mündels. »Darauf habe ich schon lange gewartet«, versetzte Philchen trocken. »Nur keine Angst, aus der Hadebrechtschen Schatulle stammen die Kleinodien nicht.« »Aber sie scheinen doch sehr kostbar zu sein.« »Scheinen nicht nur, sie sind es wirklich. Vielleicht hat die Kleine sie gestohlen – man kann ja nie wissen. Denn die Seelen der Menschen sind unergründlich, das müßte dir als Poetin doch wohl eingehen. – Warum lachst du denn so niederträchtig, Eike, mein Sohn?«

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»Über dein Zünglein, Philchen, das manchmal doch verflixt spitz sein kann.« »Immer da, wo es angebracht ist, Jungchen! Wie die Frage, so die Antwort.« »Erlaube mal, Tante Philchen, meine Frage war doch wohl berechtigt!« ereiferte Thea sich jetzt. »Wie Papa erzählt, hat er doch das fremde Mädchen in sehr dürftigen Verhältnissen vorgefunden – und dann der kostbare Schmuck.« »Und erst die Geige, die dieses fremde Mädchen besitzt!« warf Philchen ironisch ein. »Ich sage dir, die ist ein Vermögen wert!« »Aber mein Himmel, warum verkauft das arme Mädchen die denn nicht?« »Vielleicht weil es poetisch ist – noch mehr als andere, dafür abgestempelte Leute.« »Pfui, Tante Philchen, du bist abscheulich!« »Stimmt, mein Kind, ein böser Erbfehler. Und wer kommt gegen so etwas an? Bei einem ist’s die Niedertracht, beim andern die Mißgunst.«

* Heute war nun Sonnabend, und Silje kam eben erst von ihrem Arbeitsplatz nach Hause, obwohl die Kaffeezeit bereits nahte. »Jetzt erst kommst du?« empfing Philchen ihren Liebling vorwurfsvoll. »Ich fürchtete schon, du könntest ausgekniffen sein.« »Keine Angst!« lachte das Mädchen fröhlich. »Das geschieht nicht – jetzt nicht mehr, wo ich doch einen so wunderbaren Posten habe. Es ging heute ein bißchen heiß her. Und da Fräulein Luischen das Dringendste noch erledigen wollte, machte sie nicht pünktlich Schluß, und ich auch nicht. Zwar war es nicht viel, was ich ihr helfen konnte, aber immerhin. Hat Onkel Philipp denn nicht gesagt, daß ich nicht zum Mittagessen kommen würde?«

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»Nein, weil er auch nicht dabei war. Er mußte kurz vorher wegfahren. Und ich werde dafür sorgen, daß dir das ausgefallene Essen hier oben nachserviert wird.« »Bitte nicht! Solch eine Vermessenheit kommt mir in diesem Hause nicht zu.« »Schaf«, war alles, was Philchen darauf erwiderte. Doch als sie auf den Klingelknopf drücken wollte, hielt Silje ihre Hand fest. »Einen Moment, ich habe einen anderen Vorschlag.« »Und der wäre?« »Wir gehen in die Konditorei und schlemmen. Ich halte dich sogar frei, Philchen. So viel Geld habe ich noch, und am Ersten kommt Nachschub.« »Das könnte mich sogar reizen«, schmunzelte Philchen. »Aber wir müssen zu Fuß gehen. Denn den großen Wagen hat der Senior, den kleinen der Junior.« »So gehen wir doch. Das ist bei dem herrlichen Winterwetter doch wahrlich ein Vergnügen.« So gingen sie denn wenig später der Stadt zu, die zu Fuß in einer Viertelstunde zu erreichen war. Es dunkelte bereits; denn man zählte heute den einundzwanzigsten Dezember. Also Winterszeit und darum Eis und Schnee, wie es sich gehört. Er knirschte unter den Füßen der rasch Dahinschreitenden, über ihnen leuchteten hell und geheimnisvoll die Sterne. Es war so kalt, daß der Atem fast am Mund gefror. Philchen machte das nicht viel aus in ihrem warmen Pelz, doch Silje in ihrem Mäntelchen schauerte immer wieder vor Kälte zusammen. Philchen merkte das sehr wohl, sagte jedoch nichts. Endlich war die Konditorei erreicht. Wärme strömte den Eintretenden entgegen, die hauptsächlich Silje wohlig empfand. Der große Raum war fast besetzt. An einem Tisch jedoch saß ein Herr allein – und dieser Herr war Eike Hadebrecht. Philchen bemerkte ihn zuerst und steuerte auf ihn zu. »Ah, der Herr Neffe!« spottete sie. »Warum befindest du

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dich nicht im Kreise deiner Lieben, um mit ihnen den Sonnabendnachmittagkaffee zu trinken?« »Und warum tust du es nicht?« fragte er schlagfertig zurück, und da mußte sie lachen. »Weil mir das zu ungemütlich ist, mein Sohn.« »Also!« Weiter sagte er nichts, doch dieses »Also« sprach Bände. Galant half er den Damen aus den Mänteln und nahm nach ihnen wieder an dem Tisch Platz, der ziemlich isoliert in einer Nische stand. »Was wollen die Damen essen?« erkundigte er sich höflich, worauf die Tante Antwort gab: »Zuerst einmal Glühwein, damit das verklammte Mädchen hier warm wird. Hinterher Kaffee nebst Torte und Schlagsahne. Dafür sind wir ja schließlich in der Konditrei.« Eike lachte, daß die kräftigen Zähne hinter den harten, schmalen Lippen nur so blitzten. Das stand ihm gut, machte sein strenggeschnittenes Gesicht um vieles freundlicher. Er rief den Ober herbei, gab die Bestellung auf, und nicht lange danach stand der Glühwein da, den auch Eike sich nicht entgehen ließ. Der Trank war sehr heiß, was der durchgefrorenen Silje nur guttun konnte. Hände und Füße wurden warm, das Gesicht rötete sich lieblich. Und als sie hinterher noch Kaffee trank, wurde es ihr fast zu warm in dem flauschigen Pullover. Sie fühlte sich so wohl, daß sie augenblicklich mit keinem Menschen der Welt hätte tauschen mögen. Leise summte sie die Melodie mit, die soeben die kleine Kapelle spielte. Es war ein Weihnachtslied. Auch der Raum war weihnachtlich geschmückt, was die Vorfreude der Menschen noch erhöhte. Entzückend sah sie aus, die junge Silje Berledes. Obwohl sie einfach gekleidet war, wirkte alles an ihr ungemein apart und elegant. Wie ein Prinzeßlein saß sie da, so zart und fein, so eine rechte Augenweide für Schönheitskenner. »Wie wär’s, wenn wir eine Flasche Sekt trinken wollten?«

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wurde Philchen leichtsinnig, doch der Neffe wehrte lachend ab. »Erbarm dich, Tantchen, ich bin mit dem Auto hier und möchte gern noch das Weihnachtsfest erleben! Aber wir nehmen eine oder auch zwei Flaschen mit, die wir heute abend in deiner gemütlichen Klause trinken werden. Einverstanden?« »Nein, mein Sohn. Hörst du, was die Geige jubiliert? – Friede auf Erden! Und den möchte ich halten, wenigstens in meinen eigenen vier Wänden.« »Na, hör mal, Philchen, bin ich denn so unverträglich, daß ich deinen Frieden verscheuchen würde?« »Du nicht«, sagte sie betont, ihn fest dabei ansehend, und schon hatte er verstanden. Es flammte rot auf seiner Stirn auf, die Lippen preßten sich zusammen zu einem schmalen Strich. »Nun, hab’ ich recht, mein Junge?« »Wie immer, Tante Philchen.« »Also. Friedland ist immer noch das beste Land. Und nun zahl!« Ohne Widerrede kam er ihrem Wunsch nach. Wenig später saß man im Zweisitzer, der bequem Platz für die drei schlanken Personen bot. Silje, die das Gespräch zwischen Tante und Neffen nicht verstanden hatte, dachte darüber nach, was wohl mit dem Frieden gemeint sein könnte. Jedoch sie kam nicht dahinter, und das war gut. Sonst hätte sie gewußt, daß sie zu allen übrigen Unerquicklichkeiten im Hause nun auch noch Ilonas Eifersucht fürchten müßte. Einige Minuten brauchte nur der Wagen zu fahren, dann hielt er vor dem Portal des Hauses, in dem die beiden Damen rasch verschwanden. Oben angelangt, sagte Philchen schmunzelnd: »Und dennoch trinken wir unsern Sekt. Ich habe nämlich noch welchen, wovon niemand etwas weiß.« »Oh, du Heimtückerin!« lachte Silje lustig. »Her damit und temperiert! Ich bin neugierig, wie du das zuwege bringen wirst.«

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Philchen brachte das sehr gut zuwege, indem sie die Flasche in den Schnee stellte, der draußen auf dem Fensterbrett lag. Dann zauberte sie noch delikate Gabelbissen hervor – und unten wartete man wieder einmal vergeblich auf das Erscheinen der beiden Verschworenen an der Abendtafel. Als Philchen am nächsten Morgen an den Frühstückstisch trat, fand sie Bruder und Neffen bereits dort vor. Sie pflegten auch am Sonntag zur gewohnten Zeit zu frühstücken, während die anderen Familienmitglieder später erschienen. »Nanu, Philchen, du willst uns heute Gesellschaft leisten?« empfing Eike sie lachend. »Ist nach dem gestern unterschlagenen Abendessen dein Hunger so groß, daß die Riesenportionen nicht nach oben geschafft werden können?« »Du hast den Sinn erfaßt, mein Sohn«, entgegnete sie pomadig, nahm am Tisch Platz, trank zuerst mal eine Tasse Kaffee und fühlte sich nun gestärkt für das, was sie dem Bruder zu eröffnen hatte. »Alsdann, Bruderherz, so wollen wir mal patent miteinander reden«, meinte sie gemütlich. »Ich will dir nämlich kund und zu wissen tun, daß ich am Heiligabend früh mit Silje eine Gesellschaftsfahrt ins Blaue – oder winterlicher ausgedrückt: ins Weiße – antreten werde. Sieh mich nicht so wild an, mein Lieber, mein Entschluß steht fest. Die Karten sind bereits gelöst und die Fahrt soll eine Weihnachtsüberraschung für Silje werden.« »So – und wenn ich nicht damit einverstanden bin, meine liebe Philine?« »Dann bist du töricht, mein lieber Philipp.« »Inwiefern?« »Indem du dir selbst den Weihnachtsabend verderben würdest. Sei lieber froh, daß ich das Streitobjekt der lieben Familie gerade an so einem Abend fernhalte, dir selbst und auch mir zu Nutz und Frommen. Denn wir beide könnten ja doch nicht den Mund halten, wenn das Mädchen

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hämisch angegriffen würde, und der unheilige Streit am heiligen Abend wäre da.« »Leider hast du recht«, brummte der Bruder verdrossen. »Selbst meine gute Alte haben die mißgünstigen Weibsen schon aufgewiegelt. Hast du eine Ahnung, wie gern ich dem allen hier entfliehen und mit dir und Silje irgendwo Weihnacht feiern würde?« Das klang ungemein bitter und erbarmte die Schwester, die sehr an ihrem Zwillingsbruder hing. Sie legte ihre Hand auf die seine und sagte tröstend: »Laß gut sein, Philipp. Du bist ja hier der Herr im Hause, dem sich alle fügen müssen.« »Und das ist ein Glück, sonst würde man bald mit mir Schlitten fahren, wie man so sagt. Wohin soll denn die Weihnachtsreise gehen?« »Das weiß ich nicht. Man will die Teilnehmer überraschen.« »Wann kommt ihr wieder?« »Am zweiten Feiertag in der Abendstunde.« »Und wie steht es mit dem Weihnachtsgeschenk für Silje?« »Gib ihr die Weihnachtsgratifikation, die du deinen anderen Angestellten zukommen läßt. Das wird Silje nicht bedrücken, sondern freuen. Für alles andere sorge ich. Wozu habe ich denn mein Geld, wenn ich es nicht diesem liebenswerten Menschenkind, an dem mein ganzes Herz hängt, zukommen lassen soll?« »Hast recht, Schwesterherz. Ich bin froh, daß du die Kleine so spontan in dein Herz geschlossen hast, sonst wäre es schlecht um sie bestellt. Übrigens macht sie sich im Betrieb tadellos. Luischen ist des Lobes voll, und das will nun wirklich was sagen.« Weiter wurde über Silje nicht mehr gesprochen. Man beendete das Frühstück und ging dann seiner Wege. Doch bevor die Reise losging, hatte Philchen noch einen Kampf mit Silje zu bestehen. Diese wollte das großzügige Geschenk durchaus nicht annehmen, sträubte sich sozusagen mit Händen und Füßen dagegen. Bis Philchen

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ernstlich böse wurde; da gab sie kleinlaut nach. Schmeichelnd legte sie ihre Arme um den Hals des alten Fräuleins und bettelte: »Philelinchen, sei wieder gut, ja? Kränken will ich dich natürlich nicht.« »Schaf«, sagte Philchen, aber es klang sehr zärtlich. »Gewiß kränkst du mich, sehr sogar. Du behauptest doch immer, mich liebzuhaben.« »Und wie!« »Also. Dann rede nicht nur, sondern beweise es auch. Nimm alles unbekümmert hin, was ich dir biete, denn es kommt von ganzem Herzen. Und so etwas kann niemals bedrücken noch beschämen.« »Wollen wir mal gleich versuchen«, blitzte in den Mädchenaugen der Schelm auf, und Philchen sah mißtrauisch in sie hinein. »Na, was kommt nun?« »Mit deinen eigenen Waffen werde ich dich schlagen, mein Philelinchen. Ich lade dich hiermit feierlichst zu der Weihnachtsfahrt ein, dann habe ich wenigstens ein Geschenk für dich. Denn dir mit anderen Dingen kommen, hieße ja Eulen nach Athen tragen, wie ein altes Sprichwort sagt.« »Na, so ein kleiner Racker!« lachte Philchen herzlich. »Mädchen, vor dir muß man sich ja in acht nehmen. Doch willst du mir nicht sagen, womit du die Fahrt zu finanzieren gedenkst?« »Freilich will ich das. Ich habe doch meine Gratifikation bekommen, und ganz leer war mein Portemonnaie sowieso noch nicht. Und ein Geschenk, das von ganzem Herzen kommt, darf man nicht zurückweisen.« »Und wenn ich es nicht tue?« »Das wäre herrlich!« »So laß es herrlich sein – ich bin dein Weihnachtsgast.« Zuerst machte Silje einen Luftsprung, dann umhalste sie die Tante, bis diese um Gnade bat – und dann war die echte, rechte Weihnachtsfreude da.

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Ein kleines lustiges Intermezzo gab es noch, als das ungleiche Treugespann am Weihnachtsmorgen zur Fahrt aufbrechen wollte. Da hielt Philchen nämlich dem verdutzten Mädchen einen wundervollen Pelzmantel hin. »Tante Philchen, ich bitte dich…« »Ruhe! Wenn man dir gibt, nimm – wenn man dir nimmt, schrei.« Und da schrie Silje, aber vor Freude. Schlüpfte in die mollige Pracht, trat an den Spiegel, versank vor ihm in einem tiefen Knicks und sagte feierlich: »Mein Kompliment, verehrte Dame. Sie tragen das schönste Fell, das…« »… je ein Äffchen trug«, kam ein lachender Baß von der Tür her. Herumfahrend bemerkte Silje den Vormund, der zwischen Tür und Angel stand. Hinter ihm sein Sohn, der genauso amüsiert lachte wie sein Vater. »Meine Herren, ist das nun hübsch von Ihnen?!« »Sehr hübsch«, schmunzelte Philipp. »Viel hübscher, als wir vermuteten. Denn als wir an dieser Tür vorübergingen, da hörten wir einen Schrei – na – und da drangen wir ein, um das entzückendste Bild zu schauen.« »Nun mach mir das Kind nicht verlegen!« erbarmte sich jetzt Philchen des heißerrötenden Mädchens. »Was ist der Grund eures so frühen Erscheinens?« »Wir konnten nicht umhin, euch Lebewohl zu sagen und glückliche Fahrt zu wünschen.« »Das hört sich schon besser an. Habt schönen Dank und laßt uns nun gehen, damit wir nicht den Omnibus versäumen.« Es erfolgte nun ein rascher Abschied. Und als Philchen sich noch einmal umwandte, bemerkte sie die sehnsüchtigen Blicke, die ihnen nachschauten. »Ein Jammer!« seufzte das alte Fräulein. »Wenn ich nur so könnte, wie ich wollte, würde ich auch die beiden da noch mitnehmen. Aber leider – leider…«

*

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»Ist es wahr, Papa, daß Tante Philchen mit dem fremden Mädchen eine Weihnachtsfahrt macht?« fragte Thea am Mittagstisch, und er sah sie verwundert an. »Gewiß ist das wahr. Ich verstehe nur nicht, was dich dabei so aufregt.« »Weil so eine Reise doch Geld kostet.« »Beruhige dich, die Kosten trägt mein Mündel.« »Ah so, das ist allerdings etwas anderes. Ich glaubte schon, daß Tante Philchen die kostspielige Angelegenheit bezahlt. Weißt du, Mama, wenn das Fräulein nicht hier ist, brauchen wir es ja auch nicht zu beschenken. Da kannst du mir den entzückenden Pullover geben, den du für es gekauft hast.« »Aber Kind, der ist dir doch zu kurz und zu eng.« »Ach, woher denn! Ich bin doch bestimmt nicht dicker als dieses Fräulein. Warum lachst du denn so albern, Ilona?« »Weil du nicht weißt, wie du aussiehst. Stell dich doch einmal vor den Spiegel.« »Der wirft dann bestimmt ein schöneres Bild zurück als bei dir!« »Ruhe!« gebot der Senior energisch. »Die Sachen, die Mutter für Fräulein Berledes bestimmt hat, kriegt diese, wenn sie von ihrer Reise zurück ist.« Da schmollte Thea, was allen nur recht war. Dann gab sie wenigstens Ruhe. Der Heiligabend verlief in der Familie Hadebrecht ganz vorschriftsmäßig. Man sang im Schein der Kerzen Weihnachtslieder, beschenkte sich gegenseitig gut und reichlich, aß hinterher den delikat zubereiteten Weihnachtskarpfen, trank danach die Weihnachtsbowle und gab sich alle Mühe, recht friedlich zu sein. Die einzigen im Familienkreis, die sich wirklich von Herzen freuten, waren die beiden Kinder. Sie jubelten beim Anblick der Dinge, die sie sich gewünscht hatten und die nun so verlockend dalagen. Selbst die altkluge, naseweise Anka war heute ganz Kind.

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Doch viele Kilometer entfernt, oben in den bayrischen Bergen, da gab es echte Weihnacht. Da hatte sich das zusammengefunden, was irgendwie einsam auf der Welt stand. Da verschmolz ein Zusammengehörigkeitsgefühl die Menschen, die sich noch nie gesehen hatten und sich in Zukunft auch nie wieder sehen würden. Man sang an der glitzernd geschmückten Tanne die alten, schönen Weihnachtslieder, nahm dann an den gedeckten Tischen Platz und erfreute Zunge und Magen mit den lukullischen Genüssen. Jeder fand unter der aufgestellten Serviette eine kleine Weihnachtsgabe. Der Weihnachtssekt, allerdings nur eine halbe Flasche pro Person, genügte den meisten, um in eine leicht beschwingte Stimmung zu geraten. Wer mehr dazu brauchte, konnte auf eigene Rechnung nachbestellen. Das taten Philchen sowie Silje nun nicht, ihnen genügten drei Glas des prickelnden Getränks vollkommen. Nach schönen, harmonischen Stunden bezogen sie vergnügt das Doppelzimmer und schliefen in den bequemen Betten tief und friedlich bis zum Morgen. Während der beiden Feiertage konnte jeder seinem eigenen Vergnügen nachgehen. Silje verbrachte diese Zeit beim Skilaufen, und Philchen tat es in Gesellschaft »gleichgesinnter Seelen«. Ehe man sich so recht versah, schlug die Scheidestunde. Man war allgemein restlos befriedigt von dem Weihnachtsfest, an das man sich immer wieder gern erinnern wollte. Am Spätabend trafen Philchen und Silje wieder im Hadebrecht-Haus ein. Wie Diebe wollten sie sich nach oben stehlen, doch da hatten sie ihre Rechnung ohne den Hausherrn gemacht. Denn als sie gerade den Fuß auf die Treppe setzten, öffnete sich die Wohnzimmertür, und der Gestrenge rief lachend: »Heda, ihr beiden Verschwörer, so was gibt’s nicht! Herein mit euch, und Rede und Antwort gestanden!« »Uns bleibt aber auch nichts erspart«, seufzte Philchen so

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komisch, daß Silje sich wieder einmal vor Lachen ausschütten wollte. Es drang bis ins Wohngemach, dieses unbekümmerte, goldige Lachen, das bei den darin Weilenden verschiedenartige Gefühle erweckte. Bei Frau Ottilie rief es ein liebes Lächeln hervor, Thea fand es aufdringlich, Ilona albern, und in den Augen des Juniors leuchtete es blitzartig auf. »Na, das ist wieder einmal Musik für meine Ohren!« schmunzelte der Senior, während er mit den beiden Damen näher trat. »Was meinst du wohl, du kleiner Zeisig, wie ich das in den drei Tagen vermißt habe!« Die Heimgekehrten hatten die Mäntel in der Halle abgelegt, und nun stand es im Skianzug da, das junge bezaubernde Menschenkind. Braungebrannt von der Sonne in den Bergen, mit strahlenden Augen und lachendem Mund. Wie angegossen saß der Dreß auf dem grazilen Körper, der auch diesem manchmal recht plump wirkenden Anzug eine elegante und vornehme Note gab. »Wie ist es nun mit euch?« fragte der Senior. »Habt ihr Hunger, habt ihr Durst?« »Woher denn!« lachte Philchen, die auch recht frisch aussah und deren ganze vitale Art ihrer zweiundsechzig Jahre spottete. »Man hat uns ja direkt genudelt und mit guten Tropfen die Kehle genetzt.« »Dann setzt euch hin und erzählt, wie es sich für weitgereiste Leute gehört.« »Na schön, erzählen wir. Der Heiligabend verlief recht feierlich. Leichtbedudelt begaben wir uns zur Ruhe, schliefen, daß ein Auge das andere nicht sah, und aßen dann und tranken.« »Ganz Philchen«, lachte Eike amüsiert. »Mehr geschah nicht?« »Natürlich, mein Sohn. Dieser kleine Strolch hier machte beim Skilaufen und ähnlichen Winterfreuden Eroberungen noch und noch. Wie eine Sonne strahlte er, um die sich die Trabanten scharten. Wie ist es, mein Schatz, hast du nicht

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sogar einen Heiratsantrag bekommen?« »Philchen, du schwindelst ja!« lachte Silje lustig. »Bleib lieber bei der Wahrheit und verrate, daß du beinahe einen bekamst.« »Ach, den Opapa meinst du, mit seinen sieben Kindern und zwei Dutzend Enkeln? Daran konnte ich doch unmöglich meine blühende Jugend binden!« So trocken brachte sie es hervor, daß die anderen herzlich lachen mußten, und die Hausherrin sagte warm: »Philchen, wie gut, daß du wieder da bist! Ohne dich ist es hier so gar kein Leben.« »Da bin ich aber froh, daß es mich gibt. Denn: Geben ist seliger als Nehmen. Stammt aus der Apostelgeschichte, Theachen, brauchst erst gar nicht deine sämtlichen Dichter in Gedanken durchzukramen.« Damit sprang sie lachend auf, Silje tat es gleichfalls, und mit einem fröhlichen› Gutenacht‹ gingen sie davon. Am nächsten Morgen stand Silje dann wieder vor Fräulein Luischen, die ihren Famulus schmunzelnd betrachtete. »Na, Kindchen, Ihnen scheinen ja die Feiertage glänzend bekommen zu sein. War sie schön, die Fahrt durch den Weihnachtswinter?« »Sehr schön! So ein richtiger Jungquell.« »Den haben’ Sie auch gerade nötig, Sie kleine Christrose. Und nun wollen wir mit frischem Mut an die Arbeit gehen.« Dazu war Silje gern bereit. Flott ging ihr die Arbeit von der Hand, und sie schaute erstaunt auf, als die Sirene aufheulte. »Schon Mittag?« fragte sie fast enttäuscht, und Fräulein Luischen lachte. »Haben Sie denn noch gar keinen Hunger?« »Eigentlich nicht. Mein Frühstück war so gut, daß ich tagsüber damit auskommen könnte.« »Natürlich, wegen der schlanken Linie«, kam es von der Tür her, in welcher der Senior stand. »Aber nichts da, Marjellchen, gegessen wird! Denn essen und trinken hält

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Leib und Seele zusammen. Stimmt’s, Fräulein Luischen?« »Allemal«, verzog sich das Vollmondgesicht zu einem gemütlichen Lachen. »Doch zu der Erkenntnis kommt der Mensch erst, wenn das Herz still wird und die Haare grau werden.« »Letzteres will ich gelten lassen, aber ersteres kann hundert Jahre dauern«, blinzelte er ihr vergnügt zu. »Und nun komm, mein kleiner Zeisig, begeben wir uns gemeinsam an die Futterkrippe.« Silje zog den schicken Pelzmantel an, drückte das kecke Mützchen auf die schimmernden Locken und schritt dann an der Seite des Seniors über das weite Fabrikgelände dem Herrenhaus zu, das, abgegrenzt von einem Park, sehr vornehm und feudal dalag. Er hatte sein Elternhaus umbauen und vergrößern lassen, der Herr vom Ganzen. Genauso wie die beiden Fabriken, die zusammen ein stolzes Werk bildeten, das so gut fundiert war wie kaum ein zweites. Neben dem Hünen wirkte Silje Berledes wie ein Püppchen, obgleich sie mit ihren 1,68 über eine ganz gute Mittelgröße verfügte. Sie mußte ihre schlanken, feingefesselten Beine hurtig regen, um mit den langen des Vormunds Schritt halten zu können. Das ungleiche Paar ging flott dahin und wurde von Thea, die im Speisezimmer am Fenster stand, bemerkt. Nicht, daß der Vater mit dem ihr unsympathischen Mädchen Seite an Seite schritt, regte sie auf, sondern der kostbare Pelzmantel, den dieses Mädchen trug. »Kommt doch mal rasch her!« rief sie hastig ins Zimmer, wo auch Mutter, Schwägerin und Bruder sich bereits eingefunden hatten. Neugierig trat man näher, und Eike fragte verwundert: »Na und, was ist da wohl Aufregendes zu sehen? Etwa, daß zwei Menschen aus einer Familie so einträchtig nebeneinander hergehen?« »Das meine ich doch nicht«, winkte sie ungeduldig ab. »Was mir auffällt, das ist der schicke Pelz. Den hat Papa

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diesem fremden Mädchen sicherlich zu Weihnachten geschenkt. Und wo ich doch so nötig einen Mantel brauche!« »Oh, du Arme!« spottete Ilona. »Schade, daß deine naseweise Tochter nicht hier ist und alles mit angehört hat. Die würde das Fräulein bestimmt nach dem Spender der kostspieligen Angelegenheit fragen.« »Du bist abscheulich!« fuhr die Schwägerin empört auf, und die Mutter hob flehend beide Hände. »Kinder, ich bitte euch, laßt doch den Streit, der ja gar nicht mehr abbricht, seitdem Fräulein Berledes im Hause ist! Vater hat ihr den Mantel bestimmt nicht geschenkt, das nehme ich eher von Philchen an.« »Stimmt«, bemerkte der Hausherr ironisch, der soeben eintrat und die letzten Worte gehört hatte. »Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß der Pelz deine Mißgunst erweckt hat, meine Tochter Thea…« Weiter kam er nicht, da jetzt Philchen und Silje eintraten. Außerdem noch eine junge Lehrerin, die jeden Tag ins Haus kam, um Anka zu unterrichten. Sie nahm nur am Mittagsmahl teil, dann fuhr sie auf dem Rad ins nächste Dorf, wo ihr Vater Lehrer war, dem sie am Nachmittag beim Unterrichten seiner Schüler half. Das Mahl verlief ungemütlich wie gewöhnlich. Das ging nun mal nicht anders in dieser Familie, wo es ebenso viele Köpfe wie Sinne gab. Es fehlte die Harmonie, die ein Familienleben traut und behaglich macht. Silje ließ man jetzt ganz unbehelligt. Selbst die altkluge Anka, nachdem ihr der Großvater einmal das vorlaute Schnäbelchen beklopft hatte. Silje waren diese Mahlzeiten gräßlich. Viel lieber hätte sie mit den anderen Angestellten zusammen in der Werkkantine gegessen, aber das hätte ihr Vormund nie zugegeben und Philchen auch nicht. Also durfte sie ihnen damit erst gar nicht kommen. Sie gehörte hier zur Familie, und damit holla! Die Hausherrin fürchtete Silje auch gar nicht, die war stets

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freundlich zu ihr, und der Junior schien sie kaum zu bemerken. Aber Thea mit ihren scheelen Blicken und Ilona mit ihrer Nichtachtung, die waren ihr höchst unangenehm. Sollte das etwa immer so weitergehen, monatelang, womöglich gar jahrelang? Ach, darüber wollte sie sich nicht den Kopf zerbrechen. Sie hatte ja den Vormund, der stets für sie eintrat, und dann vor allen Dingen ihr vielgeliebtes Philchen, das ihr wie ein Fels in der Brandung erschien. Und dieser Fels war hart genug, um auch die giftigsten Pfeile an sich abprallen zu lassen. Grau lag der Morgen über dem traulichen Gemach, in dem Philchen, deren zierliche Figur ein flauschiger Morgenrock umbauschte, geschäftig hin- und herhuschte. Mit spitzbübischem Lächeln gab sie sich einer Tätigkeit hin, die ihr viel Freude machte. Dann ging sie auf leisen Sohlen durch die weitgeöffnete Flügeltür in das Nebenzimmer, zog dort die Jalousien an den Fenstern hoch und trat an das Bett der holden Schläferin. »Heraus aus den Federn, der Hahn hat gekräht!« sang sie lustig und sah dabei lachend zu, wie das junge Menschenkind unter den langen, seidigen Wimpern hervorblinzte, den ranken Körper dehnte und streckte. »Ach, Philchen, ist es schon wieder soweit? Ich bin ja noch soooo müde!« »Sieht dir ähnlich, du kleine Schlafmütze. Aber nichts da! Ermuntere deinen schwachen Geist, der vor neunzehn Jahren noch von Düsternis empfangen ward. Erst Stunden später wurde es Licht.« »Um meine kleine Wenigkeit«, lachte Silje, nun vollständig munter, in die salbungsvolle Rede hinein. »Und was soll geschehen?« »Aufstehen sollst du, eine Stunde früher als sonst an deinem Ehrentag.« Silje tat’s. Und als sie später frisch gewaschen dastand, zog Philchen sie in ihr behagliches Wohnzimmer, wo auf dem Tisch neunzehn Kerzen lustig flackerten und das große

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Lebenslicht verheißungsvoll leuchtete. Und was außerdem noch auf dem Tisch vorhanden war, ließ die Augen des Geburtstagskindes strahlen. Und mit Recht. Denn diese Festtoilette mit allem Drum und Dran konnte schon ein Jungmädchenherz höher schlagen lassen! »Oh, Philchen, soll das etwa für mich sein?« »Na, für mich doch nicht, du kleines Schaf! Damit sollst du dich schmücken und die weiblichen Wesen ausstechen, die sich in diesem gastlichen Hause heute zur Silvesterfeier zusammenfinden werden. Da wird sich mein Bruder freuen, und die anderen sollen vor Neid platzen!« »Netter Wunsch!« lachte Silje hellauf, umarmte das gute Philchen und stattete stürmischen Dank ab. »Na also«, schmunzelte das Altjüngferlein, als es wieder frei atmen konnte. »Und nun wollen wir in aller Ruhe unser Frühstück einnehmen. Darum habe ich dich so früh aus den Federn geholt. Doch halt, zuerst muß ich dir ja wohl gratulieren. Komm her, du wonniges kleines Stückchen Mensch, alles Glück sei dir beschieden. Mehr weiß ich nicht.« Damit wandte sie sich hastig ab, weil ihr die Augen feucht wurden. Und so was war dem couragierten Philchen immer sehr unangenehm. Wenig später frühstückte man an dem runden Tisch in Philchens Wohnzimmer, wie man es täglich zu tun pflegte. Doch heute tat man es geruhsamer, und der Strauß herrlicher Nelken gab dem Tisch ein festliches Aussehen. Außerdem stand ein Napfkuchen da, den Silje so gern aß. »Lang nur tüchtig zu«, ermunterte Philchen. »So gut bekommst du ihn unten nicht.« »So wissen sie, daß ich heute Geburtstag habe?« »Keine Angst, es ist ihnen unbekannt. Aber heute steigt der gemeinsame Nachmittagskaffee, weil am Silvestertag im Werk mittags Schluß gemacht wird.« »Gräßlich!« seufzte das Mädchen. »Und am Abend, was steigt da?«

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»Die Silvesterfeier im Kreise von Gästen, die aus Tradition geladen werden.« »Und wer sind die? Orientiere mich bitte ein wenig, damit ich nachher nicht zu dumm dastehe.« »Na schön. Da ist erst mal das Ehepaar Seifling, das seinen Namen zu recht trägt; denn er ist Seifenfabrikant. Der Sohn Manfred, zärtlich von den vernarrten Eltern Mannerchen genannt, ist bestimmt kein Adonis, glaubt diesen jedoch noch zu übertrumpfen. Dann kommt das Ehepaar Balduin mit Tochter Bärbel, einem süßen Mädchen, da die Eltern eine Konfitürenfabrik ihr eigen nennen. Ein nettes Marjellchen, nicht mehr ganz jung, aber hübsch und gescheit. Augenblicklich ist sie Mannerchens Schwarm, aber wenn er dich sieht, wird er mit fliegenden Fahnen zu dir abschwenken. Lach nicht, dummes Ding, sei lieber auf diese rasche Eroberung gefaßt. Gleichfalls auf die des anderen Junggesellen und auf die des Witwers mit Kind. Aber bei dem sei vorsichtig, sonst kratzt dir Thea vor Eifersucht die Augen aus. Bist du jetzt im Bilde?« »Noch nicht ganz, Philchen. Du sprachst von drei ledigen Herren.« »Oha, der dritte ist ein Mann von Welt«, die zierliche Gestalt setzte sich ordentlich in Positur. »Er ist als Besitzer eines Textilbetriebes schon über die Grenzen seines Vaterlandes hinausgekommen und hat bei der Frauenwelt Erfahrungen gesammelt. Er liebt das Mondäne, das in seinen Augen die pikante Ilona verkörpert. Er umschwärmt sie, allerdings nur bis zu einer bestimmten Grenze, versteht sich, damit er dem Gemahl seines Schwarms nicht auf die eheherrlichen Zehen tritt.« »Philchen, hör auf, ich kann nicht mehr!« Silje wollte sich über den todernst vorgebrachten Bericht halbtot lachen. Und dieses herzfrohe Lachen lockte die beiden Herren des Hauses an, die gerade den Korridor entlanggingen. Philipp klopfte und steckte den Kopf durch den Türspalt. »Schon wieder mal hört man am frühen Morgen dieses

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goldige Lachen«, schmunzelte er. »Darf man daran teilnehmen?« »Bitte sehr, tritt näher«, lud Philchen mit einer großartigen Geste ein. »Ah, da ist ja auch der Herr Neffe. Man immer rein in die gute Stube! Wir feiern hier nämlich Geburtstag.« Überrascht schaute man auf den Geburtstagstisch, und der Senior kratzte sich verlegen den Kopf. »Ja, aber Philchen, ist es denn mit unserm Geburtstag schon wieder so weit?« »Oh, über so einen Kaufmann!« lachte die Schwester ihn aus. »Der hat weiter nichts als seine Geschäftszahlen im Kopf, so daß für private Dinge kein Platz mehr darin bleibt. Zähl mal bitte die Kerzen nach und wirf einen Blick auf den Feststaat – na, dämmert’s endlich?« »Sieh an, die Silje!« schmunzelte er jetzt. »Entschuldige schon, aber für Geburtstage habe ich nun mal kein Gedächtnis. Komm her, laß dir gratulieren und dir alles Gute wünschen, du Mordsmarjellchen. Hast du einen Wunsch?« »Ja – immer in deinem Betrieb arbeiten zu dürfen«, kam die Antwort spontan, und er betrachtete sie kopfschüttelnd. »Bescheidenes Gemüt! Meinetwegen magst du darin alt und grau werden. Doch ich hoffe, daß das Schicksal Erfreulicheres für dich in Bereitschaft hält. Wie spät ist es? Zwanzig Minuten vor acht. Die reichen aus, um uns hier an Kaffee und Kuchen laben zu können. Säble nur ein tüchtiges Stück davon ab, Schwesterherz!« Während er sich mit einem behaglichen Schnaufer an den Tisch setzte, brachte der Sohn seinen Glückwunsch beim Geburtstagskind an. Dann nahm auch er Platz, Philchen holte zwei Tassen herbei, und das Schmausen konnte beginnen. »Weiß der Kuckuck, Philchen, in deinem kleinen Reich hier lugt die Behaglichkeit aus allen Zipfeln«, stellte der Bruder seufzend fest. »Wenn ich dagegen an mein ›trautes Heim‹ denke – na, Schwamm drüber! Gib mir noch ein Stück Kuchen und dem Jungen da auch. Dem hat das liebe

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Schicksal auch nicht gerade Rosen auf seinen Weg gestreut.« Man wußte genau, daß er damit die Ehe des Sohnes meinte. Doch dieser stellte sich gleich den anderen dumm und sagte lachend: »Na, Vater, auf Rosen zu wandeln ist auch gerade kein Vergnügen. Denk an die Dornen!« »Hast recht, es ist eben nichts vollkommen auf der Welt. Und nun, ran an die Arbeit! Stürzen wir uns noch am letzten Tag des Jahres hinein – und dann feiern wir wieder ein bißchen. Unter uns wäre mir das zwar lieber, aber Gäste müssen ja auch einmal sein. Was lachst du so spitzbübisch?« sah er die Schwester mißtrauisch an. »Willst du etwa mit deinem Liebling auch heute auskneifen, wie du es Weihnachten so feige tatest?« »I bewahre«, winkte sie vergnügt ab. »Diesmal will ich mit meinem Liebling prunken. Dazu habe ich ihm ja die reizende Verpackung auf dem Tisch da geschenkt.« »Pfui, Philchen, jetzt wirst du boshaft!« war Silje entrüstet. »Als Paradestück werde ich dich bestimmt enttäuschen.« »Na, ich weiß nicht«, betrachtete der Vormund sein bezauberndes Mündel augenzwinkernd. »Und wie steht es mit dem Schmuck?« »Na, Onkelchen, mehr behängen kann ich mich doch wohl noch kaum«, sie zeigte lachend auf Ring, Armband und Kette. »Höchstens noch ein Ring durch die Nase.« »Du bist mir schon ein Rackerchen!« drohte er schmunzelnd. »Aber wie wär’s, wenn der gestrenge Senior der niedlichen kleinen Tippmamsell für heute Urlaub geben würde, hm?« »Nein, Onkel Philipp, daraus wird nichts! Fräulein Luischen hat heute noch so viel zu erledigen. Und wenn ich ihr auch nicht viel helfen kann, so ist es immerhin etwas.« Damit schlüpfte sie in den Mantel, drückte einen Kuß auf Philchens Wangen und ging in Begleitung der beiden Chefs zum Dienst.

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Und das bemerkte Thea, die gerade aus ihrem Zimmer auf den Gang trat. Zuerst starrte sie den drei Davonschreitenden perplex nach, dann eilte sie in das Schlafzimmer der Schwägerin, die wie gewöhnlich um diese Zeit noch schlief und nun sehr ungehalten über die frühe Störung war. »Was plagt dich eigentlich, mich hier so rücksichtslos aus dem Schlaf zu reißen! Ich weiß sowieso schon nicht, wie ich den Tag herumkriegen soll.« »Halt hier keine langen Reden«, unterbrach Thea sie heftig. »Eben sind Papa und Eike mit diesem fremden Mädchen aus Tante Philchens Wohnzimmer gekommen. Wir müssen herauskriegen, was die beiden Herren schon am frühen Morgen da wollten.« Dazu war Ilona mit Freuden bereit. Denn alles, was in diesem »Eulennest« irgendwie aus dem Rahmen fiel, nahm sie mit Begeisterung auf. Schnell schlüpfte sie in die Pantöffelchen, zog ein Morgenkleid über und folgte der Schwägerin. Thea klopfte und betrat nun, von Ilona gefolgt, das Wohnzimmer der Tante, die zuerst verwundert guckte und dann gleich ironisch sagte: »Ach so, ihr kommt, um die Lage zu peilen. Beruhigt euch, es geht hier alles mit rechten Dingen zu – auch wenn ich schon am frühen Morgen den Besuch von Bruder und Neffen empfange. Und damit euch vor Neugierde nicht womöglich noch die Augen aus dem Kopf fallen, meine Lieben, so will ich euch erklären, was dieses hier zu bedeuten hat. Es ist der Geburtstagstisch, den ich für Fräulein Berledes herrichtete. Seid ihr nun zufrieden?« »Ja – aber das muß doch viel Geld gekostet haben«, zeigte Thea konsterniert auf den Tisch, und Philchen lächelte so recht niederträchtig. »Das hat es allerdings. Aber es ist ja schließlich mein Geld, nicht wahr?« »Das schon«, mußte Thea zugeben, wenn auch widerwillig. »Ja – und was haben Papa und Eike dem fremden Mädchen

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geschenkt?« »Nichts – absolut nichts.« »Und was wollten sie denn hier?« »Das Lachen eines frischfröhlichen Menschenkindes lockte sie an, als sie an dieser Tür vorübergingen. Es gibt Gott sei Dank noch Menschen auf der Welt, die schon am frühen Morgen so herzfroh und unbekümmert lachen können. Tut’s auch, und es wird in diesem muffigen Haus bald ein frischer Wind wehen.« »Tante Philine, ich habe doch wohl das Recht, zu erfahren, was mein Mann bei diesem Mädchen-«, setzte Ilona empört an, kam jedoch nicht weiter, weil die Tante ihr mit einer herrischen Gebärde das Wort abschnitt. Die zierliche Gestalt schien förmlich zu wachsen, in den blauen Augen lag ein kaltes Drohen- und so drohend klang es auch, als sie sprach: »Behalte die weiteren Worte lieber für dich – sonst müßte ich dich nämlich aus meiner Wohnung weisen. Ich glaube, wir haben uns verstanden, nicht wahr?« Ihr einen giftigen Blick zuwerfend, wandte sich Ilona brüsk ab, ging hinaus, und Thea folgte wie ein begossener Pudel. Das Hadebrecht-Haus öffnete nicht oft seine gastliche Pforte, doch wenn es geschah, wurde in den weiten Räumen die Pracht entfaltet, wie sie dem reichen Hause zukam. Einmal im Jahr gab es eine »lukullische Abfütterung«, wie der Fabrikherr sich spöttisch auszudrücken pflegte. Dann wurden alle die Menschen eingeladen, denen man in geschäftlicher sowie privater Hinsicht irgendwie verpflichtet war. Einige davon fanden sich auch öfter ein, und zu denen gehörten auch diejenigen, die heute erwartet wurden und die Silje aus Philchens launigem Bericht bereits dem Namen nach kannte. Und nun lernte sie diese auch persönlich kennen. Man war ordentlich betroffen, als man das Mündel des Hausherrn, von dem man natürlich schon gehört hatte, in Augenschein nehmen konnte. Wie denn – es sollte doch so

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ein armes, geducktes Wesen sein, dem man in diesem Haus aus Gnade und Barmherzigkeit ein Asyl gewährte? – Und nun dieses entzückende Menschenkind, das die Natur mit allen Reizen ausgestattet hatte? Die elegante Kleidung tat noch ein übriges dazu – kurz und gut, die Menschen waren wie verzaubert. Hauptsächlich Siljes Tischherr, Seifling junior, machte kein Hehl daraus, wie gut ihm seine Dame gefiel. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er sie gewissermaßen vom Fleck weg geheiratet, und seine Eltern hätten noch nicht einmal was dagegen gehabt. Allerdings, die Mitgift. Aber der reiche Hadebrecht würde sein Mündel, das außerdem noch die Stieftochter seines verstorbenen Sohnes war, bestimmt nicht als Kirchenmäuslein in die Ehe gehen lassen. Und Silje selbst? – Die amüsierte sich köstlich über die Bemühungen ihres Tischherrn, dessen Augen sie an die eines Schellfisches erinnerten. Sein rundes Haupt zeigte schon jetzt recht schütteres Haar, und die untersetzte Gestalt stand auf strammen O-Beinen. Aber Mannerchen kam sich unwiderstehlich schön vor, was die vernarrten Eltern ganz in Ordnung fanden. Außerdem gab es in dem heutigen Kreis noch zwei ledige Herren, von denen Silje auch recht wohlgefällig betrachtet wurde. Und diese hatten mit ihrer Hand zusammen auch noch allerlei zu vergeben, was geldlich gesehen nicht so ohne war. Der stattliche Witwer, Mitte Dreißig, besaß eine große Eisengießerei, und der andere, auch ein Mann in den besten Jahren, betrieb einen schwungvollen Textilhandel. Er sah wie aus dem Ei gepellt aus und legte viel Wert darauf, als ein Mann von Welt betrachtet zu werden. Eigentlich liebte er nur mondäne Frauen, aber dieses kleine süße Mädchen in seiner natürlichen, taufrischen Schönheit schien ihm dennoch sehr zu gefallen. Das merkte Ilona und ärgerte sich. Was fiel dem Bergau denn plötzlich ein? Er starrte dieses »Schneegänschen« ja wie verzaubert an! So was konnte sie absolut nicht vertragen. Wo sie mit ihrer berückenden Schönheit

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auftauchte, hatte die sämtliche übrige Weiblichkeit zu verblassen. Sie sah auch tatächlich gut aus, die kapriziöse Elona. Sehr mondän gekleidet, sehr raffiniert zurechtgemacht; denn in dieser Hinsicht war ihre Zofe Meisterin. Und dennoch – ihr fehlte das gewisse Etwas, das die junge Silje Berledes so unwiderstehlich machte. Thea fand sich natürlich auch sehr schön, hatte ihre kostbare Gewandung auch wirklich gut gewählt. Trotzdem schien die Kleidung irgendwie nicht zu ihr zu passen. Man hatte das Gefühl, als ob die üppige Gestalt aus allen Nähten platzen müßte. Dazu trugen wahrscheinlich ihre unbeholfenen, phlegmatischen Bewegungen bei, die den Anschein erweckten, als wäre die Frau sich selbst im Wege. Zu dem sehr stattlichen Eisengießer hätte sie figürlich gut gepaßt, das wäre ein respektables Paar geworden. Diesem Traum gab sich Thea denn auch hin, obwohl sie eigentlich keine Veranlassung dazu hatte. Aber komme einer gegen sein Herz an, das ein zweites Eheglück ersehnt! Und dieses schien das »fremde Mädchen« ernstlich zu gefährden. Da war es wahrlich kein Wunder, daß Thea ihm immer mehr gram wurde. Und was sagte die nette, hübsche Bärbel zu dem reizenden Zuwachs des Hauses Hadebrecht, der heute hier im Mittelpunkt stand? Sie lächelte – denn sie war gescheit. Sie sagte sich, daß es den Menschen zukommt, etwas Wunderschönes entzückt zu betrachten. Sie tat es ja auch. Nachdem die Tafel aufgehoben war, vergnügte man sich mit den üblichen Silvesterscherzen. Und dabei tat sich Ilona groß hervor und erreichte es auch wirklich, Hauptperson zu sein, wie sie es unbedingt verlangte. Sie arrangierte die belustigenden Spiele, wobei sie Spitzen verteilte, die ausgerechnet auf Silje Berledes zielten. Doch diese war schlagfertig genug, um immer gleich contra zu geben. Und Philchen freute sich. Recht so, Marjellchen! – dachte

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sie schadenfroh. Laß dir nichts gefallen, zeig deinen beiden Widersacherinnen die Zähnchen! Sie sind dir ja doch nicht gewachsen, weder was deine Schönheit noch deinen beweglichen Geist anbetrifft. Ilona, die beim Pfandauslösen selbstverständlich als Richter fungierte, schielte unter dem Tuch, das ihre Augen verdeckte, natürlich hervor. Eben hielt Mannerchen, der ihr assistierte, ein entzückendes Abendtäschchen empor. Und kaum, daß er seine Formel hergesagt hatte, schmetterte ihre Stimme hell und laut wie eine Fanfare, es mutete an wie eine Aufforderung zum Kampf: »Der oder die soll singen!« Zuerst fast betroffene Stille, in die dann Siljes Stimme lachend klang: »Ach, du liebes bißchen, ich soll singen? Ei, und wenn ich es nicht kann?« »Na, singen kann doch wohl jeder«, bemerkte Ilona hämisch, die soeben die Binde von den Augen nahm, da das letzte Pfand ausgerufen war. »Wie, ist allerdings eine andere Frage. Aber wir werden milde Kritiker sein, nicht wahr, meine Herrschaften?« Lachende Zustimmung wurde laut, und Ilona versteckte ihre Schadenfreude hinter Gutmütigkeit. »Nun, wenn Sie sich genieren, dann will ich für Sie eintreten«, erbot sie sich gönnerhaft. Ohne Silje überhaupt erst zu einem Entscheid kommen zu lassen, setzte sie sich an den Stutzflügel, der in dem Saal stand, wo man sich trotz der verhältnismäßig wenigen Personen aufhielt, weil hier der Weihnachtsbaum aufgestellt war. Der große Flügel behauptete im Wohngemach seinen Platz, damit man ihn zu jeder Zeit benutzen konnte, was hauptsächlich der Sohn des Hauses tat, der wohl nicht so ein Genie war wie sein berühmter Bruder, aber immerhin über den Durchschnitt musikalisch. Aber Ilona hielt sich unbedingt für ein Genie und hatte auch tatsächlich einen gutgeschulten Sopran, mit dem sie

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gern brillierte, ob man nun einverstanden war oder nicht. Sie begleitete sich auch stets selbst, worauf sie sich noch etwas einbildete. Man lauschte Spiel und Gesang auch wirklich gern, wurde jedoch unruhig, als Lied auf Lied folgte, woran die Sängerin sich förmlich berauschte. Nebenan fuhr schon der Diener den Servierwagen mit den Sektflaschen auf. Doch Ilona sah und hörte nichts. Sie sang, als müßte sie damit einen Preis erringen. »Mach bitte Schluß!« grollte da der Baß des Hausherrn in ein Liebeslied hinein. »Es ist gleich zwölf Uhr.« Und dann ging alles ganz rasch. Die Sektpfropfen knallten, die Kelche wurden gefüllt und verteilt. Man gruppierte sich um den Weihnachtsbaum, an dem die Kerzen strahlten. Es war genau zwei Minuten vor zwölf. Philchen, die etwas abseits neben Silje stand, hob dieser verstohlen das Glas entgegen und flüsterte ihr zu: »Vor neunzehn Jahren um diese Zeit schriest du dich gerade in die Welt. Mädchen, was bin ich doch froh, daß du es tatest! Prosit, auf dein Glück, das auch immer das meine sein wird!« Leise klangen die Gläser zusammen, man tat einen langen Zug. »Was macht ihr denn da?« fragte Ilona laut und vernehmlich in die feierliche Stille hinein. »Könnt ihr denn nicht warten?« »Prosit Neujahr!« rief der Hausherr mit Stentorstimme dazwischen. Und während man fröhlich anstieß, läuteten die Glocken von den Türmen der Stadt, und von den beiden Fabriken gellten die Sirenen. Dann knatterte es, heulte und pfiff von Feuerwerkskörpern aller Art, die man auf dem weiten Gelände übermütig losließ. Aus dem Saal traten alle auf den Balkon, ergötzten sich ein Weilchen an dem sprühenden Schauspiel, nahmen dann wieder im Zimmer Platz und ließen sich nun die lukullischen Happen gut schmecken, die wie hingezaubert plötzlich dastanden.

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»Nun, Herr Seifling, haben Sie Fräulein Berledes ihr Täschchen wiedergegeben?« fragte Ilona spitz das eifrig kauende Mannerchen, das erst den guten Bissen hinunterschluckte und dann eigensinnig den Kopf schüttelte. »Nein, ich tu es erst, wenn das Pfand richtig eingelöst ist. Anders ist es Schiebung, und das lehnt ein fairer Kaufmann ab.« »Bravo!« schmunzelte der Hausherr, die giftigen Blicke seiner Schwiegertochter ignorierend. Sie war sowieso schon wütend auf den »Despoten«, weil er ihr herrliches Spiel vorhin so »banausisch« unterbrochen hatte. Und nun sagte dieses lächerliche Mannerchen auch noch treuherzig: »Das geht bestimmt nicht gegen Ihren Gesang, gnädige Frau. Sie wissen ja, daß ich ihn gern höre. Aber sein Pfand muß schon jeder selbst einlösen, einspringen gibt’s da nicht. Man kann ja auch nicht zum Zahnarzt gehen und sich für einen andern einen Zahn ziehen lassen.« Weiter kam er nicht, weil stürmische Heiterkeit losbrach, die Ilona natürlich übel vermerkte. Denn ihren Gesang mit Zahnziehen zu vergleichen – das war denn doch wirklich die Höhe! »Herr Seifling, ich muß doch sehr bitten!« legte sie empört los, doch der Schwiegervater winkte ab, während er sich die Lachtränen aus den Augen wischte. »Ach was, Ilona, sei kein Frosch! Mannerchen hat sich im Eifer unglücklich ausgedrückt. Stimmt’s?« »Na, was denn sonst?« fragte er verwundert dagegen. »Und nun singen Sie endlich, gnädiges Fräulein, sonst behalte ich Ihr Pfand ein.« »Sind Sie hartnäckig!« seufzte das Mädchen, und Muttchen Seifling strahlte. »Das war er schon immer, unser Mannerchen. Nun tun Sie ihm schon den Gefallen, Fräulein Suchen, den zu erfüllen, ist doch wahrlich nicht schwer! Wenn Sie steckenbleiben, kommt Mannerchen Ihnen helfen. Er hat einen so wunderbaren Tenor.«

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»Na schön«, resignierte Silje. »Was soll ich singen?« »Was jetzt so richtig paßt, gnädiges Fräulein«, strahlte Mannerchen. »Seit ich ihn gesehen, glaub ich blind zu sein.« Silje ging’s nicht so gut wie dem Hausherrn, Philchen und Eike, die blitzschnell zum Taschentuch griffen und es an Nase und Mund drückten. Sie mußte ohne diese Tarnung antworten. Doch während sie es tat, zuckte es ihr verdächtig um Augen und Lippen. »Das Lied kenne ich leider nicht, Herr Seifling.« »Schade! Aber etwas von Liebe muß es unbedingt sein.« »Darf ich einen Vorschlag machen?« meldete sich die Hausherrin, die bisher kaum etwas gesprochen hatte, wie es so ihre stille Art war. »Ich kenne da so ein altes Liedchen, das ich in meiner Jugend sang- und das mir später mein Sohn Thomas vorsingen mußte…« Die letzten Worte klangen schon tränenerstickt. Es trat eine peinliche Stille ein, in die Philchen dann mit gemachter Munterkeit hineinsprach, der Schwägerin dabei herzlich zunickend: »Silje kennt das Liedchen und wird es dir gern vorsingen. Nicht wahr, mein Kleines?« »Gewiß«, zeigte das Mädchen sich bereitwillig, obwohl es ihm nicht leichtfallen würde, in der fremden Gesellschaft gerade dieses Lied zu singen. Sie setzte sich an den Flügel, und schon trat erwartungsvolle Stille ein. Jetzt wird sie sich endlich blamieren – dachte Ilona schadenfroh. Eine Frechheit überhaupt, sich nach meinem wunderbaren Gesang hören zu lassen! Aber mir schon recht – hinterher singe ich dann wieder. Mit hämischem Lächeln schmiegte sie sich in den Sessel, dabei nicht ahnend, daß vier Augen sie beobachteten. Wie Unwillen huschte es über das rassige Antlitz des Mannes, doch seine Tante lachte in sich hinein. Und dann klang eine Stimme auf, süß und verhalten, voll jugendlichem Schmelz und zarter Innigkeit:

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»Wenn sich zwei Herzen finden, so muß es für immer sein, sie soll’n sich einander verbinden, eins soll das andre betreu’n. Beim ersten Kuß am Morgen, beim letzten beim Schlafengeh’n. soll ohne Bang und Sorgen eines dem andern gestehn: Ich liebe dich – und du liebst mich, so bleiben die Herzen minniglich, bis daß der Tod sie scheide…« So innig wie ein Gebet verklangen Spiel und Gesang. Müde sanken die schlanken Mädchenhände von den Tasten, der umflorte Blick der wundersamen Mädchenaugen schien in unermessene Ferne zu tauchen – in die Ferne der Erinnerung. Denn dieses kleine alte Lied, von den Menschen der Jetztzeit nachsichtig belächelt, war wie ein Treueschwur gewesen zwischen der geliebten Mutti und dem nicht weniger geliebten Paps. Es wurde ihnen zum Morgen- und Nachtgebet. »Sentimentaler Kitsch!« höhnte es da laut und vernehmlich in die andächtige Stille hinein. Man zuckte richtig zusammen und sah Ilona unfreundlich an. Am liebsten hätte man sie empört zurechtgewiesen. Doch das konnten die Gäste nicht, und die Angehörigen wollten es in Gegenwart eben dieser Gäste zu keinem peinlichen Auftritt kommen lassen. So taten sie denn alle, als hätten sie die taktlose Bemerkung nicht gehört, und spendeten der holden Sängerin ganz besonders herzlichen Beifall. Man schien auch nicht zu sehen, daß der Hausherrin die hellen Tränen übers Gesicht liefen, griff rasch zum Glas, prostete der verlegenen Silje zu und lachte belustigt, als Mannerchen in theatralischer Pose der Besitzerin das

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Täschchen überreichte. Er beugte dabei sogar ein Knie, was bei seiner O-Beinigkeit drollig genug anmutete. »Und nun bitte ich um den ersten Tanz, Sie kleine Nachtigall!« tat er forsch. »Stellt das Radio an, das wird bestimmt flotte Musik liefern.« O ja, die Musik war flott, sehr sogar. Denn man war auf der Sendestation der Ansicht, daß die ersten Stunden im neuen Jahr der Jugend gehörten. Es quäkte und schepperte, heulte und pfiff, als wären alle Teufel losgelassen. Mannerchens O-Beine flogen nur so in grotesken Verrenkungen. Und da seine Tanzpartnerin sich vor Lachen bog, wirkte sie ganz zünftig bei der Hopserei. Als dann ein Tango aufklang, verneigte sich Bergau vor Ilona, Mannerchen vor Bärbel, der Eisengießer Tarknitt vor Thea und Hadebrecht junior vor Silje. Auch die beiden Ehepaare machten vergnügt mit, bis auf die Gastgeber und Philchen. Eine Dame war sowieso zuviel, und so trat letztere gern zurück. Lachend lehnte sie ab, als der Bruder sie aufforderte. »Laß nur, alter Kampf- und Streitgenosse, zu diesem Tanz gehört Grazie, und die habe ich nicht.« »Und wie ist es mit dir, Muttchen?« »Ich sehe lieber zu.« »Na, Gott sei Dank, daß ihr so vernünftig seid!« lachte er in seinem dröhnenden Baß. »Aber seht euch mal das Mannerchen an, der tanzt bestimmt jeden Tanz nach der gleichen Schablone. – Aber Silje und Eike, potztausend, das ist ja die reinste Augenweide! Jetzt seh ich erst, welch eine wunderbare Gestalt der Junge hat, und wie er den Frack trägt, das ist tatsächlich Noblesse! Noch nie ist mir das so aufgefallen wie jetzt.« »Du hast ihn ja auch noch nie mit einer so bezaubernden Partnerin tanzen sehen«, bemerkte Philchen trocken. »Gut, daß Ilona dieses Paar nicht genau beobachten kann, weil sie selbst tanzt.« »Was befürchtest du?« warf der Bruder kurz ein. »Eifersucht, mein Lieber.«

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»Da sei Gott vor!« sagte Ottilie leise. »Sonst könnten wir bei Ilonas Unbeherrschtheit noch was erleben. Die macht unserm Jungen und dem schuldlosen Mädchen das Leben zur Hölle.« »Na, mehr als sie es bei ihrem Mann jetzt schon tut, geht es wohl kaum noch«, grollte Philipp. »Paß mir gut auf die Kleine auf, Philchen, damit ihr ja kein Leid geschieht! Sie ist mir nämlich sehr ans Herz gewachsen.« »Worauf du dich verlassen kannst, Bruderherz.« »Nun, dann bin ich beruhigt.« Weiter konnte man nicht sprechen, da der Tango beendet war. Man legte nun eine Tanzpause ein. Selbst Mannerchen, obwohl es jetzt aus dem Kasten wieder quäkte und schepperte. Er hatte für heute genug. Und da auch die anderen müde waren, trennte man sich bald mit herzlichem Dank an die Gastgeber. Wenig später lagen dann die unteren Räume im Dunkel, da sich jeder in sein Schlafzimmer zurückgezogen hatte. Der junge Herr des Hauses war gerade zu Bett gegangen, als die Gattin, die holde, mit Vehemenz hereinplatzte. Sie machte ohnehin schon keinen erfreulichen Eindruck in ihrem nächtlichen Make-up, aber wie sie nun dastand, die Hände in die Hüften gestemmt, das Gesicht vor Wut verzerrt, konnte man geradezu einen Abscheu vor ihr bekommen. Was sie dem Gatten hauptsächlich vorwarf, waren seine »Altmännermanieren«, sein Mangel an Elan und Vitalität. Ungerührt hörte er sich diesen Sermon mit an, zuckte nur die Schultern und meinte ironisch: »Sei froh, daß du dir noch immer wie ein Backfisch vorkommen kannst, obwohl die Dreißig bedenklich naht!« Damit knipste er die Nachttischlampe aus, legte sich auf die Seite – und krachend schlug die Tür zwischen den ehelichen Gemächern zu. Verblüfft schaute Philchen, die auch schon in ihrem weichen Pfühl ruhte, auf die lichte Gestalt, die wie ein Elflein durch die breite Tür ins Zimmer schwebte. Hurtig

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wippten die Füße, die in niedlichen Pantöffelchen steckten, im Walzerschritt über den Teppich. Das Nachtkleid in Kniehöhe zierlich gerafft, den Kopf zurückgeworfen, um den weichen Mund ein Schelmenlächeln, so tanzte es leichtbeschwingt heran, das strahlend schöne Geschöpf, eine Melodie vor sich hin summend. »Schade, daß Mannerchen dich nicht so sehen kann!« bemerkte Philchen schmunzelnd, und schon riß der Solotanz ab, und die grazile Tänzerin ließ sich auf dem Bettrand nieder. »Lieber nicht!« lachte sie übermütig. »Dann würden seine Schellfischaugen noch mehr herausquellen und ihm am Ende gar aus dem Kopf fallen.« »Na, beängstigend sah es sowieso schon aus«, bemerkte Philchen trocken. »Hauptsächlich, als du sangst. Du hast aber auch ein Stimmchen, Kleine, daß einem das Herz aufgehen kann!« »Ihr wart aber auch alle milde Kritiker.« »Hm – und Ilona?« »Deren Urteil war von vornherein befangen, weil sie mich nicht leiden kann«, tat Silje gleichmütig ab. »Warum, das ist mir allerdings nicht klar, denn ich bin ihr doch keinesfalls im Wege. Bei Frau Thea ist die Abneigung, die sie gegen mich hat, noch zu verstehen, weil sie fürchtet, daß sie durch mich in der Versorgung irgendwie zu kurz kommt, aber Frau Ilona hat doch ihren Mann.« »Eben«, warf Philchen unbedacht ein, tat jedoch harmlos, als das Mädchen sie erstaunt ansah. Zärtlich streichelte sie über die gleißende Lockenpracht, die zur Nacht von einem Seidenband umwunden war, das auf dem Scheitel in einer lustigen Schleife endete. Duftig umbauschte das Nachtgewand den jungendschönen Körper. »Geh schlafen, mein Kind«, sagte die Tante weich. »Schlaf gut ins neue Lebensjahr hinein, und laß dir durch niemand und nichts dein goldiges Lachen und deinen Frohsinn rauben.« Es war eine Woche später, als der Senior der Familie

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Hadebrecht in das Wohnzimmer trat, wo man sich um den Kamin geschart hatte, dem eine mollige Wärme entströmte. Mit der Zentralheizung zusammen schaffte er es, dem hohen, weiten Gemach die behagliche Temperatur zu geben, die die Kälte draußen vergessen ließ. Nur die dicken Eisblumen an den Fenstern erinnerten daran, die jetzt von der langsam sinkenden Wintersonne goldigrot überstrahlt wurden. Es war Sonnabendnachmittag, den auch die beiden Herren des Hauses geruhsam genießen konnten, da dann die Arbeit in den Fabriken ruhte. Stillvergnügt rauchten sie ihre Pfeifen, während Frau Ottilie an einem Kleidchen für Ute und Philchen an einem Pullover für Silje strickten. Ilona jedoch musizierte und tat es noch nicht einmal schlecht. Man hörte geduldig zu und fuhr erschrocken zusammen, als Thea ins Zimmer stürzte, vor Erregung zitternd und tränenüberströmt. Achtlos zerrte sie den Mantel vom Körper, warf ihn auf die Erde, schleuderte Handschuhe nebst Mütze in die Gegend und sank in den nächsten Sessel. Ein Weinen klang auf, das man schon mit wütend bezeichnen konnte. »Ja, was ist dir denn passiert?« fand der Vater endlich die Sprache, der gleich den anderen wie erstarrt dem Temperamentsausbruch gefolgt war. »Was kann wohl imstande sein, dich aus deinem sonst so bewundernswerten Phlegma zu reißen. Hat dir etwa einer etwas weggenommen?« »Ja, ja, ja – das ist’s! Dieses fremde Mädchen hat mir meinen geliebten Herbert Tarknitt weggenommen! Oh, ich Arme!« Zuerst sahen sich alle verblüfft an, dann war es wieder der Vater, der sprach, und zwar scharf: »Werde hier nicht theatralisch, sondern erkläre klipp und klar, was dich zu dieser Anschuldigung berechtigt!« »Philipp«, mahnte die Gattin leise. »Unser Kind.« »Ist überschwenglich, das weiß ich schon längst«, schnitt er ihr kurz das Wort ab. »Wie kann man überhaupt einem

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Menschen etwas wegnehmen, was er gar nicht besitzt?« »Er war aber auf dem besten Wege, mein zu werden«, klagte Thea, und die beiden Herren sowie Philchen machten bei dem überschwenglichen »Mein zu werden – « ein Gesicht, als hätten sie mit einem hohlen Zahn auf Zucker gebissen. Frau Ottilie sah bekümmert vor sich hin, und Ilona fand es höchst interessant, was ihrer Schwägerin Kummer bereitete. Endlich war in diesem »Eulennest« mal etwas los. »Wäre mein geworden«, schwelgte Thea weiter in Tragik, »wenn diese Circe ihn nicht betört hätte.« »Schaf«, bemerkte Philchen trocken, während die langen Nadeln in ihren flinken Fingern lustig klirrten. »Wenn du dich schon in so hochtrabenden Beziehungen ergehst, dann wende sie wenigstens richtig an. Ich jedenfalls stelle mir eine Circe anders vor als so ein neunzehnjähriges, frischfröhliches Menschenkind, wie Silje Berledes es ist. Und nun sag endlich, was du dieser Circe vorzuwerfen hast.« »Ich sah sie mit meinem Herbert auf der Eisbahn. Sie tanzten gerade einen Walzer zusammen. Ach, mir ist bei dem Anblick fast das Herz gebrochen!« »Ist nur gut, daß du ›fast‹ sagst«, blieb Philchen ungerührt. »Aber hab nur Geduld, es wird bald ›ganz‹ brechen, wenn ein Ereignis eintritt, das mir so schwant.« »Mir auch«, brummte der Vater, dem der Jammer seiner Tochter gar nicht zu Herzen ging, weil es eben kein Jammer war, sondern die Einbildung eines überspannten Gemüts. Denn Liebe konnte es doch unmöglich sein, in die Thea sich zu Tarknitt verrannt hatte. Zu diesem Geschäftsmann, der mit beiden Beinen auf der Erde stand und nicht in höheren Regionen schwebte, wie die junge Frau selbst es tat und wie es auch ihr männliches Ideal war, das sie in dem verstorbenen Gatten gefunden hatte – oder gefunden zu haben glaubte. Dem es trotz aller »Feingeistigkeit« gelungen war, die beträchtliche Mitgift seiner Gattin in acht Ehejahren durchzubringen, bei seinen noblen Passionen und seiner Rauschgiftsucht, aus der Thea stets ein

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Geheimnis gemacht hatte, bis – ja, bis ein Gehirnschlag den immerhin noch jungen Mann dahinraffte. Da mußte sie dann den Angehörigen gegenüber das Geheimnis lüften. Daran dachten jetzt die Menschen, die hier zusammensaßen – außer Ilona. Die kannte das Geheimnis nämlich nicht, und das war gut. Sonst wäre es bestimmt nicht lange ein Geheimnis geblieben. »Waren noch mehr Bekannte auf der Eisbahn?« erkundigte sie sich jetzt neugierig bei der Schwägerin, und diese antwortete mürrisch: »Ich sah nur noch Fräulein Balduin und den jungen Seifling, die auch zusammen tanzten. Dieses Paar lachte dabei harmlos, doch das andere sah sich selbstvergessen in die Augen.« »Mitten in dem Trubel!« warf Philchen trocken ein. »Mein liebes Kind, wenn sich ein junges Paar selbstvergessen in die Augen sehen will, dann sucht es sich ein stilles Plätzchen dafür aus und nicht die Eisbahn, wo es von Schlittschuhläufern nur so wimmelt. Das erstens. Und zweitens hätte Silje sich zu diesem süßseligen Stelldichein heimlich weggeschlichen und nicht ohne jede Spur von Verlegenheit gesagt, daß sie sich mit Fräulein Balduin zum Schlittschuhlauf verabredet hätte. Und mit spitzbübischem Lächeln setzte sie noch hinzu, daß sich da auch bestimmt Herr Tarknitt einfinden würde.« »Eben, weil sie sich mit ihm verabredet hat! Oh, ich Arme!« Da sprang Philchen auf. »Ich entfleuche! Auf Wiedersehen beim Abendessen!« Dazu erschien sie dann auch mit Silje, die wie stets, wenn sie in diesen Kreis trat, von einer Zurückhaltung war, die man fast mit Unnahbarkeit bezeichnen konnte. Selbst Philchen und ihrem Bruder gegenüber ging sie nicht aus sich heraus. Sprach sie nie an, sondern gab artig Antwort, wenn diese sie etwas fragten. Das tat von den anderen nur noch Ilona, und zwar nur dann, wenn es mit irgendeiner

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Bosheit verbunden war, die Silje aber einfach ignorierte. Daher war sie erstaunt, als Thea in hochfahrendem Ton fragte: »Wie kommen Sie denn dazu, Fräulein, sich an Herrn Tarknitt heranzumachen?« Zuerst sah Silje sie verdutzt an, doch dann umzuckte ein spöttisches Lächeln ihren Mund. Es war ein mitleidiger Blick, der die Fragerin streifte, die sich unter diesem immer mehr erregte. Doch ehe sie das junge Mädchen weiter angreifen oder der Vater seine aggressive Tochter zurechtweisen konnte, sprach Philchen schon pomadig: »Theachen, schaff dir den ›Knigge‹ an und lies lieber den als die Ergüsse überspannter Poeten. Darin steht nämlich alles, was dir an gutem Benehmen fehlt. Im übrigen möchte ich dir kund und zu wissen tun, daß Herr Tarknitt sich mit Fräulein Balduin verlobt hat, und zwar heute auf der Eisbahn. Und was sagst du nun?« Thea sagte nichts, weil diese ungeheuerliche Nachricht ihr den Mund verschloß. Nicht mal die beliebte Klage: Oh, ich Arme! – brachte sie heraus, sondern stand »leidverstummt« auf und wankte aus dem Zimmer. Das wirkte alles so theatralisch, daß sie nicht einmal der Mutter richtig leid tun konnte. »Sag mal, Mutterchen, wo haben wir bloß diese Tochter her?« sagte Philipp kopfschüttelnd. »Wir beide sind doch ganz vernünftige Leute und unser Jüngster auch. Selbst Thomas war nicht so exaltiert, obwohl ihm das als Künstler eher noch zugekommen wäre.« »Ja, ich weiß auch nicht«, seufzte die Gattin. »Mir ist Theas Art schon immer etwas fremd gewesen. Hoffentlich nehmen wir ihren Kummer nicht zu leicht.« »Da mach dir keine Sorge«, tat Philchen ungerührt ab. »Die leidet mit Genuß!« »Aber Philchen!« »Doch, Ottichen, glaube es mir. Die ist ganz glücklich dabei. Die kann auf Kommando lieben und leiden. Sollst einmal sehen, wenn ein anderer ›Herzensschwarm‹ für sie

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auftaucht, dann ist das alte Leid vergessen und die neue Liebe da.« »Gott geb’s«, wünschte die Mutter bedrückt. »Ach, daß sich wieder ein Mann für sie findet. Dann hätte sie wenigstens Pflichten. Denn: Etwas fürchten, hoffen und sorgen muß der Mensch für den kommenden Morgen, und das fehlt Thea eben.« »Nanu, Frauchen, du kannst ja poetisch sein!« schmunzelte der Gatte. »Ob unsere Tochter das nicht doch von dir hat?« »Ach, Philipp, mir ist gar nicht zum Scherzen zumute. Was mag Thea oben treiben?« »Sie liest Gedichte von der Liebe Leid«, brachte Philchen so trocken heraus, daß die anderen herzlich lachen mußten. Auch Frau Ottilie. Und das war es, was Philchen bezweckt hatte. Und es war tatsächlich so. Thea suchte Trost in der Poesie. Sie schwelgte darin und hatte somit gar keine Zeit, in »Leid zu versinken«. Sie war wohl noch etwas wehleidiger als sonst, klagte noch ein wenig mehr, benahm sich jedoch im großen und ganzen ziemlich vernünftig. Außerdem geschah etwas, das der Familie Hadebrecht wirklich Anlaß zur Besorgnis gab. Die Hausherrin erkrankte, was man zuerst nicht weiter tragisch nahm, weil man es für eine Erkältung hielt. Doch als das Fieber nicht weichen wollte und die Kranke zusehends verfiel, begann man sich ernstlich um sie zu sorgen. Man berief hintereinander zwei Ärzte, die nach einer gründlichen Untersuchung die Überzeugung äußerten, die Kranke habe kein organisches Leiden, das Herz sei sogar ganz gut intakt. Also müßte es mit den Nerven zusammenhängen, und ein entsprechender Kuraufenthalt wäre nur zu empfehlen. Doch davon wollte die Kranke nichts wissen. Sie sträubte sich dagegen mit einem Eigensinn, der an der sonst so sanften, nachgiebigen Frau fremd war. Sie wollte nichts weiter als im Bett liegen, die nötige Betreuung und Unterhaltung haben – und ausgerechnet durch Silje

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Berledes, die erst zu der Kranken kam, als diese ihr Erscheinen ausdrücklich wünschte. Keinen von ihren Angehörigen mochte Frau Ottilie so gern um sich haben wie dieses junge Menschenkind, von dem sie auch die bitterste Medizin willig nahm. Silje verstand es aber auch ganz besonders gut, mit der Kranken umzugehen, und niemand wußte so lieb von Thomas zu plaudern wie dessen Stieftochter. Nicht genug konnte die Mutter über das Leben ihres so schmerzlich betrauerten Ältesten hören, jede kleinste Begebenheit war ihr wichtig. Und als Silje gar erzählte, daß sie die Schülerin des Künstlers gewesen war, mußte sie die Geige holen – und diese herzinnige, zärtliche Musik wurde der Kranken jedesmal zur Feierstunde. Und Silje gelang es sogar, Frau Ottilie zu dem Kuraufenthalt zu überreden. Darüber waren die Angehörigen froh, und Thea erbot sich sofort, die Mutter zu begleiten. Doch da hatte sie die Rechnung ohne die eigensinnige Rekonvaleszentin gemacht. Gegen eine Begleitung war sie durchaus nicht, sie wünschte diese sogar. Aber dafür käme nur Silje in Frage – basta! »Lassen wir ihr den Willen«, entschied der Gatte. »Seien wir froh, daß sie überhaupt noch einen hat – und daß wir sie noch haben.« So fuhr denn Frau Ottilie ganz zufrieden mit der gewünschten Begleitung ab, bejammert von Thea, die sich in dieser argen Welt nicht mehr zurechtfinden konnte. Wo gab’s denn so was, daß eine Mutter ihr Kind zugunsten eines fremden Mädchens zurücksetzte, es lieber um sich haben wollte als ihr eigen Fleisch und Blut! Geduldig hörten Vater, Bruder und Tante diese eigentlich berechtigten Klagen mit an; doch die Schwägerin Ilona packte ihre Koffer. Dieses ewige Geplärre fiel ihr einfach auf die Nerven, sie hielt es nicht mehr länger in dem »Eulennest« aus. Da fuhr sie doch lieber zu ihren Eltern, die unbeschwert von allen Kümmernissen ihr Leben genossen!

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Doch schon drei Wochen später mußte sie aus dieser unbekümmerten Atmosphäre in das geschmähte Haus zurückkehren, weil sie den Eltern im Wege war. Ilona war nämlich bei einer Bobfahrt so unglücklich gestürzt, daß das Rückgrat verletzt zu sein schien. Genaues stand noch nicht fest, aber man konnte nie wissen. Jedenfalls konnte sie das eine Bein nur mühsam bewegen und auch dann nur unter Schmerzen. Ratlos standen die Eltern vor ihrer jammernden Tochter, wußten absolut nichts mit ihr anzufangen. Aber wozu hatte sie denn einen Gatten, dem sie vertrauensvoll ihr »Kleinod« in die Hände gegeben hatten? Also telegraphiert und den Mann herbeigerufen an die Stätte seiner Pflicht. Und da dieser Mann seine Pflichten ernst nahm, erschien er auch umgehend, sehr zur Erleichterung seiner Schwiegereltern. Sie legten es ihm nahe, daß die Frau nun einmal zu ihrem Mann gehöre, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als mit ihr die Heimreise anzutreten, wogegen sie sich gar nicht sträubte. Und nun hatte man wieder eine Kranke im Hause, und was für eine! Da man sie nicht aufregen wollte, mußte man sich ihren unbeherrschten Launen fügen. Hauptsächlich der Gatte. Die anderen ließen es bei einem täglichen Pflichtbesuch bewenden, der jedoch jedesmal eine Nervenprobe für sie wurde. Aber sie muckten nie auf, weil Ilona ihnen leid tat. Denn mit neunundzwanzig Jahren sich nur mühsam vorwärtsbewegen können, vielleicht gar bis zum Lebensende, das war schon etwas, das tiefe Tragik in sich barg. Es verging kaum ein Tag, an dem Ilonas Eltern nicht an ihren Schwiegersohn schrieben, ihn beschworen, Kapazitäten mit der Behandlung der »heißgeliebten Tochter« zu betrauen. Dazu schickten sie Geld, viel Geld, doch sie selbst ließen sich nicht im Hadebrecht-Haus blicken. »Schofles Pack!« schimpfte Philipp, während sich beim Anblick des Sohnes sein Herz schmerzend zusammenzog.

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Müde und blaß sah Eike aus, wie um Jahre gealtert. Der hatte schon sein Päckchen zu tragen, der arme Kerl! Das Schlimmste war, daß man es ihm nicht erleichtern konnte. Von alledem ahnten Frau Ottilie und Silje nichts. Sie lebten in dem Badeort wie in einem Paradies dahin. Fragten nicht nach heute und morgen. Ließen sich treiben wie Menschen, denen jede Sorge fernlag. Wie Kletten hingen sie aneinander, die alternde Frau und das bezaubernde junge Menschenkind, dem so mancher Männerblick aufleuchtend folgte. Doch das bemerkte Silje Berledes nicht. Sie widmete sich ganz ihrer Schutzbefohlenen, die mit jedem Tag wohler und vergnügter wurde. Und als der sie betreuende Arzt verkündete, daß sie nun wieder ganz auf der Höhe wäre, sah sie ihn ungläubig an. »Wirklich, Herr Doktor, fehlt mir bestimmt nichts mehr?« forschte sie mißtrauisch, und er lachte. »Wirklich, gnädige Frau. Sie haben sich in den fünf Wochen hier ganz prächtig erholt und könnten, wenn Sie wollten, Bäume aus der Erde reißen. Aber lassen Sie das gnädige Fräulein nicht mehr von Ihrer Seite, das in seiner herzbezwingenden Fröhlichkeit wie ein Jungquell auf Sie wirkt.« Nun, das hatte Frau Ottilie auch gar nicht vor. So trafen sie im Hadebrecht-Haus ein, wo sie erst jetzt von dem Unfall Ilonas erfuhren. Man hatte ihn absichtlich verschwiegen, um die Erholung der Genesenden nicht zu beeinträchtigen. »Schade«, meinte Ottilie bedauernd. »Ich habe mir das Nachhausekommen glückhafter vorgestellt. Ist es denn wirklich so arg mit Ilona?« »Sieh sie dir an, Mutter«, entgegnete Eike bedrückt, was sie denn auch tat. Ihr Herz zog sich beim Anblick der Verletzten zusammen, aber nicht Ilonas wegen allein, sondern auch um des Sohnes willen, der nun vielleicht sein Leben lang an eine leidende Frau gebunden war. Denn daß er diese nicht aufgeben würde, wußte die Mutter genau. Das vertrug sich

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nicht mit seinen unerschütterlichen Ehrbegriffen. Mit Frau Ottilie war eine Wandlung vorgegangen, die ihre Angehörigen zuerst kaum fassen konnten. Zwar war sie auch jetzt noch nicht lebhaft, aber doch nicht mehr so still und gottergeben wie früher. »Muttchen, wie du jetzt bist, könntest du mir wieder so gut gefallen wie einst im Mai«, gestand der Gatte schmunzelnd, als man an einem Abend beisammensaß. »Ordentlich jung bist du geworden.« »Jetzt bin ich auch wieder gesund«, entgegnete sie froh. »Der Arzt meint, die Krankheit hätte schon lange in mir gesteckt. Es ist ein Segen für mich, daß sie endlich ausbrach und mit dem hohen Fieber der Körper alles Krankhafte ausstieß. Die Kur hat noch ein übriges getan – na, und dann wollen wir meinen ›Jungquell‹ nicht vergessen!« nickte sie Silje herzlich zu, die auf ihre Bitte jetzt auch außer den Mahlzeiten im Familienkreis weilte. Ottilie war sogar mit Philchen in Streit geraten, als diese dagegen protestierte, daß die Schwägerin »ihre Silje« jetzt so ausgiebig mit Beschlag belegte. Darüber amüsierten sich die beiden Herren. Thea war erbittert, daß jetzt auch die Mama so ein Aufhebens von dem »fremden Mädchen« machte, und Ilona hielt sich nervös die Ohren zu. »Laßt doch den Streit um dieses dumme Ding!« verlangte sie ungehalten. »Nehmt gefälligst Rücksicht auf mich, ihr wißt doch, daß ich mich nicht aufregen darf!« Man unterließ die Frage, warum sie sich eigentlich aufrege, eben weil man Rücksicht auf sie nahm. Viel zu sehr sogar. Und als Ilona erst merkte, wie geduldig man ihr gegenüber war, kam sie sich als Hauptperson vor und maßte sich auch die Rechte einer solchen an. Verlangte, daß sich in diesem Haus alles um sie drehte. Sofern ihr etwas nicht paßte, verfiel sie in Weinkrämpfe, bei denen man leider niemals feststellen konnte, ob sie echt waren oder nicht. Man atmete jedesmal befreit auf, wenn Eike sie nach oben trug und sie dort der Pflegerin übergab, die sehr gut mit

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ihrem Pflegling fertig wurde, weil an ihrer unerschütterlichen Ruhe jede Hysterie wirkungslos abprallte. Die geplagten Menschen fragten sich immer wieder, wie das einmal enden sollte. Lange, das wußten sie, würden sie diese Tyrannei der Kranken nicht mehr aushalten. Hauptsächlich Eike nicht, der immer müder und blasser wurde. Er hatte ja auch am ärgsten unter der Herrschsucht und Niedertracht seiner Frau zu leiden. Den Rat des Arztes zu befolgen und sie in eine Klinik zu geben, wagte er nicht. Vielleicht war sie doch kränker, als man annahm, und es könnte ihren Tod bedeuten, wenn sie trotz ihres heftigen Sträubens aus dem Hause gebracht wurde; und dann müßte er sich sein Leben lang mit Vorwürfen plagen. Und da seine Angehörigen die gleiche Befürchtung hegten, blieb alles so, wie es war. So herrschte Ilona denn auch wieder einmal an einem Sonnabendnachmittag wie ein böser Geist in der geplagten Familie. Draußen lachte die Sonne; denn es war mittlerweile Frühling geworden. Gern hätte man die Tür, die zur Terrasse führte, geöffnet, doch damit war Ilona nicht einverstanden. Sie führte gehässige Reden, daß es dem Herrn Gemahl wohl so passen würde, wenn sie sich in der Zugluft den Tod holte – dann wäre er endlich frei für eine andere, die schon lange die Angel nach ihm auswürfe. Dabei sah sie Silje so höhnisch an, daß diese bis in die Lippen erblaßte, und genauso blaß wurde das rassige Männerantlitz. Doch damit brachte Ilona das Maß ihrer Niedertracht zum Überlaufen. Das Gesicht des Seniors lief rot an, die Adern lagen dick auf der Stirn, die Augen blitzten unter den buschigen Brauen hervor. Doch ehe das Gewitter noch losbrechen konnte, hatte Ilona schon ein neues Opfer gefunden, an dem sie ihre Wut auslassen konnte. Und zwar Anka, die neben Ute auf dem Teppich saß, unglückseligerweise in Reichweite von Ilona. Es war gewiß nicht böse gemeint, als die Kleine dem

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Bäschen das Bilderbuch aus den Händen nahm; im Gegenteil, sie wollte Ute etwas erklären. Doch ehe sie dazu kommen konnte, hatte Ilona sie bei den Haaren gefaßt, zu sich herangezogen und schlug mit der Faust in das zarte Gesicht. »Ich werde es dir schon abgewöhnen, mein Kind zu tyrannisieren, du unleidliches Gör!« kreischte sie dabei wie eine Furie. Sekundenlang saßen alle wie erstarrt da, selbst Anka vergaß vor Schreck zu schreien. Sie flüchtete zur Mutter, während Ute, der Silje am nächsten saß, bei dieser Schutz suchte. Sie kletterte flink auf ihren Schoß, umklammerte ihren Hals und sah aus schreckgeweiteten Augen zur Mutter hin, die jetzt außer sich vor Wut schrie: »Sofort lassen Sie mein Kind los – Sie – Sie – « Weiter kam sie nicht, weil sich eine feste Männerhand auf ihren Mund legte. Eike ließ auch nicht los, als die wie rasend gewordene Frau hineinbiß und mit den Armen um sich schlug. Doch das half ihr alles nichts. Ehe sie sich versah, hatte der Gatte sie schon gepackt und hielt sie dabei so fest, daß sie sich nicht rühren konnte. Allerdings hatte sie jetzt den Mund wieder frei, den sie aufriß, um ihren Mann zu beschimpfen, während er sie hinaustrug. Blaß bis in die Lippen, starrten die Zurückbleibenden ihnen nach. Selbst Philchen, die doch nicht so leicht zu erschüttern war, zitterte an allen Gliedern. Sie war die erste, die sprechen konnte; allerdings wollte ihr die Stimme dabei kaum gehorchen. »Das mach ich nicht mehr länger mit, und Silje auch nicht. Die Frau wird ja direkt gemeingefährlich! Am besten ist, Eike bringt sie ins Irrenhaus.« »Wohin sie auch gehört«, knurrte ihr Bruder verbissen. »Ich muß dem Jungen beispringen, der mit der Furie allein bestimmt nicht fertig wird.« Damit eilte er davon, und Thea weinte auf. Und diesmal mit Recht, denn das Gesichtchen ihrer Tochter sah böse

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aus. Das eine Auge war dick angeschwollen. »Mein armes Kind, wie siehst du nur aus! Man müßte die tobsüchtige Person wegen Kindesmißhandlung anzeigen. Aber das sage ich, wenn sie nicht bald aus dem Haus kommt, dann gehe ich! Man ist ja hier seines Lebens nicht mehr sicher.« Das jammerte sie auch Vater und Bruder vor, als diese bald darauf wieder eintraten. Sie sahen beide blaß aus, und quer auf der Wange Eikes klebte ein Leukoplaststreifen. Seine Haltung hatte etwas Müdes, Verzweiflungsvolles, als er sich in den Sessel sinken ließ. Seine Hand, mit der er das Feuerzeug gegen die Zigarette hielt, zitterte heftig. »Junge, deine Hand blutet ja!« bemerkte die Mutter leise, doch er winkte müde ab. »Das ist nicht so schlimm, das passiert mir nicht zum ersten Mal«, entgegnete er bitter. »Hör auf zu jammern, Thea, ich kann das jetzt nicht ertragen.« »Ach so, aber ich soll es ertragen können, wenn man mein Kind halbtot schlägt.« »Laß das jetzt!« fuhr der Vater sie an, was sie denn auch tiefgekränkt tat. »Ich habe Dr. Tolk angerufen und ihn gebeten, noch heute herzukommen, was er auch versprach. Ich fürchte nur, daß der Nervenarzt mit Ilona nichts wird anfangen können, weil diese Art von Krankheit nicht in sein Ressort fällt. Er kann wohl Nerven heilen, aber keine chronische Niedertracht.« Und tatsächlich bestätigte der Arzt, der schon wenige Stunden später eingetroffen war und Ilona gründlich untersucht hatte, für diesen Fall nicht kompetent zu sein. Er würde den Angehörigen den guten Rat geben, diese unbeherrschte und launenhafte Dame nicht im Hause zu behalten, sondern sie von einer Kapazität an Ort und Stelle behandeln zu lassen. Ob sie schon etwas von Professor Lutz gehört hätten? »Selbstverständlich«, entgegnete Eike. »Es ist mir jedoch trotz aller Bemühungen nicht gelungen, den berühmten Arzt zu konsultieren.«

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»Nun, das ist bei dem Vielbeschäftigten auch nicht so einfach«, gab Tolk zu bedenken. »Aber da er ein Freund von mir ist, wird er mir wohl den Gefallen tun und sich die Kranke hier ansehen. Und wenn er sie in seiner Klinik aufnehmen will, können wir froh sein, denn dann ist die Garantie für eine Heilung gegeben.« »Ich fürchte nur, daß meine Frau nicht zu bewegen sein wird, von Hause fortzugehen«, meinte Eike. Aber der andere lachte. »Wenn das Ihre ganze Sorge ist, kann ich Sie davon befreien. Professor Lutz wird auch mit den widerspenstigen Patienten fertig, er behandelt sie ganz individuell. Zwar könnte ich Ihnen jetzt schon sagen, Herr Hadebrecht, wozu er Ihnen nach der Heilung Ihrer Gattin raten wird, aber ich will ihm nicht vorgreifen«, setzte er schmunzelnd hinzu. Dann verabschiedete er sich eilig, weil seine Zeit knapp bemessen war. Und tatsächlich erschien am nächsten Tag Professor Lutz im Hadebrecht-Haus und flößte den bangenden Menschen dort schon durch sein bloßes Erscheinen Vertrauen ein. Er war von unscheinbarer Gestalt, hatte jedoch ein kluges Gesicht und gütige Augen, die aber zu gegebener Zeit scharf und streng blicken konnten. Er ließ sich von Eike den Hergang und Verlauf der Krankheit schildern, hörte auch die letzte Begebenheit mit an und sagte dann ruhig: »Das scheint hier ein Fall von ganz besonderer Unbeherrschtheit und Launenhaftigkeit zu sein. Sie und Ihre Angehörigen sind wahrscheinlich zu ängstlich, um dem energisch entgegenzutreten. Sie lassen sich lieber tyrannisieren und peinigen bis aufs Blut. Nun, ich will mir diese verwöhnte Dame einmal ansehen, und wenn es lohnt, nehme ich sie mit. Das heißt, wenn Sie damit einverstanden sind.« »Ich schon, Herr Professor. Aber meine Frau wird bestimmt nicht mit Ihnen kommen.« »Da haben wir’s!« lachte Lutz. »Mein lieber Freund, wer viel

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fragt, kriegt viel Antwort. Sie sollen mal sehen, wie vergnügt Ihre Gattin mit mir losgondeln wird! Oder haben Sie Bedenken, daß ich da Mittel anwenden könnte.« »Aber keineswegs!« unterbrach Eike ihn rasch. »Ich habe sogar das größte Vertrauen zu Ihnen, Herr Professor. Übernehmen Sie bitte die Behandlung meiner Frau.« Wenig später betraten sie dann das Zimmer, wo Ilona ihnen mit vor Mißtrauen funkelnden Augen entgegensah. »Sind Sie etwa ein Arzt?« fragte sie böse. »Ich bin so frei, meine Gnädigste. Mein Name ist Lutz.« »Na, wenn schon. Gehen Sie, ich lasse mich nicht wieder untersuchen.« »Wer sagt Ihnen denn, daß ich das will?« lachte der Arzt sie freundlich an. »Ich sehe auch so, was Ihnen fehlt.« »Und das wäre?« »Eine kleine Salonkur in meiner Klinik. Denn ein Mensch, der so lustig in dem Sessel herumhampeln kann, bei dem ist das Rückgrat allenfalls geschwächt, aber bestimmt nicht beschädigt. Wollen wir wetten, daß wir beide nach gar nicht mal so langer Zeit einen flotten Boogie-Woogie zusammen tanzen?« »Oh, mein Gott, das werde ich nicht mehr können – nie mehr!« schrie sie hysterisch auf. »Ich bin ein erbarmungswürdiges Opfer des Schicksals. Geben Sie mir lieber Gift!« »Das könnte Ihnen so passen!« lachte er gemütlich. »Und nun geben Sie hier nicht so an, meine Gnädigste, damit machen Sie sich nur lächerlich und fallen Ihren Mitmenschen auf die Nerven. Seien Sie hübsch friedlich, und kommen Sie mit mir. Sie sollen mal sehen, wie glänzend wir beide uns vertragen werden!« »Nein, ich geh nicht mit Ihnen. Lassen Sie mich in Ruhe!« »Bitte sehr, ganz wie Sie wünschen«, entgegnete er. »Meinetwegen bleiben Sie hier sitzen. Nur, daß Sie bald den Sessel mit dem Rollstuhl vertauschen müssen.« Damit schien der erfahrene Arzt sozusagen den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben. Denn Ilona wurde zugänglich

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– und er frohlockte. Er ließ davon jedoch nichts merken und erreichte dann auch mit allerlei Schlichen und Listen, daß die zuerst so mißtrauische Frau langsam Vertrauen zu ihm faßte. Schließlich erklärte sie sich gnädigst damit einverstanden, mit ihm in seine Klinik zu fahren. Am Abend dieses ereignisreichen Tages saß man im Hadebrecht-Haus seit langer Zeit wieder einmal geruhsam zusammen. Man konnte es noch gar nicht fassen, daß man vor dem »kleinen Satan«, wie Philipp seine Schwiegertochter grimmig benannte, nun endlich Ruhe haben sollte. Mitleidig betrachtete man Eike, der wie ein alter Mann wirkte mit der müden Haltung, dem verhärmten Gesicht und den umflorten Augen. Wahrlich kein Wunder, da er bisher keine Nacht ruhig hatte schlafen können, weil eben dieser kleine Satan ihn auch dann mit Befehlen hin und her gehetzt hatte. »Spann für einige Zeit aus, mein Junge«, riet der Vater gütig. »Reise dahin, wo du dich von deinem Martyrium so richtig erholen kannst. Es ist kaum zu glauben, daß ein einziger Mensch es zuwege bringt, seine ganze Umgebung schachmatt zu kriegen. Aber ich sage euch, wenn Ilona zurückkommt, lassen wir uns nicht mehr von ihr tyrannisieren, ob sie gesund ist oder nicht. Dann werden wir ihr mal ganz gehörig die Zähne zeigen. Erst aber mal ab mit dir, mein Sohn! Damit du wieder der alte schneidige Kerl wirst.« »Dazu fehlt mir nur einige Nächte lang fester, ungestörter Schlaf, Vater. Trotzdem will ich deinen Rat befolgen und verreisen. Schon allein deshalb, damit ich den Besuchen bei meiner Frau, zu denen ich ja wohl verpflichtet bin, entgehen kann. Also, wenn sie Sehnsucht nach mir haben sollte«, setzte er mit ironischem Lächeln hinzu, »so laßt ihr den Bescheid zugehen, daß ich mich mal eine Weile von ihrer holden Gegenwart erholen möchte.« So reiste Eike denn am nächsten Tag ab. Und kaum, daß er weg war, kam auch schon ein Anruf von der Klinik.

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Tatsächlich sagte eine Schwester, daß Frau Hadebrecht große Sehnsucht nach dem Gatten hätte und ihn voll Ungeduld erwartete. Philipp, der das Gespräch entgegennahm, schmunzelte, als er Bescheid gab. »Dann sagen Sie nur meiner Schwiegertochter, sie möchte ihre Sehnsucht bezähmen; denn mein Sohn ist auf unabsehbare Zeit verreist. Ihm sind die Sehnsüchte seiner Frau nämlich so auf die Nerven gefallen, daß sie dringender Erholung bedürfen.« An dem Lachen am anderen Ende der Leitung merkte er, daß die Schwester ihn sehr gut verstanden hatte. Als er den Seinen von diesem Gespräch erzählte, gab es wieder einmal seit langer Zeit unbeschwertes Lachen. Wie froh war man doch, die Tyrannin nicht mehr im Hause zu haben! Daß sie sich um ihr Ergehen nicht allzusehr sorgten, war ihnen gewiß nicht zu verdenken. Und dann tauchte auch wieder Mannerchen auf, um sich nach dem Ergehen der lieben Familie Hadebrecht zu erkundigen. Er hatte nämlich gehört, daß Ilona in der Klinik und somit nicht mehr dicke Luft im Hause wäre. Wem der Besuch hauptsächlich galt, darüber war man sich natürlich klar. Das verrieten schon die strahlenden Augen Mannerchens, mit denen er seines Herzens Schwarm anhimmelte. Er hatte ja auch gar zu lange auf den holden Anblick verzichten müssen, da Silje erst wochenlang Frau Ottilie gepflegt hatte, dann mit ihr im Bad war und auch nach ihrer Rückkehr für ihn unsichtbar blieb, weil sie seine Gesellschaft gewiß nicht suchte. Und die ihre zu suchen, wagte Mannerchen so lange nicht, weil im Hadebrecht-Haus der Teufel los wäre, wie man sich unter den Bekannten erzählte. Zuerst hatte er immer noch gehofft, Silje bei der Hochzeit Bärbels zu sehen, die Anfang März im Hause Balduin stattfand. Aber niemand von den Hadebrechts war dazu erschienen; man hatte wegen Ilonas Erkrankung abgesagt. Aber jetzt war die Luft rein, und es verging kaum ein Tag,

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an dem Mannerchen nicht erschien. Immer unter irgendeinem Vorwand, der die Familie Hadebrecht schmunzeln ließ. Aber als er gar begann, Silje sogar vom Dienst abzuholen, wurde es dieser denn doch zu bunt. »Was mach ich bloß mit diesem aufdringlichen Menschen?« sagte sie eines Abends im Familienkreis ungehalten. »Ich kann ihn so schlecht behandeln, wie ich will, er wankt und weicht einfach nicht mehr von meiner Seite. Fräulein Luischen neckt mich bereits mit meinem hartnäckigen Verehrer, und das junge Ehepaar Tarknitt, das ich heute traf, fragte mich lachend, wann sie zur Verlobung erscheinen dürften. Und nun lacht ihr mich auch noch aus! Ist das etwa nett von euch?« »Aber Kindchen, so viel treue Anhänglichkeit müßte dich doch rühren statt empören!« zwinkerte der Vormund ihr verschmitzt zu, und da wurde sie böse. »Nun gut, man immer weiter so! Mach mir aber bitte keine Vorwürfe, wenn du dich meinetwegen mit Familie Seifling entzweien wirst. Und das geschieht unter Garantie, sofern ich dem lieben Söhnchen einen Korb geben werde.« »Ei verflixt«, kratzte der Senior sich jetzt den Kopf. »Das bekämst du wirklich fertig, Marjellchen?« »Und wie! Daher versuche diese Ungeheuerlichkeit abzubiegen, indem du ein ernstes Wort mit dem jungen Seifling sprichst. Ihm klarmachst, daß er erst gar nicht um mich anhalten soll, weil ich ihn dann abweisen müßte. Dann bleibt ihm eine Beschämung erspart, und seine Eltern brauchen erst gar nicht zu erfahren, daß er sich um mich bewarb.« »Ja, Kind, wie denkst du dir das eigentlich?« wurde der Vormund jetzt ernst. »Einem Verliebten Vernunft predigen, hieße Wasser mit Sieben schöpfen.« »Ach was, verliebt!« tat sie verächtlich ab. »Du sollst mal sehen, wie seine Verliebtheit mit einem Schlag geheilt ist, wenn du ihm sagst, daß ich arm wie eine Kirchenmaus bin. Er bildet sich nämlich ein, daß du mich aussteuern wirst –

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und zwar gut und reichlich. Er will von meiner Mitgift sogar ein Haus bauen.« »Hat er das gesagt?« fragte Philipp kurz dazwischen. »O ja, er genierte sich durchaus nicht.« »Demnach hat er dir bereits einen Heiratsantrag gemacht?« »Nein, das nicht. Nur angedeutet, daß es demnächst geschehen würde. Er müßte sich dazu erst die Erlaubnis seiner Eltern einholen.« »Na, da soll doch dieser und jener!« schalt der Mann jetzt aufgebracht. »Na, warte, Bürschchen, dich knöpfe ich mir vor! Werde ihm zu verstehen geben, daß ich gar nicht abgeneigt wäre, meinem Mündel ein Haus zu bauen, das er jedoch nie beziehen wird.« So geschah es denn auch. Ganz gehörig machte der empörte Mann dem o-beinigen Seifling seinen Standpunkt klar. Kläglich bekannte dieser, daß er Silje Berledes wirklich liebte und sie bestimmt auch ohne Mitgift heiraten würde. Aber seine Eltern wären doch nun mal auf eine reiche Schwiegertochter aus. »Dann bringen Sie ihnen diese in Gottes Namen, aber mein Mündel lassen Sie fortan ungeschoren, verstanden? Das hat der liebe Gott für einen ganz anderen Mann erschaffen, nicht für so einen armseligen Mitgiftjäger!« Er war immer noch empört, als er den Seinen diese Unterredung wortgetreu wiedergab, fiel dann jedoch in ihr herzliches Lachen ein. »Ach, was bin ich bloß froh, daß ich diesen Hampelmann endlich los bin!« sagte Silje inbrünstig. »Ich danke dir auch für deine energische Mithilfe von ganzem Herzen, Onkel Philipp!« »Bitte sehr«, schmunzelte er. »Wenn du wieder mal Bedarf hast stehe ich gern zur Verfügung.« Fortan ließ Mannerchen sich nicht mehr blicken, was bestimmt keinem weh tat. Dafür erschien jedoch ein anderer Mann im Hadebrecht-Haus, um eine alte Freundschaft zu erneuern – und zwar mit Thea. Er war ein Freund ihres verstorbenen Mannes gewesen und hatte in

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seinem Haus viel verkehrt. Bis die große Buchhandlung, der er als Geschäftsführer vorstand, pleite machte und Herr Reinhold Nargitt sich einen neuen Wirkungskreis suchen und dazu in eine andere Stadt übersiedeln mußte. Seitdem hatte Thea nichts mehr von ihm gehört. Und nun stand er plötzlich da und erzählte freudestrahlend, daß er die guteingeführte Buchhandlung in dieser Stadt gekauft hätte, wozu ihm eine Erbschaft verhalf. »Na, das ist mal eine köstliche Überraschung!« Thea war vor Freude ganz aus dem Häuschen. »Lassen Sie sich mit den Meinen bekannt machen, lieber Reinhold.« Zufällig waren alle Familienmitglieder, außer Ilona und Eike natürlich, versammelt und lernten nun den Mann kennen, von dem Thea schon so viel geschwärmt hatte. Demnach mußten alle guten Eigenschaften in ihm vereint sein; und er machte auch wirklich einen sympathischen Eindruck. Er gefiel den Hadebrechts, und Frau Ottilie lud ihn gleich zum Abendessen ein, was er erfreut annahm. Man merkte ihm an, wie wohl er sich hier fühlte. Und Theachen – nun, die schwebte sozusagen im siebenten Himmel. Als er sich verabschiedete, wurde er zum Wiederkommen gebeten, was er auch eifrig versprach. »Na, Thea«, schmunzelte der Vater, »du hast ja richtige Weihnachtsaugen!« »Sie strahlen mir aus dem Herzen heraus«, entgegnete sie theatralisch, weil sie das nun einmal nicht lassen konnte. »Denn Reinhold hat mir einmal gesagt, daß ich für ihn das Ideal einer Frau wäre. Er ist ja so ein feiner Mensch, ein Idealist und Ästhet.« »Na, na, mein Kind, man immer hübsch auf dem Erdboden bleiben«, unterbrach der Vater sie, ein wenig peinlich berührt. »Mach dir nicht zu viele Hoffnungen, sonst ist die Enttäuschung hinterher wieder groß.« »Woran du auch immer gleich denkst, Papa!« tat sie

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verschämt. »Ich freue mich doch nur, in Reinhold einen alten lieben Bekannten wiedergefunden zu haben.« »Na, dann ist ja alles in schönster Ordnung«, brummte er, gleich den anderen daran denkend, was Philchen damals sagte: Thea kann auf Kommando lieben und leiden. »Werden wir leben, werden wir sehen«, sagte er aus diesem Gedankengang heraus. »Aber jetzt gehen wir erst mal schlafen, ich bin verflixt müde. Der Junge fehlt mir im Betrieb an allen Ecken und Enden. Seit er fort ist, merke ich erst, was er geleistet hat. Einesteils gönne ich ihm die Ausspannung von ganzem Herzen, andererseits wünschte ich, er wäre erst wieder hier.« In dem Moment schlug der Fernsprecher an. Philchen, die am nächsten saß, nahm den Hörer ab und meldete sich. »Ach, du bist es, Ilona?« tat sie gleich darauf erstaunt. »Eike – nein, der ist noch nicht von seiner Reise zurück. Stimmt, drei Wochen ist er fort, aber er wird es bestimmt noch dreimal solange bleiben müssen, weil der Nervenarzt es für seine Kur notwendig hält. Männer dürfen keine Nerven haben? Mein liebes Kind, sie sind doch schließlich keine Büffel. Und wie geht es dir? Miserabel? Das tut mir aber leid. Schon’ dich nur, und komm’ um Himmels willen nicht zu früh nach Hause! Was ich damit meine? Selbstverständlich meine ich es nur gut mit dir… Sie hat den Hörer aufgeknallt«, legte Philchen nun den ihren in die Gabel und lachte dabei mit den anderen. »Na, Philchen, du kannst aber fein schwindeln!« meinte der Bruder anerkennend. »Aber gut so, behalten wir die dreimal drei Wochen bei – auch wenn Eike dann wahrscheinlich schon längst hier ist. Verleugnen wir ihn einfach.« »Und wenn Ilona nach Hause kommt und Eike vorfindet?« gab Frau Ottilie zu bedenken. »Dann können wir uns auf etwas gefaßt machen. Mir graut schon jetzt davor.« »Oder sie wird das Grauen kriegen, weil wir ihr allesamt gehörig die Zähne zeigen werden«, entgegnete Philipp

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verbissen. »Und wenn ihr das nicht paßt, dann mag sie sich zum roten Kuckuck scheren!« Ruhe und Friede atmete der herrliche Maiabend, und Ruhe und Friede herrschten auch unter den Menschen, die im Hadebrecht-Haus auf der Terrasse saßen und andächtig dem Spiel lauschten, das aus dem Zimmer zart und süß zu ihnen herüberklang. Denn dort spielte Silje Berledes auf der kostbaren Geige des Meisters Thomas Brecht, und Philchen gab auf dem Flügel die Begleitung dazu. Das war ein Genuß, auf den man nicht mehr verzichten wollte, seitdem man wußte, welch eine begabte Schülerin des Meisters die junge Silje gewesen war, und wie gut Philchen sich dem fast künstlerischen Spiel anzupassen vermochte. Abends verlangte man stürmisch ein kleines Konzert. Selbst Thea machte da mit, was sie noch vor drei Wochen gewiß nicht getan hätte. Da hätte sie dem »fremden Mädchen« das Talent bestimmt mißgönnt. Doch seitdem Reinhold Nargitt erneut in ihr Leben getreten war, befand sie sich in einer Stimmung, in der sie selbst ihrem ärgsten Feind alles Gute gegönnt hätte. Und warum auch nicht? Sie war glücklich. Erst einmal, weil der Mann, den sie liebte, ihr Gefühl zu erwidern schien. Gesagt hatte er es ihr allerdings noch nicht. Dazu war ein Junggeselle von vierzig Jahren, der dem Leben außerdem noch so unbeholfen gegenüberstand wie dieser Mann, nicht so schnell bereit. In dem mußte ein so schwerwiegender Entschluß erst langsam ausreifen. In den drei Wochen, seitdem er Thea wiedergesehen hatte, war kaum ein Tag vergangen, an dem er nicht als gerngesehener Gast ins Hadebrecht-Haus kam. Es war ihm sogar gelungen, das Mißtrauen, das ihm die aufgeweckte Anka zuerst entgegenbrachte, zu bekämpfen, was deren Mutter sehr beglückte. Aber wer weiß, wie lange der unbeholfene Mann noch gezögert hätte, wenn ihn nicht die weiche, zärtliche Stimmung, die über diesem Abend lag, wie unter einem

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Zwang hätte handeln lassen. Langsam versank der rote Sonnenball hinter dem Horizont, den Himmel ringsum in Farben tauchend, wie sie keine Meisterhand hätte auf die Leinwand bannen können. Süß dufteten die Frühlingsblumen von den Beeten, die Vogelstimmen klangen schon müde und verträumt, und aus dem Zimmer tönte zart und feierlich das Largo von Händel, das die Menschen wie ein Zauber einspann. Ihre Herzen öffneten sich weit. Und aus diesem Gefühl heraus griff Reinhold Nargitt behutsam nach der Hand Theas, die neben ihm saß. Langsam wandte sie den Kopf, sah in die guten Männeraugen hinein, und zwei Herzen strebten einander zu. Die anderen lächelten und ließen sich dann weiter von der traumhaften Musik einspinnen. Sie konnten von der Terrasse aus den Mann nicht bemerken, der langsam über die dicken Teppiche schritt, sich dann gegen den Rahmen der breiten Flügeltür lehnte und unverwandt auf die Geigerin schaute. Aus Siljes feinem Antlitz sahen die Augen träumend ins Weite, um den Mund lag ein Lächeln von sinnverwirrender Süße, die lichtbraunen Locken gleißten, als wären Sonnenfunken darübergestreut. Mit schönheitsdurstigen Augen nahm der Mann das zauberhafte Bild in sich auf, sein Ohr erlauschte entzückt die wundersamen Klänge. Das war ein glückhaftes Nachhausekommen – und wie ein glückhaftes Symbol für sein ferneres Leben. Jetzt schien der verträumte Blicke der Blauaugen etwas zu erfassen, was das holde Lächeln spitzbübisch werden ließ. Silje wandte sich Philchen zu, zeigte mit einer Kopfbewegung zu dem geöffneten Fenster hin – und nun schmunzelte auch Philchen beim Anblick des Paares, das mit glückstrahlenden Gesichtern Hand in Hand wie versunken dasaß. Ein kleines Zwischenspiel als Überleitung auf dem Klavier – eine innige Weise klang auf, die Geige

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setzte gleich darauf ein und als Krönung des Ganzen noch eine zärtliche Stimme: »Wenn sich zwei Herzen finden, so muß es für immer sein…« Auch sie bemerkten den Mann an der Tür nicht, da sie ihm den Rücken zuwandten. Erst als die herzinnige Weise verklang und er applaudierte, fuhren sie herum, starrten die hohe Männergestalt an – und dann schrie Philchen freudig auf: »Eike – Junge, welche wunderbare Überraschung!« Nun wurden auch die auf der Terrasse mobil. Im Nu war der Heimgekehrte umringt, bis auf Silje und Reinhold, die sich abseits hielten. Die konnte Eike erst begrüßen, nachdem sich der Freudensturm gelegt hatte. Als ihm Reinhold vorgestellt wurde, lachte er verschmitzt. »Ich glaube, da kann ich gleich meinen Schwager begrüßen. Habe ich recht?« »Und wie!« jubelte Thea. »Ach, Eike, ich bin ja so glücklich!« »Na also, Schwesterchen. Nur wissen möchte ich, wie du in den sechs Wochen, da ich fort war, zu einem Mann kommen konntest.« Man erzählte es ihm, nachdem man sich im Zimmer gemütlich niedergelassen hatte. Indes stieg der Hausherr in den Keller und griff nach dem Wein, den er sonst wie ein Zerberus hütete. Aber heute mußten schon einige Flaschen daran glauben, weil es ein doppeltes Fest zu feiern gab: Die Verlobung der Tochter und die Heimkehr des Sohnes. Fröhlich stieß man an, wobei die Damen bald einen kleinen Schwips bekamen; denn der Wein hatte es in sich. Frau Ottilie beteuerte immer wieder, wie glücklich sie wäre, ihren Jungen so frisch und wohl vor sich zu sehen. »Ganz wunderbar hast du dich erholt, mein Jungchen. Ach, wie sehr freue ich mich doch!«

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Dabei liefen ihr die hellen Tränen über die Wangen, aber es waren Freudentränen. Mit keinem Wort wurde Ilona erwähnt, weil man überhaupt nicht an sie dachte. Es war spät, als man sich trennte. Man hatte so richtig fröhlich gefeiert und begab sich jetzt zufrieden zur Ruhe. »Na, das hat mit Thea ja wunderbar geklappt!« meinte Philchen vergnügt, als sie oben mit Silje allein war. »Nun hat sie glücklich den zweiten Mann gefunden, mit dem sie in höheren Regionen schweben kann. Nur daß dieser nebenbei noch ein guter, anständiger Kerl ist, während der andere im Grunde genommen ein Lump war.« »Aber Philchen, du hast ja einen Schwips!« lachte Silje hellauf. »Sonst würdest du nicht solchen Unsinn reden.« »Einen Schwips habe ich wohl, aber Unsinn rede ich dennoch nicht. Na, lassen wir es, Thea ist jetzt wohlverwahrt und aufgehoben. Mir liegt Eike viel mehr am Herzen, weil ich um den Jungen bangen muß. Er ist jetzt so frisch, so vergnügt und ausgeruht. Doch sobald Ilona hier ist, geht wieder das alte Leiden los. Was meinst du wohl, wieviel Gift sie jetzt ansammelt, um es später mit frischer Kraft verspritzen zu können! Wenn er sein Kreuz nur loswerden könnte – aber das wird nicht so einfach sein.« »Meinst du des Kindes wegen, Philchen?« »Ach, woher denn!« winkte sie verächtlich ab. »Aus dem macht Ilona sich bestimmt nichts. Na, wir werden ja sehen. Um mit Thea zu sprechen: Jetzt lege ich mich erst einmal zum sanften Schlummer nieder.« »Ich auch«, lachte Silje fröhlich. »Gut, daß morgen Sonntag ist! Da kann ich mich gründlich ausschlafen.« Da hatte sie jedoch die Rechnung ohne Philchen gemacht. Denn am nächsten Morgen war es gerade erst acht Uhr, als das Mädchen aus süßen Träumen gerissen wurde. »Verschlafe hier gefälligst nicht den herrlichen Maimorgen, du Murmeltierchen! Das wäre ja direkt Sünde. Raus aus den Federn, auf der Terrasse frühstücken sie bereits.« »Ach, Philchen, laß mich doch schlafen!«

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»Nichts da! Das kannst du machen, wenn es draußen regnet. Und wenn du nicht in einer halben Stunde unten bist, gieße ich dir einen Eimer kaltes Wasser übern Kopf, das ermuntert unter Garantie.« Lachend verschwand sie, und schon zwanzig Minuten später erschien Silje auf der Terrasse – lachend, strahlend, wie der liebliche Maimorgen selbst. »Guten Morgen allerseits!« grüßte sie fröhlich, und der Senior schmunzelte. »Potztausend, Marjellchen, du siehst ja wie blankgeputzt aus! Und da erzählt uns Philchen, daß sie dich unter Androhung eines Eimer Wassers aus den Federn holen mußte. Demnach müßtest du doch jetzt verdrießlich sein.« »Sollte mir einfallen!« schnitt sie eine Grimasse und steckte dann das Naschen schnuppernd in die Rosen, die neben der Tochter des Hauses lagen. »Von ihm?« »Ja«, nickte die Gefragte stolz. »Es war für mich ein seliges Erwachen, als ich diese Boten der Liebe auf meiner Decke vorfand.« »Nanu, hat er sie Ihnen denn da hingelegt?« fragte Silje verdutzt und mußte sich von den anderen auslachen lassen. »Soweit kommt es noch!« schmunzelte der Senior. »Siehst du, mein munterer Zeisig, hättest du Mannerchens Flehen erhört, würdest du jetzt auch so rosenumnebelt erwachen.« »Warum ist es denn nicht so?« wollte Eike wissen. Als man es ihm erzählte, schmunzelte auch er. »Schau mal einer das Mannerchen an! Er ist bestimmt nicht ängstlich, das kann man wohl sagen.« Dabei lachte er, daß die kräftigen Zähne in dem braungebrannten Gesicht nur so blitzten. So froh wie jetzt hatte Silje den Mann noch nicht gesehen. Die Reise schien tatsächlich Wunder gewirkt zu haben. Nun traten auch die Kinder an der Hand Fräulein Hertas auf die Terrasse. Freudestrahlend kletterte Ute auf das Knie

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des Vaters, die molligen Händchen fuhren zärtlich über sein Gesicht. Dann machte sie es sich bequem und sagte zufrieden: »So is sön, so sitz is gut, und ihr andern könnt streiten.« »Das ist ja eine nette Aufforderung!« lachte der Großvater gleich den anderen herzlich. »Aber weißt du, Marjellchen, uns ist nach Streiten gar nicht zumute, wir mögen lieber friedlich sein.« »Das kann man aber nur, wenn Tante Ilona nicht dabei ist«, bemerkte Anka, die indes am Tisch Platz genommen hatte, in ihrer altklugen, bedächtigen Art. »Sonst ist nämlich hier der Teufel los.« »Anka!« rief die Mutter entsetzt, und die anderen schauten peinlich berührt drein. Rasch lenkte Philchen das Kind von dem gefährlichen Thema ab, indem sie fragte: »Du weißt doch sicherlich schon, daß du einen neuen Vater bekommst?« »Natürlich, das war das erste, was Mami mir heute früh erzählte. Ich bin auch ganz froh darüber. Denn ohne einen Mann, der zu einem gehört, ist doch das ganze Leben nichts.« Da mußte man denn doch über die kleine Philosophin lachen, zumal Ute das Däumchen aus dem Mund nahm und ernsthaft bestätigte: »Nein – is auch nix.« »Na, ihr seid vielleicht Gören!« schmunzelte der Großvater. »Noch nicht einmal richtig aus den Windeln, fangen sie schon an zu philosophieren.« »Ach ja«, seufzte Thea. »Reinhold findet Anka auch zu altklug. Er meint, es kommt daher, weil sie zuwenig mit Kindern zusammenkommt.« »Da hat er recht«, bestätigte der Vater. »Laß sie nicht privat unterrichten, sondern gib sie in die Schule.« »Ja, wenn Reinhold das auch meint…« Das wurde bei ihr fortan zur ständigen Redensart. Was Reinhold meinte, wurde getan, und was er nicht meinte,

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wurde unterlassen. Thea hatte sich überhaupt, seitdem das Glück sie heimgesucht, wie sie sich schwärmerisch ausdrückte, zu ihrem Vorteil verändert. Nur wachte sie nach wie vor mißtrauisch darüber, daß Silje, diesem »fremden Mädchen« nicht womöglich geldliche Zugeständnisse gemacht wurden, die auf ihre Kosten gingen. Aber da konnte sie beruhigt sein – was Silje verzehrte, das bezahlte sie nach wie vor. Und was Philchen ihrem Liebling zusteckte, konnte der Nichte egal sein, was die Tante dieser auch am nächsten Tag ausdrücklich klarmachte. »Aber, Tante Philchen, das entgeht mir doch alles!« beklagte sie sich bitter. »Ich kann doch nicht nackt in die Ehe gehen.« »Damit würdest du bestimmt öffentliches Ärgernis erregen«, bemerkte Philchen trocken, während Eike amüsiert lachte und die Mutter mißbilligend den Kopf schüttelte. »Setz dich da mit deinem Vater auseinander. Wenn er dir was geben will, ist es sein freier Wille. Denn deine Mitgift ist längst vertan, wie du ja wohl wissen wirst.« »Aber ich bin doch sein Kind! Wenn das fremde Mädchen schon verlangt, daß Papa ihm ein Haus baut…« »Wer verlangt das?« unterbrach Philchen sie jetzt ungehalten. »Silje womöglich? Ich denk, du hast ’nen Klaps. Der würde hier schon der Bissen im Hals stecken bleiben, wenn sie ihn nicht bezahlte. Jedenfalls verbitte ich mir ein für allemal, daß man mir hier Vorschriften macht! Ich kann mit meinem Geld machen, was ich will – Gott sei Dank!« »Oh, ich arme!« »Na eben, das haben wir schon lange nicht mehr gehört. Hoffentlich wirst du dich in deiner Ehe so benehmen, daß dein Reinhold nicht sagen muß: Oh, ich Armer!« Da stand Thea auf und wankte hinaus. Ganz wie zu jenen Zeiten, da das »Glück sie noch nicht heimgesucht hatte«. »Nun, Ottilie, willst du der gramgebeugten Tochter nicht

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nachwanken und mit ihr um die Wette über die unmögliche Philine jammern?« fragte diese lachend, doch die Schwägerin winkte ab. »O nein, denn ich bin mit Thea durchaus nicht eines Sinnes. Ich weiß gar nicht, woher das Kind diese – diese…« »Habgier«, half Philchen freundlich aus. »Nun, so kraß wollen wir es nicht bezeichnen. Es wird sich noch ein anderer Ausdruck dafür finden lassen.« »Kommt aber auf dasselbe heraus.« Sie mußten das Thema fallen lassen, weil der Hausherr zu ihnen trat, die es sich auf der Terrasse in den Liegestühlen Wohlsein ließen. Und nachdem auch er sich so einen bequemen Platz gewählt hatte, steckte er zuerst einmal sein Pfeifchen in Brand, legte sich behaglich zurück und sagte: »Diese Silje ist doch ein Mordsmarjellchen, bei dem man sich auf allerlei Überraschungen gefaßt machen muß. So auch heute. Ich stand am Fenster meines Arbeitszimmers, um das Pferd zu beäugen, das wir aus der Konkursmasse eines Gestüts übernehmen müssen. Zwar verstehe ich nichts von Pferden, aber daß dieses ein Rassetier war, konnte selbst ich feststellen. Und was soll ich euch sagen, kommt doch da unsere Silje des Weges, stutzt – und tritt dann an den Mann heran, der das Pferd brachte. Was sie miteinander sprachen, konnte ich nicht verstehen, aber ich konnte sehen, was anschließend geschah. Silje mit Eleganz in den Sattel – und schon preschte sie davon, daß einem Hören und Sehen verging. Ich nichts wie nach unten und mir diesen tollkühnen kleinen Racker vorgeknöpft. Er war schon ziemlich kleinlaut, als er aus dem Sattel rutschte, doch bei meiner Standpauke füllten sich die Augen mit Tränen. Ich möchte ihr um Himmels willen nicht böse sein, bettelte sie. Aber sie hätte beim Anblick des wunderbaren Pferdes nicht widerstehen können. Als ich sie fragte, ob sie denn überhaupt reiten könnte, da strahlten ihre Augen schon wieder. Natürlich, sie hätte ja schon als kleines Mädchen im Sattel gesessen. Und später,

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als mein Sohn ihr Paps wurde, erst recht. Er brauchte diese frischfröhlichen Ritte als Ausgleich für sein Künstlertum und war froh, in ihr eine Begleiterin zu finden. ›Mein Paps‹ – dieses scheint bei ihr ganz groß geschrieben zu werden. Also mag der Junge auch noch so ein Leichtsinn gewesen sein, seine Frau jedenfalls scheint er vergöttert zu haben und seine Stieftochter nicht minder. Sonst würde sie nicht so voller Liebe von ihm sprechen.« Verstohlen wischte er sich die Tränen aus den Augen, die Frau Ottilie ungehindert über die Wangen laufen ließ. Sekundenlang war es sehr still, bis Eike fragte: »Also wirst du das Pferd behalten, Vater?« »Ja. Ich möchte Silje damit eine Freude machen, bei der ich wegen Thomas schon tief genug in Schuld stecke. Warum lachst du denn so niederträchtig, Philine?« »Weil du dir mit dem Geschenk den Zorn deiner Tochter zuziehen würdest. Sie wacht ohnehin schon mit Argusaugen darüber, daß diesem ›fremden Mädchen‹ um Himmels willen nur keine Zugeständnisse gemacht werden, die auf ihre Kosten gehen könnten. Ich hatte nämlich, bevor du kamst, deswegen gerade eine kleine Debatte mit ihr. Sie meint, daß mein Geld ihr eher zukäme als eben diesem ›fremden Mädchen‹ weil sie verbrieft und versiegelt meine Nichte ist. Und wenn du als ihr leiblicher Vater diesem bemißgünstigten Mädchen ein Pferd schenkst, dann sehe ich schwarz.« »Da soll doch dieser und jener!« brauste der Bruder auf. »Soweit kommt das noch, daß man vor seinen eigenen Kindern Angst haben und ihnen über jeden Pfennig, den man besitzt, Rechenschaft ablegen muß! Thea hat das Erbe, das ihr zusteht, längst erhalten und von dem süchtigen Herrn Gemahl vergeuden lassen.« »Philipp«, mahnte die Gattin leise dazwischen, »das ist ja nun alles schon längst vorbei. Aber ich habe doch das kleine Vermögen, das ich aus dem Nachlaß meines Vaters erhielt. Damit werde ich schon sorgen, daß unsere Tochter nicht mit leeren Händen in die zweite Ehe geht. Und

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soweit ich dich kenne, wirst auch du dein Scherflein dazu beitragen.« »Scherflein ist gut!« brummte der Mann verdrossen. »Als ob unserer habgierigen Tochter damit gedient wäre! Bei der muß es immer gleich in die x-Tausende gehen, sonst ist es eine Lappalie. Und wenn sie da noch so Zetermordio schreit – das Pferd bekommt Silje doch!« »Hugh, ich habe gesprochen«, hätte man daruntersetzen können. Was man auch tat, weil des Herrn Wille nun mal Gottes Wille ist. Dieser Wille ward nun von Philchen kundgetan, als sie am Abend ihren Liebling für sich allein hatte. »Um Himmels willen!« hob Silje erschrocken die Hände. »Das würde ja einen Klamauk geben!« »Von wem denn, wenn ich fragen darf?« »Von deiner Nichte Thea. Die zählt mir sowieso schon jeden Bissen in den Mund, damit es ja nicht mehr werden, als ich bezahle. Und nun soll ich gar noch ein Pferd haben, das nicht nur gekauft werden muß, sondern darüber hinaus noch Kosten verursacht für Verpflegung und Betreuung. Und – dann überhaupt – wo gibt’s denn so was, daß eine Angestellte mit zweihundertvierzig Mark netto Monatsgehalt sich ein Reitpferd leisten kann? Da muß ich schon den beliebten Ausdruck zitieren, den Paps’ Reitknecht bei jeder brenzlichen Sache anzuwenden pflegte: Bliew mie vom Wocke!« »Schaf«, wandte Philichen ihren beliebten Ausdruck an. »Was schert es dich, wenn die mißgünstige Thea den Stift zur Hand nimmt und auf den Pfennig ausrechnet, was die Anschaffung und Unterhaltung deines Reitpferdes kostet? Die Kosten trage ich.« »Nein, Philchen, das darfst du nicht!« »Warum nicht? Soll ich denn gar keine Freude an meinem Geld haben, das ohne mein Zutun in die Kasse fließt, nur weil ich das Glück habe, als Tochter wohlhabender Eltern geboren zu sein? Bin ich nun dein vielgeliebtes Philchen oder nicht?«

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»Doch, sehr sogar – aber – « »Laß das Aber fort. Noch etwas?« »Philchen, ich besitze ja gar keinen Reitdreß«, wehrte das Mädchen sich jetzt mit dem Mut der Verzweiflung. »Den habe ich damals verkauft.« »Nun, warum sprichst du nicht weiter? Sag doch ruhig: Den habe ich verkauft, als mein Paps Pflege brauchte und ich doch so wenig Geld hatte.« »Und wenn schon. Was ich für meinen Paps tat, geht niemand etwas an. Es hätte viel mehr sein müssen, um die Liebe und Güte vergelten zu können, die er für seine Stieftochter hatte.« »So – und daß er durch seinen Leichtsinn das Erbe deiner Mutter und somit auch das deine verbrauchte? Blitz mich nicht so empört an, es ist nur eine Tatsache, die ich feststelle. Und Tatsachen soll man weder bemänteln noch verschweigen, wenn man Gerechtigkeitssinn besitzt. Und den besitzen wir Hadebrechts in vollem Maße. Allerdings lassen wir da auch immer noch das Herz mitsprechen, wenn es uns angebracht erscheint. Und nun komm her, mein stolzes Mädchen. Gib dich deiner alten Tante geschlagen, die so viel mehr Lebenserfahrung besitzt als du Grünschnäbelchen. Ach, du willst nicht? Du, ich enterbe dich, und was fängst du dann an?« Da war Silje wieder einmal besiegt. Lachend umhalste sie die Tante, die sie an sich drückte. Und das »Schaf-«, das sie dabei sagte, klang sehr, sehr zärtlich. Am nächsten Vormittag, als die Schwägerinnen auf der Terrasse saßen und handarbeiteten, platzte Thea in ihre Geruhsamkeit, hochrot im Gesicht. »Sag mal, Mama, ist es wahr, daß dieses fremde Mädchen von Papa ein Reitpferd geschenkt bekommen hat? Anka hat so etwas erlauscht.« »Aha«, warf Philchen trocken ein. »Daher weht der Wind! Hoffentlich wird dein Reinhold seiner Stieftochter die vorwitzigen Ohren stutzen. Aber sprich nur weiter.«

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»Tante Philine, daß du deine Spitzfindigkeiten doch nicht lassen kannst!« »Genausowenig wie du deine Mißgunst gegen das ›fremde Mädchen‹«, kam die Antwort prompt. »Aber damit du nicht länger um das herumzurätseln brauchst, was dir deine neunmalkluge Tochter zutrug, will ich dir verraten, daß ›das fremde Mädchen‹ wirklich seit gestern glückliche Besitzerin eines Reitpferdes ist.« »Aber mein Gott, das kostet doch Geld!« jammerte Thea dazwischen. »Das kann das Mädchen von seinem Gehalt doch unmöglich bezahlen. Stell dir mal vor, was ein Reitpferd selbst schon kostet, und dann die Unterhaltung noch dazu. Damit kann man ja ein Kind ernähren und kleiden. Anka hat so manches nötig, aber man kann doch nicht verlangen, daß ihr Stiefvater – « »Jetzt hör aber auf, Thea!« wurde das Gejammer nun selbst der nachsichtigen Mutter zuviel. »Für Anka zahle ich monatlich hundert Mark aus meiner Tasche, obwohl ich das gar nicht nötig habe. Denn ein Mann, der eine Witwe mit Kind heiratet, wird sich wohl denken können, daß er dieses Kind mit ernähren muß. Und soweit ich Reinhold beurteile, wird er das als selbstverständlich erachten. Nur deine Habgier, leider muß ich den krassen Ausdruck jetzt auch gebrauchen, sucht nach Gründen, um möglichst viel aus dem Portemonnaie deiner Eltern ziehen zu können.« »Aber Mama, welch eine vulgäre Bezeichnung!« »Ach was, vulgär oder nicht! Jedem Menschen reißt einmal die Geduld, und meine war doch wahrlich langmütig genug. Vater hat sich mit Reinhold schon längst geeinigt, der von seiner Großzügigkeit wirklich beschämt war. Und wenn ich dir einen guten Rat geben darf, dann zeige diesem wahrhaft anständigen Menschen nie deine Mißgunst. Das könnte ihn nämlich abstoßen und dein erwartetes Eheglück beeinträchtigen.« Man sagt den Menschen nach, daß sie manchmal vor Verblüffung den Mund zu schließen vergessen – und das war jetzt bei Thea tatsächlich der Fall. Was war denn

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plötzlich mit ihrer sanften, stillen Mutter los? In so geharnischter Stimmung hatte sie diese noch nie gesehen. »Mama, was ist dir denn geschehen?« fragte sie ängstlich. »So spricht eine Mutter doch nicht mit ihrem Kind! Und ich war dir immer eine gute Tochter.« »Ja, solange ich dir den Willen tat – und zwar aus Bequemlichkeit und Schwäche«, bemerkte Ottilie bitter. »Aber wenn jemand dem Tod so nahe war wie ich, und dieser gewährt einem denn doch noch eine Frist, dann lernt man das Leben mit anderen Augen ansehen. Vor allen Dingen lernt man Gericht halten über sein Tun und Lassen – auch Unterlassen. Das möchte ich nun nachholen, solange mir noch Zeit dazu bleibt. Und so möchte ich es nicht unterlassen, dir zu sagen, daß deine Mißgunst abstoßend wirkt. Kämpfe also gegen sie an.« Da ging Thea tiefgekränkt davon, und Philchen schmunzelte. »Ottichen, du fängst an, mir direkt zu imponieren. Man sagt wohl: Ein Mensch von sanftem Charakter macht sich selbst und andere glücklich – aber ich bin vielmehr der Ansicht, daß zuviel Sanftmut den Charakter der anderen verdirbt.« ’ »Ach, weißt du, Philchen, so forsch wie ich tat, war mir gar nicht zumute«, seufzte Ottilie. »Es will nämlich gelernt sein, den Menschen seine Meinung zu sagen, was ich bisher unterließ, um sie nicht zu kränken. Mir hat das vorhin weher getan als Thea, mit der ich bestimmt nicht immer einverstanden bin. Aber wie sagt Goethe in ›Hermann und Dorothea‹ ›Denn wir können die Kinder in unserem Sinne nicht formen; wie der Herr sie uns gab, muß man sie haben und lieben‹ – und danach habe ich mich immer gerichtet. Nun, wenigstens Eike ist ganz nach meinem Sinn geworden. Es ist nur ein Jammer, daß er sich mit der Ehe sein Leben so verpfuscht hat.« »Er kann es ja ändern, indem er einen dicken Strich darunter macht«, tröstete Philchen die betrübte

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Schwägerin. »Zwar wird es einen harten Kampf geben, aber er ist ja Manns genug, um ihn auszufechten.« »Du denkst an Scheidung, Philchen?« »Ja, Otti. Das heißt, wenn Ilona ganz gesund werden sollte. Im anderen Fall würde Eike ihr nie den Laufpaß geben. Das verträgt sich nicht mit seinen Ehrbegriffen.« »Und das Kind, Philchen? Kinder sind immer die Leidtragenden, wenn sich die Eltern scheiden lassen.« »Das trifft in diesem Fall gewiß nicht zu. Ute hat von ihrer Mutter so oder so nichts. Allerdings müßte sie dem Vater zugesprochen werden. Na, warten wir ab. Kommt Zeit, kommt Rat.« Während die beiden Damen sich über ungelegte Eier den Kopf zerbrachen, wie der Bauer zu sagen pflegt, saß Eike dem Professor Lutz gegenüber, der ihn schmunzelnd betrachtete. »Sie sehen gut aus, mein lieber Dr. Hadebrecht, so richtig erholt und ausgeruht. Ja, ja, solche Eheferien haben es in sich. Ich pflege sie oft geplagten Ehemännern zu verschreiben.« »Ein menschenfreundliches Rezept«, zeigte sich nun auch auf dem rassigen Männerantlitz ein Schmunzeln. »Und wie lange werden die für mich noch dauern?« »Einige Wochen bestimmt noch. Zwar geht es der holden Gattin erfreulich gut, aber ich möchte sie noch einige Zeit unter Beobachtung behalten. Sie fühlt sich ja auch recht wohl hier, seitdem sie mit einer Dame das Zimmer teilt, die genauso wie sie über die Rücksichtslosigkeit ihres Eheherrn empört ist. Da können sie sich gegenseitig ihr Leid klagen, und darüber vergeht die Zeit recht angenehm. Na, gleich und gleich gesellt sich eben gern.« »Sie meinen also, Herr Professor, daß meine Frau gesund wird?« »Unbedingt. Sie sollen mal sehen, wie wunderbar sie schon wieder auf den schlanken Beinchen steht. Nur die Sehnsucht nach dem ›Heißgeliebten‹ ist bisher ungestillt geblieben. Wollen Sie diese nun stillen?«

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»Mir schon recht«, lachte Eike da sein warmes, sonores Lachen, das dem Arzt, der in seiner Praxis selten so etwas zu hören bekam, wie Musik klang. »Und ich verspreche Ihnen, Ihre Patientin nicht aufzuregen.« »Das tut sie schon selber«, kam die Antwort so trocken, daß Eike wieder lachen mußte. Wenig später betrat er an der Seite des Professors ein Zimmer – und schon prasselte eine Schimpfkanonade los, die man ihrer Ausdauer wegen bewundern mußte. Die ganze Wut, die sich während der Wochen in der temperamentvollen Dame angesammelt hatte, kam über das Haupt des »mit Sehnsucht Erwarteten«, so daß es selbst Ilonas Zimmernachbarin zu viel wurde. »Na, hören Sie mal, das dürfte ich meinem Mann nun wahrlich nicht bieten!« bemerkte sie bei einer Atempause der Scheltenden mißbilligend. »Ich glaube, da würde es Ohrfeigen nur so hageln.« Darüber lachte der Professor wie über einen Witz, indem er Eike rasch aus dem Zimmer zog, der nun ganz benommen neben ihm den langen Korridor entlangschritt. »Stürmischer Empfang, nicht wahr?« zwinkerte Lutz ihm zu. »Hoffentlich hat der Herr Dr. jur. die Beweise notiert. Könnte ein nettes Aktenstück für Beleidigung geben.« »Ppffff«, stieß Eike den Atem durch die Lippen. »Wenn der übrige Gesundheitszustand meiner Frau so auf der Höhe ist wie ihr Mundwerk, dann kann sie wohl zufrieden sein.« »Kann sie auch, sehr sogar. Aber Zufriedenheit ist nun mal ein zartes Pflänzchen, das nur spärlich gedeiht. Kommen Sie mit in mein Zimmer, und trinken Sie einen Kognak, den haben Sie bestimmt nötig.« Als er getrunken war, sagte der Arzt sehr ernst: »Mein lieber Dr. Hadebrecht, nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie sind zu schade für diese Frau. Nehmen Sie den Rat eines erfahrenen Mannes und Psychologen an – trennen Sie sich von ihr. Sonst werden Sie, und Ihre Familie mit Ihnen, nie zur Ruhe kommen. Und wenn Sie bei der Scheidung Ihres Kindes wegen Schwierigkeiten haben

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sollten, werde ich mich für Sie einsetzen.« Die Männerhände fanden sich zu einem festen, warmen Druck, und dann brach bei dem berühmten Mann wieder der trockene Humor hervor, hinter dem sich so viel warme Menschlichkeit verbarg. »Und nun lassen Sie sich Ihre Eheferien weiter gut bekommen. Lassen Sie sich nicht früher hier blicken, bis Sie Ihr ›Eheglück‹ ins traute Heim zurückholen können. Ich hüte es Ihnen indes hier noch einige Wochen lang.« Lachend trennte man sich, und Eike Hadebrecht fühlte sich so frei und leicht, wie schon lange nicht mehr. »Ich habe heute Ilona besucht«, verkündete er den Seinen, als er mit ihnen nach Tisch beim Mokka saß. »Ihr Leiden hat sich so erfreulich gebessert, daß sie nach einigen Wochen als völlig geheilt entlassen werden kann.« »Und wie war sie sonst, mein Junge?« fragte die Mutter bang. »Schlechter Laune.« »Das sagst du in aller Gelassenheit?« »Gewiß. Weil ich ihren Launen jetzt anders entgegentreten kann als während ihrer Krankheit. Und ich bitte euch, dasselbe zu tun.« »Das habe ich gottlob nicht nötig«, frohlockte Thea. »Reinhold hat bereits das Aufgebot bestellt, wir heiraten in zwei Wochen. Ganz klein natürlich. Reinhold meint…« »Ist bloß gut, daß dein Reinhold das meint, was auch wir meinen«, brummte der Vater dazwischen. »Und gut obendrein, daß du beliebst, uns wenigstens vor die vollendete Tatsache zu stellen.« »Aber Papa, wozu sollen wir denn warten?« »Ganz meine Meinung. Also, richten wir uns zum Hochzeitsschmaus – und zur Wiederkehr unserer lieben Ilona. Hoffentlich fällt nicht beides auf einen Tag.« Allein davor sollte das Schicksal die im Hadebrecht-Haus bewahren. Die Hochzeit, nur klein gehalten – man hatte ja eine gute Ausrede wegen Ilonas Krankheit –, verlief ohne Disharmonie. Hochbeglückt siedelte die junge Frau mit

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ihrem Töchterchen in das Haus des Gatten über. Mittlerweile war es Juni geworden, und der Sommer nahte. Das merkte hauptsächlich Silje bei ihren täglichen Morgenritten. Sie sah dabei, wie sie lachend behauptete, langsam das Gras wachsen. War es nun Zufall oder Absicht, daß Eike Hadebrecht ihr auf diesen Ritten fast immer begegnete? Silje wußte es nicht – und wollte es auch nicht wissen. Sie fand es wunderschön, einen Begleiter bei ihren Ritten zu haben. Man unterhielt sich dabei, wie es guten Kameraden geziemt, lachte, scherzte und freute sich des Lebens. Hinterher ging es dann mit frischem Mut an die Arbeit. Als Eike eines Tages durch Zufall erfuhr, daß Silje eine passionierte Tennisspielerin wäre, ließ er den Platz im Park instandsetzen und focht fortan nur noch da seine Spiele aus. Und zwar mit einer Partnerin, die ihm nicht nur gewachsen war, sondern ihn manchmal sogar übertraf. Das kostete immerhin mehr Schweiß, als wenn die Partner sich zu einem anderen Spiel zusammentaten – und zwar in der Musik. Da gab es keine Konkurrenz, weil einer den Flügel, der andere die Geige spielte. Und die Zuhörer hatten ihre helle Freude daran. Mit Genuß lauschten sie dem wundervollen Spiel, das so harmonisch zusammenklang. Genau so harmonisch wie die Herzen der Menschen, die so froh und glücklich dahinlebten, seitdem auch Thea das Haus verlassen hatte. Man war jetzt im Hadebrecht-Haus gewissermaßen ein Herz und eine Seele. Und jeder der fünf Menschen wünschte insgeheim: Wenn es doch immer so bliebe! Aber auch, nur noch einige Wochen war ihnen der Friede beschert. Dann erschien der böse Geist Ilona, die äußerlich von einem solchen bestimmt nichts an sich hatte, sondern wie das sprühende Leben selber anzuschauen war in ihrer pikanten Schönheit. Sie erschien nicht unverhofft, dafür hatte Professor Lutz wohlweislich durch einen Telefonanruf gesorgt. Also holte Eike Hadebrecht die Gattin ganz vorschriftsmäßig von der Klinik ab – und sich einen

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Störenfried ins Haus. Eigentlich hätte man sich in der Familie über die völlige Gesundung der jungen Frau freuen müssen und machte sich heimlich Vorwürfe, daß man es nicht konnte. Aber es ging nicht, trotz aller Beschämung nicht. Die Gesundung selbst, die gönnte man Ilona allerdings von ganzem Herzen, wünschte ihr eine kernige Gesundheit bis über hundert Jahr – nur nicht in ihrem Kreis. Und nur deshalb nicht, weil sie Unfrieden und Zwietracht in ihn brachte. Aber man war nicht mehr gewillt, diese Hölle geduldig zu tragen, nachdem sich die kleine Teufelin wieder im besten Gesundheitszustand befand. Man wappnete sich gewissermaßen mit allen Stacheln des Igels, der eine Gefahr wittert. Also war der Empfang, den man der Genesenen im Hadebrecht-Haus bereitete, weder herzlich noch unfreundlich – man wartete zuerst einmal ab. Schien es sich zur Devise gemacht zu haben: Wie du mir, so ich dir! Und schon in der ersten Stunde nach ihrer Rückkehr sollte Ilona das zu spüren bekommen. Denn als sie ausfällig zu werden begann, gab der »Despot« ihr gleich contra. Dazu noch das »infame« Lächeln der anderen. »Was ist eigentlich in euch gefahren?« fragte sie aufgebracht. »Anstatt daß ihr alle Rücksicht walten laßt, wie sie einer Rekonvaleszentin zukommt, ärgert ihr sie. Und mein Herr Gemahl sitzt natürlich dabei, ohne seiner Frau den gebührenden Beistand zu leisten. Wenn du immer so weitermachst, dann – dann – « »Nun, was dann?« »Dann laß ich mich scheiden!« »Bitte sehr.« Auf diese Antwort war Ilona denn doch nicht gefaßt. Ordentlich verblufft sah sie ihn an, ließ ihre Blicke weiter schweifen und sah in lauter verschlossene Gesichter. Da sprang sie auf, die Tür knallte hinter ihr zu, und der Herr des Hauses lachte. Ilona dachte gar nicht daran, sich zu ändern. Warum auch,

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sie war doch ein ganz wunderbarer Mensch – nur die anderen taugten alle nichts! Anstatt darüber glücklich zu sein, daß sie jetzt wieder gesund war, machte sie durch ihre Verdrießlichkeit sich und den anderen das Leben schwer. Sie fieberte förmlich danach, wieder in die große Welt hinauszukommen, um dort alles nachzuholen, was sie während ihrer halbjährigen Krankheit versäumt hatte. Aber diesmal wollte sie nicht ohne Eike reisen. Und wenn sie da gleich Himmel und Hölle in Bewegung setzen sollte – er mußte mit! Wozu hatte sie denn einen so blendend aussehenden Mann, wenn sie nicht mit ihm in der großen Welt glänzen sollte? Es war doch so prickelnd interessant, sich von den Damen um ihn beneiden zu lassen. Allein Eike Hadebrecht fand das gar nicht interessant. Er lehnte daher kurz ab, als sie noch am Abend ihrer Rückkehr aus der Klinik zu ihm ins Schlafzimmer trat und ihm kurz und bündig klarmachte, daß er sie auf ihrer Reise zu begleiten hätte. »Du glaubst doch nicht etwa, daß ich deinen Leichtsinn da mitmache«, entgegnete er mit der Ruhe, die sie immer so unsagbar an ihm reizte. »Zwar bist du jetzt gesund, aber noch lange nicht so, daß du nach dem monatelangen Klinikaufenthalt gleich von einem Vergnügen zum anderen hetzen kannst.« »So besorgt mit einemmal?« höhnte sie. »Möchtest du das nicht mir überlassen, was ich mir zumuten darf oder nicht?« »Bitte sehr«, versetzte er kalt. »Ich hielt es nur für meine Pflicht, dich zu warnen, wie es Professor Lutz schon vor mir tat.« »Ach, der, was weiß der schon!« »So viel jedenfalls, um dich von deinem Leiden zu heilen, wobei die anderen Ärzte versagten. Und noch einmal, Ilona: Schone dich, geh mit dir behutsam um, wenigstens noch ein halbes Jahr.«

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»Hör auf!« schrie sie dazwischen, dabei mit den Füßen den Boden stampfend, wie ein ungezogenes Kind. »Ich soll wohl in diesem Eulennest hier verkommen.« Weiter kam sie nicht, weil er sie einfach über die Schwelle schob und die breite Glastür nachdrücklich abschloß. Augenblicklang war die Überrumpelte verblüfft, doch dann tobte sie ganz nett. Aber nicht lange, weil ja keiner da war, an dem sie ihre Wut auslassen konnte. So warf sie sich denn aufs Bett, beweinte wehleidig ihr »trostloses Geschick«, schmiedete Rachepläne, gegen den »brutalen« Gatten und seine »spießige« Familie. Die sollten sie schon noch kennenlernen – jawohl! Das verkündete sie denn auch, als man am nächsten Tag beim Mokka saß. Aber man schien von dieser Drohung durchaus nicht beeindruckt zu sein, selbst der Schwiegervater wies sie nicht einmal zurecht. Er lachte sie sogar freundlich an. »Mein liebes Kind, wir kennen dich bereits zu gut, als daß du uns noch etwas Neues bieten könntest. Es sei denn, du versuchtest einmal, lieb und nett zu sein. Dann solltest du mal sehen, wie gut es sich in unserem Kreis leben läßt. Doch andernfalls beißt du bei uns auf lauter kleine Kieselsteinchen.« Am liebsten hätte sie ja dem »Despoten« in das lächelnde Gesicht geschlagen, aber das wagte sie denn doch nicht. Er war immer noch derjenige, vor dem sie einen gewissen Respekt hat. Also hielt sie es für ratsam, das Gespräch zu wechseln, und fragte daher: »Wo ist eigentlich Thea? Ich vermißte sie gestern bereits.« »Die hat vor einigen Wochen geheiratet«, gab der Schwiegervater Antwort und mußte nun doch über ihr verblüfftes Gesicht lachen. »Ist dir das denn nicht bekannt?« »Nein«, wurde sie nun wieder spitz. »Es hat ja niemand von euch für nötig befunden, mich in der Klinik von dieser Neuigkeit in Kenntnis zu setzen.«

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»Wie hätte das wohl möglich sein können, da der Professor für seine angegriffene Patientin keinerlei Besuch von zärtlichen Verwandten wünschte«, gab er ironisch zurück. »Und als er deinem Mann ausnahmsweise einen Besuch gestattete, hattest du so reichlich damit zu tun, den Besucher zu beschimpfen, daß keine Zeit für Frage und Antwort blieb.« Gern wäre Ilona jetzt nach altbeliebter Art wutentbrannt aufgesprungen und davongelaufen, aber die Neugierde war dennoch stärker. So fragte sie denn brüsk: »Was hat sie geheiratet?« »Einen Mann – müßte eigentlich die Antwort auf deine Frage lauten. Doch da ich mir einbilde, mehr Lebensart zu besitzen als du, will ich dir erklären, daß Thea einen Freund ihres verstorbenen Mannes heiratete. Er tauchte plötzlich hier auf und erzählte, daß er die guteingeführte Buchhandlung in der Stadt käuflich erworben hätte. Und da er Thea schon immer verehrt hatte und sie nun frei war, begehrte er sie zu seiner Frau.« »Das ist ja hochinteressant!« griff Ilona die Neuigkeit fast gierig auf; denn für Neuigkeiten war sie immer zu haben. »Befindet sich das junge Paar noch auf der Hochzeitsreise?« »Nein – weil sie nämlich keine machten.« »Himmel, wie spießig! Das ›Glück im Winkel‹ muß ich mir doch gleich mal ansehen!« Lachend wirbelte sie davon- und die Zurückbleibenden atmeten auf. »Na ja, man muß sie eben so nehmen, wie sie ist«, sprach der Senior in die Stille hinein. »Wenn sie anfängt, unverschämt zu werden, dann ihr immer gleich die Zähne zeigen. Was war übrigens gestern abend los, Eike? Bis in unser Schlafzimmer hörten Mutter und ich deine Holde toben.« »Nun, ich habe ihr mal so ein wenig die Zähne gezeigt.« Ein ironisches Lächeln umzuckte den harten Männermund. »Das Reisefieber hat sie nämlich wieder gepackt, und ich

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wurde hochfahrend als Begleiter befohlen, mit dem sie in ›ihrer Welt‹, wie sie sich ausdrückte, prunken und ihn als Paradestück herumreichen wollte. Als ich mich entschieden weigerte, fing sie an zu toben.« »Mein Gott, du armer Junge, was mußt du wieder ausgestanden haben!« bemerkte die Mutter leise, doch er winkte beruhigend ab. »Beruhige dich, Muttchen, ich bin ja an derartige Szenen gewöhnt und nehme sie längst nicht mehr tragisch.« »Aber das ist doch keine Ehe! Ich würde dabei zugrunde gehen.« »Dafür bist du ja auch eine zarte, sensible Frau«, nickte er ihr herzlich zu. »Laß nur, ich beiße mich schon durch.« Er sah nach der Uhr, die geschäftig auf dem Kaminsims tickte, und wandte sich dann dem jungen Mädchen zu, das gleich Philchen schweigend im Sessel verharrte.

* »Fräulein Silje, ich möchte Sie bitten, in den nächsten Tagen meine Sekretärin zu vertreten, die wegen einer bösen Zahngeschichte Krankenurlaub bekommen mußte. Gerade jetzt sind schwierige Sachen zu bearbeiten.« »Und dazu wollen Sie ausgerechnet mich haben?« warf das Mädchen erschrocken ein. »Ich bin doch noch immer Anfängerin und könnte manches verpatzen.« »Das glaube ich nicht, bei Ihrer Gewissenhaftigkeit.« »Bitte, Onkel Philipp, rede ihm das aus!« wandte sie sich hilfesuchend an ihn, der schmunzelnd abwinkte. »Fällt mir gar nicht ein, Marjellchen. Es ist ganz gut, wenn du einmal unter Fräulein Luischens betulichen Gluckenflügeln hervorkriechst und auf dich allein gestellt bist. Um welchen Schreibkram geht es denn, Eike?« »Um das Projekt von Schüringer. Du weißt, daß wir das noch immer vertraulich behandeln müssen.« »Oh, den Mund halten kann ich schon«, bemerkte Silje, was Philipp gleich den anderen herzlich lachen ließ.

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»Na also, darauf kommt es in diesem Fall hauptsächlich an. Im übrigen wird der gestrenge Juniorchef Gnade walten lassen und Luischens Küken nicht so hart die Flaumfedern zupfen.« Das tat er denn auch wirklich nicht. Silje kam beim Stenogramm so gut mit, daß sie den Chef bat, ruhig schneller zu diktieren. Mit vollem Eifer war sie dabei. Die Wangen glühten, der Stift flitzte nur so über den Block und die Zunge über die Lippen. Die mußte unbedingt mithelfen bei den schwierigen Fachausdrücken, von denen es eine Menge gab. Man arbeitete zusammen, daß sozusagen der Kopf rauchte, und fuhr erschrocken hoch, als die Tür aufgerissen wurde und Ilona auf der Schwelle stand. Und dieses Erschrecken legte die junge Frau sich in ihrem Sinne aus. »Oh, wie nett!« lachte sie – aber es war kein gutes Lachen. Doch ehe sie noch ihr Gift verspritzen konnte, wandte sich Eike rasch dem Mädchen zu. »Das wäre jetzt alles, Fräulein Silje. Ich bitte Sie später noch einmal zu mir.« »Wie höflich!« höhnte Ilona, nachdem die Tür sich hinter der Davoneilenden geschlossen hatte. »Für gewöhnlich pflegt man mit seinen Liebchen nicht so konventionell umzugehen.« »Kanaille!« stieß der Mann zwischen den Zähnen hervor. »Ich schäme mich für deine schmutzige Phantasie. Hüte dich, deine böse Zunge an Fräulein Berledes zu wetzen, das würde dir übel bekommen! Denn die junge Dame steht unter dem Schutz des Hauses Hadebrecht, dessen Senior mein Vater ist. Und du weißt, daß der keine Gemeinheit ungestraft läßt. Das dir als Warnung. Und nun mach, daß du mir aus den Augen kommst!« Eiskalt war das gesagt. Mit einer unheimlichen Ruhe, was beängstigender wirken kann als ein Wutausbruch. Hinter seinen kalt glitzernden Augen schien es heiß zu lohen. Der

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Mund hatte sich zusammengepreßt zu einem schmalen, harten Strich. Und Ilona, die ihren Mann so noch nicht kannte, nahm feige Reißaus. Zehn Minuten später betrat Silje Berledes wieder das Zimmer des Juniorchefs, der genau so ruhig und freundlich war wie vorher. Emsig arbeiteten sie weiter, bis der Mann lächelnd fragte: »Raucht’s Köpfchen sehr, kleine Silje?« »Und wie!« gestand sie lachend, während sie die Handflächen an die heißen Wangen legte. »Aber ich hoffe, daß ich mich mit den niegehörten, schwierigen Wörtern, von denen der Block nur so wimmelt, tapfer herumgeschlagen habe. Darf ich die Briefe in Fräulein Luischens Büro schreiben? Da fühle ich mich sicherer und kann fragen, wenn ich meiner Sache nicht so recht gewiß bin. Jedenfalls habe ich seit heute Hochachtung vor Ihrer Sekretärin, die ihre schwierige Arbeit so nonchalant aus dem Gelenk schüttelt.« »Dafür arbeitet sie ja auch bereits sechs Jahre mit mir zusammen«, lachte er amüsiert. »Und Übung macht bekanntlich den Meister. Nun schreiben Sie diese beiden Briefe noch unter Obhut Fräulein Luischens, dann machen Sie Feierabend, den Sie sich heute redlich verdient haben.« Nachdem Silje gegangen war, machte der Chef Schluß und suchte im Herrenhaus nach Philchen, die er denn auch in ihrem Wohnzimmer fand. Geruhsam saß sie da, legte Patience und lugte über die Brille hinweg dem Neffen entgegen. »Nanu, mein Sohn, seit wann platzt du denn formlos in meine Kemenate – und noch dazu zu einer Zeit, wo du sonst hinterm Schreibtisch zu sitzen pflegst? Es ist doch nichts Unangenehmes passiert?« »Wie man’s nimmt, Philchen.« »Junge, jage mir keinen Schreck ein! Nimm Platz und erzähle.« Nachdem er über den Vorfall mit Ilona berichtet hatte, meinte die Tante seufzend: »Das habe ich kommen sehen. Und was nun? Wir können

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doch unmöglich zulassen, daß der Schmutzfink nun auch noch seine Zunge an dem sauberen Mädchen wetzt!« »Eben deshalb bin ich hier, Tante Philchen. Ich möchte dich nämlich bitten, dafür zu sorgen, daß Ilona nie allein mit Silje zusammenkommt.« »Ja, wie denkst du dir das eigentlich, mein Sohn? Ich bin doch schließlich kein junger, springlebendiger Detektiv, der hinter den beiden herjagt! Wenn Ilona das Mädchen beleidigen will, findet sie auch trotz Bewachung Gelegenheit dazu. Kapiert?« »Leider. Weißt du, was ich befürchte, Philchen?« »Nun?« »Daß Silje Berledes nach einer Beleidigung durch Ilona dieses Haus verlassen würde.« »Wahrscheinlich. Und was ich befürchte, ist: daß dein Vater danach deine Holde aus dem Hause jagen würde, wobei ich ihm bestimmt helfen wollte – und vielleicht gar noch deine sanfte, liebe Mutter, die sonst keiner Fliege was zuleide tun kann. Denn Silje ist uns sehr ans Herz gewachsen, das will ich dir nur sagen. Ich möchte dir also raten, deine Eltern ins Vertrauen zu ziehen. Drei Kerkermeister sind immer besser als einer.« »Das kann ich nicht, Philchen. Mir ist es schon peinlich genug, dich mit dieser unerquicklichen Angelegenheit zu belästigen.« »Nun, so überlaß es mir. Da Vorbeugen immer besser als Heilen ist, werde ich deinem Vater dieses Vorbeugen wärmstens empfehlen. Du sollst mal sehen, wie das hilft.« Und es half. Denn das Donnerwetter, das sich noch an demselben Abend über dem schuldigen Haupt Ilonas entlud – und zwar unter vier Augen – hätte auch mutigeren Menschen das blanke Entsetzen eingejagt. Mißmutig rekelte Ilona sich in ihrem luxuriösen Bett. Sie befand sich in einer Stimmung, wo sie am liebsten die ganze Welt vergiftet hätte. Vor allen Dingen diese Silje mit ihrem gleißenden Lärvchen und ihrem scheinheiligen Getue, mit dem sie alle hier im Hause verhext zu haben

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schien. Auch Eike – da ließ sie sich nichts sagen! Aber sie würde schon aufpassen und das heimliche Liebespaar an den Pranger stellen! Sie sollte sich zum Kuckuck scheren, hatte der ergrimmte Schwiegervater ihr empfohlen. Aber noch konnte man ihr das Haus hier nicht verbieten, noch hatte sie sich gesetzlich nichts zuschulden kommen lassen. Denn daß sie ihnen allen das Leben schwer machte, das verbot kein Gesetz. Und das wollte sie jetzt mehr denn je. Mit diesem löblichen Vorsatz klingelte sie nach der Zofe, die leider nicht mehr ihre Pia war. Die hatte Ilona beurlaubt, bevor sie in die Klinik mußte, und indes hatte das treulose Mädchen geheiratet. Verdrossen sah sie dem Mädchen entgegen, das nun eintrat und den Servierwagen vor sich herschob. Flink zog sie die Jalousien hoch, so daß die Sonnenstrahlen ungehindert in das luxuriöse Gemach fluten konnten. »Wir haben wieder herrliches Wetter«, plauderte sie dabei munter. »Ich habe schon mit der kleinen Ute im Park Ball gespielt. Ist das ein reizendes kleines Ding!« »Schwatzen Sie nicht so viel!« wurde sie vom Bett her ungnädig unterbrochen. »Servieren Sie lieber das Frühstück. Wie spät haben wir es?« »Gleich elf Uhr. Haben gnädige Frau gut geschlafen?« »Nein, ich schlafe nie gut. Was ist heute wieder mit dem Kaffee los, der schmeckt ja wie Patschwasser! Und auf dem Toast ist zu viel Gelee. Ich werde ja dick wie ein Büffel.« So ging die Nörgelei weiter, und Ella war dem Weinen nahe. Es war hier nämlich ihre erste Stelle und ihr Pech, daß sie gleich in eine so harte Schule kommen mußte. »Was gibt’s Neues?« fragte Ilona neugierig und wäre entzückt gewesen, wenn die Zofe ihr mit Klatsch und Tratsch gekommen wäre, wie Pia es so glänzend verstanden hatte. Aber Ella war, wie schon gesagt, eine Anfängerin und außerdem noch ein kindliches Gemüt. »Es gibt nichts Neues, gnädige Frau«, entgegnete sie

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harmlos. »Wenigstens nicht im Küchenbereich, und an die Herrschaft komme ich ja nicht heran.« »Was haben wir heute für einen Tag?« »Sonntag, gnädige Frau.« »Haben Sie Fräulein Berledes heute schon gesehen?« »Sehr wohl, gnädige Frau.« »Wann?« »Als das gnädige Fräulein von ihrem Morgenritt zurückkehrte.« »Allein?« »Sehr wohl.« »Und wo war da mein Mann?« »Das weiß ich nicht, gnädige Frau.« »Ja, was wissen Sie denn überhaupt, Sie dumme Gans?« fiel die Gnädige jetzt aus der Rolle. »Sie haben alles zu wissen, verstanden? Total unfähig sind Sie! Hätten lieber Kuhmagd als Zofe werden sollen!« Nun, jeder Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird – und Ella gehörte ja schließlich zu den höheren Wesen der Schöpfung. »Gnädige Frau, ich muß doch sehr bitten!« empörte sich Ella – und schon flogen Teller und Tasse als Geschosse zu der Vermessenen hin, die entsetzt die Flucht ergriff. Die Kaffeekanne, die ihr durch die geöffnete Tür nachsauste, erreichte auch ihr Ziel – allerdings nicht das gewünschte. Sie prallte gegen die Brust des Gemahls der Scharfschützin, häßliche braune Flecke auf dem eleganten hellen Sommeranzug hinterlassend. »Na, das ist denn doch die Höhe!« schalt er aufgebracht, war aber sofort besänftigt, als er die schreckensbleiche, zitternde Zofe ins Auge faßte. Dann schweifte sein Blick weiter durch die geöffnete Tür und blieb an Ilona hängen, die im Bett saß und sich vor Lachen schüttelte. Und da er vor dem Mädchen nicht eine Szene heraufbeschwören wollte, schloß er rasch die Tür und fragte kurz: »Was hat es gegeben, Ella?«

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»Die gnädige Frau hat wieder einen Tobsuchtsanfall«, weinte sie laut auf. »Schon den dritten während der Woche, die ich hier bin. Aber das mach ich nicht länger mit! Denn ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, wirklich nicht, Herr Doktor…« »Das glaube ich Ihnen«, fiel er beschwichtigend ein. »Nehmen Sie das nicht so tragisch, Ella. Sie werden sich an die Art meiner Frau schon noch gewöhnen.« »Nein, das werde ich nie! Ich will fort, und zwar gleich. Eine dumme Gans hat sie mich gescholten, und Kuhmagd soll ich werden, wo ich doch eine erstklassige Ausbildung als Zofe hinter mir habe!« Das Weinen wurde heftiger. Ehe der Mann noch etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür, und Ilona stand im verführerischen Nachtgewand auf der Schwelle. »Wie rührend!« höhnte sie. »Das Zöfchen beklagt sich beim Herrn des Hauses, wo es sicherlich auch Verständnis findet.« »Worauf du dich verlassen kannst«, unterbrach er sie kalt. »Kommen Sie, Ella!« »Sie bleibt hier! Du hast dich in meine Angelegenheiten nicht zu mischen. Und die Zofe ist meine Angelegenheit. Sie kommen sofort hierher, Ella!« »Nein, ich geh heute noch fort«, trumpfte das Mädchen auf, das sich in dem Schutz des Mannes sehr sicher fühlte. »Das ist ja bei Ihnen direkt lebensgefährlich.« Rasch zog Eike die Empörte mit sich fort und lohnte sie in seinem Arbeitszimmer so gut und reichlich ab, wie es seinem Gerechtigkeitssinn entsprach. Dann zog er sich um, weil sein Anzug von oben bis unten mit Kaffee befleckt war. Kaum war er damit fertig, als Ilona zu ihm ins Ankleidezimmer platzte, immer noch mit dem Nachtgewand angetan. »Wie kommst du dazu, Ella zu entlohnen?!« schrie sie wütend. »Du hast mich damit bloßgestellt!« »Nun, mehr als du selbst es tust, kann es wohl kaum noch geschehen«, bemerkte er mit einem vielsagenden Blick auf

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ihr mehr als »offenherziges« Neglige. »Zieh dich zuerst einmal an, dann können wir weiter reden.« Damit schob er sie aus der Tür, schloß ab und steckte in aller Gelassenheit eine Zigarette in Brand, während draußen die Fäuste der Erbosten wie rasend gegen das Holz trommelten. Doch da das zarte Händchen mitzunehmen pflegt, hielt sie bald inne. Türen krachten, und dann herrschte Ruhe nach dem Sturm. Mit einem Gefühl des Ekels drückte Eike Hadebrecht die halbgerauchte Zigarette in die Aschenschale. Dann verließ er das Ankleidezimmer und ging nach unten, wo man von dem Toben seiner Frau nichts gemerkt zu haben schien. Man lachte gerade über eine drollige Bemerkung der kleinen Ute, die zwischen den Knien des Großvaters stand; dieser warf über das Kinderköpfchen hinweg einen forschenden Blick auf den Sohn, dessen Gesicht hart und blaß war. Doch bevor es zu einer Frage kommen konnte, trat das Ehepaar Nargitt ein. »Natürlich ist Anka wieder bei euch!« klagte Thea. »Obwohl sie es wirklich gut bei uns hat, zieht es sie doch immer wieder zum alten Nest zurück.« »Hier ist es auch viel schöner als bei euch«, maulte die Kleine. »Ihr seht mich ja gar nicht, immer nur euch.« »Was bei einem Flitterwochenpaar wohl so üblich ist«, schmunzelte der Großvater gleich den anderen. »Aber jetzt scheint ihr ja eurer Mitwelt wiedergegeben zu sein. Und wie es euch geht, brauche ich erst gar nicht zu fragen. Ihr seht beide so recht zufrieden aus.« »Sind wir ja auch, Papa«, bestätigte Thea, während sie nebst dem Gatten in der Runde Platz nahm. »Wir sind sehr glücklich, nicht wahr, Herzensmännchen?« »Sehr, Thealieb.« »Kinder, hört auf!« sagte Philipp lachend. »Mir scheint, ihr habt euch doch noch zu früh unter uns nüchterne Menschen gewagt.« »Aber Papa, wie kannst du nur so reden!« war die junge

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Frau nun gekränkt. »Ist es nicht schöner, wenn ein Ehepaar sich liebreich begegnet, als wenn es sich ewig zankt, wie zum Beispiel Ilona und Eike? Die war übrigens vor einigen Tagen bei uns und klagte Stein und Bein über die Lieblosigkeit ihres Mannes.« »Laß das unerquickliche Thema«, winkte der Vater kurz ab. »Erzähle uns lieber, wie du es fertiggebracht hast, in den drei Wochen deinem Mann so dicke Backen anzunudeln.« »Ich koche auch mit Liebe«, erklärte die junge Frau stolz. »Jeder Bissen, den mein Feinschmeckerlein in den Mund steckt, ist mit Liebe gewürzt. Wir haben eben einen herrlichen Spaziergang gemacht und kamen nur her, um euch kurz guten Tag zu sagen. Jetzt müssen wir aber gehen, weil ich noch die letzte Hand ans Mittagsmahl zu legen habe. Es gibt junge Hähnchen mit Gurkensalat, danach eine ganz delikate Speise. Die wird auch unserm Ankalein munden, nicht wahr, mein Süßes?« »Nein«, kam die Antwort kurz und bündig. »Ich esse hier zu Mittag.« »Aber Liebes, wie undankbar von dir! Was machen wir da nur, Reinischatz?« »Wir lassen sie hier, mein Häschen.« »Ja, wenn du meinst…« Damit verabschiedeten sie sich. Und kaum, daß sie gegangen waren, blies der Senior die Backen auf und verdrehte die Augen. »Eike, gib mir einen Kognak, mir ist ganz schwiemelig im Magen. O Gott, Quark mit Himbeersaft ist ja gar nichts gegen das süßliche Gesäusel!« Es klang so verzweifelt, daß die anderen hellauf lachten. Doch nachdem er zwei Gläschen von dem belebenden Getränk intus hatte, wurde ihm wieder wohl. Schmunzelnd meinte er: »Da hat ein gütiges Geschick wenigstens einmal ein Paar zusammengebracht, das sich gegenseitig beturtäubelt. Stell dir mal vor, Muttchen, wenn ich dich jetzt mit Schweineschwänzchen betiteln wollte!«

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»Na, du, das möchte ich mir wohl ernstlich verbitten«, entrüstete sie sich, fiel dann aber in das Gelächter der anderen ein, das noch zunahm, als Anka ernsthaft sagte: »Mäuseschwänzchen hat der Papi zur Mami auch schon gesagt.« »Na, siehst du, Muttchen, da ist Schweineschwänzchen doch appetitlicher. Und nun verschwindet mal, ihr Görchen. Ihr sperrt mir zu sehr die kleinen Ohren auf.« »Das tu ich doch so gern«, bekannte Anka eifrig, mußte jedoch abtrollen; weil der Großvater nicht mit sich verhandeln ließ. Und das war gut so. Denn kaum, daß die Kinder gegangen waren, trat Ilona ein – und schon war die Gemütlichkeit futsch. Als sie sich an Silje vorbeizwängte, um zum nächsten Sessel zu gelangen, trat sie ihr empfindlich auf die Füße. Dachte aber nicht daran, sich zu entschuldigen, ließ sich ins Polster fallen, griff nach einer Zigarette und kommandierte: »Feuer!« »Nanu, aus welcher Kanone denn?« fragte Philipp so verdutzt, daß die anderen Tränen lachten. Das gefiel der ungnädigen Dame nun ganz und gar nicht. Sie warf die Zigarette in die Gegend und wurde aggressiv: »Na ja, dieses alberne Lachen kenne ich nun schon an euch – ihr – ihr… Aber ich glaube, es ist wohl besser, wenn ich gehe, bevor ich mich noch zu etwas hinreißen lasse!« »Ich glaube wirklich, daß es besser ist«, grollte die Stimme des Schwiegervaters gefährlich dazwischen. »Laß dich hier erst wieder blicken, wenn du dich in Gesellschaft wohlerzogener Menschen benehmen kannst. Und nun befreie uns bitte von deiner Gegenwart.« Das war in aller Ruhe gesagt. Doch wer den Mann kannte, der wußte, daß er sich nur noch mit Aufbietung aller Energie beherrschte. Die Augen drohten unter den buschigen Brauen hervor, das Gesicht lief rot an, das Kinn schob sich vor.

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Da sprang Ilona auf und hastete davon, um sich erst einmal in Sicherheit zu bringen. An der Tür aber blieb sie stehen und schrie wütend: »Spießer seid ihr – jawohl, Spießer! Ich verabscheue euch!« Dann erst verschwand sie endgültig. Unter den Zurückbleibenden herrschte peinliches Schweigen, das der Senior nun unterbrach: »Jetzt ist es Zeit, daß du die Scheidungsklage einreichst, mein Sohn.« »Ganz meine Ansicht, Vater. Ich warte nur noch ab, bis Ilona wieder auf Reisen geht, um mich und euch Widerwärtigkeiten zu ersparen. Daher noch ein wenig Geduld. Denn ohne ›ihre große Welt‹ hält sie es bestimmt nicht mehr lange aus. Dann werde ich handeln und ihr gleichzeitig unser Haus verbieten.«

* Es war nach dem Mittagessen, bei dem kaum etwas genossen wurde, weil allen fast der Bissen im Halse stecken blieb. Silje lag in ihrem Zimmer auf dem Diwan und las, weil es draußen in Strömen regnete. Es kam gerade zur Zeit, dieses kostbare Naß, um der Natur Erquickung zu bringen, die förmlich nach ihm lechzte. Silje gab sich alle Mühe, um das, was im Buch geschrieben stand, zu erfassen, aber immer wieder schweiften die Gedanken ab. Und dann kam Philchen, setzte sich zu ihr auf den Diwan und seufzte: »Daß du es nur weißt, ich mache Feierabend. Denn was sich jetzt im Hause zuträgt, ist selbst für meine Nerven zu viel, die eigentlich ganz gut intakt sind. Ich verreise. Kommst du mit?« »Dazu müßte ich erst einmal wissen, wohin die Reise gehen soll, geliebtes Philchen.« »Dorthin, wo es schön ist, wo es keinen Streit und Hader gibt.«

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»Dann müßtest du schon in die Gefilde der Seligen überwechseln«, bemerkte das Mädchen trocken. »Denn wo sich unsere liebe Erde dreht, gibt es auch Hader und Streit.« »Das mußt du Grünschnäbelchen ja wissen. Aber wirklich, Silje, es ist nicht mehr schön im Hadebrecht-Haus, in dem ich ja nun schon über sechzig Jahre lebe. Meine Eltern führten eine harmonische Ehe, und die meines Bruders ist auch gut, bis auf den Kummer – na, du weißt ja Bescheid. Aber Eikes Ehe spottet jeder Beschreibung. Anstatt daß er nun seine Blindheit, mit der er da hineintappte, allein büßt, müssen wir anderen es mittun. Jedenfalls – ich kneife!« »Das kriegst du ja doch nicht fertig, Philchen. Du bist mit deiner Familie so verwachsen, daß du mit ihr lachst und weinst. Hättest ja doch keine Ruhe, wärest du fern von hier. Würdest hangen und bangen um das, was dir so unlöslich ans Herz gewachsen ist. Also, bleib schon hier und hange und bange an Ort und Stelle, dann bist du wenigstens immer genau im Bilde.« »Ja, sag mal, du Fratz, haben wir jetzt plötzlich die Rollen getauscht? Anstatt daß ich dir gute Lehren erteile, tust du es. Da soll doch gleich dieser und jener!« »Oh, Philchen, jetzt gleichst du ganz deinem Zwillingsbruder, wenn er grimmig ist!« wollte der Schelm sich halbtot lachen. »Sei friedlich und gib mir recht.« »Balg«, brummte sie. »Du machst ja mit mir, was du willst. Schön, sehe ich mir den Jammer an Ort und Stelle an. Ich fürchte nur, daß Onkel Philipp seine aggressive Schwiegertochter mal gehörig verprügelt. Heute vormittag sah es beinahe schon so aus. Ich habe vor Angst gezittert.« »Und ich nicht minder. Man sitzt hier wie auf einem Pulverfaß. Wenn ich du wäre, würde ich mir eine friedlichere Stätte suchen.« »Das kann ich nicht«, gestand das Mädchen leise. »Ich liebe euch alle – wo ihr nicht seid, kann ich nicht sein.« »Herzenskind, das war ein gutes Wort!« lächelte Philchen gerührt. »Auch uns würde es schwer ankommen, dich zu

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missen. Also bleiben wir weiter zusammen, und bilden wir ein Bollwerk gegen den bösen Geist des Hauses.« Aber Ilona kam sich gar nicht so vor – im Gegenteil, alle anderen waren böse Geister, die so ein armes, bedauernswertes Wesen wie sie knebelten und knechteten. Alles nahmen ihr diese abscheulichen Menschen, aber auch alles, woran sie noch ihre Freude hatte! Denn sie konnte dem Gatten jetzt keine Szenen mehr machen, weil er in das Turmgemach übergesiedelt war, das er vor seiner Verheiratung bewohnt hatte. Und die Tür, die zu dem lauschigen Gelaß führte, war aus hartem, festem Holz. So bekam sie Eike nur noch während der Mahlzeiten zu sehen, wo sie es jetzt vorzog, sich manierlich zu benehmen. Denn die eisigen Mienen, mit denen man ihr begegnete, schüchterten sie denn doch ein. Jeden Abend nahm sie sich vor, morgen die Koffer zu packen – und unterließ es immer wieder. Und warum? – Weil sie rasend eifersüchtig war. Sonst hätte sie sehen müssen, daß die beiden von ihr Bespitzelten sich durchaus korrekt benahmen – auch wenn ihre Herzen zueinander strebten. Allein, um diesem Gefühl skrupellos nachzugeben, waren sie beide nicht leichtfertig genug. Dafür hielt Eike Hadebrecht die Ehe immer noch zu heilig, und Silje Berledes wäre es nie eingefallen, in eine Ehe einzubrechen. Und dennoch, das Mißtrauen Ilonas war hellwach. Deshalb konnte sie sich nicht dazu entschließen, ihre Reise anzutreten, obwohl es sie mit tausend Banden aus dem »Eulennest« in die glänzende Welt zog. Sie konnte nicht fort, sie mußte da sein, um die »Scheinheiligen« mit »hundert Augen« zu bewachen. Doch nichts, aber auch gar nichts kam dabei heraus. Silje und Eike trafen nie unter vier Augen zusammen, selbst im Betrieb nicht mehr. Denn die Sekretärin des Juniorchefs versah schon wieder pflichtgetreu ihren Dienst, und Silje befand sich nach wie vor unter der betulichen Obhut

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Fräulein Luischens. Die Ritte unternahmen die beiden Menschen stets getrennt, beim Tennisspiel war immer Philchen dabei, und beim Konzert hörte die gesamte Familie zu. Und doch – Ilona hielt wacker stand, mit der Devise: Ausdauer siegt. Sie hatte es sich sogar in den Kopf gesetzt, den Gatten zurückzugewinnen. Doch nie konnte sie seiner habhaft werden, der die Tür vor ihr verschloß. Aber der Mensch denkt, und Gott lenkt. Für ihn schien Eike Hadebrecht doch nicht so ganz Stiefkind zu sein, wie dieser resigniert annahm. Und da dem Höchsten die Wege ganz einfach sind, die den Menschen oft wunderlich erscheinen, so wählte er auch einen ganz einfachen Weg, um das Böse zu vernichten und das Gute triumphieren zu lassen. Und es bewahrheitete sich wieder einmal das Sprichwort: Der Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht. Nun, Ilonas Krug schöpfte giftiges Wasser, das auch eines Tages überlief. Doch dann beschüttete es sie selbst und nicht die Menschen, über deren Herzen es fließen sollte. Ilona ging an einem sonnigen Nachmittag mit der kleinen Ute in den Park. Sie hatte das Kind jetzt immer einige Stunden täglich um sich. Aber nicht aus einem zärtlichen Muttergefühl heraus, sondern weil Fräulein Herta, die Betreuerin der Kleinen, nun bei Ilona Zofendienste verrichten mußte, seitdem Ella fort war. Nun, lange würde dieser Zustand wohl nicht anhalten. Denn Ilona hatte an Pia geschrieben und sie angefleht, ihr eine würdige Nachfolgerin zu besorgen, was die frühere Zofe denn auch brieflich versprach. Nur noch zwei Wochen Geduld, dann wäre das »Phänomen« für sie frei. Daraus schöpfte Ilona nun eine frohe Zuversicht und nahm es wohl oder übel auf sich, ihr Töchterchen einige Stunden am Tage zu betreuen. Warum dies geschah, davon hatten ihre Angehörigen allerdings keine Ahnung. Sie wunderten sich nur, daß die Mutter sich plötzlich um ihr Kind kümmerte, das sie vorher nur wenig beachtet hatte. Nun hatte Ilona heute von ihrer Mutter einen dicken Brief

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erhalten, der schon einem kleinen Roman glich. Um den zu lesen, dazu gehörte natürlich Zeit und Ruhe. Aber ausgerechnet jetzt mußte sie auf Ute achten, weil Fräulein Herta am Plättbrett stand! Nun, die Kleine hatte ja den neuen bunten Ball, mit dem sie sich beschäftigen konnte. Also galt es nur noch für Ilona, sich ein stilles Plätzchen zu suchen, wo sie diesen Erguß ungestört lesen konnte. Da fiel ihr die Laube am Weiher ein. Freilich, der Weiher war tief und mit Algen verwachsen. »Spiel schön«, sprach sie dem Dummchen zu. »Aber wag dich nicht zu weit ans Wasser, da sind Nixen drin!« »Nixen – was ist das, Mami?« fragte die kleine Unschuld neugierig. »Sind die gut oder ßlecht?« »Frag nicht so viel!« wurde die Mutter bereits ungeduldig. »Spiel mit dem Ball, die Mami hat jetzt keine Zeit.« Schon verschwand Ilona in der Laube, um den Brief zu lesen, der sie brennend interessierte – mehr als das Töchterchen, das sich mit dem bunten Ball vergnügte. Er war so groß, daß die molligen Patschchen ihn nicht umschließen konnten, sondern das Bäuchlein dabei noch Hilfestellung leisten mußte. Und schön war es, wunderschön, wenn die lustig-bunte Kugel davonrollte. Jauchzend holte Klein-Ute sie immer wieder ein- bis sie ins Wasser rollte und sich in einer gelben Mummelgruppe verfing. »Hol mich doch!« schien der bunte Ball neckisch zu fordern. »Hol mich doch, bevor die Nixen es tun!« »Mami, die Nixen wollen meinen Ball!« rief das Mägdlein kläglich. Aber die Mami hörte nicht, weil es gar zu interessant war, was die Mutter da über einen Inder schrieb, der, unermeßlich schön und unermeßlich reich, augenblicklich die Gemüter der Globetrotter an der Riviera erregte. Das wäre ein Mann, für Dich! – schrieb die Mutter begeistert. Der würde Deine Schönheit und Deinen Charme so recht zu würdigen wissen. Schade, daß Du

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schon gebunden bist, aber vielleicht… Bei diesem Vielleicht sollte es vorläufig bleiben. Denn ein gurgelnder Laut ließ die vertiefte Leserin aufschrecken, riß sie aus ihrer Phantasterei plötzlich in die Gegenwart zurück. Verstört sah Ilona von dem Brief auf, spähte angstvoll nach ihrer Tochter – doch weder sie noch der bunte Ball waren zu entdecken. Nur auf dem schwarzgrünen Wasser gurgelte es. »Hilfe!!!« schrie Ilona da, sinnlos vor Angst- und siehe da, die Hilfe nahte bereits. Und zwar in Gestalt Siljes, die in rasender Eile vorschnellte und mit einem kühnen Sprung in dem unheimlichen Wasser versank. Wenig später tauchte sie dann wieder auf, von Algen umschlungen. Fest an die Brust gedrückt hielt sie Ute, das kleine Dummchen, das den Nixen den Ball wegholen wollte. Doch die entsetzte Ilona schrie immer weiter – anhaltend, gellend, daß jedem, der es hörte, das Grausen über den Rücken jagte. Von allen Seiten rannten sie herbei, die diese entsetzlichen Schreie vernahmen. Allen voran Eike Hadebrecht, blaß wie der Tod. Mit flatternden Händen löste er das kleine algenumstrickte Wesen aus dem Arm des großen und legte beide behutsam auf den Rasen nieder. Und während er mit den Wiederbelebungsversuchen bei der Tochter begann, tat es sein Vater bei Silje, die nun auch ohnmächtig geworden war. Sie hatten auch bald Erfolg und schämten sich der Tränen nicht, die ihnen übers Gesicht liefen. Und schon fanden sich Hände, die das kleine und das große Mädchen behutsam hochhoben und ins Haus trugen. Denn nicht nur das Ehepaar Hadebrecht nebst Sohn und Philine hatten die gellenden Schreie Ilonas hergejagt, sondern auch die gesamte Dienerschaft. Jetzt schrie die kleine Ute wie am Spieß, doch dieses Schreien klang den Menschen wie Musik. Wie gut, daß das

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beherzte Mädchen Silje noch zur Zeit gekommen war – sonst… Ach, man wagte an dieses Sonst gar nicht zu denken! Es hätte unendliches Leid über vier Menschen gebracht! Und der fünfte Mensch, der dieses Unheil durch Unachtsamkeit heraufbeschwor? – Der saß in seinem Zimmer und weinte aus Angst vor dem Strafgericht, das unweigerlich kommen würde. Und da Ilona feige war, konnte und wollte sie diesem Strafgericht nicht standhalten. Also packte sie mit fliegenden Händen einen Koffer, warf Schmuck, Geld, die nötigsten Kleidungsstücke hinein und schlich sich aus dem Haus wie ein Dieb. Und sie hatte Glück. Denn ein Auto nahm sie an der Chaussee auf, beförderte sie zum Bahnhof – und so konnte Ilona aufatmend sagen: Nach mir die Sintflut! Indes wurden Silje und Ute, die wohlgeborgen in ihren Betten lagen, gehätschelt und gepflegt. Das Kind von dem Großvater und dem Papi, Silje von Philchen, die ihrem Liebling einen Trank einflößte, der aus Kräutersäften und einem schweren Wein gemixt war. Und kaum, daß Silje ihn geschluckt hatte, schlief sie vor Erschöpfung ein. Und es würde einen langen Schlaf geben, wie Philchen aus Erfahrung wußte. Also konnte sie die Schläferin ruhig allein lassen und nachsehen, wie es Ute ging. Auch sie schlief sanft und süß, bewacht von Fräulein Herta, die dickverweinte Augen hatte. »Wo sind die anderen?« fragte Philchen leise, um das Kind nicht zu wecken, und ebenso leise kam es zurück: »Die Herrschaften sind nach unten gegangen. Oh, mein Gott, gnädiges Fräulein, ich kann doch wirklich nichts dafür!« schluchzte das Mädchen heiß auf. »Die junge gnädige Frau holte Ute, um auf sie achtzugeben, während ich ihre Sachen plättete. Ich mußte doch Zofendienste leisten, seit Ella fort ist.« »Das ist ja interessant. Haben Sie das meinen Angehörigen gesagt?«

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»Ja – « »Nun, dann ist ja alles in Ordnung«, nickte Philchen dem Mädchen freundlich zu und ging dann ins Wohnzimmer, wo Eike ruhelos auf und ab wanderte. Beim Eintritt der Tante blieb er stehen und fragte bang: »Wie geht es Silje?« »Die schläft friedlich. Wo sind die anderen?« »Vater ist bei Mutter, deren Nerven nachgaben. Sie bekam einen Weinkrampf.« »Auch das noch. Ist der Arzt verständigt?« »Nein, das war nicht nötig. Die Mamsell flößte ihr einen Trank ein, nach dem sie bald einschlief. Vater will solange bei Mutter bleiben, bis die Mamsell Zeit hat, ihn abzulösen.« »Das ist übertriebene Vorsicht«, meinte Philchen. »Denn nach dem Trank, den ich übrigens auch Silje gab, werden beide fest und lange schlafen. Es ist ein altes Hausrezept, das schon von unserer Großmutter angewandt wurde. Und was wirst du mit Ilona machen?« »Gar nichts – sie ist fort.« »Tatsächlich?« Philchen war gar nicht so überrascht, wie sie es nach dieser Eröffnung eigentlich hätte sein müssen. »Das sieht ihr ähnlich, sich durch die Flucht feige dem Strafgericht zu entziehen! Aber recht so! Seien wir froh, sie auf so eine gute Art losgeworden zu sein.« Zwar war Silje am nächsten Tag noch blaß, aber sonst munter. Ebenso Ute, die sich mit ihren drei Jahren noch gar nicht bewußt sein konnte, welch tödlicher Gefahr sie entronnen war. Aber vor den Nixen, die ihr auf so böse Art den Ball nahmen, hatte sie fortan Angst. Und das war allen recht so; so würde sich das grausige Spiel wenigstens nicht wiederholen. Den Dank, den man Silje abstattete, tat diese verlegen ab. Sie hatte ja nur das getan, was andere an ihrer Stelle bestimmt auch tun würden, meinte sie kurz. Natürlich wollte man wissen, wie sie um diese Zeit, da sie sonst noch zu arbeiten pflegte, in den Park gekommen war.

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Nun, eigentlich war das ein Zufall gewesen. Fräulein Luischen machte früher als sonst Schluß, weil sie Geburtstag hatte, was Silje jedoch erst im Laufe des Nachmittags erfuhr. So ging sie denn in den Park, um von dem Gärtner einen Rosenstrauß zu erbitten, mit dem sie zu Luischen ins Haus gehen und ihr nachträglich gratulieren wollte. Aber dazu sollte es nicht kommen. Denn im Park sah das Mädchen Ute, die lachend und jubelnd hinter ihrem Ball herlief und ihm dann nachjammerte, als er ins Wasser rollte. Leider war Silje noch zu weit entfernt, um das Kind vor dem grausigen Bad bewahren zu können, obwohl sie wie gehetzt hinjagte. »Na ja – das war alles«, schloß sie ihren sachlichen Bericht. »Zufall, nichts weiter.« »O nein, mein Kind, das war Vorsehung«, bemerkte Frau Ottilie erschüttert – und niemand widersprach ihr. Im Hadebrecht-Haus herrschte nun die Harmonie, nach der man sich immer so schmerzlich gesehnt hatte. An Ilona dachte man kaum noch, und diese tat auch nichts dazu, um sich in Erinnerung zu bringen. Man nahm an, daß sie zu ihren Eltern geflüchtet wäre, was auch tatsächlich stimmte. Angstgeschüttelt traf die Tochter bei ihnen ein, erzählte, was vorgefallen war, und schwor, wie schon oft, mit tausend Eiden, diesmal wirklich, aber auch wirklich nicht mehr ins »Gefängnis« zurückkehren zu wollen. Die Eltern lächelten nachsichtig, wie sie es schon oftmals bei derartigen Schwüren getan hatten. Machten aber der Tochter keine Vorwürfe, sondern ließen sie gewähren. Sie lebten seit einigen Wochen am Gardasee, wo augenblicklich »viel los war«, ganz so, wie die nach Vergnügen förmlich ausgehungerte Ilona es sich wünschte. Wie in einem Taumel gab sie sich all den Vergnügungen hin mit der Devise: Was schert mich Mann, was schert mich Kind – ich will jetzt ich sein und nichts weiter! Sie konnte gar nicht genug bekommen von alledem, was

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sie seit länger als einem halben Jahr so schmerzlich vermissen mußte. Sie warf sich »ihrer Welt« leidenschaftlich in die Arme, gönnte sich weder Rast noch Ruhe, hetzte und jagte umher in krankhaftem Eifer. Dachte nicht einen Augenblick daran, daß sie sich schonen sollte, wie Professor Lutz und auch der Gatte es ihr mahnend geraten hatten. Ach was, die waren ja nichts weiter als engstirnige Philister, über die man nur höhnisch lächeln konnte. Sie war doch gesund, so herrlich gesund! Und so kam es denn, wie es bei der unvernünftigen Lebensweise der kaum Genesenen kommen mußte. Als Ilona an einem Abend von einem temperamentvollen Südländer im feurigen Tanz herumgewirbelt wurde, versagten ihr plötzlich die Beine. Und da ein Unglück ja selten allein zu kommen pflegt, stürzte sie gegen einen Pflanzenkübel und zog sich dabei einen bösen Bluterguß an der schon einmal beschädigten Hüfte zu. Ihre Eltern, die sich in ihrer Angst und Ratlosigkeit nicht anders zu helfen wußten, riefen telegraphisch den Schwiegersohn herbei, der trotz des Protestes seiner Angehörigen dem Hilferuf sofort Folge leistete. Doch als er bei seinen verstörten Schwiegereltern ankam, war Ilona trotz der Betreuung bester Ärzte tot – denn gegen eine plötzlich auftretende Thrombose waren auch sie machtlos. Wie zwei verschüchterte Kinder klammerte sich das sonst so weltgewandte Ehepaar an den Schwiegersohn. Sie waren einfach nicht dazu fähig, für all das Traurige zu sorgen, das ein Todesfall mit sich bringt. Nur eine Feuerbestattung wünschten sie und die Beisetzung der Urne’ an Ort und Stelle, damit sie diese jederzeit zu sich holen konnten, wenn sie sich einmal endgültig irgendwo zur Ruhe setzten. Zwar hätte Eike Hadebrecht ihnen Vorwürfe machen können, daß sie auf ihre kaum genesene Tochter nicht besser achtgaben. Er tat es jedoch nicht, sondern richtete sich streng nach ihren Wünschen. Ein Glück für sie, daß sie

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in ihrer Oberflächlichkeit nicht lange brauchten, um mit dem »tiefen Seelenleid« fertig zu werden! Denn schon wenige Wochen später waren sie so weit, um ihr gewohntes Reiseleben fortsetzen zu können. Zwar jammerte die Mutter, daß sie ihr »heißgeliebtes Kind« zurücklassen mußte, tröstete sich jedoch damit, daß sie an die heilige Stätte zurückkehren konnte, wenn die »Sehnsucht« sie dahin trieb. So wurde denn der Schwiegersohn, dem diese Wochen zur Qual geworden waren, endlich entlassen und kehrte sofort in die Heimat zurück. Mittlerweile war es Herbst geworden, und es kam die Zeit, wo man sich wieder gern um den brennenden Kamin scharte. Hauptsächlich nach dem Abendessen, wenn alle im Hause waren. Manchmal fand sich das Ehepaar Nargitt dazu ein, und dann schwelgte man in »höheren Regionen«. Aber gar so hoch waren sie bei Thea nicht immer. Sie konnte ganz nett auf die Erde purzeln, wenn es um – Geld ging. Und so sagte sie denn auch zu dem Bruder, kurz nachdem er von seiner traurigen Reise zurückgekehrt war: »Wie gut für dich, Eike, daß du noch nicht von Ilona geschieden warst, bevor sie starb! So kannst du jetzt ihre Erbschaft antreten, die sicherlich enorm ist. Und wenn gar noch deine reichen Schwiegereltern sterben…« »So wirst du von ihrer Hinterlassenschaft bestimmt nichts abbekommen«, fiel ihr der Bruder ironisch ins Wort. »Willst du das nicht meine eigene Angelegenheit sein lassen?« »Aber, mein Himmel, sei doch nicht gleich so eklig!« entrüstete sie sich. »Man kann doch wohl noch seine Meinung äußern, ohne gleich angefahren zu werden! Komm, Herzensmännchen, wir kehren in unser trautes Heim zurück!« »Na, na, Mutzilein, wer wird denn gleich so gekränkt sein!« sprach er ihr begütigend zu. »Schau mal, du mußt deinem Bruder jetzt noch nicht mit solchen Dingen kommen, die

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ja nun wirklich allein seine Angelegenheiten sind. Deshalb wirst du doch nicht gleich im Groll dein Elternhaus verlassen.« »Ja, wenn du meinst, du Herzgeliebter – « Also war dieses noch immer für Thea das erste Gebot, dem sie sich demütig fügte. Nur gut, daß dieser »Herzgeliebte« selbst so ein schwärmerisch veranlagtes Gemüt war, sonst wäre ihm so viel süßduselige Fügsamkeit allmählich auf die Nerven gefallen. So jedoch gab es zwischen dem Paar nur Güte und Liebe – und mehr konnte man von der Ehe nun wirklich nicht verlangen. Doch Thea hatte mit ihrer Vermutung recht. Es war ein reiches Erbe, das Eike Hadebrecht gemeinsam mit seiner Tochter antreten konnte, und das ihm kraft des Gesetzes zukam. Deshalb sträubte er sich nicht, es anzuerkennen. Klein-Ute merkte nichts davon, daß sie jetzt keine Mutter mehr hatte. Sie wurde von so viel Liebe umgeben, daß sie wie ein treubehütetes Pflänzchen wachsen und gedeihen konnte. An einer Spielgefährtin mangelte es Ute auch nicht, denn Anka weilte nach wie vor mehr bei ihren Großeltern als zu Hause. Sie besuchte jetzt die Schule und kam sich sehr wichtig vor. Altklug war sie immer noch und vorwitzig auch. Aber das würde sich schon mit der Zeit geben, wenn sie nicht mehr so ausschließlich mit ihrer Mutter zusammen war, die es auch jetzt noch nicht lassen konnte, schwerwiegende Gespräche vor den spitzen Ohren ihrer Tochter zu führen. Und es war gut, daß nur Ottilie und Philchen allein es hörten, als Anka wichtig sagte: »Weißt du, Omi, was die Mami befürchtet?« »Da bin ich aber neugierig, mein Kind!« »Daß Onkel Eike Fräulein Silje heiraten wird. Das könnte dem fremden Mädchen noch so passen, sich hier ins mollige Nest zu setzen! Meinst du das auch, Omi?« Zuerst sahen die beiden Damen sich entsetzt an, doch dann fragte Philchen, so harmlos sie konnte:

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»Wann hat die Mami darüber gesprochen, Anka?« »Gestern – zum Papi.« »Und was sagte er darauf?« »Daß es ein großes Glück für Onkel Eike wäre, wenn er Fräulein Silje zur Frau bekäme. Das wäre nämlich ein ganz wunderbares Menschenkind. Und um Geld brauchte Onkel Eike doch wahrlich nicht zu heiraten, nach dem Erbe von Tante Ilona schon ganz und gar nicht.« »Und was sagte die Mami darauf?« »Sie sagte: Ja, wenn du meinst, Herzensschatz!« Jetzt hatten die beiden Damen Mühe, ein amüsiertes Lachen zurückzuhalten. Doch sie durften das Kind nicht stutzig machen. Daher meinte Philchen harmlos: »Weißt du, Anka, man darf nicht alles wiedererzählen, was zwischen den Eltern gesprochen wird.« »Das tu ich sonst auch nicht«, bekannte das Kind treuherzig. »Onkel Eike würde ich es bestimmt nicht sagen und Fräulein Silje auch nicht. Ich habe ein Gedicht in der Schule gelernt, das mir sehr gefällt. Ein Vers lautet so: Du hast zwei Ohren und einen Mund, mach’s dir zu eigen, gar manches sollst du hören - und manches verschweigen. Ist das nicht hübsch gesagt, Tante Philchen?« »Ja, du kleine Philosophin«, zog sie das Kind an sich, es herzlich küssend. »Wenn du diese Mahnung befolgst, wirst du nie eine Plaudertasche werden.« »Oh, das will ich gewiß nicht sein. Papi meint – « Nun lachten die beiden Damen denn doch. Und Anka, die ja nicht wußte, worum es ging, tat fröhlich mit. »Dieser Reinhold in seiner menschlichen Güte scheint sich nicht nur auf seine Frau, sondern auch auf seine neunmalkluge Tochter segensreich auszuwirken«, sagte Philine lachend zu ihrer Schwägerin, nachdem die beiden Kinder gegangen waren.

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Der Herbst verging, der Winter kam und mit ihm Eis und Schnee. Schwer lag er auf den Bäumen des Parkes, die ob der schweren Last ächzten und sie dennoch geduldig trugen. Die Wege waren freigeschaufelt, so weit sie um das Hadebrecht-Haus führten. Alles andere jedoch lag unberührt in seiner fleckenlosen Weiße. Es war schön, sich draußen in der Kälte zu tummeln und dann zurückzukehren ins traute Wohngemach, wo auf dem Tisch die knusprigen Bratäpfel standen und Grog von Rotwein oder Rum. Hie und da tauchte auch schon Weihnachtsgebäck auf, die Kerzen am Adventskranz knisterten leise. Wie war es doch dann so lieb und traut, wenn Silje den beiden Kindern die alten Weihnachtsmärchen erzählte, denen aber auch die Erwachsenen gern lauschten! Die weiche, herzwarme Stimme zu hören, war allein schon ein Genuß. Und wie reizend sie zu plaudern wußte von Knecht Ruprecht und den Engelein, die seine Helfer waren! Von den armen Kindern, die von ihm beschenkt wurden, von dem Mädchen mit den Zündhölzern, von der Schneekönigin und so weiter. Dabei wurde immer das Böse bestraft, und das Gute triumphierte. »Demnach müßte Tante Ilona jetzt in der Hölle sein«, meinte Anka nach einer Erzählung in ihrer bedächtigen Art. »Denn sie war nicht lieb und gut, sondern schlecht und zänkisch, sagt meine Mami.« Die Erwachsenen hielten vor Spannung den Atem an, was Silje wohl auf diese berechtigte Feststellung antworten würde. Und schon kam es, was lieb und versöhnend klang: »Da irrst du, Anka. Tante Ilona mußte so sein, weil der liebe Gott es wünschte. Jetzt sitzt sie oben bei den Engelein und berät mit ihnen, was wohl zu tun wäre, um deine geheimen Weihnachtswünsche zu erfüllen.« »Oh, dann weiß sie wohl auch, daß ich mir eine kleine Kinokamera so sehnlich wünsche?« fragte Anka aufgeregt,

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und Silje nickte. »Gewiß weiß sie das.« »Und weiß sie auch, daß meine Puppe Dido ihr Bettchen zerbrochen hat?« forschte die Kleine nicht weniger aufgeregt. »Auch das weiß sie, Utelein.« »Na, dann kann die Dido zufrieden sein.« Es klang so drollig, daß die anderen herzlich lachen mußten. Selbst der Papi, von dem jetzt langsam der düstere Ernst abzufallen schien. Jedenfalls war es jetzt schön im Hadebrecht-Haus, wozu der Frohsinn und das goldige Lachen Siljes viel beitrugen. Man liebte sie mit tiefer Zärtlichkeit; auch Anka tat es jetzt. Und dann kamen noch einige Menschen hinzu, denen das frischfröhliche Mädchen ein Begriff wurde. Und zwar ein Vetter Philipps mütterlicherseits, der in jungen Jahren nach Amerika ausgewandert war und sich dort durch Tüchtigkeit und eine reiche Heirat ein recht warmes Nest geschaffen hatte. Diesen packte nun plötzlich die Sehnsucht, wieder einmal ein echt deutsches Weihnachtsfest zu verleben. Und da er ein Mensch von raschen Entschlüssen war, fackelte er nicht lange, sondern machte mit Gattin und Sohn »einer kleiner Abstecher« nach Deutschland. Traf kurz vor Weihnachten bei seinem Vetter Philipp ein, der ihm von der ganzen Verwandtschaft immer am liebsten gewesen war. Und mit diesen drei Menschen kam frohes, lärmendes Leben ins Haus. Dick Brown, in seinem Taufschein stand Richard Braun, war ein smarter Geschäftsmann. Seine Gattin zierlich und quicklebendig, sein Sohn das, was man ein kreuzfideles Haus nennt. Es gab nun einen Wirbel vor dem Fest, daß man kaum zur Besinnung kam. Mabel, die Mutter, und Bob, der Sohn, waren der Ansicht, daß Weihnachten feiern einen Waggon voll Geschenke bedeutete. Nur mühsam konnte man es ihnen ausreden und bereitete ihnen damit eine

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Enttäuschung. Wie denn – man hatte doch Geld genug, um die Gastgeber und deren Anhang gewissermaßen von oben bis unten beschenken zu können! Aber leider schienen diese Menschen selbst Geld genug zu besitzen, um sich jeden vernünftigen Wunsch gegenseitig erfüllen zu können. Das heißt, bei Thea hätten sie ihr Portemonnaie ganz weit aufmachen können, sie wäre davon hochbeglückt gewesen. Aber gerade bei ihr lag ihnen am wenigsten daran. Ihnen gefiel sie nicht besonders, »dieses verdrehliche Frau«, wie Mabel sie nannte, der die deutsche Sprache nicht so geläufig war wie Gatten und Sohn. Reinhold – na ja, mit dem ging’s, obwohl er ein zu »behutsames Mann« war und Anka zu »weisernasen«. Aber die anderen, die gefielen ihnen gut. Am besten das »entzuckender Mädchen«, in das sich der junge Brown gleich über Kopf und Kragen verliebte und das er möglichst vom Fleck weg heiraten wollte, wie er sofort seinen Eltern kategorisch erklärte. Nun, die Eltern hatten nichts dagegen. Und sollte diese überstürzte Ehe etwa schiefgehen, konnte sie ja geschieden werden. Warum also dem Jungen den Spaß verderben? Deshalb hätten sie Silje am Weihnachtsabend auch am liebsten mit Geschenken überschüttet, mußten sich jedoch dem ziemlich deutlichen Verbot des Hausherrn fügen. So erhielten sie denn alle am Weihnachtsabend »Aufmerksamkeiten«, mit denen sie nichts anzufangen wußten. Traurig sah Thea auf ein Kochbuch, das sie schon besaß, und Reinhold verblüfft auf Sockenhalter elegantester Ausführung. Man war der Ansicht, daß der Mann so was bestimmt noch trüge. Ottilie und Philine bekamen Zigarettenspitzen, weil sie überhaupt nicht rauchten, Philipp eine Krawatte, an der ein Dandy seine helle Freude gehabt hätte, und Eike eine Hundepeitsche, weil man momentan keinen Hund im Hause hatte, da der alte eingegangen war. Und Silje? Heißerrötend betrachtete sie den Witz von

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Nachtkleid, eine Gabe Mabels, mit einem Lachen kämpfend, die reizende Puderdose, für die Dick verantwortlich zeichnete, und mit Unbehagen den Strauß roter Rosen nebst Riesenbonbonniere, zu denen sich Bob strahlend bekannte. Anka empörte sich heimlich über das Bilderbuch. »Für unsere Kleinen«, und nur Ute war selig über die große Puppe, die sie kaum fortschleppen konnte. Doch die Aufmerksamkeiten, welche die Gäste erhielten, waren tatsächlich sinnvoll gewählt und riefen bei den verwöhnten Menschen kindliche Freude hervor. Jedenfalls hatten alle ihr Bestes gewollt, und das allein war schon anerkennenswert. Was man mit Silje vorhatte, unterbreitete das Ehepaar Brown den anderen – außer den beiden Hauptbeteiligten, die eine Schlittenfahrt machten – als man am ersten Feiertag geruhsam beisammensaß. Aber da machte der Hausherr ihnen klar, daß es doch nicht ganz so einfach wäre, wie sie annahmen. Denn er wäre als Vormund nicht gewillt, sein Mündel in unsichere Verhältnisse gehen zu lassen. »Na, erlaube mal, was sollen das denn wohl für unsichere Verhältnisse sein!« brauste der Vetter auf. »Unser Haus ist ein gutes und reiches.« »Das bezweifle ich ja auch gar nicht«, beschwichtigte Philipp den Aufgebrachten. »Ich habe damit nicht euch persönlich gemeint, sondern die Verhältnisse im fremden Land. Außerdem weiß man ja gar nicht, ob Silje deinen Bob überhaupt liebt.« »Hach, dann sein das eine lachhafte Girl!« fühlte die Mutter des jungen Mannes sich in ihrer Eitelkeit getroffen. »Meiner Sohn können haben Frauen ohne Zahlen. Aber er willen nicht, er willen das Silje. Und ich und meiner liebe Mann wollen auch. Und ihr sein eine abgünstige Pack, willen ich sagen.« Das war zwar ernst gemeint, klang jedoch so drollig, daß die anderen lachen mußten. Und da Frau Mabel kein

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Spielverderber war, tat sie lustig mit. Jetzt traten auch die beiden jungen Menschen hinzu, lustig und fidel, mit kältegeröteten Wangen und blitzenden Augen. »Wir sind Schlitten gefahren«, berichtete Bob strahlend. »So richtig mit Pelzdecken und lustigen Schellen, wie du es uns immer erzähltest, Daddy. Das war ein Spaß – und ich bin glücklich!« Man glaubte es ihm ohne weiteres, wenn man seine leuchtenden Augen sah – und die Siljes leuchteten nicht minder. Philines Herz zog sich schmerzend zusammen. Was sollte werden, wenn Silje sich wirklich in den jungen Mann verliebt hatte? Dann würde es bestimmt so kommen, wie er und seine Eltern es als Selbstverständlichkeit annahmen. Das sagte sie auch zu Schwägerin und Bruder, als sie diese am nächsten Morgen allein erwischen konnte. Und während Ottilie bekümmert dreinschaute, sagte Philipp unwirsch: »Ich werde aus Eike überhaupt nicht mehr klug. Hat er denn gar kein Blut in den Adern, daß er so gelassen mit ansehen kann, wie ein anderer ihm das prächtige Menschenkind gewissermaßen vor der Nase wegschnappt? Der Kuckuck soll das alles holen!« »Aber Mann, wie kann man gleich so ungehalten sein!« beschwichtigte die Gattin den Erbosten. »Vielleicht liebt Eike das Mädchen gar nicht so, wie wir immer annahmen.« »Dann ist er ein Narr!« Die Tür knallte hinter ihm zu, und Ottilie klagte: »Ach, Philchen, daß wir aus dem Hadebrecht-Haus doch nicht zur Ruhe kommen können! Wären sie doch nur zu Hause geblieben, die uns jetzt unsere Silje nehmen wollen!« »Na, na, noch ist es ja nicht soweit«, tröstete die Schwägerin – aber überzeugend klang das nicht. Und auch Philine wünschte, gleich ihrem Bruder, diese überhebliche Verwandtschaft zum roten Kuckuck.

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Die Hände in den Hosentaschen, einen schmissigen Schlager vor sich hin pfeifend, so schob sich Bob ins Zimmer, wo seine Eltern in Gesellschaft Ottilies und Philines saßen. »Morgen!« grüßte er nachlässig. »Schon gefrühstückt?« »Schon ist gut«, lachte der Vater. »Es ist zehn Uhr. Verschlafen, my boy?« »No«, ließ er sich in einen Sessel fallen und gähnte ungeniert. »Aber ich hatte keine Lust, früher aufzustehen, weil ich nicht weiß, was ich anfangen soll. Ohne Silje macht mir alles keinen Spaß.« »Schläft sie noch?« fragte die Mutter verwundert. »Nein, sie arbeitet. Als ob sie das jetzt noch nötig hätte, wo sie ohnehin meine Frau wird!« »Oh, dann sein sie schon dein liebes Braut?« »Noch nicht, Ma, noch tut sie spröde. Aber das legt sich bald.« »Also noch kein Küßchen?« zwinkerte der Vater seinem Filius verschmitzt zu, der unwillkürlich die Handflächen an die Wangen legte. »Lieber nicht!« schnitt er dabei eine Grimasse. »Ich glaube, die haut.« »Das glaube ich auch«, lachte Philchen schadenfroh. »Die gehört nämlich nicht zu den Mädchen, die sich gleich küssen lassen.« »Aber ich kenne sie ja schon seit einer Wochen!« war Bob verwundert. »Das ist doch eigentlich schon lange. Aber wenn ich von Heiraten spreche, lacht sie mich aus – und sie kann so wonderful lachen. Ich muß sie gleich mal sehen, sonst komm ich vor Sehnsucht um.« Weg war er, um jedoch schon nach einer halben Stunde zurückzukehren, verärgert und verdrießlich. »Na, gemütlich geht’s in dem Betrieb bestimmt nicht zu«, maulte er. »Da sitzt alles wie hinter Gefängnismauern. Auf meine Frage, in welchem Zimmer ich Fräulein Berledes sprechen könnte, bedauerte das Ekel von Portier, daß die Angestellten während der Dienstzeit überhaupt nicht zu

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sprechen wären.« »Haben du ihm nicht dafür eins gelangt?« fragte die Mutter empört. »Du sein doch hier Gast vom Boß!« »Das sagte ich ihm auch, worauf er denn gnädig durch den Apparat fragte, wo man das gnädige Fräulein momentan finden könnte. Sie ist beim Juniorchef zum Diktat, sagte er mir dann. Na, was ich ihm darauf sagte, weiß ich nicht mehr, aber ein Gentleman sagt so was sonst nicht«, schloß er verdrossen. Philchen lachte ihn lieblich an. »Jetzt weißt du wenigstens, wie das ist, wenn in euren Betrieb ein junger Mann kommt, der eine Angestellte während der Dienstzeit sprechen will. Denn ich glaube nicht, daß die Geschäftsdisziplin bei euch anders ist als bei uns.« »Ach was, Silje ist ja gar nicht richtig eine Angestellte!« maulte er weiter wie ein Kind, dem man ein begehrtes Spielzeug vorenthielt. Aber Philchen beharrte: »Doch, sie ist’s – und wünscht selbst keine Ausnahme zu machen.« Das sagte ihm Silje auch persönlich, als sich Bob am Mittagstisch über den mißglückten Besuch bei ihr beklagte. »Mein lieber Herr Brown, bei uns heißt es: Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.« »Racker!« drohte Brown senior ihr schmunzelnd. »Aber ein entzückender! Nun steck deine finstere Miene weg, boy – deiner Sehnsucht Traum sitzt ja neben dir. Die Chefs werden ihrer armen Angestellten einen Sonderurlaub bis zum Ende des Jahres bewilligen, das ja nur noch vier Tage währt. Nicht wahr, ihr Gestrengen?« »Nein«, entgegnete Eike gelassen. »Wenigstens ich nicht, da Fräulein Berledes zur Zeit als Nachfolgerin von meiner Sekretärin eingearbeitet wird, die mit dem letzten Tag des Jahres aus dem Betrieb ausscheidet, weil sie heiraten will.« »Na, das wollen wir doch mal sehen!« brauste Bob auf. »Ich gedenke nämlich auch zu heiraten, und zwar Silje.«

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Weiter kam er nicht unter den ironischen Blicken Eikes, der mit einer Ruhe, die andere manchmal rasend machen konnte, meinte: »Das ändert allerdings die Sache. Da kann Fräulein Berledes selbstverständlich zu jeder Zeit aus ihrem Dienst ausscheiden.« »Aber das will ich ja gar nicht!« schaltete sich jetzt Silje ärgerlich ein. »Wie kommen Sie denn überhaupt dazu, so ohne weiteres über mich zu verfügen, Herr Brown?« »Aber Silje – du hast doch gesagt – du wolltest doch – «,stotterte er unter ihrem zürnenden Blick. »Nichts habe ich, und nichts wollte ich, verstanden? Was fällt Ihnen ein, mich mir nichts, dir nichts zu duzen? Soviel ich weiß, habe ich Ihnen die Erlaubnis dazu nicht erteilt.« »Aber du tust es jetzt, nicht wahr?« schmeichelte Bob, seinen Kopf dem ihren ganz nahe bringend. Sein Arm hob sich, um die Zurückweichende, in deren Augen es gefährlich aufblitzte, zu umfassen – und da hob die Hausherrin geistesgegenwärtig die Tafel auf. Ehe man so recht zur Besinnung kommen konnte, hatte Silje das Zimmer verlassen. »Na, das sein ja ein ganz ungeratener Mädchen!« sprach Frau Mabel da in die beklemmende Stille hinein. »Du haben es übel gezogen, deine Mündel, Phil. Bei uns wir kennen solches nicht.« »Dann seid froh!« lachte der Hausherr über das ganze Gesicht. Am liebsten hätte er einen Jauchzer ausgestoßen, so froh war ihm zumute. Ottilie und Philchen strahlten – und Eike hatte ein ganz eigenes Leuchten in den Augen. Und das sollte Frau Mabel nun verstehen, die sich zutiefst gekränkt fühlte! Nein, die Verwandten des Gatten gefielen ihr plötzlich gar nicht mehr. Und dieses Mädchen – anstatt himmelhoch dankbar zu sein, daß »so ein reiches Mann« wie Bob es überhaupt heiraten wollte, spielte es sich wie eine Erbtochter auf, hinter der Milliarden standen!

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»Kommt, wir gehen raus aus dieser Haus, wo man lacht über Weinen!« erklärte sie energisch. »Anstatt ungezogener Mädchen blasen das Marsch, lassen man es frech gehen. Packen wir Sachen und sagen bye-bye!« Leider verfehlte diese zornerfüllte Rede, welche die Hadebrechts samt und sonders in Grund und Boden schmettern sollte, ihre Wirkung, weil sie gar zu drollig klang. Selbst auf dem Gesicht des Gemahls der resoluten Dame zeigte sich ein Schmunzeln. Denn er nahm diese Angelegenheit durchaus nicht tragisch. Du lieber Himmel, sein Junge war bestimmt nicht auf dieses süße kleine Mädchen angewiesen – der bekam Frauen noch und noch! War’s nicht diese, war’s eben eine andere. Aber er mußte dennoch so tun als ob, um die Gattin nicht noch mehr zu erzürnen. Wenn Mamchen befahl, hatten Papa und Sohnemann zu gehorchen, das war nun mal erstes Gesetz im Hause Brown. Und so kam es denn, daß die Gäste ebenso plötzlich verschwanden, wie sie vor einer Woche aufgetaucht waren. Silje, die wie gewöhnlich pünktlich zum Dienst gegangen war, erfuhr diese Neuigkeit erst nach ihrer Rückkehr. Und zwar von Philchen, die sie auf ihrem Zimmer bereits ungeduldig erwartete. »So bin ich es – wirklich ich – welche die Veranlassung zu der überstürzten Abreise gab?« fragte sie erschrocken. »Das habe ich bei Gott nicht gewollt! Ist man mir hier im Hause bitter gram, daß ich die Gäste vertrieben habe?« »Aber gar nicht!« beruhigte Philchen scheinheilig. »Da brauchst du gar nicht so ängstliche Augen zu machen. Oder tut es dir leid, daß du deinen Freier los bist?« setzte sie lauernd hinzu. Silje winkte fast verächtlich ab. »Ach, woher denn? Froh bin ich, daß ich mich gegen den stürmischen jungen Mann nicht mehr zu wehren brauch. O Gott, hatte der ein Tempo! Verlobung, Hochzeit, Scheidung – das möglichst an einem Tag. Warum lachst du

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denn so vergnügt, Philchen?« »Über deine komische Entrüstung, Marjellchen. Aber du hast recht, ein solches Tempo sind wir hier nicht gewohnt – Gott sei Dank! Doch nun komm, der Gong ruft zum Abendessen. Ich bin ordentlich froh, daß man es jetzt wieder ohne die quecksilberige Gesellschaft einnehmen kann. Es sind zwar liebe, gute Menschen, die Browns, aber sie können einem mit ihrem schwindelerregenden Tempo auf die Nerven fallen.« »Philchen, ich habe Angst.« »Wovor denn?« »Daß man mir unten Vorwürfe machen könnte.« »Schaf«, entgegnete Philchen, und es klang sehr, sehr zärtlich. »Hast du eine Ahnung! In Gold möchten sie dich am liebsten fassen.« Das verstand Silje zwar nicht, war jedoch froh, als man sie unten mit besonderer Herzlichkeit empfing. So gut Bob Brown ihr in seiner frischen Jungenhaftigkeit auch gefallen, so sehr hatte sie sich von seinen ehrlichen Heiratsabsichten bedrückt gefühlt, weil sie seine Frau nun einmal nicht werden konnte und auch nicht wollte. Denn ihr Herz lag tief verankert im Hadebrecht-Haus. Es verlassen sollen, hieße für sie, ihr Leben aufgeben müssen – auch wenn ihres Herzens bangende Sehnsucht keine Erfüllung finden sollte. Ihr blieb dann immer noch ein liebes, trautes Zuhause. Und wie traut dieses Zuhause war, kam dem Waisenkind Silje Berledes erst jetzt so recht zum Bewußtsein. Es umfing sie wie mit linden Armen, wenn sie vom Dienst kam, der ihr selbst schon so viel Schönes bot. Was tat’s, daß der Juniorchef sie stets korrekt als Sekretärin behandelte? Er war ihr nahe, sprach mit ihr. Hatte sogar ein Lächeln für sie – und wenn es gleich einem Lapsus galt, der sich manchmal noch in ihre Arbeiten stahl. Aber dieses Lächeln war so lieb und gut, daß die Sekretärin es am liebsten immer wieder heraufbeschworen hätte – wenn ihr Ehrgeiz nicht gewesen wäre.

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Also nahm sie sich zusammen. Sie wollte doch dem gestrengen Chef beweisen, daß er keinen Fehlgriff tat, als er gerade sie zur Nachfolgerin seiner tüchtigen Sekretärin erwählte. Nicht der Protektion wollte sie diesen bevorzugten Posten verdanken, sondern allein ihrem Können. So wurde im Dienst durchaus korrekt gearbeitet. Aber zu Hause, ja, da war es anders. Da war Eike Hadebrecht nicht mehr der Juniorchef und Silje Berledes nicht mehr die noch unsichere Sekretärin, da war man Mensch zu Mensch. Viel mehr noch. Silje war ein zärtlich geliebtes Haustöchterchen, das man um alles in der Welt nicht mehr missen wollte. Das war schon lange so gewesen, war aber Silje nie so bewußt geworden wie in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr, als die »Holterdiepolters«, wie Philipp seine amerikanischen Verwandten bezeichnete, hier herumspektakelten und Silje gar mit sich wirbeln wollten in ein ihr fremdes Land. Da packte Silje bebende Angst, die erst schwand, als die Gefahr vorüber war. Sie durfte sich jetzt wieder sicher fühlen unter den Menschen, die sie von ganzer Seele liebte und denen sie mit ganzem Herzen verfallen war. Und am Tage vor Silvester kam auch wieder die Geige zu Wort, die nach Ilonas Tod geschwiegen hatte. Man wollte sie endlich wieder einmal hören, und gern gab Silje dem Wunsch nach. Wie etwas Heiliges hielt sie die Geige des einst so strahlenden Künstlers Thomas Brecht im Arm, dessen Liebe zu seiner Stieftochter noch über das Grab hinaus wirkte. Denn hätte er diese kurz vor dem Tode seinem Vater nicht so warm ans Herz gelegt, dann wäre es Silje Berledes genauso ergangen wie anderen elternlosen, unbehüteten Jungmädchen. »Laß meine Silje, die mir genau so wert ist wie ein eigenes, herzliebes Kind, eine traute Heimat im Hadebrecht-Haus finden – «, schrieb der Mann flehentlich, der schon seinen Tod nahen fühlte. »Laß sie zu euch gehören wie ein junges

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Reis am Baum – und es wird ein gutes Reis sein.« An diese Worte dachte Philipp Hadebrecht, als das Vermächtnis seines Sohnes an ihn jetzt holdselig dastand. Gebe Gott, daß das Schicksal dieses zarte Reis nicht vom Stamm der Hadebrecht abschlüge! Fast wäre es schon soweit gewesen, daß man dieses zarte Reis auf einen fremden Stamm gepfropft hätte. Aber noch war dieses unerbittliche Schicksal an denen im Hadebrecht-Haus vorübergegangen. »Laß mich, Tante Philchen!« wehrte Eike, als diese an den Flügel treten wollte, um das Geigenspiel zu begleiten. »Was die Geige des Meisters zu sagen hat, werde auch ich begreifen.« »Na, wenn man«, betrachtete Philchen ihren schneidigen Neffen skeptisch. »Dazu gehört viel Herz und viel Gefühl.« »Wer sagt, daß ich beides nicht habe?« »Deine Gelassenheit, mein Sohn.« Da lachte Eike Hadebrecht so frei und froh, wie er schon lange nicht mehr gelacht hatte. Er nahm am Flügel Platz und präludierte so lange, bis eine bekannte Melodie hörbar wurde, die Silje auf der Geige sofort aufgriff. Es war ein Zusammenklang der Instrumente in seliger Freude, in Lust und Schmerz, wie es der fremdländische Prinz in Lehárs unsterblicher Operette »Das Land des Lächelns« empfand: Dein ist mein ganzes Herz – wo du nicht bist, kann ich nicht sein – Wie eine Offenbarung klang es, wie ein Bekenntnis voll süßer Schwere, dieses flehende: Wo du nicht bist, kann ich nicht sein. Das war schon oft gesagt von Dichtern, schon oft empfunden von Herz zu Herz. Aber es blieb immer neu, das beschwörende: Wo du nicht bist, kann ich nicht sein. Und wird es bleiben, solange die Welt atmet, solange sehnsüchtige Menschen darauf leben.

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Dann wich das Klavierspiel von der Melodie ab, erging sich in Variationen, bis eine andere Weise aufklang, die auch der Geigerin wohlbekannt war. Sie erzählte von dem schönen Spielmann, der am Waldessaum schlief und dem sich im Traum drei wunderschöne Mädchen vorstellten: »Der Glaube und die Liebe, die Hoffnung heißen wir, wen du von uns erwählest, zieht in dein Haus mit dir.« Der Spielmann ward verlegen und sagt’: »Ich hab’ kein Haus, ihr alle drei sollt folgen, mir in die Welt hinaus.« »Nur eine kann dir folgen, nur eine, die wird dein, nur eine darfst du wählen, nur eine soll es sein.« »Darf ich nur eine wählen, und soll es nur eine sein, dann wähl ich mir die Liebe, die sei fortan die Mein’.« Da sprachen die drei Mädchen: »Du trafst die rechte Wahl, die Liebe ist im Leben das höchste Glück zumal. Wir andern aber beide, wir wollen auch mit dir gehn, denn ohne Glaube und Hoffnung, kann die Liebe nicht bestehn.« Schon längst hatte die herzinnige Stimme der Geigerin eingesetzt, gleich zu Anfang des Liedes. Wie träumend sprach der jungrote Mund, was ein Dichter einst empfand, dessen Worte Ewigkeitswert behalten sollten. Denn Liebe ist wohl zuerst allein schon beglückend genug, doch wenn sie Bestand haben soll, dürfen Glaube und Hoffnung dabei nicht fehlen. Silje Berledes war noch nie so schön gewesen, wie jetzt in ihrer Verträumtheit. Der Mann am Flügel konnte keinen Blick lassen von der zaubersüßen Gestalt. Um seinen Mund lag jetzt das Lächeln, das Silje so sehr an ihm liebte, und in seinen Augen stand ein glückhaftes Leuchten. Die Zuhörer wagten kaum, sich zu rühren, fühlten sich wie verzaubert durch eine fremde, heilige Macht. Am Silvestermorgen geschah dasselbe wie vor einem Jahr. Philchen weckte das Geburtstagskind eine Stunde früher als gewöhnlich. Sah schmunzelnd mit an, wie die verschlafenen Augen blinzelten, wie der Mund sich zu

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einem herzhaften Gähnen öffnete, wie der jugendschöne Mädchenkörper sich dehnte und streckte. »Das alles habe ich schon einmal erlebt«, meinte Philchen trocken. »Nur daß du damals ein Jahr jünger warst, du kleine Schlafmütze.« »Hach, Geburtstag habe ich heute!« machte Silje einen Freudensprung aus dem Bett. »Sag Philelinchen, was wird er mir bringen?« »Wahrscheinlich niedliche Fixfaxereien.« »Und weiter?« »Mädchen, ich bin keine Hellseherin.« »Aber ein Scheusal – und zwar ein sehr geliebtes«, lachte das frischfröhliche Menschenkind die Tonleiter auf und nieder. Dann verschwand es im Badezimmer, rückte bald darauf blankgeputzt in Philchens Wohngemach an – und machte ein enttäuschtes Gesicht. »Philinchen, es sieht ja hier aus wie immer!« »Na, was denn sonst, du kleines Schaf? Meinst du etwa, daß du immer noch mein alleiniges Eigentum bist wie vor einem Jahr? Man macht mir dieses Besitzerrecht schon längst streitig. Komm nach unten, da findest du heute deinen Geburtstagstisch.« Und er war reich, wie Silje bald darauf feststellen konnte. Für die entzückenden »Fixfaxereien« zeichneten Ottilie und Philine, doch für das Sparkassenbuch mußte der Vormund geradestehen. Die darin vermerkte Summe war so hoch, daß Silje sie zuerst erschrocken anstarrte – und dann zu protestieren versuchte. »Onkel Philipp, das geht doch nicht…« »Warum nicht? Ich werde meinem Mündel doch wohl noch ein Geburtstagsgeschenk machen können!« »Dann streich bitte zwei Nullen.« »Fällt mir gar nicht ein. Noch etwas?« »Nein, ich füge mich schon«, lachte Silje. Und dann blieb ihr Blick an einem Strauß haften, der gleich einem flammenden Liebesgruß alles andere

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überstrahlte. Rote Rosen waren es, zwanzig an der Zahl, die in einer kostbaren Vase prunkten. Und ebenso leuchtend rot waren die Wangen des Geburtstagskindes, das den Blick nicht zu heben wagte. Es bot einen holden Anblick, der den Menschen, die es umstanden, das Herz aufgehen ließ, ganz groß und weit. Und was kam da angetrippelt? – Ute Hadebrecht, in der ganzen Allerliebstheit ihrer drei Jahre. Das mollige Körperchen steckte in einem niedlichen Strickkleid, die dicken Patschen hielten mehr liebevoll als vorsichtig einen Strauß Christrosen, der nun dem Geburtstagskind strahlend gereicht wurde. »Da, nimm, Tante Sil!« plauderte das rote Mündchen, das sich immer noch nicht zu schwierigen Worten formen wollte und es daher nonchalant bei Abkürzungen ließ. »Da nimm – mit Gottes Segen.« »Aber Ute, das kommt doch erst in dem Gedicht vor, das du der lieben Tante aufsagen sollst!« bemerkte der Vater lachend, doch das Töchterlein winkte mit der Geste einer Dame von Welt ab: »Laß nur Papi, geht so besser.« »Und kommt auf eins heraus«, lachte der Opapa in seinem dröhnenden Baß. »Du hast den Sinn erfaßt, Marjellchen! Aber was umspannt denn da dein molliges Ärmchen? Das sieht ja ganz nach einer goldenen Fessel aus.« »Das ßenk ich Tante Sil«, erklärte das Mägdlein strahlend. »Das da unten, das ist meins.« Damit tippte das rosige Fingerchen auf ein silbernes Kettchen am Handgelenk, doch darüber gleißte es von Gold und Edelsteinen. Als das tapsige Händchen dieses Kleinod abstreifen wollte, verfing es sich in dem silbernen Kettchen, und die Kleine lachte. »S-treif über, Tante Sil, dann sind wir beide ßzusammengebunden. Dann kannst du nis mehr weg, wie Anka sagt und ihre Mami. Auch nis mal bis Amerika.« Man konnte sich ungefähr denken, was das Kind da aufgeschnappt hatte und nun in seiner Unschuld

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wiedergab. Doch bevor noch ein Peinlichkeitsgefühl aufkommen konnte, griff schon eine nervige Männerhand zu, löste geschickt das Armband von dem silbernen Kettchen und streifte es rasch auf einen weichen, warmen Mädchenarm. »Is aber von mir!« bemerkte das Mägdlein stolz. Bevor es noch mehr ausplaudern konnte, warf Philchen eine trockene Bemerkung dazwischen, die sie alle herzlich lachen machte. »Leider müssen wir zwei Mannsleut noch eine dringende Geschäftsreise machen«, erklärte der Hausherr, als man am Frühstückstisch saß. »Wir täten’s wahrhaftig nicht, wenn nicht so viel davon abhinge. Aber am Abend sind wir bestimmt zurück, und wenn es da gleich Eisklumpen hageln sollte.« Nachdem man gefrühstückt hatte, sagte der Senior schmunzelnd: »Nun komm, mein Sohn. Begeben wir uns hinaus zur Mutter Natur, die alles so herrlich vereist hat. Wagen wir uns hinaus in die klirrende Kälte. Warum lacht ihr? Ich bin ja schließlich nicht umsonst der Vater meiner poetischen Tochter Thea.« Und tatsächlich sagte diese, als sie gegen zehn Uhr mit dem Gatten im Elternhaus eintraf: »Daß wir uns in die klirrende Kälte hinausgewagt haben, sei euch ein Beweis, wie sehr wir an euch Lieben hängen. Viel lieber hätten wir den Eintritt des neuen Jahres im trauten Heim verlebt, von dem wir so viel Köstliches erwarten. Nicht wahr, Herzschätzelein?« Der so zärtlich Benamste schwieg. Denn er war ein Philosoph – und zwar ein lächelnder. Immer nur lächeln, sagte er sich, das ist für mich bequem und tut anderen nicht weh. Seine Welt waren die Bücher, aus denen er Weisheit und Frieden schürfte. Alles andere lag in den Händen der Gattin, die für sein leibliches Wohl vorbildlich sorgte. Und wenn sie überschwenglich wurde – nun, das nahm er

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mit lächelnder Nachsicht hin. Von seiner Stieftochter Anka merkte er kaum etwas, da sich diese fast ausschließlich im Hadebrecht-Haus aufhielt. Aber was sollte werden, wenn nach sechs Monaten ein kleiner Schreihals die jetzt so friedliche Wohnung durchbrüllte? Das mußte man erst einmal abwarten. Jetzt jedenfalls verhielt der Mann sich still, als die Gattin von dem kommenden kleinen Wesen schwärmte. Es würde bestimmt so sein, wie sie es sich wünschte. Das war die Zuversicht, die alle werdenden Mütter gemeinsam haben. »Na, laß man, es wird schon werden«, brummte Philipp, dem die Überschwenglichkeit Theas allmählich auf die Nerven ging. Er wünschte seiner einzigen Tochter natürlich alles Glück auf Erden – aber im Augenblick lag ihm das des Sohnes viel mehr am Herzen. Würde er heute endlich das Wort sprechen, das längst fällig war wie eine überreife Frucht? Worauf wartete der schwerfällige Junge denn noch? Etwa bis das Trauerjahr um Ilona vorüber war? Darauf brauchte er bestimmt keine Rücksicht zu nehmen. Gewiß, sie hatte ihm einmal ein karges Glück gegeben, das jedoch schon endete, bevor es richtig begann. Was hinterher kam, war für den Mann ein mühsames Einlösen eines gegebenen Wortes. Der Tod war barmherzig genug gewesen, ein Band zu lösen, das schon längst vermorscht war. Das Grab lag fern von hier. Wurde betreut von den Eltern, die damit an ihrem toten Kind gutmachen wollten, was sie dem lebenden stets schuldig geblieben waren. Und das lebendige Vermächtnis der so wortreich Betrauerten? Nun, das lag jetzt wohlverwahrt in seinem Bettchen, neben dem noch ein zweites stand, in dem Anka friedlich schlummerte. Sie fühlte sich geborgener darin als in dem großen weißen Bett, das in ihrem neuen Elternhaus stand. Es war alles so kahl und leer in dem Stübchen, so gar nicht lieb und traut wie in dem, das der kleinen Base gehörte. Wenn diese auch noch ein kleines Dummchen

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war, mit dem ein Schulmädchen nicht ernsthaft reden konnte, aber sie war dennoch lieb, und das Bettchen, das neben dem ihren stand, weich und warm. Voll Behagen kuschelte Anka sich in die Daunen. Mochte die Mami doch reden von Brüderlein oder Schwesterlein, ihres war und blieb Ute, das süße Dummchen. Mit dem zärtlichen Gedanken schlief Anka ein. Was unten vor sich ging, kümmerte sie nicht. Sie war ein Kind, und Kind sein, heißt froh sein. Das hatte Tante Silje einmal in einem der Märchen, die sie so lieb erzählen konnte, gesagt. Seitdem war die Tante Silje für die neunmalkluge Anka ein Begriff, viel mehr noch als die Mami und der Papi, der ihr sowieso noch immer etwas fremd war. Ihre kleine Welt war und blieb das Hadebrecht-Haus, in dem sie auch heute aus dem alten Jahr ins neue sorglos hinüberschlummerte. Indes saß man unten geruhsam beisammen, diesmal ohne die Gäste vom vorigen Jahr. Man hatte da ja eine gute Ausrede wegen Ilonas Tod. Die junge Frau Bärbel hätte sowieso nicht kommen können, weil gerade heute der Storch ein kleines Mädchen in die bereitgehaltene Wiege plumpsen ließ, was den Gatten und auch die Eltern Bärbels beglückte. Da stand ihnen wahrlich nicht der Sinn danach, im fremden Hause das Neue Jahr zu erleben. Und die Seiflings? Nun, die mußten zu ihrem Mannerchen reisen, das sich augenblicklich auf der Hochzeitsreise befand. Ob das junge Paar sehr entzückt von dem Besuch der Eltern war, ließ sich allerdings nicht ergründen. Und der Weltmann Bergau? Nun, der befand sich seit einiger Zeit wieder einmal im Bannkreis einer »Mondänen«. Somit waren sie alle gut untergebracht, die vor einem Jahr im Hadebrecht-Haus als Gäste Silvester feierten. Ohne sie war es auch sehr schön – wenn nur nicht Thea gewesen wäre, die in ihrer überschwenglichen Schwärmerei über das »Kommende« und »Beglückende« langsam zur Nervenfolter wurde. Bis der Vater schließlich eine Bemerkung machte,

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die seiner schwärmerischen Tochter gewissermaßen in die falsche Kehle geriet. Da zog sie sich tiefgekränkt zurück, setzte sich an den Flügel und spielte – Wiegenlieder. Na schön, da war sie wenigstens gut untergebracht. Man hörte einfach nicht zu, sondern unterhielt sich angeregt, bis es draußen auf dem Fabrikgelände zu knallen begann. Da zog man sich die Mäntel an, trat auf den Balkon und ergötzte sich an dem sprühenden Schauspiel, das man schon so oft gesehen hatte und das doch immer wieder neu war. Silje hielt sich hinter den anderen, weil sie die Tränen nicht sehen lassen wollte, die ihr trotz aller Beherrschung über die Wangen liefen. Sie mußte an ihre Mutti denken, an ihren Paps – und dann gab es da noch etwas, das ihr das Herz so bitter weh tun ließ. Es tat allerdings schon lange weh, aber heute doch ganz besonders. Erschrocken fuhr Silje zusammen, als zwei Hände rücklings ihre Oberarme entspannten. Sie wußte wohl, wem diese Hände gehörten, deren Wärme sie durch den Pelz zu spüren glaubte. Ihr Herz tat tiefe, bange Schläge, als müßte es gesprengt werden von dem allmächtigen Gefühl, von dem es ausgefüllt war bis zum Rande. Langsam legte sie den Kopf zurück, bis er an einer Schulter Halt fand. Und dann fühlte sie zwei zuckende Lippen, die ihr unendlich zart die Tränen von den Wangen küßten. Es waren Augenblicke für die beiden Menschen, wie das Schicksal sie nur ihre Lieblingskinder erleben läßt. Die anderen hatten schon bemerkt, daß sich hinter ihrem Rücken zwei Herzen in tiefster, verschwiegener Glückseligkeit fanden. Sie sprachen lebhaft, lachten und scherzten – nur Thea nicht, obwohl man gerade von ihrem »poetischen Gemüt« die größte Zartheit erwarten durfte. Sie drehte sich neugierig um, doch bevor sie noch ihrem Erstaunen Ausdruck geben konnte, hatte Reinhold sie schon zu sich herangezogen. »Still – kein Wort jetzt!« sagte er leise, aber scharf- und da

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blieb ihr vor Überraschung der Mund offen. Und das war gut. Da ließ sie wenigstens das junge Paar in Ruhe, das hinter ihnen wie selbstvergessen verharrte. Und gerade als von den Türmen die Glocken läuteten, fanden sich die Lippen der beiden Menschen, in deren Herzen sich die hellen Glocken des Glücks mit den dunklen auf den Türmen jubelnd vermischten. Hinter ihnen im Zimmer ließ der Diener die Sektpfropfen knallen – und schon brandete es von unten auf, das vielstimmige: Prosit Neujahr!!! »Also, denn man ’rein mit euch ins Neue Jahr, geliebtes Brautpaar!« polterte Philipp, um seine Rührung zu verbergen. Hell klangen die Gläser zusammen, man wünschte sich gegenseitig viel Glück, lachte und jubelte durcheinander und war dann so schachmatt vor Freude, daß man sich erst einmal setzte und die lechzende Kehle mit dem prickelnden Naß ergiebig labte. Ach, wie war man doch froh, so recht von Herzen glücklich und zufrieden! Nur Thea weinte. »Ja, was ist denn mit dir los?« fragte der Vater verwundert. »Hat dich die Verlobung etwa so sehr erschüttert?« »Ach, das doch nicht«, tat sie wegwerfend ab. »Darum wird schon gerade genug Trara gemacht, während man von meiner Verlobung kaum Notiz nahm. Ich weine, weil mir eine bittere Kränkung widerfuhr. Oh, ich Arme! Mein Glück, mein Leben, mein Reinhold hat mich – angeschnauzt!« »Na, nu schlägt’s dreizehn!« lachte der Senior in seinem dröhnenden Baß. »Das kannst du auch, Reinimutziputzischätzle? Mann, du beginnst mir direkt zu imponieren!« »Na, so arg ist es auch wieder nicht«, winkte der Geneckte stillvergnügt ab. »Ich mußte leider kurzangebunden werden, weil zu einer längeren Erklärung keine Zeit blieb. Thea wollte nämlich die beiden Menschen, die sich eben in

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stiller Glücksversunkenheit gefunden hatten, mit Ausrufen der Verwunderung stören. Also, Theakind, es war nicht bös gemeint. Sei wieder gut!« »Ja, wenn du meinst, Herzensschätzelein – « »Na also!« schmunzelte der Senior. »Somit wäre ja alles in schönster Ordnung. Und nun zu euch, mein liebes Paar. Sei froh, mein Sohn, daß du dein ›Mutzuputzischätzchen‹ im Arm halten darfst – und nicht der draufgängerische Bob! Hast wahrlich nichts dazu getan, um ihm die ›zauberhafte Beute‹ abzujagen.« »Hätte ich das gemußt, so hätte die ›Beute‹ an Köstlichkeit für mich verloren«, kam die Antwort. »Es war mir ja so sicher, mein Herzliebchen – und wenn da noch zehn solcher Bobbies gekommen wären!« »Na, eingebildet bist du gar nicht!« meinte Philchen trocken, und die anderen lachten – fröhlich, lustig, unbeschwert. Sie konnten es ja jetzt wieder, die aus dem Hadebrecht-Haus, weil der Herrgott ihnen gnädig war. Und dann entdeckte Thea den Ring, der an der zarten Mädchenhand glänzte und gleißte. Die Augen der jungen Frau wurden kugelrund, die üppige Gestalt setzte sich in Positur. »Oh, welch herrliches Kleinod! Das muß doch sehr viel – « » – gekostet haben«, warf der Bruder lachend ein. »Hat es auch. Soll ich dir die Rechnung zeigen, Schwesterchen?« »Pfui, das war taktlos!« schmollte sie. »Ich gönne Silje alles von ganzem Herzen.« nur! – hätte man da sagen können. Die Miene Theas sah gar nicht so »gönnerhaft« aus. Und dabei hatte sie gar keine Ahnung von dem kostbaren Büchlein, das auf dem Geburtstagstisch gelegen hatte – und das Silje mit Einverständnis der anderen wegnahm, um nicht den Neid der mißgünstigen jungen Frau zu erregen. »Findest du nicht auch, Herzensmännchen, daß man dieses fremde Mädchen unglaublich verwöhnt?« fragte Thea, als sie später an der Seite des Gatten durch die schweigende Winternacht schritt.

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Reinhold schwelgte gerade im Anblick des Sternenhimmels und fuhr zusammen, als die immer ein wenig schrille Stimme ihn aus der Träumerei riß. »Ohne weiteres«, antwortete er, ohne die Frage überhaupt erfaßt zu haben. »Man soll sich an den Sternen freuen – aber sie nie begehren.« »Aber Schatzimann!« mahnte Thea sanft. »Ich sprach doch von Silje – und die ist doch bestimmt kein Stern!« »Sag das nicht!« lachte er, nun schon wieder auf der Erde. »Für Eike bedeutet sie den guten Stern.« »Den glaubte er ja auch schon in Ilona gefunden zu haben«, bemerkte Thea spitz. »Aber der verlosch ihm bald.« »Mein liebes Kind, das war kein Stern, sondern eine Windlaterne«, entgegnete Reinhold trocken. »Ich jedenfalls gönne Eike sein Glück von ganzem Herzen, das er sich nach dem Martyrium seiner Ehe auch redlich verdient hat.« »Da wollen wir erst einmal abwarten, wie Silje sich entpuppen wird. Aber wenn es um sie geht, seid ihr alle mit Blindheit geschlagen – auch du – zu meinem großen Seelenschmerz.« »Na, hör mal, du wirst doch nicht eifersüchtig werden?« fragte er erstaunt. »Das hast du wahrlich nicht nötig. Ich betrachte Silje mit den Augen des Dichters, und da ist sie nun einmal ideal. Sie ist schön, das wenigstens wirst du ihr wohl zubilligen müssen.« »Schöner als ich?« forschte sie mißtrauisch – und da mußte er lachen. »Ja – aber nicht für mich. Genügt dir das?« »Noch mehr, glücklich macht es mich. Doch daß man Silje so vergöttert, findest du das richtig?« »Gewiß. Die Liebe übertreibt gern, da läßt sich schlecht ein Maßstab anlegen.« »Ja – wenn du meinst – « Damit schloß die Debatte, wie ja jede bei ihnen zu schließen pflegte. Und während die beiden schweigend ihrem Heim zuschritten, saß man im Hadebrecht-Haus noch gemütlich

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zusammen. Silje saß im Sessel, auf dessen Seitenpolster der Liebste beharrlich thronte. Sein Arm umspannte die Schulter des Mädchens, das den Kopf in seine Armbeuge schmiegte. So lauschte sie auf das Geplauder der anderen, warf nur ab und zu ein Wort dazwischen. Ihre Augen strahlten wie zwei Sonnen, wenn die Stimme neben ihr zärtlich raunte, was so aus tiefstem Herzensgrund kam. Eben sprachen die anderen von Reinhold, und der Senior meinte schmunzelnd: »Dem scheint die Süßholzraspelei doch mal so langsam auf die Nerven zu fallen!« »Und noch mehr wird es später der kleine Schreihals tun«, warf Philchen trocken ein. »Der liebe Reinhold gehört nämlich zu den Menschen, die sich mit Güte und Ergebenheit in alles schicken – nur ihre Ruhe darf dadurch nicht beeinträchtigt werden. Von Anka hat er bisher noch nichts gespürt und wird es auch kaum, weil sie sich bei uns ganz einquartieren wird, wie sie mir neulich verriet. Sie hängt sehr an Ute und auch an Silje. Also wirst du dich damit abfinden müssen, mein Herz, nicht nur eine, sondern zwei Töchter zu betreuen.« »Ich wüßte nicht, was ich lieber täte!« »Na, du, ich bin auch noch da!« meldete sich Eike eifersüchtig. »Und ich werde dich ganz gehörig mit Beschlag belegen. Denn du nimmst doch nicht etwa an, daß ich meine neue Privatsekretärin so ohne weiteres laufen lasse?« »Will ich ja gar nicht!« lachte sie ihn so lieblich an, daß er sie rasch einmal küssen mußte. »Dich einer anderen Sekretärin zu überlassen, ist mir viel zu gefährlich!« Man gab ihr lachend recht. Dann setzte Eike sich an den Flügel und spielte eine Weise, die Silje sofort aufgriff. Süß und verträumt kam es über die jungroten Lippen: »Wenn sich zwei Herzen finden, so muß es für immer sein – «

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Ihre Augen hingen dabei an dem großen Bild, das den geliebten Paps darstellte in all seiner strahlenden Schönheit. Und was die junge Silje dann anschließend sprach, klang so inbrünstig wie ein Gebet: »Lieber Paps, ich danke dir, daß du mich hierher schicktest – und somit hinein in mein Glück!« »Ja, dafür wollen wir ihm alle danken, mein Kind«, sprach Philipp in die fast andächtige Stille hinein, sich dabei verstohlen die Augen wischend. »Und dir danken wir, daß du immer bei uns bleiben willst.« »Wie könnte das wohl auch anders sein?« entgegnete sie einfach. »Von euch gehen, hieße für mich, mir das Herz aus der Brust reißen. Und was ich euch jetzt sage, gilt jedem einzelnen: Wo du nicht bist, kann ich nicht sein.«

-ENDE-