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Unserort braucht regionale schule Wohnortnahe Schulen für unsere Kinder

Wohnortnahe Schule

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Viele kleine Schulen auf dem Land sind in ihrer Existenz bedroht. Weil immer weniger Kinder geboren werden und immer mehr Jugendliche auf Realschulen und Gymnasien in den Städten wechseln, droht vielen Grund- und Mittelschulen in der Provinz das Aus. Das Schulsterben ist nur dann aufzuhalten, wenn der Staat neuartige Schulmodelle zulässt.

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Page 1: Wohnortnahe Schule

Unserortbraucht regionale schule

Wohnortnahe Schulen für unsere Kinder

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Das gesamte Konzept Wohnortnahe Schulefinden Sie auch unter www.bllv.de/wohnortnahe-schuleSie können diese Broschüre kostenlos beim BLLV anfordern.

Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband e.V.Bavariaring 37, 80336 MünchenTel. 089 721001-45, Fax 089 [email protected], www.bllv.de

Text: DR. FRITZ SCHÄFFER, DR. GERD HÜFNERVisuelles Konzept und Layout: SONIA HAUPTMANN, [email protected]: JAN ROEDER, [email protected]: OrtmannTeam, www.OrtmannTeam.de

Warum wir wohnortnahe Schulen brauchen

Bayern – das Ende der wohnortnahen Schule?

Gegen Auslese – für mehr gemeinsames Lernen

Gemeinden brauchen individuelle Lösungen

Erfahrungen, Beispiele, Reflexionen

Schritte zur Sicherung einer Schule am Ort

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Der BLLV ist der Überzeugung: Wohnortnähe ist ein Qualitätsmerkmal eines erfolgreichenSchulsystems. Wohnortnahe Schulen stellen für Kinder, Eltern, Familien und für die Kommu-nen ein Stück Lebensqualität dar. Ist es nicht trostlos, wenn morgens die Jugend eines Ortesin Bussen zehn, fünfzehn Kilometer und noch weiter transportiert werden muss? Ist es nichteine Verschwendung, wenn Kinder und Jugendliche im Jahr mehr als 300 Stunden in Schul-bussen vergeuden?

Das Schulsterben ist weniger demografisch bedingt als hausgemacht. Andere Flächenstaa-ten machen es uns längst vor: Es gibt als Alternativen wohnortnahe Schulangebote, die at-traktiv sind und mit Erfolg arbeiten. Schleswig-Holstein, Thüringen, Sachsen und Nord- rhein-Westfalen zum Beispiel machen positive Erfahrungen mit einem zweigliedrigen Schul-system, in unserem Nachbarland Baden-Württemberg können Gemeinden sich für die Ge-meinschaftsschule entscheiden. Hohe Akzeptanz bei Eltern, Kinder ohne Übertrittsstress,zufriedene Kommunen und ein effizienter Einsatz von Steuergeldern im Interesse bessererBildung sind die Folge.

Noch ist es möglich, einen neuen pragmatischen Kurs in der bayerischen Schulpolitik einzu-schlagen. Wir haben zahlreiche Rückmeldungen, dass die Hauptschule durch Namens-wechsel und Schulverbünde in den Augen der Eltern nicht aufgewertet wird. Manchmal hatman den Eindruck, diese Reformen sind aus der Zeit gefallen und versuchen ein Strukturmo-dell gegen alle Erfahrungen durchzusetzen. Extreme demografische Entwicklungen führenbereits heute in einigen Kreisen zu langen Fahrtwegen zu den Bildungsangeboten. Die Über-trittsquote steigt weiter und die Schulschließungen gehen trotz der Schulverbünde unge-bremst weiter. Zugleich steigt der Stress in den Grundschulen, die immer stärker zurRennstrecke für die weiterführenden Schularten pervertiert werden.

Der BLLV hat deshalb bereits vor vier Jahren sein Konzept der Regionalen Schulentwicklung(RSE) vorgelegt, nach dem regional passgenaue Lösungen durch die Integration bisher strenggetrennter Bildungsgänge möglich werden. Verheerend ist die Weigerung des Kultusminis-teriums, Modellversuche für attraktive wohnortnahe Schulen zuzulassen, für Schulen, in denenjenseits der starren Trennung der Schularten, jenseits von Auslese und Einsortierung längergemeinsam gelernt werden kann. Denn nur praktische Beispiele könnten Lösungsmöglich-keiten eröffnen. Während Schulversuche zu vielfältigen Themen genehmigt werden, verwei-gert das Kultusministerium gegen den Willen der örtlichen Eltern, Lehrer und Kommunal-politiker solche zukunftsfähigen Lösungen mit wenig überzeugenden Schlagworten. Wir brau-chen aber Pragmatismus und Bürgernähe statt Ideologie und Zentralismus.

Warum wir wohnortnahe Schulen brauchen

Klaus WenzelPräsident des BLLV

Dr. Fritz SchäfferLeiter der Abteilung Schul- und Bildungspolitik

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„Wenn ich nachmittags mit meinen Freundinnen spielen will, dann mag ich selber zu Fuß hingehen und nicht, dass mich die Mama oder der Papa mit dem Auto fährt und wieder holen muss. Und die sind dann auch immer ganz genervt, wenn sie mich in der Gegend rumfahren müssen.“

„Ich möchte, dass meine Schulfreundinnenaus meinem Dorf kommen.“ Marie, 8, Schülerin

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Bayern – das Ende der wohnortnahen Schule?

Seit 2001 wurden in Bayern 540 Teilhauptschulen und 107 ehemals voll ausgebaute Hauptschulen geschlossen. Für das Schuljahr 2009/10 weist die Statistik noch 1.075 Hauptschulen in Bayern aus.Allerdings konnten 107 davon schon nicht mehr auf allen fünf Jahrgangsstufen eine Klasse anbieten.Demografischer Rückgang und vermehrte Übertritte in Realschulen und Gymnasien werden weitereSchulschließungen bewirken.

Der BLLV hat deshalb die Studie „Die Zukunft der wohnortnahen Schule in Bayern“ erstellt. Sie untersucht, was im Freistaat mit Schulstandorten geschieht, wenn am

• dreigliedrigen Schulsystem festgehalten wird (Szenario 1) oder • Mittel-, Real- und Wirtschaftsschulen zu einer Schulart zusammengeführt werden (Szenario 2) oder• alle Kinder eine gemeinsame Schule vor Ort besuchen (Szenario 3).

Diese drei Szenarien wurden auf der Basis amtlicher Daten für sämtliche Schulstandorte in allen 25 kreisfreien Städten und 71 Landkreisen in Bayern durchgespielt.

Das Ergebnis:Sollte am dreigliedrigen Schulsystem festgehalten werden, können 2015 an rund 250 Schulen (23 %)keine siebten und achten Klassen mehr gebildet werden. Diese Schulen sind akut von Schließung bedroht. 2020 wird die Zahl auf knapp 400 (37 %) anwachsen und 2030 mehr als 500 betragen (48 %). Besonders stark betroffen sind die kleinen Schulen im ländlichen Raum.

In Oberbayern ist die Situation noch relativ günstig: dort sind bis 2020 von 311 ehemaligen Haupt-schulen 93 gefährdet (30 %). Dramatisch Formen nehmen die drohenden Schulschließungen bis 2020in der Oberpfalz mit 51 Schulen (45 %), in Unterfranken mit 63 Schulen (47 %) und in Oberfranken mit50 Schulen (50 %) an. In Oberfranken sind bis 2030 dann über zwei Drittel der heutigen Schulstand-orte gefährdet. Von ehemals 101 Hauptschulen bleiben 2030 noch 31 Schulen übrig, die mindestenseine 7. Klasse bilden können. Acht davon liegen in den vier kreisfreien Städten. Auf die neun Landkreise,in denen 2009 noch 84 Hauptschulen bestanden, kämen dann noch gerade 23 Schulen, also imSchnitt etwa zweieinhalb je Landkreis.

Die Studie zeigt aber auch auf, dass diese Entwicklung nicht notwendig so verlaufen muss. In einemzweigliedrigen System, wie es die CDU in ihrem Leitantrag vorschlägt (Szenario 2), würden nur rund50 Schulen zu wenige Schüler für eine Klasse pro Jahrgangsstufe aufweisen. Über 800 Schulen könn-ten auch 2030 noch mit mindestens zwei Parallelklassen geführt werden.

Würde eine gemeinsame Schule für alle Schüler nach der Grundschule eingerichtet (Szenario 3),wären nur 24 der Haupt-/Mittelschulen gefährdet. Mehr als 1.000 Schulen könnten trotz des demo-grafischen Schülerrückgangs mit mindestens zwei Parallelklassen bestehen.

Nähere Informationen können auf der BLLV Homepage www.bllv.de eingesehen werden. Eine Druckfassung kann bestellt werden beim BLLV, Bavariaring 37, 80336 München.

zu wenige Schüler für eine Klasse 1 zügig 2 zügig > = 3 zügig

2009 2015 2020 2030

91

363

422

199

247

408

353

67

396

393

261

25

512

387

173

3

Szenario 1: Fortschreibung des dreigliedrigen Schulsystems 1.075 Hauptschulen in Bayern 2009

2009 2015 2020 203032

74

367

602

49

144

412

470

52

215

405

403

55

200

396

424

Szenario 2: Zweigliedriges Schulsystem Haupt- und Realschüler besuchen gemeinsam diese 1.075 Schulen

2009 2015 2020 203015

38157

865

2343

251

758

2455

281

715

2445

257

749

Szenario 3: Gemeinschaftsschule Alle bayerischen Schüler besuchen gemeinsam diese 1.075 Schulen

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„Für meine Mannschaft braucht's Spieler, auf die Verlass ist. Die müssen regelmäßig und selbststän- dig herkommen können. Wenn zu viele den ganzen Tag in der Stadt sind, weil sie da auf die Schule gehen, dann kommen die irgendwann gar nicht mehr. Und dann kann ich zusperren.“

„Ich will, dass alle ohne Stress ins Training kommen können.“ Thomas, 25, Fußballtrainer

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Individuelle Förderung statt Auslese

Jedes Kind hat ein Recht darauf, dass es in der Schule in seinen Stärken und Schwächen angenommenund seine individuelle Persönlichkeit berücksichtigt wird. Unterricht und Lernprozesse müssen auf dieLernvoraussetzungen des einzelnen Kindes abgestimmt sein. Die bloße Zuweisung zu drei Schulartenmit unterschiedlichen Anforderungsniveaus nach der Grundschule bietet eine solche Individualisierungnicht. Kernaufgabe der Schule ist es, die unterschiedlichen Talente und Potentiale der Kinder zu fördern, und nicht, sie nach einer vermeintlich mit der Geburt festgelegten und unveränderlichen Be-gabung zu sortieren. Tatsächlich ist die Auslese auch nicht „begabungsgerecht“. Ziffernnoten in dendrei Fächern Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht, die über die Auslese entscheiden,spiegeln nicht die Vielfalt möglicher Fähigkeiten und Talente einer Schülerin oder eines Schülers. Musische und kommunikative Fähigkeiten, soziale und emotionale Kompetenzen spielen bei der Über-trittsentscheidung kaum eine Rolle. Sie geraten zwangsläufig zum Beiwerk schulischen Lernens.

Für die Lernbiografie eines Kindes sind sie aber von herausragender Bedeutung. Weder kann der aktuelle Leistungsstand einer Schülerin oder eines Schülers sicher diagnostiziert, noch die Entwicklungder zukünftigen Lernfähigkeit zuverlässig prognostiziert werden. Dies zeigt sich an den Ergebnissen derAuslese: Ein Drittel der in die 5. Klasse an den Gymnasien Eingeschulten muss in Bayern vor dem Erreichen des Abiturs die Schule wieder verlassen. Und mehr als zehn Prozent erreichen über den wesentlich schwierigeren Weg der Fach- und Berufsoberschulen die Hochschulreife, obwohl ihnendies in der Grundschule nicht zugetraut wurde. Darüber hinaus ist die Zuweisung zu Gymnasien, Realschulen und Haupt- bzw. Mittelschulen, obwohl auf Noten gestützt, in hohem Maße eine sozialeAuslese. In keinem Land sind die Bildungschancen sozial ungleicher verteilt als in Deutschland.

Auslese schadet Lernen

Die derzeitige Noten- und Auslesepraxis verführt die Schülerinnen und Schüler dazu, sich kurzfristigFaktenwissen anzueignen, das bei Prüfungen abgefragt und danach schnell wieder vergessen wird. Esist dies das Gegenteil eines Lernens aus Interesse an den schulischen Themen und Inhalten und dasGegenteil eines vernetzten und nachhaltigen Lernens. Damit Schule wirklich Sinn macht, sollten Schü-lerinnen und Schüler ihr Wissen anwenden, damit Probleme lösen und dabei mit anderen zusammen-arbeiten können, kurz: nutzbare Kompetenzen erwerben. Ein bloßes Lernen für gute Noten gibt ihnenkeine Zeit und keinen Raum zu experimentieren, Fehler zu machen und zu korrigieren, Umwege im Begreifen zu gehen. Aber nur so lernen Kinder wirklich effektiv und nachhaltig. Nur wenn Leistungs-feststellung nicht für ein Aussortieren benutzt wird, kann sie echte Rückmeldung an Schüler und Eltern sein über den Stand der Kenntnisse, und Hinweise geben für nächste Lernschritte. Nur danngeben sie echte Perpektiven für das weitere Leben.

Die Entscheidung über die Schullaufbahn nach der 4. Klasse führt bei vielen Grundschülern zu enor-mem Leistungsdruck und einer ungesunden Lernatmosphäre in den Klassen. Der Übertrittsdruck erzeugt Versagensängste und beeinträchtigt das Selbstwertgefühl. Emotionale Stabilität und Lern mo-tivation der Kinder sinken dramatisch. Kreatives, ergebnisoffenes Lernen, das Entwickeln von Selbst-vertrauen, all das wird massiv beeinträchtigt. Misserfolge und Frustrationen haben fatale Folgen

Gegen Auslese – für mehr gemeinsames Lernen

für das spätere Lernen der Kinder. Je weniger Auslese in der Grundschule, desto mehr Kinder könnenweniger beschädigt und mit mehr Lernfreude ihren Bildungsweg fortsetzen. Wegen des Übertrittsdruckserhalten immer mehr Kinder bereits in der Grundschule Nachhilfeunterricht. Dieser nimmt den Kindern notwendige Freizeit zu Erholung und freiem Spiel. Und Nachhilfe ist teuer. Kinder aus armen Familienwerden dadurch benachteiligt, die soziale Auslese verstärkt.

Lernen ist ein aktiver Prozess

Es hängt zum großen Teil von Art und Qualität des Lernangebotes und dem Lernklima in einer Klasseab, ob Schülerinnen und Schüler auch persönliche Fähigkeiten entwickeln, die immer wichtiger werden:Sich ausdrücken können, Handlungen planen und ausführen, begründet Entscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen, Konflikte lösen. Lernen ist ein Vorgang aktiver Aneignung. Lernformen, dieSelbsttätigkeit und Selbstständigkeit unterstützen, die handlungsorientiert sind und Schülern die Erfah-rung vermitteln, dass sie etwas bewirken können, fördern Lernmotivation und Lernerfolg. Dabei mussdas Lernangebot an den unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen anknüpfen. Dies ist unter in-dividueller Förderung zur verstehen, nicht Nachhilfe oder Einzelunterricht.

Lernen erfolgt gemeinsam

Das Lernen vom Lehrer ist nur ein Teil schulischen Lernens. Schüler lernen auch sehr viel von ihren Mitschülern. Die Lernforschung hat nachgewiesen, dass schwache Schülerinnen und Schüler in hetero-genen Lerngruppen besser lernen und gute Schüler nicht schlechter werden, als in vermeintlich homo-genen Klassen. Schwächere Schüler orientieren sich an den besseren und bessere Schüler könnenschwächeren helfen, wobei auch sie durch aktives Erklären ihre Kenntnisse und Kompetenzen vertiefenund erweitern. Lernen geschieht im Kontext sozialer Beziehungen. Diese tragen in großem Umfang zuLernerfolgen bei. Wenn aber Kinder auf unterschiedliche Schularten verteilt werden, wechseln sie Schule,Lehrkräfte sowie die Bezugsgruppe Klasse. Gemeinsames Lernen vor Ort dagegen gewährleistet Kontinuität und Vertrauen. Es fördert soziale Integration und hilft, schulfeindliche Jugendkulturen zu verhindern. Unterschiede des familiären Hintergrunds der Schüler ermöglicht ihnen einen Blick über dieKultur der eigenen Familie hinaus.

Lernen ist ein individueller Prozess

„Es gibt keine wissenschaftlich begründete Typologisierung, die eine Zuordnung von Heranwachsendenzu einem ganz bestimmten Lernumfeld (Gymnasium, Real- oder Hauptschule) nahe legt. Schüler bringenein unterschiedliches Potenzial mit in die Schule, das sich nicht in Schubladen packen lässt. Um jedenSchüler »begabungsgerecht« zu fördern, erweist sich die Gliederung des Schulsystems als untauglichesInstrument. Die Aufgabe der Lehrer muss vor allem darin bestehen, unterschiedliche Lernangebote innerhalb einer Lerngruppe bereitzustellen, damit jeder Schüler entsprechend seinen Voraussetzungenoptimal lernen kann.“ Prof. Dr. Elsbeth Stern Lernpsychologin an der ETH Zürich

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„Es ist echt schlimm: Schon in der dritten Klasse wird gepaukt ohne Ende, es geht nur noch drum, wer schafft's aufs Gymnasium oder wenigstens auf die Realschule. Spaß macht das keinen. Und dieser Stress macht uns alle ganz fertig.“

„Ich will, dass mein Kind den Übertritt gelassen nehmen kann“ Petra, 36, Mutter

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Das Aus der Schulen auf dem Land

Dem ländlichen Raum in Bayern droht die schulische Verödung: Bis 2030 brechen fast die Hälfte allerderzeitigen Mittelschulstandorte weg. Gründe sind die demografische Entwicklung und das Schul-wahlverhalten. Wenn das Kultusministerium keine Alternativen zulässt, wird eine zentralisierte Schul-struktur und damit eine erhebliche Schwächung des ländlichen Raumes die Folge sein.

Noch sind vor allem Haupt- und Mittelschulen von Schulschließung bedroht. Doch die demografische Entwicklung wird dazu führen, dass in weniger als zwei Jahrzehnten alle Schularten vor der gleichen Problematik stehen: Der Schülerrückgang wird manchen Neu- und Anbau von Realschulen, selbst vonGymnasien, zur Investitionsruine werden lassen, noch ehe die Schulden dafür abbezahlt sind.

Ohne Schulen sind Gemeinden für die Neuansiedlung von jungen Familien wenig attraktiv. Wirt-schaftsbetriebe und junge Leute wandern ab, wenn sie am Ort keine Ausbildungs- und Arbeitsplätzemehr finden. Zudem verliert die Gemeinde mit der Schule einen bedeutsamen kulturellen Bezugspunkt.Wenn Schüler den Heimatort morgens verlassen und meist erst am späten Nachmittag zurückkehren,lässt ihr Engagement in örtlichen Vereinen, im gemeindlichen und kirchlichen Leben zwangsläufig nach.Schließlich bürdet jeder verlorene Schulstandort den Gemeinden zusätzliche Kosten durch Gast-schulbeiträge und Schülerbeförderung auf. Gleichzeitig werden leer stehende, oft erst vor kurzem re-novierte Schulgebäude zu Investitionsruinen.

Mittelschulen können Schulsterben nicht aufhalten

Auch die Einführung von Mittelschulen und Schulverbünden kann ein weiteres Schulsterben nicht auf-halten. Sie haben keinen Einfluss auf die Schulwahl von Eltern. Durch die Umetikettierung von Haupt-in Mittelschulen wurde jedenfalls kein einziger zusätzlicher Schüler gewonnen. Eltern bevorzugen nachwie vor den Mittleren Schulabschluss an der Realschule, der mehr Möglichkeiten bei der Wahl aner-kannter Berufsausbildungen bietet. Es geht nicht um die Rettung bestimmter Schularten. Es geht umdie Stärkung aller bayerischen Gemeinden. Sie müssen vital bleiben und sind auf das Angebot hoch-wertiger und wohnortnaher Schulabschlüsse angewiesen.

Die Erkenntnis, dass etwas geschehen muss, breitet sich immer weiter aus. Auch in Bayern suchenimmer mehr Bürgermeister, Schulleiter, Kollegien und Eltern händeringend nach Lösungen, wie sieweiter ein attraktives und wohnortnahes Schulangebot in der Sekundarstufe organisieren können. DieSchulen, die betroffenen Gemeinden, die dort lebenden Eltern und Schüler brauchen eine pragmati-sche Antwort auf die Herausforderung rückläufiger Schülerzahlen an der Schule ihrer Gemeinde. Ihnenist durch ideologischen Streit und politischen Stillstand nicht geholfen.

Gemeinden brauchen individuelle Lösungen

Individualisierung statt Gruppierung

Mögen sich mittlerweile das gesamte Ausland und auch alle anderen deutschen Bundesländer vom drei-gliedrigen Schulsystem verabschiedet haben – in Bayern hält man unbeirrbar fest daran. Gerechtfertigtwird dies durch die Ideologie von der Begabungsgerechtigkeit der Schularten und der Überlegenheithomogener Lerngruppen, auch wenn dies wissenschaftlich nicht haltbar ist. Eine solche Pädagogik ersetzt Individualisierung durch Gruppierung. Der einzelne Schüler wird nur mangelhaft gefördert. Diehohe Zahl von Wiederholern und Schulabbrechern belegen dies. Die saarländische MinisterpräsidentinKramp-Karrenbauer (CDU) stellt nüchtern fest: «Der Kampf um das alte dreigliedrige Schulsystem ist einKampf von gestern. Er geht an der Wirklichkeit vorbei».

Warum also lässt die bayerische Bildungspolitik nicht ab von der Anmaßung, sie allein kenne die Antwort,mit der sie ihre Bürger zwangsbeglücken muss? Statt sich in ideologischen Grabenkämpfen um zentra-listische Lösungen zu verbeißen, sollte sie besser Eltern und Lehrern endlich die Wahlfreiheit geben, wiesie Schule gestalten wollen. Sie kennen am besten die Verhältnisse an Ort und Stelle. Wenn Gemein-den gemeinsam mit Lehrern und Eltern zu dem Schluss kommen, dass die Mittelschule keine Zukunft hat,weil Standorte nicht mehr zu halten sind, dann sollen sie andere Wege einschlagen dürfen.

Konsens gegen das Dogma

Die bayerischen Schulstrukturen sind verhärtet wie Beton. Sie aufzubrechen kann nur in einem längerenProzess gelingen, der alle Beteiligten mitnimmt und auf Konsens setzt. Die neuen Regierungen in Nord-rhein-Westfalen und Baden-Württemberg haben die Zeichen der Zeit erkannt. Dort werden die altenStrukturen überwunden – ohne die Schulen, die Eltern oder die Gemeinden zu überfordern. Dort ist zubesichtigen, wie organische Schulentwicklung aussieht: Die Bildungspolitik stülpt nicht einfach in ge-setzgeberischer Selbstherrlichkeit allen ein einheitliches Schulmodell über, sondern hilft den Schulen,die das wünschen, vor Ort bei der Einführung passgenauer Lösungen. So könnte es auch in Bayern ge-schehen. Die Betroffenen vor Ort sollen entscheiden, welche Schule sie haben wollen – jenseits derStrukturfrage. Dazu aber müssten noch mehr Menschen den Mut entwickeln, das Dogma von der Drei-gliedrigkeit in Frage zu stellen. Die Schulentwicklung muss von ihnen eingefordert und am besten bereitstatkräftig begonnen werden.

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„Ich will, dass uns unsere treue Kundschaft bleibt“ Hannelore, 56, Krämerin

„Die Familien ziehen weg, wenn die Schulen halt anderswo sind. Und dann kommt keiner mehr hierher zum Einkaufen und ich steh in einem leeren Laden. Da bricht nicht nur der Umsatz weg, das ist auch traurig, weil ein Stück Leben verloren geht.“

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Erfahrungen, Beispiele, Reflexionen

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NRW-Kultusministerin Sylvia Löhrmann (Die Grünen) über einen anderen Weg, Schulstrukturen zu reformieren

Frau Löhrmann, warum setzt Ihre Regierung auf die Sekundarschule?Die Sekundarschule ist die Antwort auf zwei Entwicklungen: Zum einen auf die zurückgehenden Schü-lerzahlen und die Tatsache, dass manchmal auch die letzte weiterführende Schule vor Ort gefährdetist. Zum anderen hat sich das Verhalten der Eltern bei der Wahl der weiterführenden Schule verändert:Sie wollen eine Schule für ihre Kinder, die die Option auch auf das Abitur länger offen hält.

Wie wollen Sie diese Schulart durchsetzen?Wir setzen auf eine innovative Schulentwicklung von unten. In Ascheberg im Münsterland haben wirden ersten Antrag einer Gemeinde auf Gründung einer solchen Schule genehmigt. Mittlerweile wer-den insgesamt zwölf Sekundarschulen als Modellschulen geführt. Die Schulträger, aber auch die Schu-len selbst, sagen: Wir wollen uns verändern. Eine Strukturveränderung allein reicht aber nicht aus.Deshalb begleiten wir die Schulen bei diesem Versuch. Sie bekommen auf die gesamte Dauer desModellversuchs von sechs Jahren eine halbe Stelle und ein zusätzliches Fortbildungsbudget. DieseKombination, äußere und innere Reformprozesse gemeinsam anzugehen, kommt gut an.

Der bayerische Kultusminister spricht beharrlich von „Einheitsschulen“.Wer den Begriff „Einheitsschule“ verwendet, will ideologisch motivierte Kämpfe führen, will innovativeSchulentwicklungsprozesse verhindern. Wer die Sekundarschule blockiert, stellt die Schulform überdas Interesse der Kinder. Die Bewegung hin zur Zweigliedrigkeit ist aber bundesweit nicht mehr auf-zuhalten.

Mecklenburg-Vorpommern

Nordrhein-Westfalen

Rheinland-Pfalz

Hessen

Saarland

Thüringen

Baden-Württemberg

Sachsen-Anhalt

Sachsen

Brandenburg

Niedersachsen

Schleswig-Holstein

Bayern

Bremen

Hamburg

Berlin

Dreigliedrigkeit: Haupt-/Mittelschule + Realschule + Gymnasium

Zweigliedrigkeit: gemeinsame Haupt- und Mittelschule bis Jgst. 10 + Gymnasium

Integrierte Mehrgliedrigkeit: Hauptschule + Realschule (teils mit gym. Oberstufe oder Gemeinschaftsschule) + Gymnasium

Zweigliedrigkeit: gemeinsame Schule bis Jgst. 13 + Gymnasium

Bestehende bzw. von der Landesregierung angestrebte Schulstruktur in den Bundesländern

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Page 12: Wohnortnahe Schule

tenzraster entwickelt. Wir haben auch das Institut Beatenberg angeschaut, die Urmutter aller Kompetenz-raster-Schulen. Auch mit unserer benachbarten Modellschule in Rheinsberg pflegen wir einen regen Aus-tausch. Eine SchiLF etwa haben wir zum Thema Lernberichte organisiert. Es gibt eine Portfoliogruppe. DerProfilunterricht wird gerade ausgeweitet. Bisher gab es in Sprachen, MINT und Musik zwei Stunden Pro-filunterricht pro Woche, in der 6. Jahrgangsstufe kommt dann Theater und darstellendes Gestalten dazu.

Eine Mutter war mit auf Exkursikon? Bei Ihrem Schulversuch scheint ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Eltern eine wichtige Rolle zu spielen.Die Eltern sind in der sogenannten Schulpflegeschaft organisiert. Sie können als Experten auftreten,einer kann zum Beispiel seine Fertigkeiten als Malermeister einbringen. Andere übernehmen Lesepa-tenschaften. Manche gestalten die einstündige Mittagspause mit Basteln.

Das hört sich nach ungewöhnlich großer Kooperationsbereitschaft an.Allen Eltern ist bewusst, dass ihre Kinder an einer besonderen Schule sind. Man muss aber nach wie vorÜberzeugungsarbeit leisten.

Inwiefern?Beispiel Leistungskontrollen. Früher hieß es: Nächste Woche ist dann und dann Klausur. Bei uns gibt eseinen Arbeitsplan und die Schüler melden sich selbst zur Leistungsprüfung. Es sind natürlich nie alle gleich weit.

Wie organisieren Sie dann die Proben?Notfalls schreiben auch mal nur fünf Schüler eine Prüfung, oder sogar einer allein. Wir schauen uns allesganz individuell an. So übertragen wir auch Verantwortung auf die Kinder. Aber das alles den Eltern zuerklären, ist schon schwer.

Und die Kinder?Die gehen sehr gut damit um. Manche muss man anhalten zu arbeiten. Andere machen sich fast selbstzu viel Druck.

NRW – Pionierschule im Münsterland macht pädagogische Innovation

Die Profilschule Ascheberg im Münsterland (NRW) hat zu Beginn des Schuljahres 2011/2012 für elfJahre ihren Betrieb als Modellschule aufgenommen. Die Nachfrage der Eltern war so groß, dass einefünfte Eingangsklasse gebildet werden musste und nunmehr 125 Schüler die münsterländische Schulebesuchen.

Es handelt sich um eine gebundene Ganztagesschule der Sekundarstufe I (Jahrgangsstufen fünf biszehn) mit maximal 25 Kindern pro Klasse, die in der Regel gemeinsam unterrichtet werden. Allerdingsfindet in der Unterstufe (Klassen 5 bis 8) eine stundenweise Aufteilung nach begabungsgerechtenProfilangeboten (MINT, Musik, Sprache) statt. In der Mittelstufe (Klassen 9 und 10) werden die FächerDeutsch und Englisch sowie Mathematik und Naturwissenschaften in zwei Leistungsstufen unterrich-tet. Dem eigenen Leitbild zufolge begreift die Schule die Unterschiede zwischen den Kindern „als Be-reicherung“. Es gibt kein Sitzenbleiben, stattdessen reagiere die Schule „flexibel mit individuellerFörderung auf drohende Leistungsschwierigkeiten“. Zum pädagogischen Leitbild gehört das Prinzipeiner „Team-Schule“, die Lehrkräfte verstehen sich als „Lernbegleiter“ und „Lernberater“. Außer Zif-fernnoten dienen der Leistungskontrolle auch „Lernentwicklungsberichte“ und „Portfolios“. Es sind allebisherigen Abschlüsse bis zur mittleren Reife möglich, mindestens 60 Prozent der Schüler sollen jedoch in ein Gymnasium wechseln können und das Abitur erreichen.

Schulleiterin Sylvia Reimann-Perez über erste Erfahrungen mit der Gemeinschaftsschule Ascheberg

BLLV: Frau Reimann-Perez, zur Eröffnung der Gemeinschaftsschule Ascheberg mussten Sie eine ehemalige Hauptschule umstrukturieren und selbst das Personal einstellen. Eine anspruchsvolle Aufgabe für eine Leiterin – aber auch für ein Team.Wir sind 14 Lehrkräfte aus allen Schulformen, inklusive Förderbereich. Keiner kommt aus dem reform-pädagogischen Bereich. Alle erarbeiten sich alles. Das ist in der Tat ganz schön anspruchsvoll. ZumBeispiel die Deutschlehrer: Die erarbeiten gemeinsam einen Plan für ein halbes Jahr – den Unterricht,die Arbeitsblätter, die Prüfungen. Jeder übernimmt einen Themenkreis wie Sachtexte oder Märchen.

Wird bei Ihnen nicht nach dem Fachlehrerprinzip unterrichtet?Jede Lehrkraft unterrichtet, wie die Gymnasiallehrer unter uns, zwei Fakultas. Wir sind aber auch Be-gleiter in offeneren Lernformen. Da sind die SEGEL-Stunden, in denen selbstgesteuertes Lernen statt-findet oder der Projektunterricht. Als Klassenlehrer arbeitet man sowieso immer im Team, da sind immerzwei zusammen.

Das bedeutet für die meisten der Lehrkräfte sicher eine große Umstellung. Die Bereitschaft, sich fortzubilden und selbst zu lernen, ist groß. Das halbe Team und eine Mutter warenzum Beispiel zu Gast in der Hamburger Max-Brauer-Schule. Mit deren Hilfe haben wir unsere Kompe-

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Page 13: Wohnortnahe Schule

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„Es ist schon eine ganze Zeit her, dass ich genau hier zur Schule gegangen bin. Aber ich weiß noch gut, wie schön es war, dass die Schule gleich um die Ecke war und sich alle gut ausgekannt haben. Für die Kinder heute ist auch so schon alles anonym, die tun mir wirklich leid.“

„Ich will, dass für meine Enkel die Schulezum Dorf gehört – wie für mich damals“ Irmgard, 78, Oma

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Page 14: Wohnortnahe Schule

Ein solches Konzept stellt ganz neue Anforderungen an die Lehrerprofessionalität. Welche Leh-rer sollen da unterrichten?In der pädagogischen Arbeitsgruppe hatten wir Lehrer aller Schularten und es sollen auch Lehrer allerSchularten, von Grund-, Haupt-, Werkrealschule, Realschule und Gymnasium, aber eben auch Förder-schullehrer arbeiten. Natürlich gibt es bei manchen Lehrern Verunsicherung, aber es gibt auch ein gro-ßes Interesse. Alle Lehrkräfte an dieser Modellschule werden über schulbezogene Stellenausschrei -b ungen akquiriert, sie werden also freiwillig dort arbeiten.

Gemeinschaftsschule ist ja gerade für den ländlichen Raum, der vom demografischen Rückgangbetroffen ist, eine Möglichkeit, wohnortnah attraktive Abschlüsse bis hin zum Abitur zu erreichen.Ist das auch ein Anliegen, das mit der Einführung einer Gemeinschaftsschule verfolgt wird?Das ist das Hauptanliegen. Wenn kleine Schulen weiter existieren können, dann ist das ein Gewinn so-wohl für die Schüler als auch für die Gemeinden. Im anderen Fall, dazu hat auch die Werkrealschule bei-getragen, wird eine Hauptschule nach der anderen geschlossen. … der ländliche Raum verödet … Unddie Kinder fahren in die nächstgelegenen Städte, tragen ihr Geld dort ins Kino, sind dort in den Vereinen,haben ihre Freunde und ihren kulturellen Mittelpunkt dort und nicht mehr in ihren Herkunftsgemeinden.

Wie stehen die Eltern heute zum Gemeinschaftsschul-Modell?Wir haben mit großem Aufwand einen Elternfragebogen entwickelt, die Tendenz ist klar: Die Eltern be-grüßen den Gedanken des längeren gemeinsamen Lernens, vor allem den Gedanken, dass die Stadt Ra-vensburg so etwas installiert. Und es kommt sehr differenziert zum Ausdruck, dass man mit vielenZuständen an den jetzigen Schulen nicht zufrieden ist.

Baden Württemberg – Schulreform von unten

Das Ziel der grün-roten Landesregierung in Baden-Württemberg ist nach den Worten von Kultusmi-nisterin Gabriele Warminski-Leitheußers, „dass die einzelnen Kinder und Jugendlichen so gut wie mög-lich gefördert werden und so lange wie möglich gemeinsam lernen können.“ Um dieses Ziel umsetzenzu können, sieht ein von ihr vorgelegter Gesetzentwurf die Einführung von Gemeinschaftsschulen vor.Am 30. Mai 2011 entschied sich die Kommune Ravensburg einstimmig für das Konzept einer „Inklusi-ven Modellschule", in der Kinder der Jahrgangsstufen eins bis zehn unterrichtet werden sollen. Ra-vensburg ist damit die erste Gemeinde, die einen Antrag für eine solche Modellschule eingereicht hat.Von den 150 bis 200 Schulen, die bisher Interesse bekundet haben, sollen 34 im Schuljahr 2012/2013starten. Die Gemeinschaftsschule umfasst mindestens die Klassen 5 bis 10. Daran schließt sich entweder an der Schule selbst oder an einem kooperierenden Gymnasium eine gymnasiale Oberstufean, die bis zum Abitur führt. Außerdem soll es – wie in Ravensburg – auch Gemeinschaftsschulen abder 1. Klasse geben. Der Unterschiedlichkeit der Schüler will man durch eine Individualisierung des Unterrichts gerecht werden. Hierzu werden alle Gemeinschaftsschulen als Ganztagsschulen geführt,pro Jahrgang werden 60 zusätzliche Stellen bereitgestellt.

Hauptschulleiter Rudolf Bosch über das Vorbild-Projekt Gemeinschaftsschule Baden-Württemberg

Herr Bosch, Sie und ein paar Mitstreiter hatten schon lange vor dem Regierungswechsel inihrem Bundesland die Schulpolitik offen herausgefordert. In welche Richtung sollte sie sichdenn damals verändern? Weg vom selektiven System, hin zu einem integrativen Schulsystem, das allen Kindern eine Schul-laufbahn ohne Brüche und ohne Beschämung ermöglicht. Dazu gehören neue Unterrichtsformen, eineneue Unterrichtskultur aber eben auch eine neue Struktur.

Und wie sieht das pädagogische Konzept nun, nachdem der Traum realisiert werden kann, aus?Eine Gemeinschaftsschule soll eine inklusive, gebundene Ganztagsschule sein, von Klasse eins bisKlasse zehn, mit enger Verknüpfung in Richtung Vorschule. Schüler werden in allen Leistungsniveausunterrichtet, alle Schularten sollten abgebildet sein. Es soll keine Jahrgangsklassen mehr geben son-dern jahrgangsübergreifenden Unterricht in insgesamt vier Stufen. Klasse eins bis sechs dreistufig undzweistufig von sieben bis zehn. Man unterrichtet in Lehrerteams, Individualisierung ist das oberste Prinzip. In einem gebundenen Ganztagsschulbetrieb soll die Schule bestimmte Profilsäulen ausbilden, musisch, naturwissenschaftlich und im Bereich der Berufswegefindung.

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„Die Jugendlichen aus unserer Schule, die sich für Autos interessieren, machen gerne ein Praktikum in meinem Betrieb. Die kenne ich dann schon ganz gut und weiß, wen ich einstellen kann. Bei Jugendlichen, die irgendwo auf die Schule gehen, läuft das schon mal schief.“

„Ich will wissen, wen ich ausbilde“ Christian, 46, Kfz-Meister

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Schleswig-Holstein – Wie eine Gemeinschaftsschule zum Erfolgsmodell wird

Ein Tisch ist gedeckt. Laura, Merrit und Mads sitzen um ihn herum. Kenja tritt heran. „What would you liketo drink?", fragt die Schülerin. Die Klasse 7c der Handewitter Gemeinschaftsschule übt sich im Eng-lisch-Unterricht an einem Rollenspiel. Das Klassenzimmer hat sich in ein Restaurant verwandelt. Kenja istdie Kellnerin, die anderen die Gäste. Schon in den letzten Tagen haben sie Vokabeln gelernt, Speisekartenverfasst, sich mit Hilfe des Internets vorbereitet und sogar ein Video gedreht. Nun testen die Schüler ihreKenntnisse in kleinen Dialogen. „Manche gehen dabei richtig auf", erzählt Pädagogin Anke Lache. „BeiPraktikanten machen wir schon einmal den Test und lassen sie raten, welche der Schüler eine Realschul-Empfehlung haben oder einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Oft liegen sie daneben."

Es mag merkwürdig klingen, dass Jugendliche, die auch das Gymnasium besuchen könnten, und klassi-sche Hauptschüler Tischnachbarn sind – im schleswig-holsteinischen Handewitt ist das Schulalltag.2007 startete nur fünf Kilometer südlich der Grenze zu Dänemark eine der ersten sieben Gemein-schaftsschulen im Land. Das „längere gemeinsame Lernen" wird seitdem intensiv gelebt.

Daniela Schneider, die zusammen mit Anke Lache (Realschullehrerin) das Klassenlehrer-Team der 7c bil-det, hatte den Auftakt vor über vier Jahren verpasst. Die studierte Hauptschul-Pädagogin war schwan-ger, pausierte zwei Jahre. Als sie wieder in Handewitt anfing, hatte sie das Gefühl, an „eine ganz neueSchule zu kommen". Die Gemeinde investierte einen zweistelligen Millionenbetrag in die Infrastruktur.Das Leitbild der Schule, die Philosophie des Lernens und die Unterrichts-Inhalte wurden modifiziert – undauch die Motivation der Schüler hat sich verändert. „Es herrscht eine ganz andere Lust am Lernen als frü-her an der Hauptschule", sagt Daniela Schneider.

Der Schulstandort Handewitt hat sich gemausert. Die alte Hauptschule drohte auszubluten. Heute zähltdie Gemeinschaftsschule, an die drei Grundschulen und ein Förderzentrum für Lernbehinderte ange-schlossen sind, knapp 1.000 Schüler. Die Jahrgänge fünf bis acht sind fünfzügig. Und eine Klasse pro Altersstufe ist so etwas wie die „Gemeinschaftsschule plus": eine Integrationsklasse. In der 7c sitzenunter den 19 Schülern – die normale Frequenz ist 25 – auch sechs, bei denen ein sonderpädagogischerFörderbedarf attestiert wurde. Ohne spezielle Unterstützung wären sie früher in die „Sonderschule" abgerutscht. In Handewitt wird aber alles dafür getan, dass sie in gut zwei Jahren einen normalen Haupt-schulabschluss schaffen werden. Die „Inklusion" ist ganz im Norden der Republik kein Fremdwort, sondern bereits fester Bestandteil des Konzepts.

„Wir sind weg vom Stempel oder einem Gutachten mit IQ-Test", betont Schulleiter Dr. Hans-Werner Jo-hannsen. Anstelle eines formellen Verfahrens sind ein individueller Lernplan und eine besondere Be-treuung, in die nach Möglichkeit die Eltern eingebunden sind, getreten. Unter der Lehrerschaft bestehtein Grundkonsens, der skandinavisch angehaucht ist. Die Eckpfeiler: längeres gemeinsames Lernen, ge-genseitiges Helfen und weniger Druck. „Bei uns wird niemand abgelehnt und niemand abgeschult", er-klärt Dr. Hans-Werner Johannsen.

Im Schul-Alltag heißt das: Es wird nicht nach Leistungsstand oder Begabungen sortiert. Alle sitzen ge-meinsam in einem Klassenraum. Eine innere Differenzierung gibt es aber schon. Es gibt Wahl- und Pflicht-aufgaben, die zwar die gleichen Themen berühren, sich aber auf unterschiedlichem Niveau bewegen.

Überforderung und Frustration sind die absolute Ausnahme. Die Fokussierung auf Schwächen wird ver-mieden. „Jedes Kind hat irgendwo Stärken", weiß Dr. Hans-Werner Johannsen. „Wenn man da an-setzt, wirkt sich das irgendwann auch auf die Schwächen positiv aus und die Lust am Lernen wirderhalten und wieder geweckt." Häufig wird die Partnerarbeit praktiziert. „Davon profitieren beide Sei-ten", erläutert Anke Lache. „Die Leistungsschwächeren lernen von den Leistungsstärkeren. Bei denenwiederum festigt sich durch das Erklären das Gelernte." Ein Sonderraum steht für die Gruppenarbeitbereit. Die Klassenarbeiten haben unterschiedliche Schwierigkeitsstufen – je nach Leistungsstand.„Häufiger kommen Schüler zu uns und möchten auch den schweren Test lösen", berichtet DanielaSchneider.

Es gibt andere Fächer als früher. Verbraucher-Bildung, Weltkunde oder Naturwissenschaft. Sport kannab der siebten Klasse als vierstündiges Wahlpflichtfach gewählt werden, ebenso Französisch, Dänischoder Technik. Das Wochenpensum liegt bei 30 Stunden in den Jahrgangsstufen fünf und sechs sowie32 Stunden in den Jahrgangsstufen sieben bis zehn. Viele Schüler bleiben über Mittag. Es gibt eineMensa, die täglich rund 200 Essen kocht. Danach beginnt das Kursprogramm der Offenen Ganz-tagsschule mit ihren rund 50 Angeboten. Sie ist freiwillig für die Schüler, aber Pflicht für eine neue Ge-meinschaftsschule in Schleswig-Holstein.

Ein wichtiges Element der neuen Schulform ist das kompetenzaufbauende Lernen („Kaul"). Eine Stundein der Woche tagt der Klassenrat, spricht Probleme und Ideen an. An der Wand hängen die Leitlinien:„Ich bin höflich und respektvoll" und „Ich verletzte niemanden". Bei größeren Störungen unterstützenzwei Schulsozialarbeiter. Eine andere Schulstunde ist der Methodik-Lehre gewidmet: Was für ein Lern-typ bin ich? Wie erstelle ich ein Referat? Wie lerne ich effektiv Vokabeln? Wie packe ich meinen Ran-zen? Häufig wird mit dem Computer gearbeitet. Es gibt einen Informatik-Raum und zwei „mobileKlassenräume" mit jeweils 15 Notebooks. Jedes der 35 Klassenzimmer hat ein Aktiv-Board mit Inter-net-Anschluss.

Noten sind hingegen Mangelware. Berichtszeugnisse dominieren den Großteil der Schulzeit. Unterdem Strich stehen aber Abschluss und Durchschnitts-Note. Am Ende des ersten Halbjahres in Jahr-gangsstufe acht gibt es erstmals eine Schulabschluss-Prognose, die danach jedes Halbjahr überprüftwird. Nach Klasse neun erfolgt der Haupt-, nach Klasse zehn der Realschul-Abschluss. Das Abitur istHandewitt noch nicht möglich. Der Aufbau einer gymnasialen Oberstufe ist aber beantragt.

Die Gemeinschaftsschule ist noch zu jung, um handfeste Rückschlüsse auf das Bildungsniveau vor-nehmen zu können. Das Handewitter Kollegium registriert aber bereits erste Trends. „Es gibt mehrHauptschüler, die sich gut entwickeln, und für einen Realschul-Abschluss in Frage kommen", sind sichDaniela Schneider und Anke Lache sicher. Dr. Hans-Werner Johannsen glaubt: „Die Zahl der Bildungs-Verlierer nimmt ab. Mehr Jugendliche schaffen einen Abschluss."

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„Den Führerschein hab' ich noch nicht, und wenn ich nicht hier im Ort meine Mittlere Reife machen kann, dann sitz' ich verdammt viel im Bus oder schlag die Zeit tot, weil ich doch oft noch am NachmittagStunden hab'. Da würde ich lieber mit meinen Kumpels aus dem Dorf kicken.“

„Ich will Mittlere Reife machen – hier bei uns“ Thilo, 16, Schüler

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gesamte System überdacht werden. Wenn Schüler wohnortnah unterrichtet werden sollen, müssen wirweg von den Vorgaben dieses Schulsystems“. Heute sagt Brohm lapidar: „Als guter Demokrat akzeptiere ich die Ablehnung unseres Antrags – aber wir werden wieder einen Antrag stellen.“

Beharrlichkeit ist auch eine Eigenschaft seines Amtskollegen Peter Franz aus Frammersbach, einer4.700-Seelen-Gemeinde im Landkreis Main-Spessart. Obwohl sie zunächst Standort eines Haupt-schulverbandes wurde und Schüler aus zwei weiteren Ortschaften aufnehmen konnte, ließ sich dieHauptschule nicht mehr halten. Seit dem laufenden Schuljahr fahren die Kinder der örtlichen Grund-schule ins zwölf Kilometer entfernte Lohr, Standort eines Mittelschulverbandes. In Franz' Augen ist fürdiese Entwicklung nicht so sehr das Schrumpfen der Bevölkerungszahlen in seiner Gemeinde verant-wortlich (minus 1 Prozent), sondern die sechsstufige Realschule und die steigenden Übertrittsquoten.

In besseren Zeiten beherbergte die Grund- und Hauptschule fast 700 Schüler und lieferte den Betrieben der Gegend „sehr fleißige, gut ausgebildete und engagierte Mitarbeiter“. Nun aber leidenFranz zufolge sowohl „Einzelhandel, Dienstleister und Vereine unter dieser Situation“. Und auch die Ge-meinde selbst leidet: Wie in Margetshöchheim hat sie als Schulträger ein weitläufiges und aufwändigrenoviertes Gebäude zu unterhalten – ohne mit sicheren Mitteln kalkulieren zu können. Das kommtFranz umso bitterer an, als die nächstgelegene Realschule in Lohr vor lauter Andrang Klassen ausla-gern muss – während bei ihm Räume leer stehen.

Der Antrag für eine Modellschule wurde 2009 ebenso kategorisch abgelehnt wie der in Margets-höchheim, doch die Pläne liegen weiterhin bereit für bessere Zeiten. Sie sehen einen Modellversuchvor in Kooperation mit der Realschule und einem eigenen pädagogischen Konzept in mehr Eigenver-antwortung. Gymnasiasten könnten nach wie vor bereits nach der vierten Klasse die Schule verlassen,Hauptschüler und vermeintliche Realschüler würden in einer zweijährigen Orientierungsstufe gemein-sam unterrichtet werden, in den Hauptfächern möglicherweise modularisiert. Nach der sechsten Klassewürden sich einige Schüler für den parallel laufenden Realschulzweig empfehlen. Den Unterricht würden bis zum Abschluss Realschullehrer übernehmen.

Weil all das im Ganztagsbetrieb organisiert werden soll, haben Vereine bereits ihre Unterstützung imsportlichen und musischen Bereich zugesagt. Im modularisierten Ganztagesunterricht können alleSchüler in Stütz- und Förderkursen Schwächen abbauen und Stärken ausbauen. Nach einer zwei- oderdreijährigen Entwicklungsphase würde sich entscheiden, wer in welchem Fach eine Realschulprüfungschreibt. Teilzertifikate oder Portfolios sollen neben dem Abschlusszeugnis aussagekräftige, alternativeAbschlüsse darstellen, die die Leistung eines Schülers in einzelnen Fächern unterstreichen und diebei einer Bewerbung von großem Nutzen sein können.

Kurzum: Das Konzept wäre nicht nur geeignet, eine Schule zu retten. Es würde einem Teil der Schülerund Eltern den Übertrittsdruck nehmen. Franz ist sicher: „Schule muss sich den veränderten Voraus-setzungen anpassen.“

Bayern – eine Gemeinde macht sich auf den Weg

Die Gemeinden Frammersbach und Margetshöchheim haben eines gemein: Immer weniger Schüler besuchen die örtlichen Mittelschulen. Das ist längst Normalität in Unterfranken. Allerdings könnte die Art, damit umzugehen, Schule machen.

Bereits 2009 schlugen sie Alarm. Frammersbacher und Margetshöchheimer beantragten jeweils, eineModellschule gründen zu dürfen, die eine um zwei Jahre verlängerte Grundschulzeit vorsieht, die zur regulären Mittleren Reife führt, und die als Ganztagesschule ein neues pädagogisches Konzept mit sichbringen würde. Beide Anträge lehnte das Kultusministerium rundweg ab, doch aufgeben kommt für diebeiden Gemeinden nicht in Frage. Sie halten ihre Pläne in petto, um vielleicht schon bald vom schulpo-litischen Tauwetter zu profitieren, das derzeit den gesamten Rest von Deutschland erfasst.

Eine Lösung muss dringend gefunden werden, denn der Münchener Federstrich durch die Modellschul-rechnung und der Verweis auf Mittelschulverbände hat kein Problem wirklich gelöst. Zwar wurden die Einzugskreise nominell erweitert, damit aber haben sich erstens die Fahrtzeiten vieler Kinder erheblich verlängert, zum anderen sind die Übertrittsquoten auf Realschule und Gymnasium derart hoch, dass dieZahlen der Mittelschüler in beiden Gemeinden trotz allem auf niedrigem Niveau stagnieren. „Es gehtlängst nicht mehr darum, die Hauptschule zu erhalten“, sagt Waldemar Brohm, Bürgermeister von Mar-getshöchheim und Vorsitzender des Schulverbandes, „es geht um den Erhalt des Standorts“. Durch dieVerbandlösungen werde nur „das Sterben verlängert“.

In Brohms Gemeinde gibt es nur noch wenig mehr als 100 Hauptschüler, ein einzügiger Schulbetriebkann gerade noch aufrechterhalten werden. An einen M-Zug ist unter diesen Umständen freilich längstnicht mehr zu denken. Dabei lesen sich die Zahlen für den Schulverband, zu dem die Gemeinden Erla-brunn, Leinach, Margetshöchheim und Zell gehören, gar nicht mal so schlecht. Im Einzugsbereich woh-nen etwa 12.500 Menschen. Rund 440 Grundschüler verteilen sich auf die Volksschule Margetshöchheimmit der Außenstelle Erlabrunn, die Grundschule Leinach und die Grundschule Zell am Main. Doch dieÜbertrittsquote nach der vierten Jahrgangsstufe auf Realschule und Gymnasium ist nach Auskunft vonBrohm auf derzeit 85 Prozent gestiegen. Nach der sechsten, siebten oder spätestens achten Jahr-gangsstufe wechseln zudem immer mehr Schüler auf Wirtschaftsschulen. Und es lockt die Montessori-Schule in Zell, die neben dem Qualifizierenden Hauptschulschluss und dem Mittleren Abschluss aucheinen Fachoberschul-Zweig anbietet.

Der Schulverbandsvorsitzende Brohm sorgt sich also offensichtlich nicht grundlos. Leerstehende Klassenzimmer oder gar Schulgebäude, in die Jahre zuvor noch viel Geld investiert wurde, ärgern denKommunalpolitiker schon sehr, was ihn aber richtig wütend macht, ist die mit dem drohenden Verlust desHauptschulstandortes einhergehende Entfremdung der Jugendlichen im sozialen Gefüge der Dörfer. DieVereine würden heute schon über Nachwuchsprobleme und die mangelhafte Bindung der Kinder und Jugendlichen an örtliche Gemeinschaft klagen.

Günter Stock, Brohms Amtsvorgänger, und seine Kollegen stellten schon im Mai 2008 fest: „Weil in-nerhalb des dreigliedrigen Schulsystems keine befriedigenden Lösungen gefunden werden, muss das

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„Das Dorf muss eine gute Lebensqualität bieten, damit die Leut' nicht wegziehen. Und dazu gehören halt auch gute Perspektiven für die Kinder. Wenn die hier nicht nur den Hauptschulabschluss erreichen können, dann bleiben die Familien im Ort. Sonst stirbt erst die Schule und dann das Dorf.“

„Ich will, dass unser Ort eine Zukunft hat“ Max, 47, Bürgermeister

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Ausgangspunkt ist eine Initiativgruppe von Interessierten und Betroffenen

Ziel: Einrichtung einer passgenauen und standortsicheren Schule am Ort

• Analyse der örtlichen Schulsituation (Geburtenentwicklung, Übertritte, räumliches Schulnetz)• Erstellung von Eckpfeilern eines Schulentwicklungsplans (mögliche Abschlüsse, Überlegungen

zu Organisation und ggf. Kooperation von Schulstandorten)• Vorgespräche zur Gewinnung von Unterstützern (Bürgermeister, Gemeinderäte,

Schulleitung, Lehrer, Elternbeirat, Eltern, Verbände, Vereine, lokale Wirtschaft)

Erarbeitung eines pädagogischen Rahmenkonzepts der Schule

Ziel: Entwicklung von mehrheitsfähigen Grundvorstellungen einer zukünftigen Schule durch Interessierte unter Beteiligung von Lehrerkollegium, Elternbeirat, ggf. externer Experten

• Formulierung der Grundstrukturen der Schule (Formen der Differenzierung, Raumbestand und -bedarf, Lehrereinsatz)

• Entwurf pädagogischer Grundgedanken (Eckpunkte eines Schulprogramms) • Schrittweise Konkretisierung des Schulkonzepts

Präsentation des Konzepts in der Öffentlichkeit

Ziel: Breite Information und Diskussion der Entwürfe zur Schaffung von Akzeptanz und Unterstützung; kommunaler Konsens z. B. durch

• Information der Eltern (Zeitungsartikel, persönliche Gespräche, Infobriefe, Veranstaltungen, Aktionen)

• Gewinnung von Zustimmung von Bürgermeistern, Landrat, Gemeinderäten, Schulverwaltung• gemeinsamen Besuch von ähnlichen Schulmodellen

Schritte zur Sicherung einer Schule am Ort

Befragung, Beschlussfassung, Beantragung

Ziel: Sicherung der Akzeptanz des Schulprojekts und Genehmigung durch die Schulbehörde

• Sicherung der Akzeptanz der geplanten Schule durch Befragung der Grundschuleltern • Gemeinderatsbeschluss zur Unterstützung der Schule• Beantragung der Schule als Schulversuch beim Kultusministerium durch die Gemeinde

Umsetzungsplanung des Schulkonzepts durch die Schule

Ziel: Projektpläne in einzelnen Handlungsschritten zu Aufbau und Ausgestaltung der Schule

• Konkretisierung der pädagogischen Grundsätze, organisatorischen Strukturen und Differenzierungs-formen (ggf. mit externer Unterstützung)

• Beschaffung der erforderlichen finanziellen, materiellen und personellen Ressourcen

Weitere Informationen zur wohnortnahen Schule (pädagogische und organisatorische Konzepte von rea-lisierten Schulen) und Instrumente zur Vorbereitung und Umsetzung (z. B. einschlägige Elternfragebogen)finden Sie unter www.regionale-schulentwicklung.bllv.de

Mit den Experten des BLLV können konkrete Konzepte und Vorgehensweisen vor Ort besprochen werden, um ein wohnortnahes, den lokalen Verhältnissen angemessenes Schulangebot zu finden. Ansprechpartner können Sie anfordern unter schulpolitik (at) bllv.de

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www.bllv.de/wohnortnahe-schule

Für eine längere gemeinsame Schule

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