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Wolfgang Gust - Deutsche Verfassung auf den Kopf gestellt

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Page 1: Wolfgang Gust - Deutsche Verfassung auf den Kopf gestellt

Armenien & Deutschland

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VON WOLFGANG GUST

Landauf, landab wird in türkischenKreisen ein Mann gefeiert, der es denDeutschen so richtig gegeben hat:Cem Özgönül, ein deutsch-türkischerAkademiker, will mit seinem Erst-lingswerk „Der Mythos eines Völ-kermordes“1 den „wissenschaftlichen“Beweis liefern, dass der Genozid anden Armeniern 1915/16 nichts andereswar als ein Gespinst - vor allem vonDeutschen.

Das Buch soll eine Ohrfeige seinfür die deutschen Bundestagsabgeord-neten, die damaligen deutschen Di-plomaten und die heutigen Publizi-sten. Einen wahren Teufel aber siehtÖzgönül in dem Theologen und Mis-sionar Johannes Lepsius, der Ende des19. und Anfang des 20. Jahrhundertslebte und gleich mehrere Todsündenbegangen hatte: Er hatte sich Ende des19. Jahrhunderts auf die Seiten dervon den Osmanen geschundenen Ar-menier gestellt und ihnen tatkräftiggeholfen. Dann hatte er praktisch alseinziger deutscher Publizist nochwährend des Ersten Weltkriegs diedeutsche Öffentlichkeit davon infor-miert, dass die jungtürkischen Ver-bündeten den Krieg dazu nutzten, dieArmenier im Osmanischen Reichendgültig auszurotten, nachdem dervon ihnen gestürzte osmanische Sul-tan es zuvor mit landesweiten Massa-kern jahrzehntelang versucht hatte.Der Gipfel sei dann die Resolutiondes deutschen Bundestags vom ver-gangenen Jahr, in der quasi im Namenvon Lepsius die Türkei aufgefordertwird, den Völkermord an den Arme-niern anzuerkennen, auch wenn dernicht expressis verbis in dem ein-stimmig verabschiedeten Text derdeutschen Parlamentarier so genanntwurde.

Johannes Lepsius, so die TheseÖzgönüls, habe seine Hände überallim Spiel gehabt. Erst habe er die deut- 1 Cem Özgönül: Der Mythos eines Völ-kermords - eine kritische Betrachtung derLepsiusdokumente sowie der deutschenRolle in Geschichte und Gegenwart der‚Armenischen Frage’“; Köln, 2006 [?(keine Jahresangabe im Impressum)].

sche Politik dahin gelenkt, dass dieArmenier ins Schussfeld der regieren-den Jungtürken gerieten, dann habe erseine Leute als „armenische Spione“und „Berater“ in die deutsche Bot-schaft in Istanbul eingeschleust undschließlich über ein von ihm aufge-bautes Missionars-Netzwerk dafürgesorgt, dass nur Berichte in seinemSinn verfasst würden, die er dann vonSkandinavien bis nach Südamerikaverbreitete. Nach dem Krieg habe erauch noch die Dokumente des Aus-wärtigen Amtes manipuliert und sie1919 als Aktensammlung herausgege-ben. Mehr noch: Auch die inzwischenherausgegebenen bereinigten deut-schen Original-Akten2 seien nichtswert, denn Lepsius habe auch bei dendeutschen Diplomaten schon in dieEntstehung der Berichte eingegriffenund sie verfälscht. Diesem Lügenge-webe des Johannes Lepsius säßen dieHistoriker aller Welt bis heute auf -und eben auch die deutschen Parla-mentarier, denn sie hätten sich aufLepsius berufen. Mit anderen Worten:Nicht die Türken haben einen Völ-kermord begangen, sondern Lepsiushabe einen vorgetäuscht.

Nun kann man durchaus auch einenMissionar und Menschenfreund wieJohannes Lepsius kritisieren, denn diedeutsche Lepsius-Forschung hat leiderdie politischen Hintergründe ihresProtagonisten systematisch ausge-klammert. Der von mir erstmals ge-führte Nachweis einer geheimdienstli-chen Tätigkeit von Lepsius zumKriegsende hin brachte mir von Seitender Lepsius-Forscher den Vorwurf„unethischen“ Handelns ein. In derFolgezeit habe ich intern meine Be-denken angemeldet, dass ein Mann,der die Weimarer Demokratie ver-achtete („Knochenerweichung“),vehement für eine Rückkehr der Ho-henzollern und nach dem Ende impe-rialistischer deutscher Träume, die ermit genährt hatte, für Großdeutsch-land eintrat, nicht eines der überra-

2 Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermordan den Armeniern. Dokumente aus demPolitischen Archiv des deutschen Auswär-tigen Amts, Springe, 2005.

genden Vorbilder für die heutigenDeutschen sein kann, zu dem ihn dieLepsius-Forschung zu machen ver-sucht. Doch gerade weil ich einer derwenigen Kritiker des Politikers Jo-hannes Lepsius in Deutschland bin,kann und muss ich zur Lepsius-Darstellung des Autors Özgönül sa-gen, dass sie geradezu grotesk ist.

Wer Geschichte in Form einer Ver-schwörungstheorie lesen will, dem seidieses Buch empfohlen. Cem Özgönülerweist sich als ein Meister der Ver-drehungen und Verfälschungen - undwissenschaftlichen Bräuchen durchausabgeneigt. Seine angeblich von ihmaufgedeckten Manipulationen deut-scher Dokumente habe ich bereits vorsechs Jahren Dokument für Dokumentim Internet (www.armenocide.net)publiziert. Özgönül hat diesen Mani-pulationen nicht eine einzige hinzuge-fügt. Und er hat sich nicht nur dieseVorarbeit zu Nutzen gemacht, sondernunsere Texte ohne Quellenangabeheruntergeladen, um sie als eigeneauszugeben, wie ich in einer erwei-terten Fassung dieses Artikels in unse-rem Internet-Portal detailliert nach-weisen werde. Selbst Originaldoku-mente hat er nicht selbst erfasst, son-dern abgeschrieben. So viel schoneinmal zur „wissenschaftlichen“ Ar-beitsweise des Autors, auf die er sichimmer wieder beruft.

Die Massenmorde des osmanischenSultans Abdul Hamid in den Jahren1894 bis 1896 an den Armeniern sei-nes Machtbereichs hatte JohannesLepsius mit seinem Werk „Armenienund Europa“ in Deutschland bekanntgemacht und dazu beigetragen, dassdie Armenier vornehmlich als christli-che Brüder angesehen wurden undnicht nur als eine der vielen Völker-schaften des Orients. Deutsche Missi-onsvereine bauten - wie zuvor schonfranzösische, englische und vor allemamerikanische - in der Türkei Hilfs-werke für armenische Witwen undWaisen auf, darunter Johannes Lepsi-us mit der von ihm 1900 gegründetenDeutschen Orient-Mission.

Auch politisch setzte sich Lepsiusin Deutschland für die Armenier ein,doch bildeten er und seine Freunde -

Deutsche Verfassung auf den Kopf gestelltCem Özgönül und der Völkermord an den Armeniern

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so Paul Rohrbach - stets eine Minder-heit, denn die herrschende politischeMeinung stand auf Seiten der Türkenoder setzte auf sie. Die deutschenImperialisten von den Liberalen umFriedrich Naumann bis zu den All-deutschen befürworteten eine deut-sche Expansion in den Orient, auchLepsius, der die christlichen Armeniereinzubringen versuchte, allerdingsohne Erfolg. Selbst Naumann hatteeine antiarmenische Grundhaltung,während die Rechten ihren Antisemi-tismus ungeschminkt auf die Armeni-er übertrugen, den der viel geleseneKarl May so formulierte: „Wo irgend-eine Heimtücke, eine Verräterei ge-plant wird, da ist sicher die Habicht-nase eines Armeniers im Spiele.“Gelehrige Schüler dieses aggressivenRassismus waren später die meistender von Özgönül gerühmten deutschenSpitzen-Offiziere in der Türkei.

Die Berichte der deutschen Kon-suln - die Hauptquelle der Akten desAuswärtigen Amts zum Völkermordan den Armeniern - „basieren größ-tenteils auf Schilderungen von Arme-niern oder aber von Mitarbeitern derLepsiusschen Orientmission“, schreibtAutor Özgönül. Zum einen: Wer an-ders als Armenier könnten die bestenZeugen der Vernichtungsaktionensein? Nie würde der Autor auf dieIdee kommen, Juden als Zeugen desHolocaust auszuschließen, doch beiArmenier ist für ihn alles anders.

Was der Autor aber als zweite -und wichtigste - Quelle der deutschenKonsuln angibt, zeigt seine profundeUnkenntnis. Er erfindet ein Netzwerk,an dessen Spitze Lepsius stand, den erüberall „als Strippenzieher im Hinter-grund“ sieht. Dem Autor ist schlichtnicht bekannt, dass Lepsius außer inUrfa - wo er eine Teppichfabrik fürarmenische Witwen aufgebaut hatte,ferner ein Krankenhaus mit Apotheke- nirgendwo im Osmanischen Reicheine eigene Mission unterhielt. Alleübrigen in der Dokumentation vor-handenen Zeugnisse deutscher Mis-sionare stammen von Mitarbeiternanderer Organisation, hauptsächlichdem Frankfurter „Hülfsbund fürchristliches Liebeswerk“, von demsich Lepsius schon früh getrennt hat.

Und die „Strippenzieherei“ auchnur der Orient-Mission ist ebenfalls anden Haaren herbeigezogen. Der Autor

hätte nur einmal einen Blick in dasLepsius-Archiv werfen müssen - ei-gentlich eine Voraussetzung einer„wissenschaftlichen“ Auseinanderset-zung mit der Hauptperson seiner Ar-beit -, um zu erfahren, dass Lepsiuswährend des Ersten Weltkriegs nichteinmal direkten Kontakt zu seinervom Schweizer Jakob Künzler gelei-teten Mission in Urfa hatte. Der Autorhätte aber auch in den Dokumentennachlesen können, dass Lepsius wäh-rend des Krieges nur nach Konstanti-nopel, nicht aber nach Urfa reisendurfte. Nicht einmal einen persönli-chen Brief hat Lepsius in dieser Zeitan Künzler geschrieben, geschweigedenn ihm Anweisungen geben kön-nen. Lepsius erfuhr über die Arbeitseines Angestellten nur über Schwei-zer Freunde. Künzler war ein wichti-ger Informant, aber fast nur über dieLage in Urfa. Insgesamt sechs Sach-Schilderungen und einige Rechen-schaftsberichte über Zahlungseingän-ge und Kosten sowie einen Berichtüber eine Reise nach Rakka schickteder Schweizer Diakon an den deut-schen Konsul Walter Rößler in Alep-po, der sie an die Botschaft weiterlei-tete oder direkt ans Auswärtige Amt -insgesamt nicht einmal ein DutzendDokumente der insgesamt fast tausendveröffentlichten deutschen Doku-mente.

Bricht damit schon eine Hauptsäuleder angeblichen Enthüllungen desAutors zusammen, so steht es mitanderen nicht besser. Lepsius habemaßgeblichen Einfluss auf die deut-sche Orient-Politik genommen, be-hauptet der Autor, denn die Deutschenhätten sich der Armenier für ihre im-perialen Absichten versichern wollen.Genau das hatte der deutsche Bot-schafter Hans Freiherr von Wangen-heim versucht, war damit aber beiseinem Vorgesetzten und Außenmini-ster abgeblitzt. Nach dem Desinteres-se Berlins an den Armeniern spielteLepsius für die deutsche Politik nurnoch solange eine Rolle, als er beru-higend auf die Armenier einwirkenkonnte, um militärische und anderePläne nicht zu gefährden.

Einer der wichtigsten Lepsius-Vertrauten und Mitbegründer der„Deutsch-Armenischen Gesellschaft“war der Armenier Liparit Nasariantz,von Özgönül stets als „russisch-

armenische Spion“ bezeichnet, weilLiparit der armenischen Partei derDaschnaken angehörte. „Bereits imJanuar 1915 wurde unter dem Deck-mantel der Deutsch-ArmenischenGesellschaf und mit Lepsius als Refe-renz der russisch-armenische SpionLiparit Nasariantz nach Istanbul ge-schickt“, schreibt der Autor, „vorgeb-lich“ um für die Loyalität der osmani-schen Armenier zu werben, in Wahr-heit aber um „einen armenischen‚Vertrauensmann’ in ‚beratender“Funktion in der dortigen (deutschen)Botschaft unterzubringen.“

Liparit war Ende 1914 über Sofia,die Hauptstadt der verbündeten Bulga-ren, nach Konstantinopel gereist, umdort - so Lepsius in einem Schreibenan das Auswärtige Amt - in armeni-schen Kreisen die deutsche Haltungzu vertreten und für Sympathie zuwerben. In Sofia hatte er sich mitArmeniern getroffen und diverse Zei-tungen ausgewertet. Darüber verfassteer Berichte, die wegen einiger militä-rischer Details auch an das deutscheHauptquartier weitergereicht wurden.

Wie skeptisch Liparit Nasariantzvon den Deutschen gesehen wurde,mag ein Telegramm des deutschenKonsulatssekretärs in Sofia, Nauert,bezeugen: „Gestern sah ich Liparitwiederum und zwar im Restaurant desGrand Hotel in Begleitung eines Ar-meniers, der als russischer Spion be-kannt ist, und einer Dame, die eineaus der Schweiz kürzlich hierherge-kommene russische Spionin sein soll“,kabelte er an die Botschaft in Kon-stantinopel. „Liparit selbst wurde mirvon zwei verschiedenen Seiten eben-falls als russischer Spion bezeichnet.“Aus keinem Dokument geht hervor,dass der Lepsius-Vertraute Liparitirgendeinen Einfluss auf die deutschePolitik hatte, nicht einmal zumKriegsende, als er in Berlin offizielldie Kaukasus-Armenier vertrat. Dawar der Völkermord an den Armeni-ern sowieso schon Geschichte.

Der von Lepsius Anfang des Krie-ges in die deutsche Botschaft einge-schleuste „armenische Spion“ soll derarmenische Abgeordnete von Kon-stantinopel, Aknuni, gewesen sein.Einem Brief von Lepsius an das Aus-wärtige Amt vom Juni 1915 ist einBericht von Liparit beigefügt, in demes unter anderem heißt: „Um die Bot-

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schaft mit den loyalen politischenFührern der Armenier in Fühlung zuerhalten, brachte Dr. Liparit HerrnAknuni mit Dr. Weber und Dr.Mordtmann in Verbindung. In einermehrstündigen Sitzung mit diesenHerren wurde beraten, welche Schrittezur Hebung der Mißstände in Armeni-en geschehen könnten.“

Lepsius gab in diesem Brief dieMeinung Liparits wieder und wolltegegenüber dem Auswärtigen Amt dieWichtigkeit seines Mannes hervorhe-ben. Es war vermutlich der einzigeBesuch von Aknuni in der Botschaft,dort hat er mit jenen Beamten konfe-riert, die fließend Armenisch sprachen- dem Ersten Dragoman TheodorWeber, einem Botschaftsrat (4. Klas-se) und dem für armenische Angele-genheiten abgestellten GeneralkonsulJohann Mordtmann. Der protokolliertein den Botschaftsakten stets allewichtigen Interna, hat diesen Besuchaber nicht einmal erwähnt, so wenigwichtig war er für ihn. Autor Özgönülmacht aus diesem Höflichkeitsbesucheinen gelungenen Coup, einen rang-hohen Armenier als Maulwurf insdeutsche diplomatische Corps einzu-schleusen. Als Aknuni dann am 24.April 1915 mit den anderen armeni-schen Intellektuellen von den Türkenfestgenommen und umgebracht wur-de, hat die deutsche Botschaft um ihngenauso wenig einen Finger ge-krümmt wie um die übrigen verhafte-ten Armenier.

Als Lepsius im Juni 1915 nachKonstantinopel fahren wollte, rietBotschafter Wangenheim dringenddavon ab. Doch Lepsius war schonabgereist und der stellvertretendedeutsche Außenminister Arthur Zim-mermann beruhigte Wangenheim,Lepsius sei ein „leicht lenkbarer Herr“und würde sich voll den Direktivender Botschaft unterordnen. Über diedamalige osmanische Hauptstadt kamLepsius dann auch nicht hinaus undmusste zurückreisen, immerhin konnteer mit Kriegsminister Enver ein Ge-spräch führen. Das aber hatte nicht dieBotschaft eingefädelt, sondern derEnver-Freund und MarineattachéHans Humann - ein besonders rüderArmenier-Hasser und späterer Propa-gandist der Nazis, im Buch von Öz-gönül wegen seiner protürkischenEinstellung stets als Kronzeuge ange-

rufen und besonders hofiert.Auf seiner Reise nach Konstanti-

nopel und zurück hatte Lepsius dasMaterial zu seiner publizistischenGlanztat gesammelt, dem „Berichtüber die Lage des Armenischen Vol-kes in der Türkei“, den er 1916 an 20000 Pfarrstellen in Deutschland ver-schickte und der trotz Zensur auchReichstagsabgeordnete erreichte. Dievon Lepsius verwendeten Berichte ausdem Innern der Türkei stammten abernicht von deutschen Diplomaten,sondern fast ausschließlich von denAmerikanern, denn deren Konstan-tinopler Botschafter Henry Morgent-hau sen. hatte Lepsius Zugang zu denBerichten seiner eigenen Konsulnverschafft, während die deutscheBotschaft sich damals weitgehendweigerte, Lepsius Einblick in ihreDokumente zu geben.

Den Rest des Krieges verbrachteLepsius im neutralen Holland, wo erfür Kreise um den Rechtsaußen derdeutschen Militärs, Erich Ludendorff,Material aus englischen Zeitungensammelte und mit Hilfe niederländi-scher Politiker Kontakte zu britischenParlamentariern knüpften sollte - fürAutor Özgönül erneut Quelle wilde-ster Vermutungen, die er aber alsTatsachen hinstellt. Lepsius habe„persönliche Treffen sowohl mit maß-geblichen Persönlichkeiten in Londonund Paris“ gehabt, schreibt er undnennt als die namhaftesten PartnerLord Bryce in London, Boghos NubarPascha in Paris sowie John Mott inden USA. Ebenfalls im Lepsius-Archiv hätte er erfahren können, dasses während des Ersten Weltkriegszwischen Lepsius und seinen angel-sächsischen Freunden Lord Bryceoder John Mott nicht einmal einenBriefwechsel gab. Lepsius konnte alsDeutscher weder nach London nochnach Paris fahren. Zwei holländischePolitiker hatten sich während desKrieges nach England eingeschifft,um dort Erkundigungen einzuholen,ob ein Separatfrieden möglich sei undsie waren ohne Ergebnis zurückge-kehrt. Über diese Reise hat Lepsiusseinen Oberen in Berlin berichtet.

Lediglich in die Schweiz konnteLepsius reisen, und auch dort machtÖzgönül sofort einen Verdächtigenaus, den er zum geheimnisvollenSpionagenetz des Johannes Lepsius

zählt - den Arzt und ArmenierfreundAndreas Vischer. Der hatte in derVorkriegszeit als Arzt in Urfa gear-beitet, befand sich aber bei Kriegs-ausbruch in der Schweiz und durftenicht in die Türkei zurückkehren.Gegen Ende des Völkermords hattendie Deutschen versucht, Vischer alsSchweizer Koordinator für Hilfelei-stungen an die Armenier zu gewinnenund ihm ein Visum zu verschaffen,was misslang. Als Lepsius-Verbindung nach Urfa fiel also auchVischer aus.

Als letztes Beispiel für Fälschun-gen von Original-Dokumenten durchLepsius führt Özgönül den deutschenLehrer Martin Niepage in Aleppo an,der dem Reichskanzler einen Berichtüber an Armeniern verübte Greuelzukommen ließ. Dieser hätte auf An-stiftung von Lepsius seinen Bericht„durch massive Übertreibungen undWeglassungen von negativen Schilde-rungen über die Armenier“ verfälscht,behauptet Özgönül, was durch „Ver-höre“ ans Tageslicht gekommen sei.Richtig ist: Seinen Bericht hatte Nie-page am 15. Oktober 1915 geschrie-ben und auf Veranlassung desSchweizer Leiters der deutschenSchule an die Botschaft wie auch anden Reichskanzler geschickt, worauf-hin Außenminister Jagow am 12.November 1915 seinen Botschafter inKonstantinopel bat, diesen Bericht„zum Anlass nehmen zu wollen, umbei der Pforte erneut gegen die grau-same Behandlung der Armenier Ver-wahrung einzulegen und sie auf dieverhängnisvollen Folgen aufmerksamzu machen, die dem türkischen Reicheaus der Fortsetzung einer derartigenAusrottungspolitik erwachsen müs-sen.“ Bis zum Juni 1916 war Niepagein Aleppo tätig, kehrte sodann nachDeutschland zurück. Mitte Juli traf ersich nach den Unterlagen des Lepsius-Archivs in Potsdam mit Richard Schä-fer, dem Sekretär von Lepsius, derinzwischen nach Holland übergesie-delt war. Niepage konnte deshalbweder beim Verfassen noch vor demAbschicken des Berichts an Botschaftund Reichskanzler mit Lepsius inKontakt getreten sein. Erst am 24.Januar 1917 wurde er zu seinem Be-richt vernommen und bedauerte, dassseine Ende 1916 verfasste Druck-schrift an die Reichstagsabgeordneten

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ins Ausland gelangt sei. Lepsius hattemöglicherweise für diese DruckschriftÄnderungen durchzusetzen versucht,nicht aber die Urschrift Niepagesmanipuliert, die sich in den deutschenOriginal-Akten befindet und die An-lage eines Berichts von Rößler vom 3.Januar 1916 war.

Fazit: Auf keine einzige der vonAutor Özgönül genannten Quellenhatte Lepsius irgendeinen Einflussnehmen können.

Und auch die übrigen Versuche desAutors, die deutschen diplomatischenQuellen generell als unseriös abzu-stempeln, schlagen allesamt fehl. Sobehauptet Özgönül, die deutschenKonsuln seien nur an der Peripheriejenes Gebiets präsent gewesen, in demdie „tragischen Ereignisse“ stattge-funden hätten. Dazu muss man wis-sen, dass fast alle Konsuln im OstenAnatoliens aus Verkehrsgründen zu-meist an den Küsten residierten. DieDeutschen aber hatten Konsuln in denbeiden bedeutsamsten Brennpunktenim Innern. Zum einen in Erzerum, wosich die Spitze der türkischen Arme-nier-Vernichter in der Anfangszeitkonzentrierte. Von dort berichteteausführlich Vizekonsul Max Erwinvon Scheubner-Richter. Das andereZentrum war Aleppo, wo sich dietürkische Verwaltung der Armenier-deportationen in die Wüsten Mesopo-tamiens und in den Süden angesiedelthatte. Dort berichtete nicht minderdetailliert der deutsche Konsul WalterRößler, oft vertreten durch seinenKollegen Hoffmann aus Alexandrette,dem heutigen Iskenderun. Die Arme-nier des Westens wurden in die Wü-sten Mesopotamiens über Adana de-portiert, wo Konsul Büge viele vonihnen vernahm. Die beiden einzigenweißen deutschen Diplomaten-Flecken waren Kharput, wo nur dieAmerikaner ein Konsul eingerichtethatten, sowie Van, wo Amerikanerund Deutsche (bzw. Schweizer) nurmit Missionsstationen vertreten wa-ren.

Die deutschen Diplomaten warenalso an den Brennpunkten der Arme-niermassaker. Einer der wichtigstenwar Konsul Walter Rößler im Dreh-kreuz Aleppo. In der Logik der Geno-zidleugner ist es folglich wichtig,diesen Konsul unglaubwürdig zumachen, was in den Augen türkischer

Nationalisten am leichtesten damit zubewerkstelligen ist, dass, wie Özgönülschreibt, „ein Großteil seiner Infor-mationen auf armenische Kreise zu-rückzuführen ist“.

Rößler kannte seine Vorgesetztensehr genau und wusste, dass sie aufdie Armenier nicht gut zu sprechenwaren, deshalb zeichnete sich geradeRößler dadurch aus, dass er die arme-nischen Zeugen sehr genau auf ihreZuverlässigkeit hin untersucht hat.Die weitaus meisten Zeugen vonRößler aber waren gar nicht Armenier.In allen Rößler-Berichten und -Telegrammen aus den entscheidendenJahren 1915 bis 1916 waren unterseinen Informanten 19 Deutsche,zwölf Türken, acht Armenier (einerdavon der Katholikos von Sis), zweiAmerikaner, ein Holländer, ein Lu-xemburger, ein Pole, ein Syrianer.Unter den Autoren ausführlicher Zeu-genberichte, die Rößler sammelte undan die Botschaft schickte, waren 13Deutsche, neun Armenier, sechsSchweizer, ein Österreicher, ein nichtnäher benannter Europäer.

Die Armenier stellen unter RößlersInformanten nicht einmal ein Dritteldar, und selbst bei den Berichten überdie Vernichtungsaktionen sind sie inder Minderheit. Rößler hatte auchdeutsche Offiziere befragt, die aufdem Weg zur Front durch Aleppokamen, sie aber in der Regel nichtnamentlich genannt, damit sie nichtvon den deutschen Spitzen-Offizierenund hochgradigen Armenier-FeindenBronsart von Schellendorff und Hu-mann (den Hauptquellen des AutorsÖzgönül) bei den türkischen Macht-habern angeschwärzt werden konnten.

Die gleiche Methode wendet Ne-belwerfer Özgönül auf die Informan-ten der deutschen Diplomaten an. DieZeugnisse zweier der wichtigsten vonihnen, der Deutschen Eva Elvers wieder Norwegerin Thora von Wedel-Jarlsberg, nennt er „gleichermaßenwortgewaltige, wie auch blutrünstigenSchwestern-Berichte ... gespickt mitden zwar schauderhaftesten, aberdurchweg auf Hören-Sagen basieren-den Geschichten“. Beide Missionarin-nen sprachen fließend Armenisch undwaren monatelang direkt im Völker-mord-Geschehen. Der Armenien-Spezialist in der deutschen Botschaft,Johann Mordtmann, schrieb über die

beiden Augenzeuginnen: „Beide ken-nen Land und Leute in Türkisch-Armenien und speziell Kurdistandurch ihre langjährige Tätigkeit beiden Missionen des Hilfsbundes etc.aus eigener Anschauung.“ Und einleibhaftiger Offizier, der ja nach Öz-gönül wegen der „höheren Offizier-sehre“ ein glaubhafter Zeuge seinmüsste, bestätigte ihre Berichte. „DieSchilderung der Einzelheiten“, schriebMordtmann, „stimmt vollständig mitdem überein, was uns der [österreichi-sche] Major Dr. Pietschmann erzählthat.“

Der Bericht eines deutschen Offi-ziers ist es denn auch, der dem AutorÖzgönül das größte Kopfzerbrechenbereitet. Mit ziemlich eindeutigenAussagen hatte der deutsche OffizierStange die Jungtürken schwer be-schuldigt. Özgönül hat spürbare Beiß-hemmungen gegenüber diesem Zeu-gen, einmal weil er Offizier war, zumanderen weil der US-Forscher VahaknN. Dadrian herausgefunden hatte, dassStange Mitglied der Teskilat-i Mahsu-sa-Organisation war, der jungtürki-schen „Sonderorganisation“, einer ArtTotenkopf-Truppe, die extra für dieDurchführung der Massenmorde zu-sammengestellt war.

Um diesen auch von Lepsius veröf-fentlichten Stange-Bericht abzuwer-ten, mäkelt der Autor andauernd am„Dienstweg“ des Schreibens herum.Sein Schreiben hätte niemals an denLeiter der deutschen Militärmission inder Türkei, Otto Liman von Sanders(dem internen Hauptfeind der türko-philen deutschen Offiziere) gehendürfen, sondern direkt an den deut-schen Stabschef Bronsart von Schel-lendorff, der ebenfalls Mitglied derTeskilat-i Mahsusa war. Durch denfalschen Dienstweg sei das Unglückpassiert, lamentiert Özgönül, denn„dadurch kommt ein als ’Geheim’eingestufter Bericht der Militärbehör-den in die Akten des AuswärtigenAmts“.

Kopfschüttelnd nimmt Autor Öz-gönül zur Kenntnis, dass es sich beimStange-Bericht „um eine einzige An-klageschrift gegen sämtliche osmani-schen Behörden vor Ort“ handelte,„wie auch der Zentralregierung inIstanbul, und dies in einer kategori-schen Diktion, die kaum Zweifel zu-läßt.“ „Die Aktionen gegen die Arme-

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nier würden ‚berechtigten’ Anlaß zuder Vermutung geben“, zitiert Öz-gönül Stange, „daß militärische Grün-de erst in zweiter Linie für die Ver-treibung der Armenier in Betrachtkamen, und daß es hauptsächlichdarauf ankam, diese günstige Gele-genheit [den Weltkrieg], wo von au-ßen her Einspruch nicht zu erwartenwar, zu benutzen, einen lang gehegtenPlan, die gründliche Schwächung,wenn nicht Vernichtung der armeni-schen Bevölkerung zur Ausführung zubringen.“

Der Autor kann in künftigen Aus-gaben den unheimlichen Offizier ohneGewissensbisse wieder weglassen,denn Stange wählte nicht nur denrichtigen Dienstweg, er war auch garnicht Mitglied der Teskilat-i Mahsusa.Schon vor mehr als 20 Jahren hatteder Schweizer Historiker ChristophDinkel herausgefunden, dass es zweideutsche Offiziere namens Stangegab. Der die Türken so schwer bela-stende Offizier Stange war Major undBataillonskommandeur der Infanterie,der andere Hauptmann der Artillerie -und nur der war Mitglied der „Son-derorganisation“ und damit Blutsbru-der von Bronsart & Co.

In den Mittelpunkt seines Buchesstellt Özgönül die 1919 von Lepsiusherausgegebene Aktensammlung„Deutschland und Armenien“. DasAuswärtige Amt hatte Lepsius mitdieser Ausgabe beauftragt und ihmdafür Kopien der Originaldokumentezur Verfügung gestellt. Die veröffent-lichten Dokumente enthielten dannVeränderungen und Manipulationen,die den Wert dieser Edition aus heuti-ger Sicht sehr schmälern. Weil dieseKopien nach kurzer Zeit verbranntwurden - vermutlich um die Urheber-schaft der Manipulationen zu ver-schleiern -, kann heute nicht mit Si-cherheit gesagt werden, wer was ge-ändert hat. Doch ein Vergleich der imLepsius-Archiv noch vorhandenenund im Buch nicht verwendeten Kopi-en sowie handschriftliche Bemerkun-gen von Lepsius lassen den Schlusszu, dass die Veränderungen weitge-hend vom Auswärtigen Amt vorge-nommen wurden und Lepsius nur aufdie Auswahl der zu veröffentlichen-den Dokumente Einfluss genommenhat. Denn es gab immer wieder Aus-einandersetzungen zwischen dem

Auswärtigen Amt, das die Türkenschonen wollte und Lepsius, der denVölkermord und die Schuld der Tür-ken nachweisen wollte.

Der Gesprächspartner im AA warder Geheimrat Otto Göppert. Dieser,schrieb Lepsius, „wollte immer nochbei den Türken einen Stein im Brettbehalten, die Hauptmissetäter schonenund auch das türkische Ungeziefer ausder Perücke der Botschafter heraus-kämmen.“ Diesen Satz aus dem Lep-sius-Archiv hatte ich in meinem Arti-kel über die Hintergründe („Magi-sches Viereck“ inwww.armenocide.net) verwendet,woraus Özgönül dann machte, ichhätte geschrieben, Lepsius habe dieTürken als Ungeziefer bezeichnet. DerAutor schaut so hassverzerrt auf Lep-sius, dass er sich gar nicht vorstellenkann, dass dieser in seinem Bild tat-sächlich mit „Ungeziefer“ echte türki-sche Läuse und Flöhe gemeint hat undnicht Türken.

Autor Özgönül pickt sich aus denManipulationen in „Deutschland undArmenien“ nur die Veränderungenheraus, die Armenier oder Armenienbetreffen. Auf die wichtigsten Mani-pulationen, mit denen DeutschlandsMitverantwortung verwischt werdensollte, geht er gar nicht ein (es wärefreilich auch ein indirektes Zuge-ständnis, dass es einen Völkermordgegeben hat), andere wischt er einfachbeiseite, ohne zu recherchieren. Sohatte ich geschrieben, dass in denDokumenten oft die Namen oderFunktionen von Türken weggelassenwurden. Özgönül behauptet, das seinur bei einem Namen der Fall gewe-sen. In Wahrheit waren es mehr als 25Namen.

Weil der Autor die Arbeitsweisevon Diplomaten nicht kennt, verhed-dert er sich auch bei ihnen. Konsulnarbeiten ähnlich wie Journalisten.Sind sie bei einem Ereignis nichtselbst zugegen, was häufig der Fallist, suchen sie Zeugen, die sie auf ihreZuverlässigkeit überprüfen, und re-konstruieren den Vorgang so gut siekönnen. Genau dies haben auch da-mals die deutschen Diplomaten vorOrt getan - mit einer Ausnahme.

„wegen allgemeiner verschwoerungund verrat wie verwuestung einigerstaedte anatoliens und toetung vonderen muselmanischen bevoelke-

rung“, kabelte am 27. Juni 1915 derdeutsche Vizekonsul Kuckhoff ausSamsun an seine Botschaft in Kon-stantinopel, „verhaengte regierungausweisung des gesamten armeni-schen volkes nach mesopotamien mitfuenftaegiger frist zur regelung ihrerorts-angelegenheiten stop da hier undim inneren bei armeniern bedeutendedeutsche guthaben ausstehen ersucheich um schritte zu deren sicherstellungstop falls regierungsmassregel vollausgefuehrt wird sind repressalienseitens der mit den verschwoerernverbundenen kriegsfeinde durch zer-stoerung aller kuestenstaedte zu er-warten.“

In der Lepsius-Edition von 1919hieß es nur noch: „Regierung ver-hängte Ausweisung des gesamtenarmenischen Volkes nach Mesopota-mien mit fünftägiger Frist zur Rege-lung ihrer Ortsangelegenheiten.“

Autor Özgönül fand die Auslas-sungen so bedeutsam, dass er diesesDokument in seinem Vorwort beson-ders herausstellte, um es „beispielhaftzu zitieren“. Dabei unterliefen ihmzwei Fehler. Einmal zitierte er nichtdas Original, sondern eine Abschriftvon Botschafter Wangenheim, ob-gleich Abschriften immer fehlerbe-haftet sein können. In diesem Fallstimmte das Absenderdatum nicht mitdem des Originals überein. Folgen-schwerer aber ist der zweite Fehler:Kuckhoff war der einzige Nicht-Profiunter den deutschen Konsuln. Er warberuflich Angestellter der Tabak-Regie, von den Deutschen nur alsWahlkonsul berufen und kommt des-halb auch im Handbuch des Auswär-tigen Amts nicht vor. Während sichdie Berufskonsuln an ihre Anweisun-gen hielten, nur zu berichten, was sieselbst erlebt hatten oder nach sorgfäl-tiger Prüfung der Glaubhaftigkeit vonZeugen für korrekt hielten, gab Ama-teur Kuckhoff Gerüchte wieder, denner konnte als lokaler Konsul wedereine landweite, allgemeine Verschwö-rung, noch die Zerstörung von StädtenAnatoliens und Tötung der jeweiligenmuslimischen Bevölkerung recher-chiert haben. Botschafter Wangen-heim ließ denn auch in seinem An-schreiben an die Berliner Zentrale die„Verwüstungen einiger Städte Anato-liens“ und „Tötungen von deren mu-selmanischen Bevölkerung“ schlicht

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weg.Das Bestreben des Autors ist ein-

deutig: Er versucht um jeden Preis,eine landweite Verschwörung derArmenier nachzuweisen, auch wenner nur Gerüchte anbieten kann. „DieLepsiussche Behauptung, das deut-sche Aktenmaterial biete keinerleiHinweise auf eine armenische Auf-standsbewegung, war schlicht undergreifend eine Lüge“, schreibt er.

Zu dieser angeblichen Lüge schriebder deutsche Vizekonsul von Alexan-drette, Hoffmann-Fölkersamb: „Be-sondere Vorsicht dürfte sich jeden-falls, von Wan und seiner Zone abge-sehen, gegenüber der Anklage ‚militä-risch gegliederter Verschwörung’empfehlen. Gewisse örtliche Aufruhr-bewegungen können zum Beweiseeiner solchen nicht verwertet werden.Daß beispielsweise der Aufruhr vonSeitun nicht einer solchen Verschwö-rung auf die Rechnung gesetzt werdenkann, ergiebt sich unzweifelhaft ausder Berichterstattung des KaiserlichenKonsulats Aleppo. Auch die Empö-rung der Bewohner von Fundadschakim August und der von Urfa im Okto-ber war wohl, wenn man will, ‚militä-risch gegliedert’, aber örtlich be-schränkt und nicht als Ausfluss einerweiter angelegten Verschwörung,sondern an Ort und Stelle durch dieDrohung der Verschickung gereift.Die Erhebung der Armenier in derGegend von Suedije [Musa Dagh](südlich Alexandrette) war selbst nachSchilderung von militärisch-türkischerSeite keine Verschwörung, sonderneine vom Augenblick geborene Erhe-bung, die nach türkischem Geständnisin erster Linie dem Ungeschick desKaimakams von Ladakije bei Be-kanntgabe des Verschickungsbefehlszu verdanken ist. Auch die Aufnahmeder Aufrührer von Suedije durch fran-zösische Kriegsschiffe war keine vonlanger Hand vorbereitete Handlung.Dafür sprechen die Umstände und dieAnsichten gut unterrichteter Türken.“

Um diese Erkenntnis auszublenden,versucht es Autor Özgönül mit einemTrick, den auch andere Genozid-Leugner anwenden: Sie führen Redenund Aufsätze an, in denen Armenierzumeist aus dem Kaukasus sich füreine Kollaboration türkischer Armeni-er mit den Russen ausgesprochenhatten (der Autor bevorzugt dazu den

Armenier Garegin Pasdermadjian,besser bekannt unter dem NamenArmen Garo) und ziehen daraus denSchluss, in der Türkei habe es eine„systematische Aufstandsbewegung“(Özgönül) der türkischen Armeniergegeben. „Bis in unsere Tage hat sichvon diversen Kreisen hartnäckig derfreilich auch gezielt bediente Mythosfestgesetzt“, schreibt er, „dass ausge-rechnet das Aktenmaterial der ehema-ligen osmanischen Verbündeten keineHinweise auf eine solche Kollaborati-on, Illoyalität und letztlich auch Auf-standbewegung der Armenier ortenlasse“. Von gelegentlicher Kollabora-tion ist in den deutschen Akten dieRede, von Illoyalitäten schon weniger,von einer Aufstandsbewegung imganzen Land nur dann, wenn türkischeQuellen angegeben werden. Die Ge-nozidleugner versuchen aber immerwieder, diese drei Dinge zu vermen-gen und einen kausalen Zusammen-hang vorzugaukeln.

„Bis auf die Berichte der Vertreterder missionarischen Einrichtungenund jenen von Konsul Rößler in Alep-po“, schreibt Özgönül, „gab es so gutwie keinen Deutschen in Anatolien,welcher die Existenz einer solchenKollaboration mit den Russen undeine systematische Aufstandbewegungin Frage stellen.“ Hier die Aussagenanderer deutscher Diplomaten vor Ortüber die angeblichen armenischenVerräter:

Vize-Konsul Hoffmann berichteteaus dem heutigen Iskenderun: „Soweitich den Charakter und die Tätigkeitder hiesigen kleinen Bevölkerungbisher kennen gelernt habe, glaube ichauch nicht, daß diese sich landesver-räterisch betätigt.“ Botschafter Wan-genheim schrieb: „In einem Punktedürfte Übereinstimmung herrschen:daß die Armenier seit Einführung derKonstitution den Gedanken an eineRevolution aufgegeben haben, unddaß keine Organisation für eine solchebesteht.“ Armenienspezialist Mordt-mann referierte eine Unterredung mitdem in Erzerum stationierten deut-schen General Posseldt, der „glaubt,daß die Armenier sich ruhig verhaltenwürden, wenn sie nicht von den Tür-ken bedrückt und gereizt wären. DieAufführung der Armenier sei tadellosgewesen.“ Vize-Konsul Scheubner-Richter berichtete aus Erzerum über

die Ausweisungen: „Ein Aufstandseitens der hiesigen Armenier ist nichtzu befuerchten. Die hiesigen ... sindnicht organisiert, haben auch keineWaffen.“ Und: „Maßnahme militä-risch nicht zu begründen, da Aufstandhiesiger Armenier nicht anzunehmenist.“ Die Armenier, so Konsul Berg-feld in Trapezunt, seien „einer Selbst-hilfe abgeneigt“. Scheubner-Richterschrieb, „daß ein Aufstand der Arme-nier Erserums und seiner näherenUmgebung nicht anzunehmen ist,trotz der geringen hier vorhandenentuerkischen Streitkraefte. Es seien inseinem Amtsbezirk „weder Waffennoch kompromittierende Schriftstückegefunden worden. Wäre hier ein Auf-stand geplant gewesen, so war dafürdie günstigste Gelegenheit im Januar,als die Russen 35 km vor Erserumstanden und die Garnison Erserumsnur aus einigen hundert Mann Gen-darmerie bestand, während sich inErserum in den Arbeiter-Bataillonenallein 3 - 4000 Armenier befanden.“Der in Erzerum stationierte Oberst-leutnant Stange bestätigte das. Diearmenische Bevölkerung habe sich „inErserum vollkommen ruhig verhal-ten.“ Scheubner-Richter: „Daß dieseAusrottung möglich, daß sich, wie dashier geschehen, Zehntausende vonArmeniern ohne Gegenwehr von einerkleinen Anzahl Kurden und Frei-schärlern abschlachten lassen, ist wohlauch ein Beweis dafür, wie wenigkampffroh und revolutionär diesesVolk gesinnt ist. Die Armenier sind inihrer Mehrzahl und soweit ich siekennen gelernt, keine aktiven Revolu-tionäre.“

So viel zur Aussage Özgönüls, eshabe „so gut wie keinen Deutschen inAnatolien“ gegeben, der, „eine syste-matische Aufstandbewegung in Fra-ge“ gestellt hätte. In Frage steht vorallem die Glaubwürdigkeit des Au-tors.

Das gilt auch für das übliche Zah-lenspiel der türkischen Genozidleug-ner, wobei man dem Autor das Kom-pliment machen muss, sich wenig-stens auf die Zahl der armenischenOpfer zu konzentrieren, währendüblicherweise alle Kriegstoten gegen-einander aufgerechnet werden (aufdiese Weise würden auch die sechsMillionen jüdischen Nazi-Opfer beiden 55 Millionen Weltkriegs-II-Toten

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Armenien & Deutschland

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relativiert). Die Zahl der armenischenOpfer ist sicherlich für die Ge-schichtsschreibung wichtig, nicht aberfür die Frage, ob der Genozid einMythos ist oder nicht. Denn ob nunvon der mit Sicherheit übertriebenenZahl von zwei Millionen armenischerOpfer oder von der mit Sicherheituntertriebenen vom jungtürkischenKriegsminister Enver genannte Zahlvon 300 000 ausgegangen wird, ist fürdie Genozid-Frage unerheblich. InSrebrenica geht es um weniger als 10000 Opfer, und niemand bestreitet,dass dort ein Völkermord stattfand.Das sieht übrigens auch der Autor so,nur jongliert er dann doch seitenlangmit Zahlen herum. Wie er allerdingsanhand der deutschen Dokumente zunur „einigen Zehntausend Opfer“kommt, ist rätselhaft.

Wenn es dann aber um Lepsiusgeht, empfiehlt es sich stets, Özgönülgenau auf die Finger zu sehen. Soschreibt der Autor, Lepsius habe ineinem Brief vom 17. April 1916 „nur“von 750 Tausend Verschickten ge-sprochen und suggeriert damit, Lepsi-us habe damit die Gesamtzahl derarmenischen Opfer gemeint. In Wahr-heit hat Özgönül auch diese Aussagemanipuliert, denn Lepsius hat in die-sem Brief von der „Deportation von ¾Millionen Armeniern in die mesopo-tamische Wüste“ gesprochen - zu den750 000 in die Wüste geschicktenDeportierten kommt natürlich die Zahlder zu jener Zeit bereits umgekomme-nen Armenier, darunter fast allerMänner. Nicht zu sprechen von denvielen geraubten Frauen und Mäd-chen, die der Autor vermutlich garnicht zu den Opfern zählt.

Bei allen Zahlenspielen der Völ-kermordleugner bleibt auch für sieimmer die Frage unbeantwortet, war-um es nach dem Krieg in der Türkeikeine Armenier mehr gab, von Min-derheiten in den beiden StädtenSmyrna und Konstantinopel abgese-hen. All diese verschwundenen Ar-menier können schlecht vom InnernAnatoliens und sogar der europäi-schen Türkei in den Kaukasus geflo-hen sein, denn niemand hat Deportati-onszüge in diese Richtung je gesehen,nicht einmal türkische Zeugen.

Autor Özgönül glaubte nun in dendeutschen Quellen eine Antwort fürdiese unheimliche Feststellung gefun-

den zu haben. Er zitiert den deutschenBotschaftsprediger Graf Lüttichau, derin einem Bericht vom August 1918über die Dersim-Kurden spricht. Die-ser Kurdenstamm habe, zitiert er Lüt-tichau, „grosse Scharen von Armeni-ern durch sein Gebiet hindurch ge-schleust und über die russische Gren-ze“ gebracht. Die Dersim-Kurdenlebten nördlich der Stadt Mamuret-ul-Aziz, dem heutigen Elazig, durch diealle Deportiertenzüge aus dem Nordenund Nordosten, dem armenischeHauptsiedlungsgebieten gingen. Öz-gönül frohlockt über eine vermeintli-che Entdeckung: „Wohlgemerkt, wirreden hier vom Verbleib mehrererhunderttausender Menschen, überderen Tod im Jahre 1915 Spekulatio-nen angestellt wurden“.

Tatsächlich hatten die Dersim-Kurden Armenier gerettet und einigenvon ihnen die Flucht nach Russlandermöglicht, wofür 1938 - nebenbeinoch zu Lebzeiten von Atatürk - Tau-sende von ihnen, Frauen und Kinderneingeschlossen, mit ihrem Lebenzahlen mussten, wie beim bestendeutschsprachigen Genozid-Forscherder Gegenwart, dem Schweizer Hans-Lukas Kieser, nachzulesen ist3. Öz-gönül sei aber besonders die Lektüredes amerikanischen Konsuls in Khar-put, Leslie A. Davis, zu empfehlen.Der hatte einen ausführlichen Berichtüber die verschwundenen Armeniergeschrieben und dabei genau dasgetan, was nach Herrn Özgönül diedeutschen Konsuln vermissen ließen:Er hat haargenau nachrecherchiert.Zweimal hatte er im Herbst 1915einen nahen See inspiziert, das eineMal mit einem amerikanischen, dasandere Mal mit einem türkischenFreund.

In den Tälern des Goeljuk-Seessüdlich von Elazig fanden die Reiterviele Tausend von getöteten Armeni-ern. Der Konsul fand besonders vieleLeichen in engen und steilen Talern,wo wenig türkische Gendarmen ge-nügten, sie an der Flucht zu hindern.„Die Leute waren also regelrechteingepfercht und kaltblütig abge-schlachtet worden“, schrieb Davis.

3 Hans-Lukas Kieser: Der verpasste Frie-den. Mission, Ethnie und Staat in denOstprovinzen der Türkei, 1839-1938;Zürich 2000; S. 408 ff.

Sein türkischer Begleiter führte ihn zueiner Gruppe, die unter Bäumen la-gerten. „Einige saßen noch aufrecht,als ob sie gerade gestorben seien.“ Eswaren kranke oder verwundete Arme-nier, die dort „gelassen wurden umeinzugehen.“ Als er vor einer Wochedort vorbei gekommen sei, erzählteder Türke, hätten einige noch gelebt.Ein Kurde berichtete von einem Trossvon zweitausend Armeniern, vonderen Ersparnissen die herbeigerufeneKurden einen Teil an die türkischenGendarmen abliefern mussten, denRest konnten sie unter sich aufteilen,wozu sie manchmal die Leichen ver-brannten, um an die verschlucktenGoldmünzen zu kommen. „Eine er-staunliche Tatsache war“, berichteteder US-Konsul, „daß nahezu alleKörper die wir sahen, nackt waren.Ich habe gehört, daß die Leute sichvöllig auszuziehen mußten, bevor siegetötet wurden, weil die MoslemsKleidung, die von toten Körpernstammt, als unrein ansahen. Die mei-sten Körper hatten klaffende Bajo-nettwunden, zumeist im Unterleiboder in der Brust, manchmal auch amHals. Nur wenig Personen sind er-schossen worden, weil die Kugeln zukostbar waren.“ Auf den Feldern zumSee fanden Davis und seine BegleiterTausende von getöteten Armeniern.Das Gebiet lag nur etwa zehn Meilenvon der Stadt Mamuret-ul-Aziz ent-fernt, „aber es war wohl eines derschlimmsten Schlachtstätten der gan-zen Gegend. Wir kehrten gegen neunUhr am Abend nach Hause zurückund ich wußte nun, was die ‚Deporta-tion’ der Armenier wirklich bedeute-te.“

Dies also war - nach einem Augen-zeugen - das Schicksal der Armenier,die durch Mamuret-ul-Aziz gezogenwaren. Davis nannte die Provinz die„Schlachthaus-Provinz“, weil in ihrbesonders viele Armenier umgebrachtwurden. Sein Ausritt zeigt, wieschwierig es für Ausländer war, dieMassenmorde nachzuweisen. FürÖzgönül genügt ein Satz von einemdeutschen Geistlichen, der die RegionJahre später durchreist war, und erführt ihn als „Beweis“ an, dass die indieser mörderischen Ecke der Türkeiverschwundenen Armenier „in Wahr-heit im russischen Kaukasus warenund mit den russischen Truppen zu-

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rückkamen, und ihrerseits Muslimemassakrierten und vertrieben.“

Es fällt auf, dass der Autor in sei-nem Buch immer nur von „der“ türki-schen Historiographie spricht, voneiner monolithisch-nationalen Ge-schichtsschreibung, wie sie eigentlichtypisch für den Kommunismus warund heute nur noch für autoritäreRegime ist. Aber diese einzigartige„türkische Historiographie“ muss esin der Tat geben. Und sie hat eineReizwort: Ermeni.

In den deutschen Dokumenten gibtes eine Beschreibung über eine Reisedes deutschen Vizekonsuls WalterHolstein von seinem DienstsitzMossul nach Aleppo. „An der ganzenStrecke südlich Nisibin“, heißt esdarin, „sah er alle Muhamedaner mitkrummen Schwertern herumlaufen.‚Ermeni’ war ihr einziger Gedanke.“Das gilt auch für Cem Özgönül vor.Er rennt mit einem publizistischenSchwert namens „Ermeni“ herum,bereit auf jeden einzuschlagen, derirgendetwas mit Armeniern zu tun hat.Dem Autor ist diese Zwanghaftigkeitwohl auch bewusst, denn er beschreibtsie in seinem Buch in Form einerFußnote, als er den Journalisten Hen-ryk M. Broder zitiert, der einen Ar-menier über gebildete, kluge, aufge-klärte Türken sprechen lässt mit derEinschränkung: „Nur wenn die Redeauf die Armenier kommt, hören dieFreundlichkeiten sofort auf, wobei eskeine Rolle spielt, ob es Rechte oderLinke, Konservative oder Liberalesind.“

Und das erklärt denn auch, warumAutor Özgönül glaubt, im bekennen-den Armenierfreund Johannes Lepsiusein gefundenes Fressen gefunden zuhaben. Lepsius hat in der deutschenOrient-Politik eine Rolle gespielt odervielmehr zu spielen versucht, aber nureine untergeordnete. An dem PolitikerLepsius eine Kontroverse über dieUrsachen des Völkermords aufzuhän-gen, ist ein Scheingefecht. Lepsius hatauch nicht alle Historiker der Welt mitseinen Dokumenten beeinflusst - wasschon gar nicht möglich ist, weil sienicht ins Englische übersetzt wurden -, er hat nur sehr früh erkannt, dass inder Türkei 1915/16 ein Völkermordstattgefunden hat, und er hat das sehrdetailreich hauptsächlich für dasdeutschsprachige Publikum beschrie-

ben. Er war der mit Abstand wichtig-ste Alliierte der Armenier in einemDeutschland, das in den Armeniern inerster Linie nur Staatsfeinde sah - wiebesonders die von Özgönül so hofier-ten deutschen türkophilen Offiziere estaten.

Das Buch von Özgönül ist in ersterLinie eine Anhäufung von Verdächti-gungen. Es ist natürlich auch denGenozidleugnern klar, dass Illoyalitätund selbst ein Aufstand in Van keinGrund ist, ein ganzes Volk zu ver-nichten. Also drücken sie sich um dieKernfrage, was wirklich mit den Ar-meniern passiert ist und ob ihre Ver-nichtung gewollt war. Über die deut-sche Rolle gerade im Ersten Weltkriegerfährt der Leser kaum etwas. Die imUntertitel des Buches groß angekün-digte „kritische Betrachtung der deut-schen Rolle in Geschichte und Ge-genwart“ fand nicht statt - sie warwohl nur ein Werbegag.

Das Buch von Özgönül ist gerade-zu ein Beweis, dass die Aufarbeitungder armenischen Vergangenheit kaumbegonnen hat oder durch gemeinsameKonferenzen mit handverlesenenArmeniern gleich wieder verschüttetwerden soll. Die vom Autor gegebeneErklärung, „dass die meisten Türkenvöllig unabhängig von ihrer politi-schen Gesinnung von der türkischenHistoriographie schlicht und ergrei-fend überzeugt sind“, ist schlicht undergreifend nichts sagend, weil in derTürkei schon die Erwähnung desThemas Völkermord an den Armeni-ern strafrechtlich verfolgt werdenkonnte, auch wenn einige Bücher vonDissidenten unterm Ladentisch ge-handelt wurden.

„Die Würde des Menschen ist un-antastbar“, lautet der erste Satz desdeutschen Grundgesetzes, „sie zuachten und zu schützen ist Verpflich-tung aller staatlichen Gewalt.“ DiesesGrundgesetz gilt für die deutschenStaatsbürger, folglich auch für dietürkisch-deutschen. Für Herrn Öz-gönül steht aber nicht die Würde desMenschen, sondern des (türkischen)Staates obenan, die von den (türki-schen und deutschen wie auch denarmenischen) Bürgern zu achten undzu schützen ist - denn sein letzter Satzlautet: „In der bestehenden Formhaben wir es mit einem Mythos einesVölkermords zu tun, der zugleich

einen Rufmord an der Würde einerganzen Nation darstellt.“ Würden inDeutschland türkische Strafrechtspa-ragraphen gelten, drohte Herrn Öz-gönül wegen VerunglimpfungDeutschlands ein Prozess. Gottlobgibt es diese Paragraphen hier nichtund jeder kann seine Meinung freiäußern.

Es ist unschwer vorherzusagen,welchen Zweck das Buch von CemÖzgönül erfüllen soll. Innerhalb der„türkischen Historiographie“ wird eskünftig heißen, der Autor habe nach-gewiesen, dass die deutschen Doku-mente Fälschungen seien und damitnichts wert. Wie wenig der Autor derWahrheitsfindung dienen will, zeigtsich auch darin, dass er seine Quellenvertuscht, indem er Mikrofiche-Angaben macht, obgleich diese Mi-krofiches nur wenigen Forschern zurVerfügung stehen, im Gegensatz zuden von uns veröffentlichten - undvon ihm benutzten - Original-Texten.In unserem Internet-Portal werde ichdeshalb seinen Assistenten spielenund seine Quellen so benennen, dassjedermann sie im gleichen Portalmühelos nachprüfen kann.

Die türkischen Intellektuellen ha-ben es in der Hand, sich weiter durch„Vordenker“ wie Özgönül manipulie-ren zu lassen oder sich selbst ein un-abhängiges Urteil zu bilden. Ihnenstehen viele Seiten zeitgeschichtlicheramerikanischer, deutscher, österrei-chischer, britischer, französischer undselbst - wenn auch nur wenige - tür-kischer Dokumente zur Verfügung,die fast alle wichtigen Ereignisse imZusammenhang mit den Armeniernbeleuchten. Die zu lesen ist viel Ar-beit, bringt aber auch viele Erkennt-nisse - freilich auch schmerzliche wiedie, dass die internationale Genozid-Forschung schon seit einiger Zeit überdie „türkische Historiographie“ inSachen Armenier schlicht und ergrei-fend hinweggegangen ist.

In eigener SacheLeider haben wir es versäumt zu

erwähnen, dass der Beitrag „FriedrichNaumann und die Armenische Frage“von Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl,ADK 129/130, ursprünglich in H.-L.Kieser, D. J. Schaller (Hg.): Der Völ-kermord an den Armeniern und dieShoah, Chronos, 2002, erschienen ist.