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Veröffentlicht unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 i © 2018 | Schott Music GmbH & Co. KG Natalia Nowack Wolfgang Amadé Mozarts Klaviersonate 11, KV 331 (300i) auf den physikalischen Tonträgern

Wolfgang Amadé Mozarts Klaviersonate 11, KV 331 (300i) auf ... · 3 Alf Gabrielsson, Once again: The theme from Mozart’s piano sonata in A major (K. 331) – A comparison of five

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Veröffentlicht unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 i© 2018 | Schott Music GmbH & Co. KG

Natalia Nowack

Wolfgang Amadé Mozarts Klaviersonate № 11, KV 331 (300i) auf den physikalischen Tonträgern

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Natalia Nowack

Wolfgang Amadé Mozarts Klaviersonate № 11, KV 331 (300i)

auf den physikalischen Tonträgern

Ob Festakt oder Trauerfall, Mozart wird immer und aus verschiedensten Anlässen gespielt. Dement-

sprechend »unüberschaubar« sollte die Fülle der Auffassungen und Darbietungen sein. Kann man

wirklich von einer Vielfalt der Mozart-Interpretationen sprechen oder ist diese Vorstellung illusorisch? Bezogen auf das Gesamtœuvre des Komponisten (immerhin über 600 katalogisierte Werke) lässt sich

die Frage nach der Heterogenität interpretatorischer Lösungen in einem Aufsatz nicht beantworten. Aber vielleicht konzentriert auf die Gattung der Klaviersonate oder auf ein bestimmtes Werk?1

Der vorliegende Aufsatz, dessen wesentliche Impulse in den Seminaren »Musikhören und Interpreta-

tionsforschung«2 wurzeln, besteht aus fünf Gedankenschritten. Auf die (1) Stellungnahme zu den

Auffassungen über die Persönlichkeit Mozarts und Darstellung des Kenntnisstandes zur Musizier-

praxis seiner Zeit (Voraussetzungen der Betrachtung) folgt (2) die Analyse der Bestände der physikali-

schen Tonträger an deutschen Musikhochschulen mit anschließender Betrachtung einiger in den Bib-

liotheken der Bildungseinrichtungen vorhandener und einiger nichtvorhandener Interpretations-

beispiele (3). Daraufhin werden Auswahlprinzipien besprochen sowie deren Folgen für die Tradierung

der Aufführungspraxis (4). Die Änderung der Sicht auf die Rolle eines Interpreten erscheint im Zu-

sammenhang mit den durchgeführten Analysen als ein Prozess, der sich heute mehr denn je als nicht

abgeschlossen bezeichnen lässt (5).

Bis vor kurzem lagen noch keine umfangreichen Studien zur Interpretation von Mozarts Klaviersona-

ten vor. Das verhaltene Forschungsinteresse wird verständlich, wenn man bedenkt, dass Mozarts So-

naten nur selten ein abendfüllendes Programm ausmachen. Im Jahr 1987 befand sich ausgerechnet die

A-Dur-Sonate im Mittelpunkt einer Studie von Alf Gabrielsson, der die Phrasierungsunterschiede der

ersten acht Takte ihres Kopfsatzes untersuchte und somit einer grundsätzlichen Abweichung vom

schriftlich vorgegebenen Muster nachging, die sich in jeder Interpretation abzeichnet.3 Siegfried Mau-

sers Band Mozarts Klaviersonaten. Ein musikalischer Werkführer enthält knappe »Hinweise zu Einspielun-

gen«, jedoch keine eigenständige Analyse interpretatorischer Leistungen im Vergleich.4 Momentan

wenden sich einige Forscher den Interpretationsfragen nun mehr oder weniger direkt zu, wie in der

jüngsten Publikation des Instituts für Musikalische Rezeptions- und Interpretationsgeschichte der

Universität Mozarteum Salzburg Zur Interpretation von W.A. Mozarts Kammermusik (herausgegeben von

Joachim Brügge, Freiburg 2015)5. Die Klaviersonaten werden in dieser Publikation mit den ersten

ausführlichen Analysen bedacht. Gearbeitet wird außerdem an einem Handbuch musikalischer Interpreta-

1 Dieser Aufsatz stellt eine leicht überarbeitete Fassung der öffentlichen Vorlesung dar, die im November 2017 im Rahmen des Habilitationsverfahrens an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gehalten wurde. 2 Die Lehrveranstaltungen wurden von der Verfasserin mehrfach an der Martin-Luther-Universität durchgeführt. 3 Alf Gabrielsson, Once again: The theme from Mozart’s piano sonata in A major (K. 331) – A comparison of five perfor-mances, in: Ders., Hg., Action and perception in rhythm and music. Papers given at a symposium in the 3. International Conference on Event Perception an Action, Stockholm 1987, S. 81-103. 4 Siegfried Mauser, Mozarts Klaviersonaten. Ein musikalischer Werkführer (= C.H. Beck Wissen, 2223), München 2014. 5 Mein Dank gilt Herrn Dr. Rainer Schwob von der Universität Mozarteum Salzburg, der mir über die aktuellen Projekte seiner Einrichtung in Bezug auf Interpretation Mozarts Werke berichtete, und Herrn Robert A. Brown aus Oberndorf bei Salzburg, Spezialist für Tasteninstrumente des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts, für die Bereitstellung des Bildmaterials.

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tionsforschung in Salzburg und am Band Geschichte der musikalischen Interpretation im 19. und im 20. Jahrhun-

dert in Berlin.

Mozart-Bilder

Die Auffassungen über die Persönlichkeit Mozarts beeinflussen zweifelsohne die Bereitschaft, die eine

oder andere Interpretation als adäquat einzustufen und die anderen demgegenüber als weniger adä-

quat. Hier bewegt man sich im Bereich der in der Musik- und vor allem in der Literaturwissenschaft

bekannten Fakten, die in den nächsten Zeilen nur zusammengetragen werden. Mozarts kurzes Leben,

finanzielle Misere nach ca. 1787, nicht geklärte Kompositionsmotive der letzten Werke, insbesondere

des Requiems, Mozarts eher kindische Art, sich zu benehmen, Vieldeutigkeit seiner Briefe (von denen

immerhin sehr viele erhalten sind) und fast das komplette Fehlen selbstreflexiver Belege – das alles

wurde zur Herausforderung für seine Biografen und sorgte für viel literarisch verwertbaren Stoff.

Literaturwissenschaftler wie Hans Joachim Kreutzer oder Gerhard vom Hofe sprechen von einer

unlösbaren Einheit von Künstler und Person Mozarts, die den Zeitgenossen des Komponisten durch-

aus bewusst war.6

Verlassen wir die Literaturwissenschaft zugunsten der Musikgeschichte, ist in Bezug auf die Entwick-

lung des Mozart-Images die »verkehrte« Reihenfolge in der ästhetischen Theoriebildung in Betracht zu

ziehen: Eine eigenständige ästhetische Theorie der musikalischen Klassik musste erst niedergeschrie-

ben werden, während sich die semantische Verknüpfung »Mozart ist gleich Genie« auf der Grundlage

der Biografik, der Legenden und der auf mythischen Grundlagen bauenden essayistischen Abhand-

lungen bildete. Letztere sind im Duktus der Genie-Ästhetik ausgeführt worden, die es bis dato im

Musikschrifttum noch nicht gab.

Die Äußerungen E.T.A. Hoffmanns, der in seinen Musikkritiken die Theorie des Romantischen auf

mehrere aus heutiger Sicht willkürlich ausgesuchte Artefakte, darunter auch auf Mozarts Instrumen-

talmusik übertrug, werden in der Musikwissenschaft oft zitiert:

»Die Instrumental-Compositionen aller drey Meister [Haydn, Mozart, Beethoven – Nowack] athmen einen gleichen romantischen Geist, welcher eben in dem gleichen innigen Ergreifen des eigenthümlichen Wesens der Kunst liegt […].«7

Zur gleichen Zeit waren es die, von Biografen gemäß der Nachfrage der Zeit zur Schau gestellten, Themen der Armut, des Unerkannt-Seins, der Einsamkeit und des tragischen, gewaltsamen Todes, die zum Charakterbild eines tragischen, unheimlichen, zuweilen gar dämonischen Mozarts beitrugen. So kann man Hoffmann in einer Angelegenheit voll zustimmen – wahrgenommen wurde Mozart bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in einer durchaus »romantischen« Art. Die Biografen der ersten Genera-tion (Franz Niemeczek, Georg N. Nissen) arbeiteten einzelne Aspekte aus, die von Literaten (Eduard Mörike, Alexander Puschkin) nach ihrem Verständnis »vervollständigt« wurden. Auch an diesem »tra-gisch-unheimlichen« Mozart-Bild hat E.T.A. Hoffmann nicht unwesentlichen Anteil, symbolisch un-terstützt in seinen Bemühungen von keinem geringeren als von Johann Wolfgang von Goethe. So äußerte sich letzterer über eine mögliche Vertonung von Faust ziemlich unmissverständlich:

6 Hans Joachim Kreutzer, Der Mozart der Dichter. Über Wechselwirkungen von Literatur und Musik im 19. Jahrhundert, in: Ders., Obertöne: Literatur und Musik. Neun Abhandlungen über das Zusammenspiel der Künste, Würzburg 1994, S. 103-129; vgl. dazu auch: Dieter Demuth, Das idealistische Mozart-Bild (1785-1860) (= Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft, 17), Tutzing 1997.

7 E.T.A. Hoffmann, Rezension der 5. Symphonie von L. v. Beethoven, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 12 /1810, Sp. 632.

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»Das Abstoßende, Widerwärtige, Furchtbare, was sie [die Musik zu Faust – Nowack] stellenweise enthal-ten müsste, ist der Zeit zuwider. Die Musik müsste im Charakter des ›Don Juan‹ sein; Mozart hätte den ›Faust‹ komponieren müssen.«8

Werktechnisch belegt durch Don Giovanni und Requiem, wird das Tragische und das Widerwärtige in

Mozarts Schaffen auch im 20. Jahrhundert auf weitere Kompositionen »projiziert«, so auch auf einige

der Klaviersonaten (Hanns Dennerlein9).

Der Raffael-Kult der romantischen Programme färbte an Mozart ebenso ab und wahrscheinlich von

allen Elementen der Imagebildung am stärksten. Der Schriftsteller und Musikkritiker Friedrich Roch-

litz hatte für die von ihm zusammen mit Gottfried Christoph Härtel gegründete Allgemeine Musikalische

Zeitung mehrere Mozart-bezogene Texte geschrieben, in denen sowohl das Unverständliche und Un-

heimliche als auch das Tragische ausgeblendet und durch einen anderen Topos – die »göttliche Gabe«,

entsprechend der apollinischen Genie-Vorstellung – ersetzt wurde.10 Diese Texte sind als der Beginn

der Aufheiterung von Mozarts Biografie zu sehen. Eine kritische Auseinandersetzung findet man bei

Ulrich Konrad.11

Nicht alle diese Bilder sind von der Nachwelt im gleichen Maße aufgenommen worden. Die heute

immer noch dominierende Vorstellung von einem »heiteren Genie« (Gerhard vom Hofe spricht von

einer durch die Literaten geschaffenen »Atmosphäre einer gepflegten und beinahe idyllischen Rokoko-

Geselligkeit«12) geht sicherlich auf die Aufsätze von Rochlitz zurück. In der Mitte des 19. Jahrhun-

derts, bei Otto Jahn, wird Mozart zum (heiteren) Mittelpunkt der Musikgeschichte, ihrer Krönung und

Vollendung. Für Hermann Abert, der ein halbes Jahrhundert später den Auftrag bekam, das Werk

seines Vorgängers zu überarbeiten, bedarf die Anpassung des Bildes Mozarts an die Erkenntnisse des

frühen 20. Jahrhunderts einer sehr ausgedehnten Einleitung und viel Fingerspitzengefühl.13 Eine

Befreiung von der vorherrschenden (literarischen) Tradition in Bezug auf die Darstellung Mozarts

Persönlichkeit war auch für Abert nur bedingt möglich.

Ein richtiger Paradigmenwechsel in der Mozartforschung deutete sich in den späten 1970er Jahren an,

als die Auffassung vom »heiteren Genie« von Wolfgang Hildesheimer auf Herz und Nieren geprüft

und aus psychologischer Sicht widerlegt wurde. Im Fokus von Hildesheimers Betrachtung befindet

sich nicht nur der Komponist selbst, sondern auch das Zustandekommen diverser »dichterischer Deu-

tungen«, sowie ihre Hartnäckigkeit und Langlebigkeit:

»Im neunzehnten Jahrhundert glaubte man, den ›großen Meistern‹ alle Eigenschaften andichten zu müs-sen, die man für Tugenden hielt, vor allem die Abstinenz in jedem Sinne […], um sie dann zu morali-schen Leitbildern machen zu können; daher sprach man ihnen schlankweg alles das ab, was dem Bürger

8 Johann Wolgang v. Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, II/12: J.P. Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Frankfurt / M. 1999, S. 515 f. 9 Hanns Dennerlein, Der unbekannte Mozart. Die Welt seiner Klavierwerke, Leipzig 1951. 10 Friedrich Rochlitz, Verbürgte Anekdoten aus Wolfgang Gottlieb Mozarts Leben. Ein Beytrag zur richtigen Kenntnis dieses Mannes, als Mensch und Künstler, in: Allgemeine Musikalische Zeitung, Okt. 1798 bis Dez. 1798, oder: Raffael und Mozart, in: a. a. O., № 37, Sp. 641–653, Leipzig 1800. 11 Ulrich Konrad, Mozarts Schaffensweise. Studien zu den Werkautographen, Skizzen und Entwürfen, Göttingen 1992, und ders., Wolf-gang Amadé Mozart. Leben, Musik, Werkbestand, Kassel 2005. 12 Gerhard vom Hofe, Das Genie Wolfgang Amadé Mozart in literarischen Bildern romantischer Tradition der Kunstreligion und Musikäs-thetik, Leipzig 2014, S. 65. 13 Otto Jahn, W.A. Mozart, 4 Bde., Leipzig 1856, und Hermann Abert, Wolfgang Amadeus Mozart. Eine Biographie, 2 Bde., Leipzig 1919–1921.

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als Untugend galt. […] So ist das Genie zum Opfer seiner Chronisten geworden, sowohl ihrer Phantasie als auch dem Mangel daran, vor allem aber ihrer kategorischen Festlegung dessen, was hätte sein sol-len.«14

So eindeutig wie Hildesheimer äußerte sich bis dato niemand. Über die Gründe der Nichtakzeptanz

seiner Auffassung bis weit in die 1990er Jahre kann man sich streiten. Die Tendenzen der Sakralisie-

rung der Kunst, die der literarischen Philosophie der Romantik zu verdanken waren, spielen aber für

die Aufführungspraxis des 20. Jahrhunderts, wie man im Folgenden sehen wird, eine bedeutende Rolle.

Eckdaten zum ausgewählten Beispiel

Die A-Dur-Sonate, bekannt als Sonate mit dem türkischen Marsch, führt mit ihren über 260 Aufnahmen

mit Abstand die Liste der Sonateneinspielungen der Mozart Ton- und Filmsammlung der Stiftung

Mozarteum Salzburg an.15 Vor allem aufgrund ihrer spieltechnischen Merkmale – leichte Nachspiel-

barkeit, leichte Singbarkeit, wird schnell zum Ohrwurm – ist diese Sonate prädestiniert, im Repertoire

der Musikschulen verankert zu sein. Dieses Werk erfüllt der modernen Sprache nach alle Schlager-

Kriterien.

Komponiert wurde die A-Dur-Sonate laut Papier und Handschriftenuntersuchungen zwischen 1783

und 1784 in Wien oder Salzburg.16 Der Erstdruck erschien im Jahr 1784 in Wien. Die heute unter den

Pianisten immer noch nicht ganz abgelegte Bezeichnung, als eine der »Pariser Sonaten«, kommt durch

die unsichere Datierung zustande, u.a. weil das komplette Autograph des Werkes unauffindbar ist. Im

Jahr 2014 – und das sorgte für großes Aufsehen – fand man in der Musikabteilung der Széchényi

Nationalbibliothek in Budapest ein Doppelblatt, das eindeutig aus Mozarts Hand stammte. Mit diesem

Fund ist ca. die Hälfte der A-Dur-Sonate belegt, die an vielen Stellen eine besondere Nähe zum Erst-

druck aufweist. Die spätere Datierung (um 1783) scheint sich durch den neuen Autograph zu bestäti-

gen. Der Henle-Verlag hat bereits im Jahr 2015 eine revidierte Urtextausgabe des Werkes herausge-

bracht. Inzwischen zogen alle anderen Verlage wie Wiener Urtext Edition und Bärenreiter nach.

Gehen wir vom Anno 1783 als Entstehungszeit aus, ist Mozart 27 Jahre alt und ein »freischaffender«

Komponist. Die Entführung aus dem Serail ist 1782 uraufgeführt worden, das ist die Zeit besonderer

schöpferischer Aktivität, gesellschaftlicher Anerkennung und eines verhältnismäßigen finanziellen

Wohlstands. Also, könnte das Werk durchaus heiter und unbeschwert (beinahe möchte man sagen,

apollinisch) gespielt werden. Dass die Probleme der Interpretationsforschung, definiert man letztere

als die Rekonstruktion der Aufführungspraktiken, an dieser Stelle gerade beginnen, liegt auf der Hand,

war doch die Datierung bis in die 1980er Jahre eine andere.17 Für die Auswahl der Einspielungen, die

im Folgenden eingehend betrachtet werden, ist aber die exakte Kenntnis der Datierung vorauszuset-

zen.

14 Wolfgang Hildesheimer, Mozart, Frankfurt / M. 1977, zit. nach Ausgabe 1979, S. 116 f. 15 Stand v. Okt. 2014: Rainer J. Schwob, Mozarts Klaviersonaten, Interpretationen im Vergleich, in: Joachim Brügge, Hg., Zur Interpretation von W. A. Mozarts Kammermusik (= Klang-reden, 14), Freiburg i. Br. u.a. 2015, S. 15-92, hier: Tab. 1, S. 22.

16Alan Tyson, Mozart: Studies of the Autograph Scores, Cambridge 1987, und Wolfgang Plath, Beiträge zur Mozart-Autographie II. Schriftchronologie 1770–1780, in: Mozart-Jahrbuch 1976/1977, Kassel u.a. 1978, S. 131–173.

17So sicherte die Bezeichnung »Pariser Sonate« eine eher getrübte, durch biografische Daten induzierte »Grundstimmung«.

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Einige Aspekte der Musizierpraxis zur Mozarts Zeit

Geht es um die Authentizität der spieltechnischen und akustischen Eigenschaften eines für ein Tas-

teninstrument komponierten Werkes, wird man heute mit einer Menge an Informationen konfrontiert,

denen in Bezug auf eine interpretatorische Entscheidung unterschiedliche Relevanz beizumessen ist.

Zum Instrument selbst. Anton-Walter-Hammerflügel (s. Abb. 1) aus der Sammlung der Stiftung Mo-

zarteum Salzburg ist das Instrument, das dem Komponisten in jenen Wiener Jahren diente.18 Dieses

Instrument, das nur knapp über 80 kg leicht war, wurde auch in der Öffentlichkeit benutzt. Auf der

Abbildung sehen wir nicht das Original, sondern eines der Instrumente, die zu unserer Zeit nachge-

baut wurden. Robert Brown, Restaurator für Hammerklaviere in Oberndorf bei Salzburg, hat das Foto

eines seiner Instrumente freundlicherweise übermittelt.

Abb. 1: Anton-Walter-Hammerflügel, nachgebaut v. Robert Brown, Fotograf: Stefan Zenzmaier

Das ist eines der Instrumente, die einem Interpreten für eine historisch adäquate Aufführung zur Ver-

fügung stehen. Ihr bedeutendstes Merkmal ist der helle Ton, der auch schneller verklingt. Man ist sich

inzwischen sicher, dass der im Besitz der Stiftung Mozarteum befindliche Flügel Mozart in der Tat

gehörte. Auf diesem Instrument wird gern musiziert und es entstehen zahlreiche »historische«

18 Vgl.: Matthias Schmidt, Hg., Mozarts Klavier- und Kammermusik (=Das Mozart-Handbuch, Bd. 2), Laaber 2006.

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Aufnahmen. Die Anführungszeichen gelten der Anmerkung, dass das Innenleben des Instruments in

der Folgezeit, so in etwa als das Instrument von Constanze Mozart an einen ihrer Söhne übergeben

wurde, überholt worden ist. So sind die mit Leder überzogenen Hämmerchen sowie die sog. Wiener

Mechanik doch die Merkmale etwas späterer Zeit. Im 20. Jahrhundert musste das Instrument noch

einmal gründlich restauriert werden (1937). Seitdem sind auch die modernen Stahlsaiten aufgezogen.

Nicht wesentlich einfacher als worauf man spielte19 wird es mit der Frage, auf welche Weise man es

tat: Tempo, Wiederholungen, Pedal, Verzierungen, Mikrotiming (Artikulation, Agogik), Dynamik und

Kantilene. Und die Stimmung. So gewann die gleichstufige (moderne) Stimmung, die in Asien bereits

länger verbreitet war, allgemeine Anerkennung in Europa definitiv erst nach Mozarts Ableben.20 Eini-

ge Aspekte der Spielpraxis wurden in der jüngsten Zeit in Bezug auf ihre Beachtung in verschiedenen

Einspielungen von Klaviersonaten analysiert. Das Ergebnis: In den meisten Fällen greift man sehr

sparsam auf die musikhistorischen Erkenntnisse zurück, es kann »eingestanden werden, dass die we-

nigsten Pianisten die denkbaren Möglichkeiten ausreizen; Mozarts Sonaten sind kein typisches Beispiel

für extreme praktische Deutungen«.21

Die Antwort auf die Frage nach den Freiräumen der Interpretation ist angesichts der Vielzahl an ver-

wendbaren Informationen, von denen man bislang nur einige skizzieren konnte, erstaunlich vielseitig.

Sie kann unter Umständen in eine, nach den »Steuerungselementen«, überführt werden. Diese Ele-

mente, nennen wir sie »die gelebte Praxis«, lassen eine sehr eingeschränkte Auswahl an Lösungen gel-

ten. Das soll im Folgenden gezeigt werden.

Die Bestände an physikalischen Tonträgern an deutschen Musikhochschulen

Der Schritt, den wir jetzt gehen, soll die Aufschlüsse über die Hörerfahrungen der Nachwuchsgenera-

tion darbietender Musiker bringen. Dazu benötigt man einige Zahlen und Fakten.

Laut den Daten, die jährlich vom Bundesverband Musikindustrie e.V. veröffentlicht werden, bleibt die

CD (mit über 85 % der physikalischen Träger im Jahr 2017) in Deutschland nach wie vor das meist-

verkaufte Medium im Klassikbereich.22 Ihre führende Position unter den Tonträgern hält die CD seit

über 30 Jahren inne.

19 Nutzte man für konzertante und festliche Anlässe den Hammerflügel, war für das Hausmusizieren zu Mozarts Zeit eher ein Clavichord üblich. Die vorherrschende Notierung von Dynamik mit nur f oder p bei Klavierwerken deutet daraufhin, dass die Aufführung auch auf zweimanualigen Cembali vorgesehen wurde. Eine weitere Besonderheit des späten 18. Jahr-hunderts sind die Arrangements für das Hausmusizieren. Mozarts Zeitgenossen war das Aufführen seiner Klavierwerke auf anderen Musikinstrumenten nicht fremd. So publizierte Flötist und Gitarrist Andreas Traeg (1748-1798 [?]) knapp nach 1800 (d.h. 15 Jahre nach der Komposition der Erstfassung) eine »Sammlung verschiedener Stücke mit und ohne Begleitung für die Guitar eingerichtet von Andreas Traeg», die eine »gemischte» 4-sätzige Sonate enthielt. Sie bestand aus drei Originalsätzen der Sonate KV 331, denen an der zweiten Stelle das Adagio aus der Sonate KV 332 beigegeben wurde.

20 Bis auf einige Theoretiker wie Jean Philippe Rameau oder Georg Andreas Sorge war die gleichstufige Temperatur im Europa des 18. Jahrhunderts wenig populär.

21 Schwob, Mozarts Klaviersonaten, S. 18.

22 Bundesverband Musikindustrie e.V. (Florian Drücke), Hg., Musikindustrie in Zahlen 2017, Berlin 2018, S. 10.

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Abb. 2: Anteilige Umsatzentwicklung für die Sparte Klassik in der Bundesrepublik (2015-2016-2017)23

Auf der Abb. 2 sieht man anteilige Umsätze in der Sparte Klassik in den Jahren 2015, 2016 und 2017.

Unter Audio-Streaming wurden Fulltrack-Downloads der Streaming-Plattformen erfasst, gezählt

wurden Premiumumsätze zu Endverbraucherpreisen. Der Streaming-Anteil wächst geringfügig, den

Verkauf von physikalischen Trägern scheint er auf den ersten Blick aber fast nicht zu schmälern. Je-

doch – auch wenn wir die Preisdifferenzen zwischen physikalisch und digital unbeachtet lassen – ist

das Hören nicht immer mit einer stattgefundenen Zahlung gleichzusetzen. So bleibt z.B. gerade die

Nutzung Bibliotheksbestände unberücksichtigt.

Eines der wesentlichen Indizien für den Wandel im Umgang mit Tonquellen ist die Änderung der

Angebote (Abb. 3). Wie man sieht, ist das Verhältnis zwischen physikalisch und digital hier bereits ein

ganz anderes. Im Jahr 2016 war dieses Verhältnis ca. eins zu zwei, ein Jahr später machten die physika-

lischen Träger nur noch 45% des Gesamtangebots aus.

Abb. 3: Angebot Sparte Klassik in der Bundesrepublik für die Jahre 2016 und 2017, in Stück24

23 Eigene grafische Darstellung von Daten aus: Bundesverband Musikindustrie, Musikindustrie in Zahlen 2016, S. 12, und Musikindustrie in Zahlen 2017, S. 12.

91% 90%87%

6% 5% 5%3% 5% 8%

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

Umsatz 2015 Umsatz 2016 Umsatz 2017

Physisch

Download

Audio-Streaming

78807

157494

Klassik-Alben2016 physisch

Klassik-Alben2016 digital

78414

174036

Klassik-Alben2017 physisch

Klassik-Alben2017 digital

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Wir kommen zu einer wichtigen Schlussfolgerung methodischer Art: Die Betrachtungen der physikali-

schen Träger, die bislang ein beliebtes Untersuchungsobjekt der Interpretationsanalysen ausmachten,

stellen ein Auslaufmodell dar. Der Veränderung des Konsumverhaltens wird man sich in den kom-

menden Jahren stellen müssen.25 Zur Kennzeichnung aktueller Sozialisationsbedingungen bleibt aber

die Erfassung herkömmlicher Tonträger unentbehrlich.

Für vorliegende Untersuchung wurden die Opac-Daten der Bibliotheken entsprechend der Liste von

Musikhochschulen in der Bundesrepublik Deutschland ausgewertet, die vom Musikinformationszent-

rum Bonn bereitgestellt wird.26 Der Entscheidung zugunsten der Musikhochschulen lag die Überle-

gung zugrunde, dass für die Tradierung bestimmter Interpretationsmuster in erster Linie die an den

Musikhochschulen angesiedelten schulbildenden Zentren zuständig sind. Nach einer Stichprobenana-

lyse kann man hinzufügen, dass sich die Bestände an physikalischen Tonträgern an den Universitäten

der Bundesrepublik von denen an den Hochschulen nicht wesentlich unterscheiden.27 Bis auf die Bib-

liothek der Hochschule »Hanns Eisler«, die ihren Nutzern fast nur Streaming-Dienste zur Verfügung

stellt, besaßen zum Herbst 2017 alle Musikhochschulen in erster Linie physikalische Tonträger.

Es sind sowohl die Gesamtaufnahmen, als auch die Aufnahmen von einzelnen Sonaten gezählt wor-

den. Jedoch dominieren die Gesamtaufzeichnungen stark. Erfasst wurden CDs und auch die wenigen

Schallplatten. Von den über 260 zu Beginn des Aufsatzes erwähnten Aufnahmen aus der Sammlung

der Stiftung Mozarteum Salzburg sind hier 39 vertreten, verteilt auf 27 Pianisten.28 Die erfassten Be-

stände sieht man in der Abb. 4. In grün hervorgehoben sind die Namen der Künstler mit den Einspie-

lungen aus den 1960er bis 1970er Jahren und in orange die aus den 1980er bis 1990er Jahren, die in

den Bibliotheken jeweils öfter vertreten waren. Die Aufnahmedaten waren leider nicht immer auf den

Tonträgern vermerkt. Das Jahr der Produktion wird wohl – aus urheberrechtlichen Aspekten – für die

Gestaltung vieler Tonträger als ausreichend empfunden.

Mit Ausnahme von zwei Einspielungen (von Andreas Staier, 3x, und von Alexej Ljubimov)29 waren in

den erfassten Bibliotheken keine Aufnahmen der A-Dur-Sonate auf den historischen Instrumenten

vorhanden. Damit entsprechen die Bestände dem allgemeinen Trend: Mozarts Klaviermusik, ausge-

nommen Konzerte, auf dem modernen Flügel vorzutragen. Nachdem die partielle Authentizität eines

24 Eigene grafische Darstellung von Daten aus: Bundesverband Musikindustrie e.V., Musikindustrie 2016, S. 19, und Musikin-dustrie 2017, S. 19.

25 Inzwischen wurde eine markante Grenze überschritten – aus dem gerade veröffentlichten BVMI-Halbjahresreport folgt, dass im ersten Halbjahr 2018 das Audio-Streaming die CD überholt hat (http://www.musikindustrie.de/news-detail/ controller/News/action/detail/news/bvmi-halbjahresreport-2018-audio-streaming-ueberholt-die-cd, Umsatzanteile aus dem Musikverkauf, Umsatz, bewertet zu Endverbraucherpreisen inkl. Mehrwertsteuer, Zugriff v. August 2018). Auch wenn die Änderungen im Klassik-Bereich daran noch nicht so stark partizipieren, entwickelt sich die Gesamtlage auf dem Musikmarkt rasant, und zwar zu Ungunsten der physischen Erzeugnisse.

26 Deutsches Musikinformationszentrum Bonn, 27 Datensätze, unter: http://www.miz.org/institutionen/musikhochschulen-s17, abgerufen am 3.8.2017.

27 Vgl.: In der Bibliothek der MLU Halle-Wittenberg findet man die Gesamteinspielungen von Mitsuko Uchida (1991) und Klára Würtz (2005), daneben einzelne Sonaten (ohne A-dur Sonate), vorgetragen von Gerrit Zitterbart (1989), in der Biblio-thek der Universität Leipzig die Gesamteinspielung von Klára Würtz (2005). Deutlich öfter als an den Musikhochschulen werden an den Universitäten dagegen Streaming-Optionen angeboten. Die Streaming-Nutzung kann man als eine tendenziel-le Öffnung gegenüber der Vielfalt der Angebote sehen.

28 Die Zahl an sich sagt vorerst nichts aus, dafür aber der spätere Vergleich der vorherrschenden Interpretationsmuster mit der Menge der zum Zeitpunkt der Untersuchung im Handel vorliegenden Aufnahmen. 29 Staier (2005) und Ljubimov (2008).

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historischen Instruments, selbst wenn es sich um ein von Mozart persönlich benutztes Hammerklavier

handelt, deutlich wurde, ist diese künstlerische Entscheidung besser nachvollziehbar. Zu beantworten

bleibt noch die Frage, mit welchen stilistischen und spieltechnischen Mittel die Interpreten jeweils

dem Werk begegnen.

Interpret Veröffentlichung Produktion (wenn bekannt) Tonträger

Wilhelm Kempff 1962 und 2012 / 1962 1; 1

Ingrid Haebler 1970 4

Christoph Eschenbach 1971, 1993 und 1999 /1967-1971 (3.) 3; 1; 2

Gustav Leonhardt 1974 1971 1

Walter Gieseking 1979 1970 5

Paul Badura-Skoda 1980 1979 1

Cécille Ouset 1983 1973 1

Claudio Arrau 1988 und 1991 / 1983-1986 1; 1

Karl Engel 1988 1

Gerrit Zitterbart 1989 1

Siegbert Rampe 1989 2

Carmen Piazzini 1990 und 2007 / 1989 2; 1

Gitti Pirner 1990 und 2001 1; 1

Christian Zacharias 1990 und 1995 1984-1985 / 1985-1986 4; 4

Alicia de Larrocha 1990 und 2003 / 1968-1975 1; 1

Maria Joao Pires 1991 und 2005 1989-1991/ 5; 2

András Schiff 1991 und 1995 1980 / 1980-1981 1; 6

Mitsuko Uchida 1991 1983-1987 9

Daniel Barenboim 1991 und 2000 1985-1986 /1984-1991 1; 2

Glenn Gould 1994 und 2001 1966-1974 /1968-1975 1; 1

Michael Endres 1999 und 2003 1; 2

Seung-Yeun Huh 2002 1998 2

Carl Seemann 2005 1949-1955 1

Klára Würtz 2005 1998 7

Andreas Staier 2005 2004 3

Alexej Ljubimov 2008 1990 1

Lilli Kraus 2015 1956-1968 1

Abb. 4: Physikalische Tonträger in den Bibliotheken von Musikhochschulen der Bundesrepublik (Sept. 2017), Reihenfolge nach Veröffentli-chungsdatum des Tonträgers, Stückzahlen30

Auf der nächsten Grafik sind die Einspielungen, die überdurchschnittlich oft vertreten waren, noch

einmal gesondert zu sehen. Unter den Aufnahmen der 1980er und der 1990er Jahre sind nur die von

Mitsuko Uchida und Klára Würtz mit einer einzigen Einspielung dabei.

30 Berliner Universität der Künste wurde hier (wie auch in den Statistiken des MIZ Bonn) als Universität und nicht als Mu-sikhochschule betrachtet.

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Abb. 5: Einspielungen, von denen im Herbst 2017 fünf und mehr Tonträger vorlagen (1) aus den 1960er und 1970er Jahren (hellgrau), (2) aus den 1980er und 1990er Jahren, unterteilt in nur eine (dunkelgrau) oder mehrere (eingerahmt) Einspielungen von ein- und demselben Interpreten (in Stück)

Interpretationsbeispiele

Betrachten wir die Eigenschaften der Aufnahme, die mit ihren 9 CD-Boxen in den Bibliotheken von

Musikhochschulen den ersten Rangplatz belegte:

Mitsuko Uchida (Aufn. 1984-1988): Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonaten (Philips

Complete Mozart Edition), 5 CD, ℗ 1988, © 1991, Philips Classics Productions 426 891-2.

Die interpretatorischen Mittel äußern sich in dieser Einspielung primär in der Wahl der Tempi, im

Einsatz von legato und in einer extrem langen Phrasierung. Auf der Folgeabbildung sehen wir die

Transkription, die anhand des Hörerlebens gemacht worden ist. Aufgezeichnet darauf sind die leichte

Agogik (Notation mit einem Strich über der Note, die auf eine Verzögerung oder aber Vorwegnahme

des entsprechenden Tons hindeutet) und dynamische Feinheiten. Letztere betreffen vor allem die

Darbietung des Themas und fast aller Variationen in einem so zarten piano, dass jedes mezzopiano be-

reits eine hörbare, wenn aber auch sehr subtile, Abweichung gegenüber der Grundeinstellung dar-

stellt.31 Die Unterschiede, die üblicherweise mit einer Wiederholung verbunden sind, sind dem Mikro-

timing zuzuordnen (z.B. Takte 9-10 oder 15-16) und bleiben bspw. beim Thema so minimal, dass man

sie kaum mit gängigen Zeichen vermerken kann.32

Mitsuko Uchida ist eine der namhaftesten Interpret*innen Mozarts der letzten Dekaden des 20. Jahr-

hunderts. Die in Japan geborene, in Wien ausgebildete und in London lebende Musikerin macht sich

stark für die wörtliche Textwiedergabe, Zurückstellung der eigenen Emotion, beinahe perfektes Lega-

to, dezente Dynamik und Schlichtheit. Uchida spielt auf den heutigen Instrumenten. Transkribiert

man ihre o.g. Einspielung, stellt man außer Missachtung von Mozarts forte-Angaben keine Abwei-

chungen vom Ur-Text fest. Leichte klassische Agogik setzt sie bezogen auf den abgebildeten Ab-

schnitt in Takten 12-13 und 16-18 ein. Im Takt 17 wird die D-Dur Terz arpeggiert, eine übliche Zerle-

gung für diese Sonate.

31 Nur die Var. 4 und Var. 6 gehen in dieser Einspielung über die Grundeinstellung des pianos hinaus.

32 In den Var. 2–5 stellen die Unterschiede in der Phrasierung ein wesentliches Gestaltungselement für Wiederholungen dar.

0

2

4

6

8

10

ChristophEschenbach

WalterGieseking

MitsukoUchida

Klára Würtz ChristianZacharias

András Schiff Maria Joao Pires

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Uchidas Gesamteinspielung von Mozarts Klaviersonaten gehörte in die aufwendig gestaltete Jubilä-

umsausgabe zum 200 Todestag des Komponisten, die in Zusammenarbeit von Philips Classics Pro-

duction, Stiftung Mozarteum Salzburg und Bärenreiter-Verlag verwirklicht wurde. Eine gründliche

historische Aufarbeitung zeitimmanenter Musizierpraktiken im Vorfeld der Aufnahme ist anzuneh-

men. So ist die für die Zeit der Produktion sich gerade etablierende Datierung der Sonate № 11 mit

den Jahren 1783–1784 im Booklet der CD-Sammlung in einer Form festgehalten, die eine bestimmte

Erwartung hinsichtlich des affektiven Gehalts des Werkes suggeriert: »Mit der A-Dur-Sonate KV 331

kommt es endlich zur Überwindung des Tragischen«.34 Diese Überwindung, die dem Textautor vor-

schwebte, ist Uchidas Interpretation des ersten Satzes der A-Dur-Sonate nicht ganz abzunehmen. Das

pianissimo als vorherrschende Laustärke, kombiniert mit dem Tempo und einer fast fehlenden Vor-

wärtsbewegung deutet auf eine wenn nicht tragische, dann wenigstens sehr kantilene Lösung des Sat-

zes hin. Kein unbeschwertes Tänzchen ist wahrzunehmen, sondern eine extrem intime Version des

Stückes, bestimmt durch eine zarte, innige Melodie. Die »Heiterkeit« könnte anders klingen. Ihr be-

gegnen wir unter den öfter in den Beständen vorkommenden Einspielungen z.B. bei Klára Würtz (das

Thema wirkt leicht und unbeschwert) und bei Maria João Pires (in ihrer CD von 2005 sind die Takte 9

bis 12 des Themas eindeutig tänzerisch).

Ungeachtet des affektiven Gehalts, der im Vergleich von Darbietungen der A-Dur-Sonate (und in

erster Linie des ersten Satzes) eher heterogen ausfällt, kann man bereits an dieser Stelle sagen, dass die

erwähnten und die anderen dominierenden Einspielungen an ähnlichen Einschränkungen »leiden« –

sie sind zu perfekt und damit für die Interpretationsanalyse nicht sehr interessant. Die Interpreten

vermeiden freie Verzierungen, dynamische Ausbrüche und stärkere Agogik. Nur die Artikulation vari-

iert subtil und unterschwellig.

Dazu vergleichen wir Mozarts Worte über seine eigene Spiel-Manier. Das Besondere seiner Darbie-

tung machte offensichtlich die Ausführung rubato in der rechten Hand aus, während die linke Hand

ihre rhythmischen Figuren nach vorgeschriebenem Muster exakt spielte:

»[…]daß ich immer accurat im tact bleybe, über das verwundern sie sich alle. Das tempo rubato in einem Adagio, daß die lincke hand nichts darum weiß, können sie gar nicht begreifen.«35

Über die Nutzung von Rubato wollte sich Mozart in hier zitiertem Brief von der Spielweise Johann

Andreas Steins (ein Klavierbauer, von dem im Folgenden noch die Rede sein wird) und seiner Toch-

ter, die ebenso eine Musikerin war, abheben. Freilich handelt es sich im obigen Zitat um die Darbie-

tung eines Adagios und ist somit als eine (unmittelbare) Ausführungsmöglichkeit für das Andante des

Kopfsatzes nicht ausschlaggebend.36 Die Verwendung von nicht extra ausgeschriebenen Verzierungen

dagegen schon. Sie ist für die Zeit der Wiener Klassik vielfach belegt worden, ohne ausschließlich auf

die Adagio-Sätze beschränkt gewesen zu sein.37 Um zu zeigen, dass eine Interpretation unter Beach-

34 Christoph Rueger, Gebrauchsmusik in staunenswerter Vollendung. Mozarts Klaviersonaten, CD-Booklet »Mitsuko Uchida (Aufn. 1984-1988): Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonaten (Philips Complete Mozart Edition)«, S. 27-47, hier: S. 37.

35 Mozart an seinen Vater, Augsburg 23.-25.10.1777, Briefe und Aufzeichnungen, Gesamtausgabe, hg. v. d. Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg, gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto E. Deutsch, Kassel u.a. 1962-1975, № 355, Z. 94-96.

36 Für die Var. 5, die mit »Adagio« überschrieben ist, ist die Verwendung von Rubato durchaus angebracht.

37 Vgl.: David Grayson, Whose Authenticity? Ornaments by Hummel and Cramer for Mozart’s Piano Concertos, in: Neal Zaslaw, Hg., Mozart’s Piano Concertos: Text, Context, Interpretation, Ann Arbor 1996, p. 373-392.

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tung der Verzierungs-Praktiken durchaus zu verwirklichen geht, ist man gezwungen, zu den Aufnah-

men zu greifen, die nicht in den Beständen der erfassten Bibliotheken enthalten sind. Das gute Bei-

spiel dafür bildet die Einspielung von Arthur Schoonderwoerd (geboren in Niederlanden, ausgebildet

in Paris und pädagogisch tätig in Barcelona):

Arthur Schoonderwoerd (Aufn. 2005 und 2009): Mozart. Complete Clavier Sonatas, 6 CD,

℗ © 2013, Accent ACC 24254.

Wie auch seine Londoner Kollegin, legte Schoonderwoerd eine Gesamteinspielung von Mozarts Kla-

viersonaten vor, jedoch eine auf mehreren historischen Instrumenten (Tangentenflügel, Clavichord

und zwei verschiedene Hammerklaviere). Erwartungsgemäß entstehen in dieser Konstellation sehr

spezifische Klangbilder, die nicht nur für die Abwechslung innerhalb der Gesamteinspielung sorgen,

sondern auch auf eine Entwicklung der baulichen Substanz im 18. Jahrhundert aufmerksam machen.

Der Klang der A-Dur-Sonate, die von Schoonderwoerd auf dem Johann-Andreas-Stein-Hammer-

flügel vorgetragen wurde, erinnert den Hörer mehr an ein Cembalo als an ein Hammerklavier.38 Die

Wahl des Instruments ist durch die Tatsache bestimmt worden, dass man bei dem Stein-Flügel die im

Instrument von Walter heute nicht mehr vorhandene Hammermechanik hat, bei der die Hämmerchen

ohne Bezug eingesetzt wurden. Das piano des ersten Analysebeispiels ist auf den Instrumenten mit rein

hölzerner Mechanik nicht zu verwirklichen, es wird vom Musiker aber auch nicht angestrebt.39 Dass

der erste Satz in der Schoonderwoerd-Einspielung schneller wird als in der von Uchida, ist ebenso

naheliegend.

Die Unterschiede zum notierten Text sind bei dieser Einspielung wesentlich größer als bei den Auf-

nahmen, die man in den Hochschulbibliotheken vorfand.40 Für die Setzung individueller Akzente ist

der Interpret nicht ausschließlich auf die Wiederholungen angewiesen, so sind bei ihm bspw. im Me-

nuett einige Verzierungen auch prima volta zu verzeichnen, die bei der Wiederholung durch andere

ersetzt werden. Diese Praxis ist aber eher selten. Beim 1. Satz, der hier mit einer Abbildung belegt

wird, wurden nur die Wiederholungen verziert, bspw. gleich zu Beginn des Themas in Takten 3 bis 5.

Im transkribierten Fragment sind es Takte 10-12. Darüber hinaus ist die Phrasierung in diesem Teil

des Themas an zwei markanten Stellen (Takte 13 und 17) durch die Akkordzerlegungen41 unterstützt

worden.

Ist das Thema bei dieser Aufnahme eher streng gehalten, verdeutlichen die Variationen, dass einem

Interpreten doch eine Menge an technischen Mittel zur Verfügung steht, um ein Werk individuell

erklingen zu lassen. So überrascht der Pianist in der Var. 3 mit einer extrem agogischen Lösung, die

eine im Blick auf die Beschaffenheit des Instruments geradezu erstaunliche Kantilene ermöglicht,

während die Spieler auf den modernen Instrumenten diese Variation in der Regel entweder ganz

38 Bei der Vorführung der Aufnahme im Seminar Musikhören und Interpretationsforschung im WS 2016-2017 an der MLU Halle-Wittenberg haben alle Studenten die Frage nach dem eingesetzten Instrument mit Cembalo beantwortet. 39 Der Vergleich von dynamischen Eigenschaften zwischen Darbietungen auf den Instrumenten mit einer nicht bespannten und einer mit Filz überzogenen Mechanik ist selbstverständlich nur bedingt möglich. 40 Auch unter den Interpreten auf dem Konzertflügel wurde zuweilen verziert wie z.B. in der Einspielung aus dem Jahr 1995 von Christian Zacharias. Hier bildet der vereinzelte Einsatz von Vorschlägen oder Mordenten aber eher die Ausnahme in der Gestaltung, nicht die Regel. 41 Man erinnert sich an Glenn Goulds damals von der Presse so bezeichnetes »respektloses Verhalten« gegenüber Mozart, hervorgerufen in erster Linie dadurch, dass Gould in seiner Einspielung aus dem Jahr 1973 an vielen Stellen arpeggierte.

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Es wurde weiterhin deutlich, dass im Bereich der artifiziellen Musik der Umsatz nach wie vor von

physikalischen Tonträgern dominiert wird. So behält in Bezug auf die aktuelle Ermittlung von Soziali-

sationsmechanismen die Analyse der physikalischen Bestände ihre Berechtigung. Zu beachten ist aber

die Tatsache, dass sich auch bei der klassischen Musik die Angebote zunehmend digital gestalten.

Angesichts des Platzlimits44 konnten hier nur wenige Aspekte der interpretatorischen Entscheidung

wie Wahl des Instruments, Einsatz von nicht notierten Verzierungen, Dynamik, Tempo und Agogik

betrachtet werden. In Bezug auf diese Aspekte ist die Mehrheit der in den Bibliotheken vorhandenen

Aufnahmen homogen. Auf diesen Aufnahmen vertretenen darbietenden Künstler konnten sich weder

mit inegalem Spiel, noch mit improvisierten Verzierungen oder mit größeren Dynamikabstufungen

anfreunden. Leichte Agogik wird fast ausschließlich in Kadenzen seconda volta praktiziert. Nur die

Wahl der Tempi ist mehr oder weniger variabel. Einspielungen neueren Datums vermisst man in den

Bibliotheken weitgehend.

Erweitert man die Vergleichsaspekte auf Artikulation, Phrasierung oder Pedalnutzung, kommt man zu

einem ähnlichen Ergebnis der Homogenität vieler pianistischer Entscheidungen. So herrscht in der

Artikulation der A-Dur-Sonate bei den erfassten Tonträgern legato vor (Uchida, Würtz, Pires, Zacha-

rias), ungeachtet vieler Staccato-Zeichen, die Mozart im Text eingetragen hat. Ausgenommen des

Themas, das in seiner Struktur (3 x 4 + 6 Takte) wohl keine Aufteilungsabweichungen duldet, arbeitet

man in der Regel mit längeren Phrasen (Uchida, András Schiff [1995], Pires) und setzt verhältnismäßig

viel Pedal ein, besonders in Variationen 3–5 (Uchida, Würtz, Zacharias). Die sog. Echo-Dynamik

bildet die Regel für den Vortrag des Menuettes (ausgenommen Uchida) und die Vorschlag-Notierung

der Auftaktgruppe im Alla-turca-Satz wird generell als eine weitere Sechszehntelnote ausgeführt.

So können einige Merkmale der erfassten Aufnahmen formuliert werden.45 Bezogen auf das Image

Mozarts können die Aufnahmen aus den Bibliotheken von Musikhochschulen als heterogen bezeich-

net werden. So fand man unter den Interpretationen des 1. Satzes sowohl das unbeschwerte Tänzchen

als auch eine sentimental angehauchte Erinnerungs-Melodie vor. In Bezug auf die zeitimmanente Mu-

sizierpraxis herrschte dagegen eine eher einseitige – modernisierende – Einstellung vor.46 Zu verstehen

ist diese Einstellung vor allem als »verantwortungsbewusster« Umgang mit dem Notentext, wie er

auch seit den 1970er Jahren von Musikkritikern im Sinne der »Werktreue« hochgelobt wurde.47 Im

Handel vorhandene historische und historisierende Einspielungen wie die von Schoonderwoerd, Mal-

colm Bilson48 oder Ronald Bräutigam waren in den Beständen nicht vertreten.

Man tradiert somit nur eine – dem modernen Klavierverständnis schmeichelnde – Spielart, die textge-

bunden ist und sich an den Leistungen darbietender Künstler aus den letzten Jahrzehnten des 20. 44 Bzw. des Zeitlimits der Vorlesung, die eine Grundlage für den vorliegenden Aufsatz bildete. 45 Es muss angemerkt werden, dass aufgrund eines geringen Bestandvolumens man beim Bezug von CDs auch aus logisti-schen Gründen nicht auf stilistische Vielfalt der Darbietungen achten konnte. 46 Über die Klassifikation von Carl Dahlhaus kann man sich streiten. Selbstverständlich liegt in der Praxis keiner seiner Inter-pretationsmodi in irgendeiner abgeschlossenen Form vor. Anzunehmen ist, dass es sich hierbei um eine Idealtypologie im Sinne Max Webers handelt. 47 Den Anlass zur Auseinandersetzung mit der »Werktreue« gaben damals die öffentlichen Auftritte und die Aufnahmen von Ingrid Haebler. Dabei hat Friedrich Gulda einige Jahre zuvor eine bemerkenswerte Einspielung der Sonata facile (KV 545) vorgelegt, die ganz andere künstlerische Lösung enthielt. Zur Analyse s.: Gratzer, Wolfgang / Schwob, Rainer J.: Inegales Spiel. Mozarts Sonata facile, 1965 von Friedrich Gulda interpretiert, in: Joachim Brügge, Hg., Zur Interpretation von W. A. Mo-zarts Kammermusik, S. 199-238. 48 Malcolm Bilson (Aufn. 1988–1990): Mozart. Piano Sonatas Complete, 6 CD, ℗ 1989 ©2006, Hungaroton Classic.

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Jahrhunderts orientiert. Die aktuelle Umstellung der Bibliotheksbestände auf Audio-Streaming ist vor

diesem Hintergrund sehr zu begrüßen.49

Der Interpret und die textliche Vorlage

Das musikalische Handwerk hat seine Tradition. Ihre Prinzipien gehen vom Lehrer auf die Schüler

über.50 Über die Änderungen in Bezug auf das Verständnis der Rolle eines darbietenden Künstlers im

Verlauf der Musikgeschichte wird nach wie vor viel geschrieben. Die Erfassung von Leistungen dar-

bietender Künstler bildet ein eigenständiges Untersuchungsgebiet mit seinem extra dafür entwickelten

(der Systematischen Musikwissenschaft zuzuordnenden) Methodenrepertoire.51 Während unter den

Wissenschaftlern heute Konsens darüber herrscht, dass man im Bereich der Kunstmusik die Interpre-

ten in erster Linie als Restauratoren sieht, handelt es sich in der Praxis um einige Parallelentwicklun-

gen. Werke des barocken Zeitalters historisch aufzuführen ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit

geworden. In Bezug auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bleibt es aber bei einem Nebeneinan-

der von bereits geöffneten (z.B. Mozarts Klavierkonzerte) und immer noch der historischen Auffüh-

rung verschlossenen Bereichen (Mozarts oder Beethovens Klaviersonaten).

Die eingangs erwähnte »gelebte Praxis« des Musizierens ließ sich in ihrer Bedeutung durch die Erfas-

sung der Bibliotheksbestände von musikalischen Bildungseinrichtungen deutlich bestätigen. Aus dem

Zusammenspiel von Idealen, Daten, Tradition und Realität kann die Dominanz der musikpraktischen

Tradition abgeleitet werden. So denkt (spielt) man Mozarts A-Dur-Sonate in der Regel in so mancher

Hinsicht anders, als es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts üblich war.52 Das eher geringe Inte-

resse an Erkenntnissen der Aufführungspraxis ist spürbar.

Bislang war in Bezug auf Mozarts Schaffen keine Nachzeichnung der Entwicklungstendenzen in der

Interpretation, wie sie bspw. Martin Elste bezogen auf Johann Sebastian Bach vorgenommen hat,

möglich.53 Die Darbietungen des späten 20. und des 21. Jahrhunderts belegen aber eine fortwährende

Änderung des Mainstreams. Die Interpretationen wie die von Arthur Schoondewoerd, Malcolm Bil-

son, Liv Glaser (leider ohne A-Dur-Sonate) oder Kristian Bezuidenhout54 sind sicher als eine neue

Tendenz in der Aufführung von Mozarts Klavierwerk zu sehen. Auch hier zeichnet sich eine Evoluti-

onsgeschichte ab.55 Eine entsprechende Analyse wird sich bestimmt lohnen.

49 Die Frage, wie die neuen, digitalen Bestände zu erfassen sein werden, ist dann die nächste methodische Herausforderung. 50 Vgl.: Albrecht Rietmüller, ›Interpretation‹ in der Musik. Eine Skizze, in: Gerhard Funke / Albrecht Rietmüller / Otto Zwierlein, Interpretation (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abhandlungen der geistes- und sozialwis-senschaftlichen Klasse, 6), Stuttgart 1998, S. 17–30. 51 Vgl.: Wolfgang Auhagen, »In Search of Beauty in Music« – Zur Geschichte der musikpsychologischen Interpretationsfor-schung, in: Heinz von Loesch / Stefan Weinzierl, Hg., Gemessene Interpretation. Computergestützte Aufführungsanalyse im Kreuzverhör der Disziplinen, Mainz u.a. 2011, S. 15–26.

52 »The history of performance […] is made, not by those who play ›by the book‹ (whatever book that may be), but by those original and inimitable artists who leave a personal mark on whatever they perform and make it unforgettable for their audi-ences. Ornamentation is, of course, one way to achieve this […]«. (David Grayson, Whose Authenticity? Ornaments by Hummel and Cramer for Mozart’s Piano Concertos, S. 386).

53 Martin Elste, Meilensteine der Bachinterpretation (1750-2000), Eine Werkgeschichte im Wandel, Stuttgart 2000.

54 Kristian Bezuidenhout: Mozart Keyboard Music, ℗ © 2010–, Harmonia Mundi. 55 »However, from around the late 1980s, the theory of evolution began to re-emerge as a valid and prospectively valuable way of thinking about important aspects of music.» (Ian Cross, The nature of music and its evolution, in: The Oxford Hand-book of Music Psychology [= Oxford Library of Psychology] 2009, S. 3).

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Tonträger (Auswahl)

Paul Badura-Skoda (Aufn. 2013): Wolfgang Amadeus Mozart, Sonate KV 330, Sonate KV 331, Sonate

KV 545, 1 CD, ℗ © 2013, Gramola 98989.

Kristian Bezuidenhout: Mozart Keyboard Music, Vol. 1 – Vol. 7, © 2010–, Harmonia Mundi, HMU

907499 (Vol. 1) bzw. 907531 (Vol. 7).

Maria João Pires: Mozart, Piano Sonatas, Complete, 5 CD, © 2005 (Erato) Brilliant Classics.

András Schiff (Aufn. 1980-1981): Mozart. Die Klaviersonaten, 5 CD, ℗ 1981© 1995, The Decca

Company Ltd., 443717-2.

Arthur Schoonderwoerd (Aufn. 2005 und 2009): Mozart. Complete Clavier Sonatas, 6 CD, ℗ © 2013,

Accent ACC 24254.

Andreas Staier (Aufn. 2004): Mozart, Piano Sonatas (K. 330, 331 »alla turca«, 332), © 2005, Harmonia

Mundi HMC 901856.

Mitsuko Uchida (Aufn. 1984-1988): Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonaten (Philips Complete

Mozart Edition), 5 CD, ℗ 1988, © 1991, Philips Classics Productions 426 891-2.

Clara Würtz (Aufn. 1998): Wolfgang Amadeus Mozart, The Complete Piano Sonatas, 5 CD,

℗ © 2005, Brilliant Classics 99146.

Christian Zacharias(1985-1986): Mozart. Klaviersonaten, 6 CD, ℗ ©1995, EMI Classics 5656932.

Notentext

Mozart, Klaviersonate A-Dur, KV 331, Neuausgabe nach den wiederentdeckten Teilen des Auto-

graphs, Wiener Urtext Edition, © 2016 UT 50418.

Literatur

Abert, Hermann: Wolfgang Amadeus Mozart. Eine Biographie, 2 Bde., Leipzig 1919–1921.

Auhagen, Wolfgang: »In Search of Beauty in Music« – Zur Geschichte der musikpsychologischen

Interpretationsforschung, in: Heinz von Loesch / Stefan Weinzierl, Hg., Gemessene Interpretation.

Computergestützte Aufführungsanalyse im Kreuzverhör der Disziplinen, Mainz u.a. 2011, S. 15–26.

Bundesverband Musikindustrie e.V., Hg.: Musikindustrie in Zahlen - 2016, Jahrbuch, Berlin 2017.

Ders., Hg.: Musikindustrie in Zahlen - 2017, Jahrbuch, Berlin 2018.

Demuth, Dieter: Das idealistische Mozart-Bild (1785-1860) (= Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft,

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Abbildungen und Notenbeispiele

Abb. 1: Anton-Walter-Hammerflügel, nachgebaut v. Robert Brown, Fotograf: Stefan Zenzmaier.

Abb. 2: Umsatzentwicklung für die Sparte Klassik in der Bundesrepublik (2015–2017).

Abb. 3: Angebot Sparte Klassik in der Bundesrepublik, 2016–2017.

Abb. 4: Physikalische Datenträger in den Bibliotheken von Musikhochschulen der Bundesrepublik

(Sept. 2017).

Abb. 5: Interpreten, von denen in den Bibliotheken fünf und mehr Aufnahmen vorlagen (Sept. 2017).

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Notenbeispiel 1: Sonate № 11, 1. Satz, Takte 9–18. Wiener Urtext Edition und Transkription

(Mitsuko Uchida).

Notenbeispiel 2: Sonate № 11, 1. Satz, Takte 9–18. Transkription (Arthur Schoonderwoerd).