234
proceedings Peter Bender; Wilfried Herget; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth (Hrsg.) WWW und Mathematik — Lehren und Lernen im Internet Bericht über die 21. Arbeitstagung des Arbeitskreises „Mathematikunterricht und Informatik“ in der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik e. V. vom 26. bis 28. September 2003 in Dillingen diverlag franzbecker

WWW und Mathematik — Lehren und Lernen im Internet

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

proceedings

Peter Bender; Wilfried Herget; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth (Hrsg.)

WWW und Mathematik — Lehren und Lernen im Internet

Bericht über die 21. Arbeitstagung des Arbeitskreises

„Mathematikunterricht und Informatik“ in der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik e. V.

vom 26. bis 28. September 2003 in Dillingen

diverlag franzbecker

proceedings

Peter Bender; Wilfried Herget; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth (Hrsg.)

WWW und Mathematik — Lehren und Lernen im Internet

Bericht über die 21. Arbeitstagung des Arbeitskreises

„Mathematikunterricht und Informatik“ in der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik e. V.

vom 26. bis 28. September 2003 in Dillingen

diverlag franzbecker

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut-schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Bibliographic information published by Die Deutsche Bibliothek Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Na-tionalbibliografie; detailed bibliographic data is available in the Inter-net at <http://dnb.ddb.de>. Peter Bender; Wilfried Herget; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth (Hrsg.) WWW und Mathematik — Lehren und Lernen im Internet Bericht über die 21. Arbeitstagung des Arbeitskreises „Mathe-matikunterricht und Informatik“ in der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik e.V. vom 26. bis 28. September 2003 in Dillin-gen ISBN 3-88120-391-5

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung und Übertragung auch einzelner Textab-schnitte, Bilder oder Zeichnungen vorbehalten. Kein Teil des Wer-kes darf ohne schriftliche Zustimmung des Verlages in irgendeiner Form reproduziert werden (Ausnahmen gem. §§ 53, 54 URG). Das gilt sowohl für die Vervielfältigung durch Fotokopie oder irgendein anderes Verfahren als auch für die Übertragung auf Filme, Bänder, Platten, Transparente, Disketten und andere Medien. © 2005 by Verlag Franzbecker, Hildesheim, Berlin

3

Inhalt

Lehren und Lernen im und mit dem Internet — neue Möglichkeiten für den Unterricht? 5

Peter Bender, Paderborn & Wilfried Herget, Halle a.d. Saale & Hans-Georg Weigand, Würzburg & Thomas Weth, Nürnberg

Hauptvorträge

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen instruktivistischem und konstruktivistischem Paradigma 7

Timo Leuders, Soest

Mädchen, Jungen, Mathematik und Computer 35 Cornelia Niederdrenk-Felgner, Nürtingen

MaDiN — Mathematikdidaktik im Netz 45 Thomas Weth, Nürnberg

Sektionsvorträge

Mathematiklernen und Organisieren 52 Christine Bescherer & Herbert Löthe, Ludwigsburg

Ein virtuelles Seminar — Konzeption, Durchführung und Auswertung 57 Christine Bescherer, Ludwigsburg & Matthias Ludwig, Weingarten & Barbara Schmidt-Thieme, Karlsruhe & Hans-Georg Weigand, Würzburg

Der Kosinussatz — wieder entdeckt als Flächensatz 66 Hans-Jürgen Elschenbroich, Korschenbroich

Konstruktiv arbeiten mit dem Internet in Schule und Lehrerausbildung — Methoden der Content-Erstellung mit Beispielen aus der Praxis 71

Astrid Ernst & Engelbert Niehaus, Münster

Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik in das Stoffgebiet Analytische Geometrie 81

Andreas Filler, Berlin

Konstruktion und Kontinuität in der Dynamischen Geometrie 95 Thomas Gawlick, Landau

Ein Java-Applet zur Eingabe und Überprüfung mathematischer Terme 112 Rudolf Großmann, Stein

Echtzeit-Online-Fortbildungen für Lehrkräfte zum Thema: Mathematik mit grafischen Taschenrechnern und CAS 118

Karl-Heinz Keunecke, Kiel

Experimentieren und Publizieren 120 Ulrich Kortenkamp, Berlin

Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen) 127 Ingmar Lehmann, Berlin

Von Primzahlen zur Verschlüsselung mit RSA — Eine Unterrichtseinheit im WWW für eine 11. Klasse 140

Carsten Münchenbach, Emmendingen

4

Vom 19. ins 21. Jahrhundert — Ändert das Internet die Chancen für den Zugang zur Mathematik? 145

Fritz Nestle, Ulm

Das CAS-basierte DGS Feli-X zur Vernetzung von Algebra und Geometrie 150 Reinhard Oldenburg, Göttingen

Mathematik lernen im Internet — eine philosophische Betrachtung vom Standpunkt moderner Erkenntnistheorie 153

Reinhard Oldenburg, Göttingen

Integration des Internets im Mathematikunterricht — unter Berücksichtigung von Aspekten der Handlungsorientierung am Beispiel der Behandlung von Korrelation und Regression in der Jahrgangsstufe 11 159

Andreas Pallack, Soest

"Da schauen Sie mal ins Internet!" — Impressionen des Lehrens und Lernens 170 Karel Tschacher, Erlangen-Nürnberg

Computereinsatz im Mathematikunterricht unter Geschlechterperspektive — oder Mädchen, Jungen, Mathematik und Computer 173

Rose Vogel, Ludwigsburg

Gestaltungsprinzipien und Erfahrungen zum virtuellen Selbstlernkurs: Mathematik und Computer 177

Wolfgang Weigel, Würzburg

Der ClassPad 300 von Casio 187 Jens Weitendorf, Norderstedt

Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehrveranstaltungen? 192 Gerald Wittmann, Würzburg

Über die didaktische Gestaltung multimedialer Lehrmaterialien 201 Bert Xylander, Halle a.d. Saale

Die Apfelsinenkiste im Hyde-Park — Lernplattformen für den ersten Auftritt 209 Siegfried Zseby, Berlin

Arbeitsgruppen

Internet-Übungsaufgaben erstellen mit dem Formel-Applet 215 Rudolf Großmann, Stein

Mathematik in Notebook-Klassen der 7. und 8. Jahrgangsstufe 218 Claudia Hagan, Veitshöchheim

DGS und Kommunikation 225 Reinhard Oldenburg, Göttingen

Didaktische Konzepte von e-Learning-Plattformen 227 Christina Völkl, Würzburg

Anhang

Tagungsprogramm 230 Teilnehmerinnen- und Teilnehmerliste 232

Titelgrafik: Rolf Sommer, Halle a.d. Saale, aus Abbildungen im Tagungsband mit Microsoft Office

5

Die 21. Herbsttagung unseres Arbeitskreises "Mathematikunterricht und Informatik" in der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik (GDM) vom 26. bis 28. September 2003 stand unter dem Thema "WWW und Mathe-matik –– Lehren und Lernen im Internet". WWW und Internet –– (fast) jede Schule ist heute am Netz, fast alle Schülerinnen und Schüler sind "drin" (und mittlerweile auch die meisten Lehrerinnen und Lehrer). Virtuelles Lernen, E-Learning, Teletutoring –– das sind Schlagworte, die bereits im vergangenen Jahr unsere Jahrestagung mit prägten: Ne-ben den vielen "Selbstlernprogrammen" im "Edutainment-Nachmittagsmarkt" für die Schülerinnen und Schüler gibt es in jüngster Zeit zunehmend interaktive WWW-Angebote, umfangreiche multimediale Datenbanken, zahllose Austauschforen usw. Sind wir auf dem Weg zum "virtuellen Klas-senzimmer"? Wird das Schulbuch durch CD-ROM und Internet abgelöst? Wie wird die Entwicklung mittel- und langfristig weiterge-hen? –– Fragen, denen sich unser Arbeits-kreis schon in den letzten Jahren verstärkt widmete. In diesem Jahr ging es unter dem oben genannten Rahmenthema insbesonde-re um folgende Fragen zu den Möglichkeiten, Grenzen und Risiken von WWW und Internet im und für den Mathematikunterricht: • Welche Erfahrungsberichte gibt es über

die Nutzung von WWW und Internet im Rahmen des allgemein bildenden Mathe-matikunterrichts?

• Welche Erfahrungsberichte gibt es dabei insbesondere über die Wirkung im Hin-blick auf das Lehren und Lernen?

• Lassen sich Unterschiede hinsichtlich Nutzung und Erfolg zwischen Jungen und Mädchen feststellen?

• Wie können die Inhalte so aufbereitet und dargestellt werden, dass die neuen Mög-lichkeiten auch wirklich genutzt werden?

• Was müssen Schülerinnen und Schüler (sowie Lehrerinnen und Lehrer) an neuen Fertigkeiten und Fähigkeiten erwerben, um die neuen Möglichkeiten gewinnbrin-gend nutzen zu können?

• Wie ist gerade angesichts der TIMSS- und PISA-Diskussion die Rolle dieser neuen Möglichkeiten einzuschätzen –– insbesondere, wenn es weniger um das Üben schlichter Fertigkeiten geht, son-dern um das nachhaltige Erwerben ma-thematischen Grundverständnisses?

• Welche aktuellen Entwicklungen hin zu "intelligenten" Angeboten und hin zu einer "intelligenten" Nutzung dieser Angebote gibt es?

Kurzum: Welche Möglichkeiten und Chan-cen, aber auch Probleme und Schwierigkei-ten für das Lehren und Lernen von Mathema-tik bringen WWW und Internet mit sich? Es ging also einerseits um einen Überblick über Erfahrungen und aktuelle Entwicklun-gen in diesem Bereich. Zum anderen wurde herausgestellt, dass die Lehrenden an den Schulen und Universitäten als Didaktik-Expertinnen und -Experten gefordert sind, kritisch und konstruktiv zu diesen Entwick-lungen Stellung zu beziehen, Wünsche und Anforderungen zu formulieren und didak-tisch-methodische Konzepte zu entwickeln.

Hauptvorträge

Die Tagungsstruktur folgte dem bewährten Vorbild des Vorjahres: Die Hauptvorträge standen nicht alle am Anfang der Tagung, sondern waren über die drei Tage verteilt. Wie zu erwarten beleuchteten sie das Thema aus durchaus unterschiedlichen Blickwinkeln: Den Beginn machte Timo Leuders vom nord-rhein-westfälischen Landesinstitut in Soest. Er zeigte auf, dass und wie sich die techni-sche Entwicklung des Mediums Internet zur-

Lehren und Lernen im und mit dem Internet –– neue Möglichkeiten für den Unterricht?

Peter Bender, Paderborn Wilfried Herget, Halle a.d. Saale Hans-Georg Weigand, Würzburg Thomas Weth, Nürnberg

Peter Bender, Wilfried Herget, Hans-Georg Weigand & Thomas Weth

6

zeit vor allem auszeichnet durch eine zu-nehmende Integration von Einzelmedien, durch eine Flexibilisierung von Nutzungs-situationen und einer weiter anhaltende Ex-pansion. Der Vortrag widmete sich dem Ler-nen und Lehren von Mathematik mit dem In-ternet –– zwischen instruktivistischem und konstruktivistischem Paradigma: In wie weit werden die Möglichkeiten des Mediums In-ternet im didaktischen Kontext des Mathema-tikunterrichts heute schon genutzt? Welche Ansätze gibt es, bei denen sich für das Ma-thematiklehren und -lernen ein echter Mehr-wert abzeichnet? Und wo drohen Abgründe einer trivialisierenden Nutzung? Für den zweiten Hauptvortrag konnte Corne-lia Niederdrenk-Felgner gewonnen werden, Professorin an der Fachhochschule Nürtin-gen, erfahrene Mathematikdidaktikerin, aus-gewiesen nicht zuletzt sowohl in den Berei-chen Computer und Mathematikunterricht als auch bezüglich des wichtigen Spannungsfel-des Mädchen und Jungen im Mathematikun-terricht. Ihr Vortragstitel "Jungen, Mädchen, Mathe und Computer" spiegelte eben dieses vielschichtige Forschungs- und Entwick-lungsthema wider. Sie gab einerseits einen kurzen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Genderforschung im Hinblick auf den Mathematikunterricht und den Einsatz des Computers. Die Zusammenstellung von Ergebnissen aus unterschiedlichen Studien zum Thema wurde ergänzt durch konkrete Vorschläge für den Unterricht, die zur Dis-kussion anregen sollen. "Mathematikunterricht und Neue Medien" –– das war das recht umfassend formulierte Thema des dritten Hauptvortrags. Thomas Weth von der Universität Erlangen-Nürnberg gab einen sehr detaillierten Ein- und Über-blick zu dem Projekt "Dezentrale internetge-stützte Lehr-Lern-Umgebung für das Lehr-amtsstudium Mathematik". Dieses aufwändi-ge, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung über drei Jahre geförderte Projekt stand zum Zeitpunkt der Tagung kurz vor seinem Abschluss. Im Vortrag wurden die von den Lehrstühlen für Didaktik der Mathe-matik der Universitäten Braunschweig, Nürn-berg-Erlangen, Münster und Würzburg ge-meinschaftlich realisierten Konzepte erläu-tert, Einsatzmöglichkeiten dargestellt und über erste Erfahrungen und Evaluationen beim Einsatz im Vorlesungs- und Übungsbe-trieb berichtet.

Sektionsvorträge und Arbeitsgruppen Diese Auseinandersetzung mit dem aspekt-reichen Tagungsthema wurde in den diesmal insgesamt 22 Sektionsvorträgen und fünf Ar-beitsgruppen –– wie aus den Vorjahren ver-traut –– lebhaft und kritisch-konstruktiv ver-tieft. Die Vorträge und Berichte finden sich, durchweg in der Zwischenzeit noch aktuali-siert und ergänzt, alle in dem vorliegenden Tagungsband.

Mädchen und Computer Parallel zur Tagung unseres Arbeitskreises "Mathematikunterricht und Informatik" fand in Kooperation die Arbeitstagung des GDM-Ar-beitskreises "Frauen und Mathematik" mit der Generalüberschrift "Mädchen und Com-puter" statt. Diese Zusammenarbeit, ange-sichts der Themen der beiden Tagungen na-heliegend, hat sich bewährt –– viele der Teil-nehmenden begrüßten die besondere Gele-genheit, auch einmal Angebote der jeweils anderen Tagung nutzen zu können.

Dank Tagungsort war wie zwei Jahre zuvor die bayerische Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen a.d. Donau (http://afl.dillingen.de/), die als ehemaliges Kloster immer noch einen Hauch des klerika-len Feudalismus ausstrahlt und die in Wohn-, Essens- und Tagungskomfort –– für unsere Zwecke –– wohl alle Wünsche erfüllte. Unser Dank gilt schließlich wieder Herrn Dr. Rolf Sommer, Universität Halle-Wittenberg, für die Gestaltung der Titelseite. Dezember 2004 Peter Bender

Wilfried Herget Hans-Georg Weigand Thomas Weth

7

Technische Entwicklungsten-denzen — didaktische Konse-quenzen?

Vorweg seien einige Erwä-gungen zu den technischen Rahmenbedingungen der schulischen Arbeit mit dem Internet formuliert. Auch wenn die konkreten Zahlen in diesem Bereich die Ten-denz haben, schnell zu veralten, so werden die hier dargestellten generellen Be-trachtungen sicherlich das nächste Jahrzehnt über-dauern. Im Rahmen des volkswirt-schaftlichen Vier-Sektor-Modells (Landwirtschafts-, Produktions-, Dienstleis-tungs- und Informationssektor) wird unserer Gesellschaft eine weitgehende Transformati-on zur Informationsgesellschaft prognosti-ziert: Bis 2010, so die typischen Prognosen, wird 60% der gesamten Erwerbstätigkeit im "Informationssektor" lokalisiert sein. Eine präzise, dauerhafte Abgrenzung eines sol-chen Informationssektors etwa vom Dienst-leistungssektor ist allerdings problematisch (Kubicek 1988, Kap. 22) und damit auch jeg-liche Trendaussage, die sich eines solchen fluktuierenden Begriffes bedient. Als ein Indi-kator und zugleich Träger der Entwicklungen im "Informationssektor" wird oft das unver-mindert expandierende Internet herangezo-gen. In Deutschland hat bereits ca. 40% der Bevölkerung einen Onlinezugang (in den Haushalten der zur Zeit Schulpflichtigen ist mit einem höheren Prozentsatz zu rechnen),

in anderen europäischen Flächenländern wie Skandinavien oder den Niederlanden beträgt dieser Anteil bereits 60% und mehr (NUA 2003).

Abb. 1a: Bevölkerungsanteil der Onlinenutzer

Abb. 1b: Onlinenutzer im europäischen Vergleich; Zugang in den letzten 3 Monaten (NUA 2003)

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen instruktivistischem und konstruktivisti-schem Paradigma

Timo Leuders, Soest

Die Entwicklung des Mediums Internet ist zurzeit bestimmt durch eine fortschreitende Expansion der verfügbaren Inhalte, durch die zunehmende Integration von Einzelmedien (Hypermedia) und durch wachsende Möglichkeiten der Interaktivität und Kommunikation. Welche Ansätze gibt es, bei denen sich für das Mathematiklehren und -lernen ein echter Mehrwert abzeichnet, und wo drohen Abgründe einer trivialisierenden Nutzung? Was versteht man unter einer (internetgestützten) Lernumgebung, und auf welche Qualitäts-kriterien kann man sich bei der Konstruktion und Analyse von Lernumgebungen stützen?

Schweden September 2002 67.8Dänemark Juli 2002 62.7Niederlande September 2002 60.8Norwegen Juli 2002 59.2Großbritannien September 2002 57.2Schweiz Juni 2002 52.7Finnland Mai 2002 51.9Portugal Juni 2002 43.6Deutschland August 2002 38.9Italien August 2001 33.4Frankreich Mai 2002 28.4Spanien Mai 2002 19.7

Timo Leuders

8

Die technischen Voraussetzungen des On-line-Zugangs haben sich offensichtlich so weit entwickelt, dass wir den notwendigen Rahmenbedingungen einer breiten schuli-schen Nutzung des Mediums Internet ein wesentliches Stück näher gerückt sind. Um aber nicht einer bildungspolitischen Philoso-phie, die sich am technisch Machbaren orien-tiert, zu erliegen, sind aber ebenso die hin-reichenden Bedingungen zu prüfen, also die bildungstheoretischen, mediendidaktischen und fachbezogenen Argumente (vgl. z.B. von Hentig 2002, Stoll 2001, Döring 1997, Schu-mann 2003). De facto ist die Förderung der Internetnut-zung in der Schule bereits zu einem bedeu-tenden bildungspolitischen Topos geworden. Die Realität in der Schule vermittelt dabei zurzeit etwa das folgende Bild: Auch wenn in Deutschland ca. 95% aller Schulen am Netz sind und 80% aller Schüler prinzipiell schuli-schen Netzzugang haben, stehen an den Sekundarschulen im Schnitt nur ca. 16 Com-puter mit Internetzugang zur Verfügung (BMBF 2002). Mit einem Zugangsverhältnis von 40 Schülern pro Internetcomputer liegen deutsche Schulen im europäischen Vergleich weit hinten (in Skandinavien beträgt die Quo-te 5:1 bis 10:1) (Kommission der Europäi-schen Gemeinschaften 2001). Das bedeutet rein rechnerisch, dass selbst bei einer fikti-ven Zahl von 40 Schulstunden pro Woche (einschließlich Nachmittagszugang) jeder Schüler nur höchstens eine Stunde am schu-lischen Internet-PC zur Verfügung hat. Aus Lehrersicht ergibt sich folgendes Bild: "Weniger als vier von zehn Lehrern in Europa nutzen das Internet im Unterricht. Als Haupt-grund hierfür wird die unzureichende Aus-stattung angeführt. Nur jeder fünfte Lehrer hält das Internet für den Unterricht für irrele-vant, und weniger als jeder zehnte führt mangelnde Vertrautheit als Grund an. [...] neun von zehn Lehrern [sind] davon über-zeugt, dass sich die Art ihres Unterrichts durch das Internet bereits geändert hat oder dass dies früher oder später geschehen wird. Dies deutet darauf hin, dass die große Mehr-heit der europäischen Lehrer neuen Techno-logien und den damit einhergehenden Ver-änderungen offen gegenübersteht." (ebd.) Die Verfügbarkeitsbedingungen des Internets an Schulen sind wesentlich auf bildungs- und finanzpolitische Einflussfaktoren zurückzu-führen. Das Medium wird noch wesentlich als Ergänzung zum traditionellen Medienkanon gesehen. Zukünftig ist aber durchaus zu er-warten, dass das Internet als Instrument von (Finanz-) Reformen im Bildungsbereich

wahrgenommen wird. Das betrifft u.a. die Produktion von Schulbüchern und anderen Lehrmaterialien, aber auch die Kosten für pädagogisches Personal. Das Argument der Kostenreduktion erscheint hier aber sowohl ökonomisch kurzsichtig als auch mit dem Er-ziehungsauftrag von Schule unvereinbar: Hochwertige Lehrmittel und gute Lehrer las-sen sich auch langfristig nicht wegrationali-sieren. Gute Gründe für dieses Postulat las-sen sich aus einer bildungs- und lehr/lern-theoretischen Perspektive gewinnen. Sie fin-den sich im folgenden Abschnitt. Weitere schulbezogene, technische Entwick-lungstendenzen des Internets können hier nur angerissen werden: • Die didaktifizierten und nicht-didaktifizier-

ten fachbezogenen Angebote nehmen in ihrer Vielfalt weiterhin zu. Dabei kommen auch immer wieder qualitativ hochwertige Angebote hinzu. Insbesondere wächst das Angebot unterrichtlich bedeutsamer und praktisch nutzbarer Real-World-Probleme und Daten (z.B. Statistisches Bundesamt: www.destatis.de, Weltbevöl-kerungsuhr: www.dsw-online.de).

• Der Aspekt der Nutzerfreundlichkeit (z.B. multimediale Aufbereitung, intuitive Be-dienung, Autorentools für das World Wide Publishing) wird zu einem immer wichtige-ren Qualitätskriterium bei neuen Angebo-ten.

• Die Grenzen zwischen online- und offline-Software verwischen. Systeme werden serverseitig angeboten (z.B. Server-CAS) oder laufen clientseitig innerhalb des In-ternetbrowers (z.B. java-basierte DGS). Dadurch werden sie insbesondere platt-formunabhängig. Ein Indikator hierfür ist, dass sich die didaktische Softwareprü-fung, die sich bislang mit Produkten auf CD beschäftigte, auch auf das Internet ausweitet.

• Die Möglichkeiten der Interaktionen eines Nutzers mit einer Software oder von Nut-zern untereinander via Software werden stetig vielfältiger. Die Zeiten der Be-schränkung des WWW auf das Abrufen von Hypertextdokumenten sind lange vor-bei. Vielfältige Instrumente der Kooperati-on und Kommunikation zwischen Nutzern (CSCW = Computer Supported Coopera-tive Work) sind bereits in der beruflichen Praxis mancher Bereiche Standard. Sie führen traditionelle Internetdienste wie E-Mail, Newsgroups und Foren weiter.

Bei der Nutzung der hier angeschnittenen Technologien im schulischen Kontext macht

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen "instruktivistisch" und "konstruktivistisch"

9

sich allerdings eine problematische Grund-tendenz bemerkbar: Technologische Fort-schritte gehen ihrer Nutzung im Bildungssek-tor zeitlich um einige Monate bis Jahre vor-aus. So ist es im schulbezogenen Anwen-dungskontext eher die Regel, dass neue Systeme das Ergebnis einer Anpassung ex-istierender Technologien auf ein pädagogi-sches Anwendungsfeld sind und nicht etwa genuin aus didaktischen Überlegungen die-ses Feldes heraus entwickelt wurden. Auch stammen die Protagonisten solcher neuer Technologien aus einem technologischen oder ökonomischen Umfeld. Deshalb findet man unter Neuentwicklungen computerge-stützten Lernens manches Mal die Aufberei-tung traditioneller Materialien und Rückgriffe auf überholte instruktionalistische Konzepte, die der Frühzeit der Lehr-Lernsysteme ent-stammen. Daher fordern viele Experten für die Entwicklung von Systemen des compu-terunterstützten Lernens eine explizite Refle-xion der zu Grunde liegenden lerntheoreti-schen Annahmen (Mandl, Prenzel & Rein-mann-Rothmeier 1995, Klimsa 2002, Schul-meister 2002, 2003). Dieser Text möchte zu dieser Diskussion einen Beitrag aus der Per-spektive des Mathematikunterrichts leisten.

Mathematik Lernen in inter-netbasierten Lernumgebun-gen — Kriterien und Beispiele

Was ist überhaupt eine "Lernumgebung"? Wie sollte eine solche Lernumgebung aus-sehen, sofern sie computergestützt (bzw. in-ternetbasiert) realisiert wird? Welche Rolle kann die Orientierung an einem so genann-ten konstruktivistischen Paradigma spie-

len? Diese Fragen sollen in diesem Abschnitt aufgegriffen und im Detail beleuchtet werden. Zum Begriff der "Lernumgebung" sei ein rela-tivierender Kommentar vorweggeschickt: Über den Umfang und Gehalt dieses Begrif-fes besteht in der vielgestaltigen Literatur, die sich auf ihn beruft, kaum ein Konsens. Man vergleiche einmal die vielen Bedeutungsebe-nen, die der Begriff bei den verschiedenen Autoren in (Klimsa & Issing 2002) durchläuft. Diese Beobachtung verwundert nicht: Lernen findet immer in einer Lernumgebung statt. Auch ein Arrangement aus Tisch, Stuhl, Buch, Stift und Papier und ggf. Mitlernenden ist eine Lernumgebung und kann je nach me-thodischer Gestaltung des Lernprozesses mehr oder weniger konstruktivistisch sein. Oft wird der Begriff der Lernumgebung heut-zutage im Zusammenhang mit der Verwen-dung elektronischer Medien verwendet. Da-durch wird die Lernumgebung zu einer "com-puterbasierten", "computergestützten" oder gar zur "virtuellen" Lernumgebung. In seiner weiten Bedeutung meint der Begriff "Lernumgebung" also etwa dasselbe wie "Lernarrangement" oder "Lernumwelt", — je nachdem, wie sehr man die bewusste, didak-tische Gestaltung in den Vordergrund rücken möchte. Unter Lernumgebung im weiten Sinne möchte ich daher den gesamten, für den spezifischen schulischen Lernprozess bewusst arrangierten Weltausschnitt ver-stehen. Dieser umfasst das inhaltliche, kom-munikative und mediale Arrangement, also nach etwas angestaubter, traditioneller Ter-minologie: die Lernaufgaben, die Sozialfor-men und die Lernmittel (Werkzeuge und Me-dien). Eine Lernumgebungen kann virtuelle Kom-ponenten enthalten. Damit meint man ge-

Abb. 2: Lernumgebung: real und virtuell

Timo Leuders

10

wöhnlich solche, die sich auf elektronische Medien stützen. Die Virtualität manifestiert sich darin, dass die Objekte dieser (Teil)Welt die besonderen Eigenheiten des digitalen Mediums tragen, wie etwa die Projektion ei-nes digitalen Quaders auf einen Computer-bildschirm oder die eines vielfach verlinkten Hypertextes. Mit einer solchen Lernumge-bung im engeren Sinne ist also meist der auf elektronische Medien gestützte Teil der gesamten Lernumgebung gemeint. Ins-gesamt ergibt sich also das in Abb. 2 darge-stellte Bild vom Lernumgebungsbegriff. Da-bei möchte ich ausdrücklich davor warnen, bei einem Lernen mit virtuellen Umgebungen von "virtuellem Lernen" zu sprechen. Lernen ist nämlich nie virtuell, sondern findet, ob mit oder ohne Computer, immer nur real statt. Mit dem Attribut "virtuell" wird eher auf ein spezifisches Defizit verwiesen, nämlich auf das physische Fehlen realer Ansprechpart-ner (Mitlerner oder Tutoren) oder haptisch manipulierbarer Objekte. In Mode kam der Begriff der Lernumgebung vor allem seit den frühen neunziger Jahren im Bereich mediengestützten Lernens. Dort entsponn sich eine Auseinandersetzung zwi-schen verschiedenen Schulen (vgl. Schul-meister 2002, 166ff, Kerres 2001, 55ff). Im Gegensatz zu bis dahin dominierenden so genannten instruktionistischen Ansätzen entwickelte sich in der Mediendidaktik eine Strömung, die die Rolle der Lerneraktivität betonte. Zuvor hatte man die lerntheoretisch extrem simplifizierende Philosophie der pro-grammierten Unterweisung überwunden und sich zu differenzierteren kognitivistischen Ansätzen weiterentwickelt, die sich in so ge-nannten intelligenten tutoriellen Systemen (ITS) manifestierten. Grundprinzip solcher Lehrsysteme war aber immer noch die Auf-fassung, ein computergestütztes System könne durch Diagnose des Lernenden ein hinreichend mächtiges Lernermodell entwi-ckeln und auf dieser Grundlage effiziente In-struktionsprozesse organisieren. Im Rahmen einer hier entstehenden Neuori-entierung in der Entwicklung und Erfor-schung mediengestützten Lernens gewann der Begriff der Lernumgebung eine wesentli-che Bedeutungsdimension: In dem Maße, in dem die Aktivitäten des Lernenden in den Vordergrund gestellt werden, wird ein com-putergestütztes Lernsystem zu einer Lern-umgebung, in der sich der Lernende nach seinen Bedürfnissen bewegt und in der er seinen Lernprozess selbst kontrolliert und nicht durch das System kontrolliert wird.

Eine erkenntnis- wie lerntheoretische Veran-kerung findet diese Auffassung vom Lernen, die sich nicht allein auf das mediengestützte Lernen bezieht, im (pädagogischen) Kon-struktivismus, dessen breite Diskussion im allgemeinen pädagogischen Feld ungefähr zur selben Zeit einsetzte (Gerstenmeier & Mandl 1995). Seit dieser Zeit berufen sich viele theoretische Modelle und praktische Umsetzungen auf eine konstruktivistische Position, und auch die hierbei entworfenen Lernumgebungen werden als konstruktivis-tisch bezeichnet, — mit durchaus unter-schiedlicher Berechtigung, wie das folgende Beispiel zeigt:

Zwar ist die Software "Kreuzritter" nicht netzwerkfähig, jedoch spricht nichts gegen die Lösung der Rätsel in Gruppenarbeit vor dem Monitor, das dem Anspruch nach Lernen in einem sozialen Kontext gerecht wird. (Aus ei-ner Rezension der Simulationssoft-ware "Kreuzritter" www.lpm.uni-sb.de/ neuemedien/analyze/kreuzz.html)

Was also macht eine konstruktivistische Lernumgebung aus? Gibt es hierfür eindeuti-ge Kriterien? Zu keiner Zeit hat es so etwas wie eine geschlossene, konstruktivistische Position oder Theorie gegeben, — weder in der Mediendidaktik noch in der Pädagogik. Vielmehr gibt es Hauptströmungen konstruk-tivistischen "Gedankengutes" (ich wähle hier bewusst nicht den Terminus "Theorie"), die unterschiedlichen Quellen entspringen und sich gegenseitig beeinflussen. Auch der vor-liegende Text schöpft aus dieser Orientie-rungsvielfalt und bezieht sich je nach Argu-mentationszusammenhang auf: • eine radikal-konstruktivistische Anthropo-

logie, die sich an vielen Stellen durch ak-tuelle neurobiologische Erkenntnisse un-terstützt sieht. Diese Sichtweise liegt vor allem Abschnitt (1) ("konstruktivistisches Menschenbild") zugrunde.

• eine "gemäßigt" oder "pragmatisch" ge-nannte konstruktivistische Position, bei der konstruktivistische Aspekte hinsicht-lich der Analyse und Synthese von Lern-arrangements berücksichtigt werden. Hierzu gehören vor allem Ansätze, die In-struktions- und Konstruktionsaspekte zu Formen des so genannten instructional design verbinden und dabei Kriterien für Lernumgebungen herausarbeiten, wie sie auch in Abschnitt (3) ("konstruktivistische Lernumgebungen") aufgenommen wer-den sollen. Solche Kriterien sind Gegens-tand empirisch-psychologischer Untersu-chungen (Gerstenmeier & Mandl 1995).

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen "instruktivistisch" und "konstruktivistisch"

11

• konstruktivistische Aspekte einer mathe-matischen Epistemologie. Differenzierte Einblicke in die (insbesondere auch sozia-le) Generierung mathematischer Erkennt-nisse geben Anregungen für Gestaltung auch schulischer Lernprozesse.

Aus diesem argumentativen Kontext lassen sich stimmige Kriterien dafür gewinnen, wel-che Charakteristika eine Lernumgebung zu einer konstruktivistischen machen. Dabei impliziert eine "konstruktivistische Bauart" je-doch keineswegs deren Zweckmäßigkeit oder Effizienz. Empirische Resultate haben hier typischerweise den Charakter, dass die Wirksamkeit eines Merkmals (etwa die Hy-pertextstruktur oder die multimediale Gestalt einer Lernumgebung) stark abhängt vom Ein-satzgebiet (stark strukturiert oder offen) oder von den Bedingungen des Lernenden (Novi-ze oder Experte). Wenn also im Folgenden Kriterien für kon-struktivistische Lernumgebungen systema-tisch dargestellt werden, so soll dies eher der Begriffsklärung denn der normativen Stan-dardsetzung dienen. Insbesondere soll mit Blick auf das konkrete Fach Mathematik im-mer wieder angedeutet werden, in wie fern typisch konstruktivistische Argumentationsli-nien hier mit wohl bekannten didaktischen Forderungen und bewährten didaktischen Prinzipien zusammenfallen. Der Konstrukti-vismus kann hier keineswegs die Deutungs-hegemonie beanspruchen. Die konstruktivistische Perspektive geht, wie bereits angedeutet, über einfache Aussagen zur Qualität des Lernens hinaus: sie ist ver-bunden mit einem umfassenden Menschen-bild. Auf dieser Ebene gilt es anzusetzen: Abbildung 3 stellt die unterschiedlichen Ebe-nen dar, auf der Kriterien für eine konstrukti-vistische Gestaltung von Lernprozessen mit

Medien ansetzen können. Die Pfeile zwi-schen diesen Ebenen repräsentieren keine Deduktionskette, die unteren Ebenen folgen nicht sachlogisch aus den umfassenden. Vielmehr wird in jedem dieser Schritte argu-mentativ etwas hinzugefügt, die Divergenz und Komplexität wird erhöht. Auch ist jede Ebene durchaus auch aus anderen Zusam-menhängen begründbar. Das konstruktivisti-sche Bild vom Lernen (Ebene 2) ist mit ei-nem konstruktivistischen Menschenbild (Ebe-ne 1) konsistent, lässt sich aber ebenfalls aus schon lange bekannten reformpädagogi-schen Postulaten oder aus hochaktuellen neurobiologischen Tatsachen begründen (z.B. Spitzer 2000, oder bezogen auf Ma-thematik: Leuders 2003). Die in der darge-stellten Abfolge ausgedrückte Logik ist viel-mehr die eines Korrektivs. Jede Ebene muss sich daran messen lassen, in wie fern sie konsequent die Aussagen des umfassende-ren und allgemeineren Modells der voraus-gehenden Ebene berücksichtigt. Die bewusste Berücksichtigung einer solchen Begründungsstruktur beugt somit einer ge-wissen Willkürlichkeit der Argumentation, wie man sie oft im Bereich des Computereinsat-zes antrifft, vor. Sie kann helfen, konkrete Lernumgebungen zu bewerten, zu klassifizie-ren und dabei insbesondere die vielfach an-zutreffenden vollmundigen, aber faktisch un-eingelösten, Selbstcharakterisierungen bzw. Rezensionen von Medienangeboten (s. obi-ges Beispiel) aufzudecken.

(1) Konstruktivistisches Men-schenbild

Angesichts der vielfältigen Quellen und ihrem hohen Bekanntheitsgrad (Maturana & Varela 1987, Watzlawick 1982, von Glasersfeld

(1) konstruktivistisches Menschenbild selbstreferentiell, selbststabilisierend, selbstverantwortlich, nicht-trivial

(2) konstruktivistisches Lernen aktiv-konstruierend, situiert, individuell, sozial, ganzheitlich

(3) konstruktivistische Lernumgebung Situiertheit, multiple & soziale Kontexte, Selbststeuerung, Metakognition

(4) konstruktivistische internetgestützte Lernumgebung offen, authentisch, interaktiv, adaptiv, kommunikativ

Abb. 3: Ebenen der konstruktivistischen Kriterien

Timo Leuders

12

1992) will ich nur kurz einige grundlegende Aspekte anreißen: Der Mensch lässt sich auffassen als ein autopoietisches, d.h. struk-turell in sich geschlossenes System (Matura-na & Varela). Er konstruiert seine individuelle Wirklichkeit in einem aktiven Prozess in einer strukturellen Kopplung mit seiner Umwelt, insbesondere auch seiner sozialen Umwelt (Watzlawick). Dabei werden nicht Informatio-nen einer äußeren Welt aufgenommen son-dern durch Wahrnehmungen, die Perturbati-onen des Systems darstellen, Anpassungs-prozesse ausgelöst (Piaget). Auch Wahr-nehmung ist Konstruktion und nicht etwa Repräsentation objektiv vorliegender Reali-tät. Wahrnehmung ist durch die interne Struktur des Individuums bestimmt und inso-fern unbelehrbar. Die Wahrheit von Wirklich-keitskonstruktionen liegt allein in ihrer Viabili-tät, d.h. ihrem (physischen und kognitiven) überlebenssichernden Nutzen. Der Mensch muss hierbei als eine komplexe, nicht-triviale Maschine gesehen und auch so behandelt werden (Förster). Dieses konstruktivistische Menschenbild führt konsequent zum Postulat der Toleranz gegenüber anderen Wirklichkei-ten sowie zur Übernahme der Verantwortung des Subjektes für die eigene Wirklichkeit (von Glasersfeld). Die Mathematik als Wissenschaft tut sich schwer mit der Epistemologie, die mit einer konstruktivistischen Sichtweise verbunden ist. Die in der Praxis augenscheinliche Objek-tivität mathematischer Wahrheiten ist für das Mathematik treibende Subjekt mit dem Bild mathematischer Erkenntnis als sozialem Konstrukt (Lakatos) nur schwer zu vereinba-ren. Die Schulmathematik sollte sich in die-ser Wahrnehmung hier um einiges leichter tun, insbesondere mit Blick auf die alltägli-chen Erfahrungen mit der individuellen Wis-senskonstruktion im Klassenzimmer ("Auf was die Kinder so alles kommen ...").

(2) Konstruktivistische Auffas-sung(en) vom Lernen

Einige zentrale Konsequenzen für eine Sichtweise vom Lernen, die mit einem sol-chen konstruktivistischen Menschenbild kon-form gehen, sollen im Folgenden angeführt werden. Dabei kommen an dieser Stelle vor-nehmlich Aspekte eines "gemäßigten, päda-gogischen Konstruktivismus" zur Sprache. • Lernen ist ein aktiver Prozess der Sinn-

konstruktion, d.h. Wissen kann nicht ver-mittelt werden, es muss unter aktiver An-strengung vom Individuum geschaffen und erprobt werden.

• Lernen ist situiert, d.h. der Kontext des Wissenserwerbs wird mitgelernt, insbe-sondere bedeutet dies: o Lernen ist ein Prozess der sozialen

Aushandlung. o Lernen findet in komplexen, ganzheit-

lichen Kontexten statt. • Lernen erfolgt individuell und auf eigenen

Wegen, d.h. wesentlich selbstgesteuert und nur kaum von außen kontrollierbar.

• Lernen hängt wesentlich vom Vorwissen und den Vorerfahrungen des Individuums ab.

Auf eine detaillierte kritische Reflexion und argumentative Begründung dieser didakti-schen Kategorien aus den konstruktivisti-schen Grundvorstellungen muss an dieser Stelle verzichtet werden. Für eine Übersicht aus pädagogischer Perspektive vgl. Gers-tenmeier & Mandl (1995), Meixner (1997), Lindemann (1999), Reich (1998), Werning (1998), und aus epistemologischer und ma-thematikdidaktischer Perspektive Wildt (1998), Leuders (2003, 2001). Es sei noch einmal angemerkt, dass es sich hier um kei-ne "exklusive Theorie" handelt. Viele wohl-bekannte (mathematik-) didaktische Konzep-te, wie etwa die des entdeckenden Lernens, des ganzheitliches Lernens, des problemlö-senden Lernens, der offenen Aufgaben usw. können hier verankert werden.

(3) Gestaltungsaspekte für kon-struktivistische Lernumge-bungen

Im Rahmen der konstruktivistischen Sicht-weise vom Lernen (ob sie nun aus einem ra-dikal-konstruktivistischen Denkansatz oder einer reformpädagogischen Haltung ent-springt) ergeben sich einige Forderungen an die Gestaltung von Lernsituationen. Die fol-gende Übersicht möchte einen (nicht ab-schließenden) Katalog solcher Forderungen synoptisch darstellen sowie explizieren und dabei besonders die Perspektive des Ma-thematikunterrichts herausarbeiten, insbe-sondere durch Aufzeigen der begrifflichen Bezüge zwischen typischen konstruktivisti-schen Postulaten und geläufigen mathema-tikdidaktischen Kategorien.

(a) Situiertes Lernen in authentischen Kontexten

Die Kritik der empirischen Psychologie, tradi-tioneller Schulunterricht vermittle überwie-gend kontextfreies Wissen, das als so ge-

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen "instruktivistisch" und "konstruktivistisch"

13

nanntes "träges Wissen" in Anwendungssitu-ationen nicht aktiviert werden kann (Mandl, Gruber & Renkl 1994, Mandl, Prenzel & Reinmann-Rothmeier 1995, 27), ist der Ma-thematikdidaktik als Kritik an der "Kalkül-orientierung" nicht neu (Borneleit, Danck-werts, Henn & Weigand 2001, BLK 1997). Sie hat wieder besonderes Gewicht erlangt, nachdem die internationalen Leistungsver-gleichsstudien TIMSS und PISA deutlich ge-macht haben, dass es deutschen Schülerin-nen und Schülern gerade an Anwendungs-kompetenz gebricht, während sie in der Kal-külbeherrschung eher Stärken haben. Viele der internationalen PISA-Items heben weni-ger auf die deklarative Überprüfung curricula-rer Wissensbausteine ab als auf die Nut-zungsfähigkeit auch einfachster mathemati-scher Modellierungskompetenzen (Leuders u.a. 2003). Diese Feststellung hat zu einer noch lange nicht abgeschlossenen Diskus-sion über "funktionale mathematische Bil-dung" geführt. Sicher scheint zumindest, dass die Bedeutung von Kontexten bei der flexiblen Anwendung mathematischen Wis-sens zukünftig eine größere (curriculare) Be-deutung zugemessen wird. Dieser Lücke zwischen Wissen und Handeln will das Konzept des situierten Lernens be-gegnen, welches die Einheit des Gelernten, des Lernprozesses und des Lernkontextes betont. Demnach gibt es kein abstraktes, kontextfreies Wissen. Die Kontexte werden stets mitgelernt und als bedeutsame Teile des Wissensbestandes miterinnert. Diese Feststellung ist aus mathematischer Sicht zu-nächst einmal eine deutliche Absage an die "Neue Mathematik", die der irrigen Meinung war, die hochpräzisen begrifflichen Konzepte einer formalisierten Mathematik seien günsti-ge Ausgangspunkte für das Begriffslernen. Die Bedeutsamkeit des Kontextes gilt eben nicht nur für mathematische Novizen sondern ebenso für Experten, die mathematische Einsichten ja durchaus auf induktiven Wegen und auf der Basis einer großen Zahl von ih-nen bekannten Beispielen gewinnen (Heintz 2000, 150ff). Umso mehr ist der situierte Zu-gang für Schülerinnen und Schüler maßgeb-lich für erfolgreiches Lernen. Da sie nur be-grenzt auf fachliche Vorerfahrungen zurück-greifen können, ist es wichtig, sinnstiftende Situationen aus ihrer unmittelbaren Erfah-rung und ihrem mittelbaren Weltwissen zu finden. Diese Rolle können so genannte "An-ker" übernehmen, das sind durchaus gemä-ßigt komplexe Handlungssituationen, die auf mathematische Probleme führen. Dieses Modell der anchored instruction führt die Vanderbilt-Gruppe mit ihrem videobasierten

Projekt "The adventures of Jasper Woodbu-ry" vor (CTGV 1994), bei dem problemlösen-des Lernen sich aus realistischen Spiel-situationen entwickelt. Solche narrativen An-ker haben Identifikations-, Motivations- und Sinnstiftungsfunktionen. Derlei Kontexte und Anker müssen nicht not-wendig hochkomplexe mathematische Prob-leme sein. Es kann sich hier auch um Ent-scheidungs- oder Gestaltungsprobleme han-deln, die mit mathematischen Fragestellun-gen verbunden sind. Es wäre auch ein Miss-verständnis, in der Authentizitätsforderung einen Appell zu einer rein anwendungsorien-tierten Schulmathematik zu lesen. Vielmehr kann hier das in den Niederlanden favorisier-te und auf Freudenthal zurückgehende Kon-zept einer "realistic math education" als Mo-dell dienen (vgl. z.B. Westermann 2001, s.a. www.fi.uu.nl/en).

[Mathematics as a human activity] is an activity of solving problems, of look-ing for problems, but it is also an activ-ity of organizing a subject matter. This can be a matter from reality which has to be organized according to mathe-matical patterns if problems from real-ity have to be solved. It can also be a mathematical matter, new or old re-sults, of your own or others, which have to be organized according to new ideas, to be better understood, in a broader context, or by an axiomatic approach (Freudenthal 1971, zit. nach Gravemejer & Terwel 2000)

"Realistisch" meint hier also nicht Anwen-dungsorientierung, sondern eine Orientierung an verständlichen, einsichtigen ("realisierba-ren") und sinnstiftenden Problemen. Diese können also im Sinne der Kategorien ma-thematischer Allgemeinbildung, wie sie Win-ter (1995) beschreibt, auch der Grunderfah-rung (G2) von Mathematik als strukturellem Denksystem eigener Art zuzurechnen sein. Wesentlich für die Authentizität der Probleme ist, dass sie erfahrungsbezogen sind, d.h. dass Schülerinnen und Schüler sie über ei-nen gewissen Zeitraum zu ihren eigenen Problemen machen können und dabei aus-reichend Gelegenheiten haben, ausreichend Erfahrungen mit einer inner- oder außerma-thematischen Situation zu sammeln. Sol-chermaßen kann der Situiertheitsbegriff im Bereich des Mathematiklernens verstanden werden.

(b) Multiple Kontexte und Zugangswege Es sei kritisch angemerkt, dass eines der oft angeführten Kernpostulate des situierten

Timo Leuders

14

Lernens, nämlich die Erhöhung des Trans-ferpotentials durch das Lernen in authenti-schen Kontexten, zwar evident erscheinen mag, jedoch nicht allgemein empirisch abzu-sichern ist. Eine zumindest theoretisch evi-denter Lösungsansatz zu dieser Transfer-problematik liegt im Kriterium der multiplen Kontexte und wird gewöhnlich wie folgt be-gründet: Kenntnisse oder Fertigkeiten, deren Erwerb an einen einzigen Kontext gebunden ist, können womöglich außerhalb dieses Kontextes nicht aktiviert werden. Hier erhält das Angebot unterschiedlicher Kontexte mehrfache lerntheoretische Relevanz: • Voraussetzung für Transferierbarkeit ist

eine Dekontextualisierung, d.h. das Abs-trahieren von Wissen und Fähigkeiten aus dem Erwerbskontext. Dies geschieht am besten durch den Vergleich verschiedener Kontexte, wie es der Ansatz der cognitive flexibility theory vorschlägt (Spiro 1992) vorschlägt.

• Tritt zum Angebot multipler Kontexte auch noch Metakognition hinzu, so können Lernende mit dem Wissen auch Kenntnis-se über die Anwendungsbedingungen dieses Wissens erwerben.

• Verschiedene Kontexte stellen auch ver-schiedene Zugangswege dar. Da dem Lehrenden — wie es oft vorgeschlagen wird — nur bedingt zuzumuten ist, ver-schiedene Lernstile und Lerntypen in sei-ner Lerngruppe zu erheben und den Un-terricht darauf abzustimmen oder gar zu individualisieren, weist das Angebot mul-

tipler Kontexte einen Weg, den individuell unterschiedlichen Lernerstrukturen (Vor-wissen, Präferenzen, affektive Identifikati-on mit den Situationen etc.) eine Vielfalt von viablen Einstiegen anzubieten.

In der Didaktik der Mathematik sind solche Ansätze besonders relevant im Bereich der Bildung mathematischer Begriffe. Der we-sentliche unterrichtliche Aspekt mathemati-scher Begriffe ist nämlich weder der termino-logische noch der formal-definitorische, son-dern vielmehr der Aspekt der Abgrenzung ("de-fini-tion") von Eigenschaften innerhalb einer hinreichend großen Erfahrungsbasis. Einen Begriff haben Lernende erst dann ge-bildet, wenn sie Beispiele und Gegenbeispie-le, also multiple Kontexte der Begriffsanwen-dung, begründet diskutieren können. Auch die Verwendung verschiedener Darstel-lungsformen (grafisch, verbal, enaktiv) und das Ansprechen verschiedener Modalitäten (visuell, auditiv) und der Wechsel zwischen ihnen kann als Generierung multipler Kontex-te aufgefasst werden. Dabei ist vor naiven Theorien der Addition von Sinneskanälen oder der Höherwertigkeit realer gegenüber symbolischer Repräsentationen zu warnen (Weidenmann 1994). Das technische Medi-um (Video, Audio, Text) ist für die erfolgrei-che Gestaltung von Lernumgebungen weni-ger relevant als die inhaltliche Strukturierung (z.B. Aspekte des Funktionsbegriffs). und die "instruktionale Strategie" (z.B. entdeckendes Lernen) (ebd.)

Abb. 4: Eine situierte Lernumgebung im Internet (www.planemath.com). Schüler lösen mathematische Probleme, die mit Situationen und Personen verbunden sind. Sie planen z.B. optimale Flugrouten und lernen den Berufsalltag eines Piloten kennen. (Das Programm wurde besonders auch für körperbehinderte Schüler aufgelegt)

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen "instruktivistisch" und "konstruktivistisch"

15

(c) Sozialer Kontext Der soziale Lernkontext muss nach den vor-angehenden Ausführung zum situativen Ler-nen als ein wesentlicher Bestandteil der Lernsituation aufgefasst werden — hier macht auch das Fach Mathematik keine Aus-nahme. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, im Mathematikunterricht würde die Viabilität von Konstrukten (z.B. "Minus mal Minus ist Plus?") durch Instrumente wie Beweis (z.B. durch Ausrechnen) oder formale Plausibilität (z.B. Permanenzprinzip) festgestellt. So wichtig die Kenntnis der epistemologischen Sonderrolle der Mathematik innerhalb der Wissenschaften als Zielperspektive mathe-matischer Bildung ist, für die Lernenden ent-wickelt sich dieses Bild allenfalls allmählich und über viele Jahre hinweg. Viel wichtiger für Konstruktion von Wissen ist zunächst die Aushandlung von Strategien und Begriffen durch die Kommunikation in der Lerngruppe. "Ich mache es so, wie machst du es, so ma-chen wir es ab", so charakterisieren Gallin & Ruf (1998) den kommunikativen Dreischritt,

in dem solche Aushandlungsprozesse im Mathematikunterricht stattfinden, in denen die Sicht der Lernenden konsequent wahr-genommen wird. An erster Stelle steht hier-bei die "subjektive Positionsbestimmung in der individuellen Sprache des Verstehens" (ebd.). Tragfähige Konzepte und Begriffe in der konventionellen "Sprache des Verstan-denen" entstehen erst durch den Austausch. In diesem epistemologischen Modell werden die aktuellen Erkenntnisse der Soziologie zur sozialen Konstruktion mathematischer Er-kenntnisse (vgl. z.B. Heintz 2000) in einem didaktischen Unterrichtskonzept konsequent berücksichtigt und umgesetzt. Lernen im sozialen Kontext kann sich also nicht innerhalb eines Unterrichts vollziehen, der allein dem Vermittlungsparadigma folgt. Zu einer konstruktivistischen Lernumgebung gehören somit immer Arrangements koope-rativen Lernens. Aus der großen Vielfalt möglicher Ansätze und Methodenbausteine, die es hier bereits gibt (Lernen durch Lehren, Projektunterricht, Gruppenpuzzle), schöpft

Abb. 5: Ausschnitt aus dem Brückenkurs "Matheführerschein" (Prototyp). Studierende können Informationen ("Tipps") aus einer Bibliothek abrufen. Alle Konzepte (hier: Proportionalität) sind in verschiedenen, frei wählbaren Darstellungs-formen verfügbar (hier: sprachlich, numerisch, grafisch, symbolisch)

Timo Leuders

16

der heutige Mathematikunterricht noch zu wenig. Zum sozialen Kontext gehört nicht allein die symmetrische Kommunikation zwischen den Lernenden, sondern auch die asymmetrische Kommunikation mit einem Experten. Diese Rolle können Lehrer, aber auch externe Fachleute einnehmen. Ein solcher Experte ist mehr als nur "Lernmoderator" oder "Lern-coach", wie dies in extrem-konstruktivisti-schen didaktischen Ansätzen gefordert wird. Er ist auch Träger von Expertenwissen, das er nach Bedarf zur Verfügung stellen kann. Neben eher deklarativ mitteilbarem Fachwis-sen gibt es auch komplexes strategisches Expertenwissen, das sich allerdings nicht einfach mitteilen lässt. In der Mathematik geht es hier vor allem um prozessbezogene Fähigkeiten des Problemlösens, des Model-lierens oder des mathematischen Argumen-tierens. Solche Fähigkeiten können nur situ-iert und in der Interaktion mit dem Experten von den Lernenden aufgebaut ("konstruiert") werden. Das Konzept der cognitive appren-ticeship greift hier das Modell des Erlernens beruflicher Fertigkeiten in Interaktion zwi-schen Lehrling und Meister auf. Der Schüler lernt hier durch Nachahmung in einfachen Si-tuationen und wird vom Experten an immer anspruchsvollere Situationen herangeführt, die er immer selbstständiger löst, während sich der Experte immer mehr zurückzieht (fading). Das Attribut cognitive deutet aller-dings an, dass das Explizitmachen, die Ver-sprachlichung und die Reflexion der kogniti-ven Handlungen wesentlicher Bestandteil des Verfahrens sind. Dies führt auf den Aspekt der Metakognition, der ebenfalls verdient, als besonderes Krite-rium genannt und näher ausgeführt zu wer-den. Dies geschieht hier allenfalls aus Platz-gründen nicht. Durch die Reflexion ist der Lernende besser in der Lage, Wissen über die unmittelbare Situation hinaus zu struktu-rieren und sich allgemeine Problemlösungs-strategien anzueignen bzw. diese zu verfei-nern. Lernumgebungen sollten daher die Ar-tikulation und Reflexion der Problemlösungs-prozesse unterstützen. Im Mathematikunter-richt ist Reflexion nicht mit dem fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch abge-schlossen, ja sie beginnt nicht einmal wirklich damit. Echte Reflexion findet erst statt, wenn Schüler hierzu Spielräume erhalten, etwa über individuelle reflektierende Aufzeichnun-gen in Forschungsheften oder Portfolios. Die Übertragung der sozialen Aspekte des Lernens auf den Bereich des mediengestütz-ten Lernens erweist sich als besonders prob-

lematisch. In wie weit kann und darf die In-teraktion mit einem personalen Gegenüber elektronisch kompensiert oder ersetzt wer-den? Hiermit befasst sich der spätere Ab-schnitt zur Ebene (4).

(d) Selbsttätigkeit und Selbststeuerung Lernen, verstanden als aktiver, individueller Konstruktionsprozess, setzt ein hohes Maß an Selbsttätigkeit voraus. Diese Selbsttätig-keit umfasst Fähigkeiten der Selbstregulation (Selbststeuerung, Selbstkontrolle, Selbstbe-wertung, Selbstbestimmung), aber auch der Selbstmotivation. Die Dimension der Selbst-ständigkeit findet ihre Begründung allerdings nicht exklusive in konstruktivistischen Lern-theorien, sondern ist ebenso aus bildungs-theoretischen Zusammenhängen ("Mündig-keit") und qualifikationstheoretischen Überle-gungen ("Schlüsselqualifikation für lebens-langes Lernen") abzuleiten (Huber 2000). Selbstständigkeit als Ziel und zugleich als Determinante schulischer Bildung und Erzie-hung hat in den letzten Jahren eine hohe Va-lenz erhalten. Dies lässt sich ebenso an ak-tuellen Richtlinientexten wie an einer Vielzahl von Modellprojekten, die das Kürzel für "Selbstlernen" im Namen tragen, festmachen (z.B. SelMA www.selma-mathe.de, SelGO; s. LfS 2003, www.selgo.de). Der oft verwendete Begriff des "Selbstler-nens" ist allerdings wieder ebenso modisch wie missverständlich, denn im Grunde ist je-des Lernen Selbstlernen. Jeder Mensch muss "selbst lernen", niemand kann "gelernt werden". Gemeint ist meist: Lernen mit ei-nem hohen Grad an Selbstregulation und/oder Selbstbestimmung. Differenzierter ausgedrückt kann sich Selbstständiges Ler-nen beziehen auf Setzung von Zielen und Auswahl von Themen, auf die Arbeitsmetho-de, auf die Arbeitsorganisation und auf die Bewertung der Ergebnisse. Gänzlich zu tren-nen ist Selbstständiges Lernen vom Begriff des individualisierten Lernens (vgl. Huber 2000). Damit eine solche Selbstregulation möglich ist, muss eine Lernumgebung hinreichend viele Freiheitsgrade besitzen. Gerade bei mathematischen Aufgaben ist das Kriterium Offenheit, sei es bezüglich der Ergebnisse oder bezüglich der Vorgehensweise, ein we-sentliches. Lange schon hat man erkannt, dass geschlossene Aufgaben mit einer ein-deutigen Lösungen oder nur einem einzigen (akzeptierten) Lösungsweg Prozesse der Selbststeuerung und Reflexion von vornher-ein unterdrücken. Die Darbietung von offe-nen Problem allein reicht aber nicht aus,

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen "instruktivistisch" und "konstruktivistisch"

17

denn weitere Merkmale der Lernumgebung können trotz struktureller Offenheit der Pro-blemstellung eine wirkliche Selbstregulation verhindern. Zudem gilt es, direktive Komponenten zu-rückzunehmen. In der Lernumgebung Klas-senraum können dies offene und verdeckte Lehrerbewertungen sein, aber auch zu aus-führliche Erklärungen ("When teaching kills learning"). In einer computergestützten Lern-umgebung ist das Maß der Selbstregulation empfindlich von den Kontrollmechanismen des Programms abhängig. Dazu mehr im fol-genden Abschnitt. Zu einer Selbstständigkeit fördernden Lern-umgebung gehören auch Instrumente, die den Lernenden zur Eigenaktivität anregen und ihn dabei unterstützen, diese aufrecht zu erhalten. Gerade bei offenen Lernsituationen ist festzustellen, dass Lernende nicht in der Lage sind, das Lernangebot in seiner ganzen Breite zu nutzen.

(4) Konstruktivistische internet-gestützte Lernumgebungen

Während der vorige Abschnitt eher generelle Elemente einer konstruktivistischen Lernum-gebung anführt, soll im Folgenden der Frage nach der Umsetzung im Rahmen einer inter-netgestützten (oder allgemeiner: computer-gestützten) Lernumgebung nachgegangen werden. Auf welche (auch durchaus ver-schiedene) Weisen können die Kriterien des vorigen Abschnitts verwirklicht werden? Das Internet als computerbasierte, interaktive und hypermediale Welt weist vielerlei Affinitä-ten zu den Merkmalen konstruktivistischer Lernumgebungen, die im vorigen Abschnitt herausgestellt wurden, auf. Solche Merkmale sind u.a. Offenheit, Authentizität, Interaktivi-tät, Kommunikativität und Adaptivität. Auf diese Affinität gründen sich die Hoffnungen, dass das Internet eine qualifizierte Plattform für das computerunterstützte Lernen dar-stellt. Jedes dieser Merkmale ist allerdings nicht per se förderlich im pädagogischen Nutzungskontext, vielmehr gilt es die Merk-male des Internets sorgfältig auf ihre didakti-schen Implikationen hin zu reflektieren.

(a) Offenheit Das Kriterium der Selbststeuerung in einer Lernumgebung setzt eine gewisse Offenheit des Systems, mit dem der Nutzer umgeht, voraus. Ein Blatt Papier ist so offen wie der, der darauf schreibt, ein Lehrer ist offen in

Abhängigkeit von seinem pädagogischen Selbstverständnis und natürlich von der je-weiligen Situation; ein mathematisches Pro-blem ist offen je nach Aufgabenstellung und unterrichtsmethodischer Einbettung. Eine computerbasierte Lernumgebung ist nur dann offen, wenn sie so konzipiert und pro-grammiert wurde. Bei technischen Systemen steigt jedoch die Komplexität und damit auch der Erstellungsaufwand exponentiell mit dem Grad der geforderten Offenheit. Man mag vermuten, dass die technische Begrenztheit auch ein Grund für die reduktionistische Ein-gleisigkeit des programmierten Lernens war. Aber auch heute noch, viele Jahrzehnte spä-ter, scheitern elektronische Systeme (entge-gen früherer optimistischer Prognosen) dar-an, offene Rückmeldungen des Benutzers zu "verstehen". Die Lücke zwischen Syntax und Semantik klafft weiterhin und es ist ein nicht-triviales Problem, die potentielle Offenheit, die der Kommunikation zwischen einem pä-dagogisch erfahrenen Lehrenden und einem Lernenden innewohnt, elektronisch zu simu-lieren (dies wäre sozusagen der pädagogi-sche Turing-Test). In der Frage der Mach-barkeit und Wünschbarkeit elektronischer Simulation menschlicher Kommunikation (etwa der eines Lehrers) gibt es zwischen Apologeten der Künstlichen Intelligenz und ihren Kritikern scharfe Auseinandersetzun-gen. Es gibt ernst zu nehmende Stimmen, die das Forschungsziel, solche Verstehens-prozesse im Computer zu implementieren, als moralisch nicht vertretbar apostrophieren (Weizenbaum 1977). Unter den verschiedenen Strategien, compu-terunterstütztes Lernen offener zu gestalten, lassen sich u.a. die folgenden ausmachen (und vielfältige Mischformen, s. z.B. Schul-meister 2002, 263f). (i) Lernwege können flexibler werden durch

maschinell-algorithmische Lösungen, wie die so genannten intelligenten tutoriel-len Systeme (ITS), die gleichsam ein Maximum an Adaptivität und Interaktivität (s.u.) aus dem Computer herauskitzeln. Dieser Weg folgt dem Grundprinzip, Lern-prozesse technologisch zu optimieren und zu kontrollieren. Die Möglichkeiten, über eine Analyse des Lernerverhaltens dyna-mische Lernermodelle zu bilden, und auf dieser Grundlagen Lernangebote zu steu-ern, haben sich jedoch als sehr be-schränkt herausgestellt (Kerres 2001, 72). Dieser Ansatz ist insbesondere mit kon-struktivistischen Vorstellungen vom Lern-prozess nicht vereinbar und wird an die-ser Stelle nicht weiter verfolgt.

Timo Leuders

18

(ii) Durch das Einbinden von menschlichen Partnern durch reale oder virtuelle Kommunikation und Zusammenarbeit wird der Computer einer inhaltlichen Rückmeldung enthoben und ein Mensch übernimmt diese Aufgabe. Mehr hierzu weiter unten unter (d).

An dieser Stelle sollen die folgenden Lö-sungsansätze näher betrachtet werden: (iii) Öffnung von Lernwegen durch offene

Aufträge (iv) Öffnung von Lernwegen durch Hyper-

textformate (v) Öffnung der Wissensbasis durch Zugriff

auf das Internet (vi) insbesondere in der Mathematik: Nut-

zung offener Werkzeuge (z.B. CAS)

zu (iii): Offene Arbeitsaufträge können vom Com-puter zwar übermittelt, aber die Arbeitser-gebnisse der Lernenden nur äußerst be-schränkt evaluiert werden. Nur wenige Sys-teme (z.B. Problemlösemodule, die Konstruk-tionsverfolgung bei Cinderella oder die bis-lang nicht verwirklichten so genannten PeCAS (Kutzler 2001)) begleiten den Nutzer inhaltlich oder heuristisch auf dem Problem-löseweg. Ein ganz anderer Weg, mit offenen, nicht kal-kulierbaren Ergebnissen umzugehen, ist wie-derum die Integration kommunikativer Kom-ponenten, wie unter (ii) angedeutet und wei-ter unten unter (d) beschrieben.

zu (iv): Eine weitere, oft anzutreffende Lösung für das Offenheitsproblem besteht in der Kon-struktion von Hypertext-Umgebungen, die man bei Einbindung von anderen Medien als Texten (Bilder, Video, etc.) auch als Hyper-media-Umgebungen bezeichnet. Das Hyper-textprinzip ist wesentlich älter als seine Ver-wendung im Computerbereich (Burbules & Callister 1996), hat aber mit dem World-Wide-Web eine enorme Aufmerksamkeit er-langt. Auch in pädagogischen Kontexten tref-fen Hypertextsysteme auf zunehmendes In-teresse (Tergan 1997, Blumstengel 1998). Die netzartige Wissensrepräsentation des Hypertextformates übt eine große Faszinati-on auf diejenigen aus, die sich mit menschli-cher Kognition beschäftigen; — man spricht hier auch von der so genanten "kognitiven Plausibilität" von Hypertext. Während der Computer als linear-algorithmisch arbeiten-

der Apparat das kybernetische Bild des Men-schen als informationsverarbeitende Maschi-ne und damit das instruktionistische Para-digma repräsentiert, ist die Netzmetapher dem konstruktivistischen Bild menschlicher Kognition wesentlich näher. Hierzu haben auch die wachsende Popularität erlangenden Erkenntnisse der Neurobiologie beigetragen: Das kognitive System des Menschen ist schon physiologisch als Netz organisiert. Wissen ist verteilt in Aktivitätsmustern und nicht etwa als Repräsentation einer externen Realität gespeichert. Auch die psychologi-schen Erklärungen für Wissensrepräsentati-on bedienen sich zunehmend der Metapher der Vernetzung. Vannevar Bushs propheti-scher Brückenschlag (1945) vom menschli-chen Gehirn zum memex, dem interaktiven und vernetzten Wissensspeicher, scheint im Internet als "anarchischem, kognitivem Su-perorganismus" Wirklichkeit geworden zu sein (Barabasi 2002). Welche Strukturen können hypertextartige Lernumgebungen haben? Neben den inhalts-tragenden Modulen (Knoten) enthält ein Hy-pertext eine Zahl von Verbindungen (Links, Kanten), die Informationen über den seman-tischen oder argumentativen Zusammenhang der Knoten tragen. Dabei können äußerst un-terschiedliche, einfache und komplexere Strukturen repräsentiert werden (Abb. 6), die man alle mit den mathematischen Begrifflich-keiten gerichteter Grafen (Digrafen) be-schreiben kann:

Abb. 6: Verschiedene Strukturen eines Hypertextes

• Ketten (bei klassischen linearen Texten) • Bäume (z.B. bei klassischen linearen Tex-

ten mit Fußnoten) • kreisfreie Grafen (z.B. bei Lernprogram-

men ohne Wiederholung) • Grafen mit Kreisen (z.B. für hermeneuti-

sche Textzugänge) • Grafen mit Clusterstrukturen (z.B. bei

mehreren, unabhängigen Lernbereichen)

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen "instruktivistisch" und "konstruktivistisch"

19

• Konnektoren (hochverbundene Knoten, z.B. bei Navigation- und Übersichtsseiten)

• Grafen mit gewichteten Links (z.B. Navi-gationsempfehlungen, ggf. adaptiv)

• u.v.a.m. Die hier angedeuteten Strukturen sind bei weitem nicht erschöpfend. Eine semantische Analyse von Links legt eine kaum zu überbli-ckende Zahl von Typen frei (unidirektionale Links: "ist Teil von", "ist ein Grund für", "ist eine Erläuterung zu ....", bidirektionale Links: "ist verwandt mit...", vgl. Schulmeister 1996, 254). Im Gegensatz zu linear zu rezipierenden Texten weisen hypertextuelle Strukturen ei-nen hohen Grad struktureller Komplexität auf. Damit eignen sie sich sowohl zur Dar-stellung komplexer Zusammenhänge (situati-ve, multiple Kontexte) als auch für Lernum-gebungen mit hinreichend vielen Freiheits-graden für eine hohe Selbstregulation des Lernenden. Die Anlage der Linkstruktur einer Lernumgebung bestimmt wesentlich die Va-riation und die Beschränkungen möglicher Lernwege. Der entscheidende Offenheitsas-pekt und damit die Möglichkeit zur Selbst-steuerung des Lernenden ist die Tatsache, dass dieser jederzeit selbst entscheidet, wo-hin er verzweigen möchte. Der Lernweg ei-nes Nutzers in einer hypermedialen konstruk-tivistischen Lernumgebung gleicht eher dem

Bahnen eines Pfades durch unbekanntes Gelände, als dem geradlinigen Marsch über eine gepflasterte Straße. Ein Beispiel für eine solche Hypertext-Lernumgebung, die dem Lerner in hohem Maße die Kontrolle über seinen Lernweg zu-billigt (und zugleich zumutet) ist der bereits erwähnte "Mathe-Führerschein". Hier handelt es sich um einen geplanten Brückenkurs für Studierende der Ingenieurwissenschaften an Fachhochschulen (Matheführerschein 2003), der auch von Schülerinnen und Schülern der gymnasialen Oberstufe genutzt werden kann. Die Lernenden steigen hier über vergleichs-weise komplexe, dem ingenieurwissenschaft-lichen Arbeitsfeld nahestehende Probleme (Bereich "Anwendungen") ein und können dann je nach Bedarf und Interesse verzwei-gen zu: auf wenige Kompetenzen und Berei-che fokussierende Probleme (Bereich "Prob-lemlösen"), oder auf elementare "Fertigkei-ten". Nur zu letzteren gibt es Lösungsrück-meldungen vom System. Die anderen Ebe-nen liefern Lösungshinweise oder Beispiellö-sungen. Zudem besteht auf jeder Ebene die Möglichkeit, geeignete mentale und mediale Werkzeuge zu nutzen: Einträge in eine Bib-liothek, strategische Hilfen zum Problemlö-sen, mathematische Werkzeuge und in ei-nem späteren Stadium eine individualisierte Arbeitsmappe. Die Gesamtstruktur wird in Abb. 7 illustriert.

Abb. 7: Struktur der Lernumgebung "Mathe-Führerschein"

Timo Leuders

20

Abb. 8: Darstellungsformen: "sprachlich/situativ", "gra-fisch", "numerisch" und "symbolisch"

Die Konstruktion dieser Umgebung folgt den folgenden Prinzipien: • Offene Navigation: Jeder Lernende kann

jederzeit überhall hin gehen. Es gibt keine Lenkung durch das System. Die Vor-schläge an den Lerner sind jedoch struk-turiert, z.B. durch Icons, die die Darstel-lungsform des Bibliotheksangebots oder des Problems charakterisieren. Die Di-mensionen "sprachlich/situativ", "gra-fisch", "numerisch" und "symbolisch" zie-hen sich durch das ganze System.

• Universelle Werkzeuge: Wenige, allge-mein nutzbare mathematische Werkzeu-ge; keine Spezialtools zur Lösung einzel-ner Probleme

• Einstieg von oben: Komplexe Probleme führen in mathematische Fragen ein. Training in Grundfertigkeiten ist instru-mentell.

• Verzweigende Vielfalt statt Kursprin-zip: Der Lerner entscheidet über seine Lernwege und Lernziele. Die Lernervor-aussetzungen sind unterschiedlich.

• Selbsteinschätzung vor Diagnose: Eine "Fern"diagnose in Form eines Selbstdia-gnosetestes bietet das System nur auf Anfrage an. Das Lernermodell erwächst primär aus der Selbsteinschätzung, nicht aus der Beurteilung des Systems.

• Reflexionsanregende Instrumente: Die individuelle Wahl von Darstellungsformen, die Arbeitsmappe, der Strategienpool so-wie das Selbstseinschätzungsmodul re-gen den Lernenden an, seine Kompeten-zen bewusst zu reflektieren.

Das Problem, das man sich durch die Offen-heit der möglichen Lernwege einhandelt, ist die mit der Navigation verbundene, so ge-nannte kognitive Überlastung. Das notori-sche Phänomen bei der Rezeption von Hy-pertexten, das gleichsam exponentiell mit ih-rer Konnektivität anwächst, lautet "lost in hy-perspace". Die Desorientierung des Lernen-den über seine Herkunft, seine aktuelle Posi-tion und seine möglichen Wege sowie die fehlende Übersicht über seinen Lernweg im Gesamtkontext können zu Frustration und Lernabbruch führen. Dies kann durch den Einsatz von unterschiedlichen Navigationshil-fen vermieden werden (vgl. Blumstengel 1998). Man beachte die metaphorische Fan-tasie bei der Bezeichnung solcher Hilfen:

• Netzwerke und Landkarten (z.B. als ad-vanced organizer). Mit ihnen kann der Lerner im Prinzip eine globale Lernpla-nung in einer komplexen Struktur durch-führen. Dies stellt jedoch hohe Anforde-rungen. Solche cognitive maps können als semantisches Netz sogar zum Kon-struktionsprinzip einer modularen Wis-sensbasis werden (Seeger 2003).

• Tourvorschläge (guided tours, trails) sind vorgefertigte lineare Durchgänge durch einen Hypertext. Sie können als didakti-scher roter Faden dienen und Lerner bei der Navigation unterstützen.

• Fischaugensichten (fisheye views) zeigen die lokale Position und die nähere Umge-bung an.

• Leseprotokolle (history, backtracking) ge-ben Informationen über den zurückliegen-den Weg. Solche Informationen lassen sich auch in die Knoten integrieren.

• Bearbeitungskennzeichen (breadcrumbs) deuten an, ob und wie oft man eine Seite besucht hat, ggf. auch in welche Richtung man sie beim letzten Mal verlassen hat (Ariadnefäden).

• Navigationsempfehlungen unterstützen den Lernenden bei der Linkauswahl (next best).

• Lesezeichen (bookmarks) ermöglichen dem Lerner, ausgewählte Stellen zu sam-meln.

Diese Funktionen lassen sich vielfältig kom-binieren und erweitern. Auch können sie durch virtuelle, grafische Repräsentations-systeme dargestellt werden (virtuelle 3D-Welten, Avatare). Viele Lernumgebungen lassen sich hinsicht-lich des hier explizierten Offenheitskriteriums klassifizieren: • Welche Topologie der Lernwege erlaubt

die Lernumgebung? • Welche Navigationswerkzeuge unterstütz-

ten den Lernenden? • Welche Möglichkeiten der eigenen Mit-

gestaltung hat der Lernende? Beispiele und Erfahrungen mit komplexeren hypermedialen Lernumgebungen für den schulischen Mathematikunterricht sind aller-dings rar. Hinzuweisen ist auf ein Modellpro-jekt des Landes NRW, das in Kooperation mit Schulbuchverlagen im Rahmen des Pro-jektes SelGO ("Selbstlernen in der gymnasia-len Oberstufe") eine Lernplattform erstellt und erprobt (www.selgo.de). Im Bereich der

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen "instruktivistisch" und "konstruktivistisch"

21

universitären Lehre gibt es hier bereits mehr Erfahrungen (s. z.B. Schulmeister 2003). Die immer noch stark dominierende Lineari-tät hypermedialer Lernumgebungen ("Um-blättermaschinen") ist wohl auf verschiedene Gründe zurückzuführen: • Auf die mangelnde Erfahrungen zum Um-

gang des Lernenden mit komplexen Hy-pertexten und das folglich fehlende Zu-trauen.

• Auf die Furcht vor dem "lost-in-hyperspace"-Phänomen. Diese Furcht ist nicht unbegründet, vor allem im Fall noch unerfahrener Nutzer.

• Auf die fehlende Erfahrung vieler Autoren mit dem Schreiben von Hypertext. Hyper-texte bedürfen besonderer Aufmerksam-keit im Bereich der Modularisierung. Die Möglichkeit der unterschiedlichen Lern-wege macht eine so genannte Dekontex-tualisierung und Instrumente zur Schaf-fung von semantischer Kohärenz nötig. Diese Probleme treten vor allem dann auf, wenn Hypertexte nicht von vornherein als solche geschrieben werden, sondern erst im Nachhinein aus linearen Texten ent-stehen (vgl. Blumstengel 1998).

Ich möchte hier die Argumentation von Schulmeister (2002, 271) aufgreifen, nämlich dass "Hypertext dem Lernenden eine komplexe Lernumgebung präsentiert, die es ihm er-möglicht, sich natürlich zu verhalten [...]: • Erstens repräsentiert das Lernmaterial in

einem komplexen Hypertext-System eine Umgebung, die der Student auch sonst vorfindet, in der Bibliothek, an seinem Schreibtisch usw. [und ebenso in der für Schüler immer selbstverständlicher ge-wordenen Umgebung WWW! — TL] [...]

• Zweitens kann sich der Student in dieser komplexen Umgebung auch so verhalten, wie er es sonst gewohnt ist, das heißt z.B. seine gewohnten, eingeschliffenen Lern-strategien einsetzen, entweder auswendig lernen oder Hypothesen bilden, [...] das Material sequentiell-linear studieren oder nach Zusammenhängen forschen, extrin-sisch motiviert "pauken" oder intrinsisch motiviert sich mit wesentlichen Fragen- und Problemstellungen identifizieren. Hy-pertext ist offen und zugänglich für alle möglichen individuellen Lernstile und Lernangewohnheiten. [Hervorhebung TL]"

Eine zukünftig immer größere Bedeutung für die Gestaltung konstruktivistischer Lernum-

gebungen werden flexiblere kognitive Werkzeuge haben, die über das reine Navi-gieren hinausgehen. Lernende können in ei-ner hypermedialen Umgebung etwa eigene, permanente Verbindungen zwischen Ele-menten der Umgebung oder zu externen Quellen einfügen, Elemente der Lernumge-bung annotieren, oder Eigenproduktionen in elektronischen Arbeitsbücher, Portofolios, oder Lernjournale/Reisetagebücher (z.B. à la Gallin & Ruf 1994) sammeln. Dies sind vor allem Instrumente, mit denen der Benutzer das Medium an seine Bedürfnisse anpasst, und bei denen Lernen nicht umgekehrt ver-standen wird als eine sukzessive Anpassung des Benutzers an die Struktur des Mediums. Solche Instrumente dienen zwar einer lerner-freundlichen Gestaltung von Lernumgebun-gen, binden aber ihrerseits kognitive Ener-gien. Sie müssen daher in der Hand des Ler-nenden auch als Navigationswerkzeug ver-standen werden, da sie zur Reflexion des ei-genen Lernens, also zur Metakognition anre-gen.

zu (v): Das Internet als offene Hypertext-umgebung

In den vorstehenden Bemerkungen zum Ler-nen in hypermedialen Umgebungen wurde nicht spezifiziert, ob diese technisch in stand-alone Lösungen realisiert sind (z.B. CD-ROM) oder online aus dem World-Wide-Web betrieben werden. Letztlich kann das WWW als die umfassendste Hypermedia-Umge-bung für das Lernen (nicht nur das schuli-sche!) angesehen werden. Exakte Angaben zur tatsächlichen Größe des Web sind nicht möglich, die Suchmaschine Google brüstet sich damit, über 3 Milliarden Webpages zu indizieren, und es gibt gute Gründe anzu-nehmen, dass dies nur ein Bruchteil der exis-tierenden Seiten ist (Barabasi 2002). Das WWW ist ein dezentral organisiertes Netz, dessen Wachstum und Vernetzungsstruktur von keiner zentralen Instanz kontrolliert wird. Dennoch zeigen Arbeiten der letzten Jahre, dass ein solchermaßen sukzessive wach-sendes Netz bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt. Es entsteht ein so genanntes skalen-freies Netz (scale free network), bei dem die Anzahl der Knoten mit einem bestimmten Knotengrad potenzartig mit dem Knotengrad sinkt. Das bedeutet unter anderem, dass es wenige stark vernetzte, hingegen viele kaum vernetzte Seiten gibt. Durch den vornehmlich unidirektionalen Charakter der Links entste-hen "Kontinente" und "Inseln", die voneinan-der nur schwer oder gar nicht zu erreichen sind (ebd.).

Timo Leuders

22

Das WWW unterscheidet sich also mindes-tens in den folgenden drei Hinsichten radikal von den bisher beschriebenen Lernumge-bungen: • Es gibt keine zentrale Instanz, die die

Qualität der Inhalte, Darstellungsformate oder Navigationsstruktur sichert.

• Es gibt keinen zentralen, gleichsam biblio-thekarisch betreuten Katalog der Inhalte. (Suchmaschinen verzeichnen heutzutage nur Bruchteile des gesamten Netzes und unterliegen in ihrer Effizienz prinzipiellen Beschränkungen)

• Das WWW ist authentisch und nicht di-daktifiziert. (s.u. (b) "Authentizität")

Diese Aspekte sind prinzipiell ambivalent zu bewerten. Maximale Globalität und Offenheit werden mit Unübersichtlichkeit bezahlt, die breite Zugänglichkeit von Information mit dem Problem ihrer Filterung und Bewertung. Diese Aspekte definieren neue pädagogische Herausforderungen, von denen eine der grundlegendsten sicherlich die Frage sein wird: Wie versetzt man Schülerinnen und Schüler (und sich selbst als Lehrenden) in die Lage, das Unmaß an zugänglicher Infor-mation zu selektieren und in individuell ver-fügbares, vernetztes und flexibel anwendba-res Wissen umzuwandeln? Dies sind Aufga-ben nicht allein für den Mathematikunterricht, sondern für eine integrative Medienpäda-gogik, die Medienerziehung, Mediendidaktik und Medienkunde vereint (Hischer 2003). Die maximale Offenheit des WWW gibt An-lass zu einer echten explorativen Schülertä-tigkeit, bei der auch der Lehrende die gefun-denen Produkte nicht vorhersehen kann. Schülerprodukte (z.B. Facharbeiten) können so individueller und breitgefächerter ausfal-len, wie wohl sie es nicht müssen. Den Leh-renden trifft die Aufgabe, Originalität des Er-gebnisses und den individuellen Lernzu-wachs zu überprüfen. Die mit der radikalen Offenheit verbundene kognitive Überlast für den Lernenden kann didaktisch abgemildert werden. Ein Ansatz sind die so genannten WebQuests (www.webquest.org), bei denen Schülern vom Lehrenden ausgewählte Explorations-wege (kommentierte Linklisten) angeboten werden. Ein weiteres Praxisbeispiel für einen vorsichtigen Einstieg für Schülerinnen und Schüler zu Beginn der Sekundarstufe I bietet das Medienverbundprojekt "mathe plus", das das herkömmliche Schulbuch mit WWW-Um-gebungen kombiniert (www.matheplus.de). Solche Modelle der gestuften Offenheit, unter Verbindung elektronischer und klassischer

Medien sowie elektronischer und direkter Kommunikation, sind in vielfältigen Konstruk-tionsansätzen denkbar. Das Internet kann als gleichsam offenste aller virtuellen Lernumge-bungen eine wichtige Rolle übernehmen. Es ist das Bindeglied zwischen schulisch aufbe-reiteter Lernumgebung und der "echten virtu-ellen Welt".

Abb. 9: Das Internet als (Teil-) Lernumgebung

zu (vi): offene (universelle) Werkzeuge Der Mathematikunterricht hat — und damit ist er anderen Fächern z.T. weit voraus — be-reits seit vielen Jahren umfangreiche Erfah-rungen mit fachspezifischen Softwaresyste-men, die sich durch einen hohen Grad von Offenheit auszeichnen, indem sie Schülerin-nen und Schüler in die Lage versetzen, selbstständig mathematische Probleme zu explorieren und eigene Konstruktionen (nicht nur im geometrischen Sinn) zu erstellen. Hierzu sind vor allem zu nennen: Computer-algebrasysteme, Dynamische Geometriesys-teme, Tabellenkalkulationen und Modellie-rungssysteme für dynamische Prozesse. Der Offenheits- und potentielle Divergenzgrad solcher Systeme ist beträchtlich, zugleich aber auch die Anforderungen an die Nutzer. Es gibt vielfältige Ansätze, diese Systeme zu Lernumgebungen weiterzuentwickeln. Hier lassen sich vor allem zwei unterschiedliche Entwicklungsperspektiven ausmachen: (1) Offene mathematische Werkzeuge kön-nen in Lernumgebungen integriert werden und je nach Anforderung des Problemkontex-tes als Werkzeuge verwendet werden: • Einbinden als spezifisches, adaptiertes

Werkzeug in Hypertextumgebungen (Bei-spiel Lernumgebungen mit GeoNEXT — www.geonext.de)

• Nutzen als universelles mathematisches Werkzeug. (z.B. lokal installierte CAS, Handheld-Funktionenplotter)

Nicht zuletzt durch das Verschwinden der Online/Offline-Grenze werden wir hier vielfäl-tige Innovationen zu erwarten haben. Die spezifische Diskussion dieser Technologien

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen "instruktivistisch" und "konstruktivistisch"

23

erfordert eine ausführlichere Behandlung als an dieser Stelle möglich ist. (2) Offene mathematische Werkzeuge kön-nen aber auch selbst die Plattform für com-puterunterstützte Lernumgebungen abgeben: • Konstruktion problemspezifischer interak-

tiver Arbeitsblätter (Beispiel Cinderella) • problemspezifische Adaptierung von Nut-

zerschnittstellen (z.B. CAS-packages) • Konstruktion einer didaktifizierten Wis-

sensbasis (z.B. das Hilfesystem eines CAS)

In solchen Verwendungszusammenhängen gelten die allgemeinen Kriterien an compu-terunterstützte Lernumgebungen, wie sie auf diesen Seiten für elektronische Lernumge-bungen formuliert werden. Als eine weniger bekannte, offene Werk-zeugumgebung möchte ich das ray-tracing Programm POVRAY herausheben (www.pov ray.org). Dieses gibt dem Nutzer über eine Textschnittstelle die Möglichkeit, räumliche Objekte und ihre Eigenschaften koordinaten-geometrisch zu spezifizieren und erzeugt dann realistisch wirkende Bilder der spezifi-zierten Szenerie (Majeswski 1997, Filler 2003). Dieses System hat einen hohen Grad an Offenheit, da es dem Nutzer zunächst nur wenige Grundfertigkeiten abverlangt, dafür aber ein breites Spektrum an kreativen Ges-taltungsmöglichkeiten eröffnet. Die Mathema-tik (Koordinatengeometrie, analytische Geo-metrie) wird hier gleichsam automatisch im Zuge von selbstgewählten Darstellungsauf-gaben erkundet (Leuders 2004).

(b) Authentizität Die im Rahmen von konstruktivistischen Ar-gumentationen oft eingeforderte situative Au-thentizität wird meist begründet mit zu erwar-tetenden Motivationseffekten, vor allem aber mit einem erhofften höheren Transferpotenti-al. Reinmann-Rothmeier et al. (1994, 46) dis-kutieren diesen Aspekt vor allem mit Bezug auf berufliche Weiterbildung und sehen dabei durchaus die Gefahr der Überforderung der Lernenden, wenn der Authentizitätsgrad nicht ihren Wissens- und Erfahrungsstand berück-sichtigt. Sie schlagen daher vor, unter einem situierten Kontext einen eher eingebetteten als authentischen Kontext zu verstehen. Im schulischen Kontext des Mathematikunter-richts scheint dieses Problem doppelt ausge-prägt, da hier die Erfahrungen von Schüle-rinnen und Schülern sowohl mit realen An-wendungskontexten als auch mit komplexen inner- wie außermathematischen Situationen erfahrungsgemäß sehr gering zu veran-schlagen ist. Dennoch braucht gerade der schulische Mathematikunterricht, der an ei-ner überstarken didaktischen Filterung ma-thematischer Probleme krankt, solche au-thentischen Kontexte. Dass solche Kontexte auch im Rahmen eines nicht-akademischen Mathematikkurses (Wiskunde A in den Nie-derlanden, Grundkurs in Deutschland) pro-duktiv werden können, beweisen vielfältige Probleme aus der niederländischen Wiskun-de A (siehe z.B. www.alympiade.de). Das Internet bietet eine Fülle von nicht-didaktifizierten "Real World Problems", die nicht auf den schulischen Mathematikunter-richt zurechtgeschneidert sind, aber attrakti-ve, offene Lernumgebungen abgeben kön-nen. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren:

Abb. 10: Lernumgebung POVRAY

Timo Leuders

24

Die Weltbevölkerungsuhr lädt ein zur Explo-ration der dort angegebenen Zahlen: "Wel-che Prognosen ergeben sich? Wie funktio-niert die Uhr? Wie wächst die Bevölkerung

tatsächlich? Wie sieht das nach Ländern dif-ferenzierte Bild aus?" Die Internet Movie Database hat ein Bewer-tungsverfahren für Filme (rating) und gibt so-

Abb. 11: Die Weltbevölkerungsuhr — www.dsw-online.de/cgi-bin/count.pl

[Am Schluss der Seite findet sich folgende Erläuterung:]

The formula for calculating the top 250 films gives a true Bayesian estimate: weighted rank (WR) = (v ÷ (v+m)) × R + (m ÷ (v+m)) × C where: R = average for the movie (mean) = (Rating) v = number of votes for the movie = (votes) m = minimum votes required to be listed in the top 250 (currently 1250) C = the mean vote across the whole report (currently 6.9) note: for this top 250, only votes from regular voters are considered.

Abb. 12: Bestenliste auf Internet Movie Database — http://www.imdb.com/top_250_films

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen "instruktivistisch" und "konstruktivistisch"

25

gar eine Formel an, nach der die Leserbe-wertungen eingeordnet werden. Wie "funkti-oniert" diese Formel? Wie verändern sich die Ergebnisse in Abhängigkeit von der Anzahl der abgegebenen ratings? Was ist ein Bay-es'scher Schätzer? Des Weiteren muss man auch Datenbe-stände für den Mathematikunterricht, wie statistische Datenbanken (etwa die des Sta-tistischen Bundesamtes www.destatis.de) oder Formelsammlungen und Fachlexika (www.mathe-online.at/mathint/lexikon) im In-ternet als Bausteine für Lernumgebungen ansehen. Schließlich soll noch angedeutet werden, dass gerade die Multimediamöglichkeiten des Internets zur Situiertheit von Lernumge-bungen beitragen können. Informationen können vor allem in visuell vielfachen Dar-stellungsformen dargeboten werden. Dabei ist aber darauf zu achten, ob Multimedia hier eine Ergänzungs- oder Ersatzfunktion ein-nimmt. Eine Auseinandersetzung in persona mit der wirklichen Welt kann durch kein digi-tales Klassen- oder Spielzimmer ersetzt wer-den. Beispiele für virtuelle Klassenzimmer, wie man sie insbesondere in den USA findet, stimmen hinsichtlich der Substitution primä-rer Welterfahrung durch digitale Surrogate bedenklich (vgl. Abb. 13).

Einen Beitrag zur Authentizität von Lernen können auch die gewachsenen Möglichkei-ten des World Wide Publishing leisten. Ein-zelne Schüler oder ganze Kurse können die Ergebnisse ihres Lernprozesses ohne hohen (finanziellen) Produktionsaufwand veröffentli-chen und zur Diskussion stellen. Neben dem Motivationsaspekt stellt sich hier allerdings die Frage, welche Qualität Schülerprodukte haben sollten, um auf diese Weise veröffent-licht zu werden. Ein Mathematikkurs vom Copernikus-Gymnasium Phillipsburg hat bei-spielsweise die Wiederholungs- und Vertie-fungsphase vor den Abiturprüfungen genutzt, um in einem Projekt Kernthemen online auf-zubereiten (http://sites.inka.de/picasso/einga ng6.htm). Schülerinnen und Schüler haben hier sicherlich etwas über Webseiten-Erstel-lung gelernt. Anstelle einer reflektierten Pu-blikation eigener (und sei es auch noch so einfacher) mathematischer Arbeiten wurden hier jedoch nur die Reproduktion und Aufbe-reitung von Standardthemen aus dem ver-wendeten Schulbuch betrieben.

(c)-(e) Interaktivität So oft der Begriff der Interaktivität als Quali-tätsmerkmal für digitale Produkte angeführt wird, so wenig besteht Einigkeit über eine klare Definition (s. Haack 2002, Blumstengel

Abb. 13: Virtuelle "Ersatz"umgebungen — www.jayzeebear.com

Timo Leuders

26

1998). In Multimediaumgebungen meint In-teraktivität häufig den freien Zugriff auf alle Inhalte, im Rahmen von ITS eine starke An-passung des Systems an einen Nutzer. Aus Nutzersicht kann Interaktivität für manche Autoren lediglich in einem hohen Aktivie-rungsgrad, z.B. häufige Tests, bestehen, für andere ist ein proaktiver und generierender Interaktionsstil (im Gegensatz zu einem reak-tiven) entscheidend. Im Folgenden will ich daher verschiedene Aspekte von Interaktivität und ihre Bedeu-tung bewusst getrennt voneinander darstel-len. Die schon im vorangegangenen Ab-schnitt beschriebene offene Hypertextstruktur kann als ein Aspekt von Interaktivität aufge-fasst werden, nämlich Interaktivität als vom Lerner kontrollierte Lernwegsteuerung. Als weitere Aspekte (die das Thema durchaus nicht erschöpfen) sollen ins Auge gefasst werden: Interaktivität als Feedback durch das System, als Unterstützung freier Kommunika-tion und als Adaptivität eines Systems.

(c) Interaktivität als Reaktivität des Systems (unmittelbares Feedback)

• Lernwegsteuerung: Während Lernsyste-me praktisch immer das Tempo der Bear-beitung dem Lernenden überlassen, ge-ben z. B. tutorielle Systeme einen Lern-weg vor, der Benutzer kann darauf ledig-lich "blättern". Im Gegensatz dazu liegt die Entscheidung über den Lernweg bei Hypermedia grundsätzlich beim Lernen-den: "Unlike most information systems, hypermedia users must be mentally active while interacting with the information. ... Hypermedia permits a higher level of dy-namic user control." (Jonassen/Grabinger 90, 7). Dieser freie Zugriff auf Inhalte oh-ne definierte Folge ist wichtig (und bei-spielsweise ein großer Vorteil gegenüber Vi-deo), konstituiert aber für sich allein noch keinen besonders ho-hen Grad an Interakti-vität.

• Darstellungstiefe: In ei-nigen Hypermedia-Lernsystemen kann die Darstellungstiefe der Informationen variiert werden. So können beispielsweise durch Mausklick auf Teile ei-ner Grafik weitere Informationen, Vergrö-ßerungen o.Ä. gezeigt werden.

• Dialoggestaltung: Viele Hypermedia-Sys-teme sehen lediglich eine einseitige In-formationspräsentation vor. Der Interakti-vitätsgrad wird erhöht, wenn beispielswei-se Testfragen integriert werden. Diese können wiederum qualitativ sehr unter-schiedlich realisiert werden. Wünschens-wert ist dabei, auch über Multiple-Choice-Fragen hinausgehende Testtypen zu ver-wenden. Ein höherer Grad an Interaktivi-tät wird auch durch die Integration von Simulationselementen erreicht, wenn ma-thematisch oder grafisch repräsentierte Modelle mit verschiedenen Parametern getestet werden können und die Konse-quenzen anschaulich dargestellt werden. Eine weitere Möglichkeit ist die Integration adaptiver tutorieller Komponenten, z. B. in Form kontextsensitiver Hilfen oder Gui-des.

(c) Interaktivität in Form von Reaktivität des Systems (Feedback)

Durch seine hohe Verarbeitungsgeschwin-digkeit besitzt der Computer die Stärke der instantanen Rückmeldung über das Ergebnis einer Berechnung. Zu den bedeutsamen Fol-gen für den Mathematikunterricht gehört hier z.B. eine mögliche Stärkung des funktiona-len Denkens, da der Zusammenhang von Ursache und Wirkung von den Schülerinnen und Schülern nicht nur in Gedanken vollzo-gen, sondern auch "augenscheinlich" erlebt werden kann. Viele der in großer Vielzahl entstehenden so genannten Applets bieten ein interaktives Erkunden eines funktionalen Zusammenhangs an, wie z.B. das in Abb. 14 dargestellte, der Lernumgebung Mathe-Online (www.mathe-online.at) entnommene Applet. Zudem besitzt der Mathematikunterricht mit

dem Computer erstmals ein universelles Ex-perimentierwerkzeug. In diesem Sinne kann der Rechner als epistemisches und heuristi-

Abb. 14: Funktions-Applet aus www.mathe-online.at/galerie/fun1/fun1.html#FunktAbh (den Punkt auf der x-

Schiene zieht man, der Punkt auf der y-Schiene bewegt sich mit)

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen "instruktivistisch" und "konstruktivistisch"

27

sches Werkzeug genutzt werden, also als ei-ne Erweiterung der menschlichen Fähigkeit, Wissen zu erzeugen und Probleme zu lösen. Hierbei spielt auch die Stärke des Computers eine Rolle, dass er die Integration und den schnellen Wechsel von unterschiedlichen mathematischen Darstellungsformen (nume-risch, grafisch, symbolisch) ermöglicht. All diese Vorzüge sind auch über das Inter-net nutzbar, wobei die Rückmelderaten be-grenzt werden sowohl durch Server-geschwindigkeiten als auch durch Übertra-gungsraten. Diverse server- und clientseitige technischen Lösungen lassen diese Restrik-tion aber immer mehr in den Hintergrund tre-ten. Derartiges "instant Feedback" spielt auch ei-ne Rolle bei jeglicher Rückmeldung zu Lern-erfolgen im Rahmen von Tests. Hier spielt es kaum noch eine Rolle, ob ein solches Sys-tem nur durch eine eigenständige Software oder über WWW-Plattformen realisiert wer-den kann. Die Begrenzung liegt hier eher in dem prinzipiellen Widerspruch zwischen technisch realisierbaren Rückmeldungen (im einfachsten Fall: multiple choice) und dem Anspruch hohe kognitive Lernerleistungen herauszufordern. Die semantischen Begren-zungen eines Computersystems wurden oben bereits angesprochen. Es gibt aller-dings vielfältige Wege, jenseits von multiple choice und fill-in, durchaus flexiblere Abfra-getechniken zu realisieren, etwa durch Zu-ordnungspuzzles (Abb. 15). Hier werden die Lernenden zu Explorationen und Reflexionen angeregt ("Welche Bilder gehören zu negati-ven Werten? Warum?"). Genutzt wird instant feedback auch in einer Vielzahl von Demonstrationsmodellen und Simulationen, die interaktiv bedient werden

können. Eine interaktiv veränderbare, dyna-mische Darstellung des Sonnensystems im Internet (z.B. der Halleysche Komet bei der NASA unter neo.jpl.nasa.gov/orbits kann bei-spielsweise zur Beschäftigung mit der Frage "Was sind Winkel zwischen Ebenen?" anre-gen. Das eigenhändige Manipulieren und Erstellen mathematischer Objekte ist aller-dings weiterhin für mathematische Primär-erfahrungen unabdingbar. Nur mit virtuellen Bauklötzen können sich Raumvorstellungen nicht ausbilden.

(d) Interaktivität in Form von Kommuni-kativität

Die Erkenntnis der Beschränkungen, die eine Interaktion allein mit einer Maschine unter-liegt (HCI = human computer interaction), führt für viele Autoren von Lernumgebungen zu dem konsequenten Schritt, diese durch die konsequente Einbeziehung zwischen-menschlicher Interaktion aufzuheben. Immer dann, wenn sich diese Kommunikation zwi-schen sich persönlich gegenübertretenden Handlungspartnern vollziehen kann, sollte man diese Chance nutzen. Dennoch kann es sinnvoll sein, auch über elektronisch vermit-telte Wege der Kommunikation zwischen Lernendem und Lehrendem, aber auch in-nerhalb von Lernendengruppen nachzuden-ken. Die Vielfalt der Angebote für elektroni-sche Kommunikation und Zusammenarbeit ist inzwischen schier unübersehbar; — meist sind diese Systeme allerdings nicht aus pä-dagogischen Bedürfnissen entsprungen, son-dern erst in der Folge auf ihre pädagogische Eignung befragt worden. Zu den wichtigsten Typen gehören hier:

• Formen der asynchronen Kommunikation (E-Mail, Foren, FAQ-Bretter)

Abb. 15: Ein Zuordnungspuzzle aus www.mathe-online.at/tests/vect2/skalarprodukt.html

Timo Leuders

28

• Formen der synchronen Kommunikation (Chats, Virtuelle Klassenzimmer, Video- und Audiokonferenzen)

• Plattformen für den Dokumentenaus-tausch (shared workspaces)

• Techniken des application sharing (Für die Mathematik bedeutsam: Wie können zwei entfernte Lernpartner dieselbe CAS-Oberfläche sehen und bearbeiten?)

Unter den Stichworten CSCW (computer supported cooperative work) und CSCL (computer supported cooperative learning) gibt es vielfältige konkrete Projekte, beson-ders im Bereich der Weiterbildung und der universitären Lehre (Wessner 2002). Solche Systeme können zur direktiven Steuerung (Beispiel: Der Lehrer stellt einen Lernplan in die Arbeitsumgebung), zur symmetrischen Kooperation (Beispiel: arbeitsteilige Projekt-arbeit), aber auch zur konkurrierenden Arbeit (Beispiel: Wettbewerbe) genutzt werden. Die Chance, die in der CSCL-Technologie gesehen wird, bezieht sich vor allem auf eine Erhöhung der Intensität und der Qualität von Interaktivität in computerunterstützten Lern-umgebungen. Aus konstruktivistischer Sicht spielt hier aber auch der Aspekt von Wissen als sozialer Konstruktion eine Rolle: Wir kommunizieren nicht über Wirklichkeit, son-dern erschaffen Wirklichkeit in der Kommuni-kation (Watzlawick) Die Realisierung solcher kommunikativer Elemente findet oftmals über so genannte Lernplattformen statt. Dieser Begriff ist nicht immer klar abgegrenzt. Meist versteht man hierunter eine Kombination verschiedener In-formations- und Kommunikationselemente (Schulmeister 2001, 165): Einstiegsportal, Kursmanagement, Darstellung von Kurs-unterlagen, Online-Kurse (Seminare), Auto-renwerkzeuge für Lehrende, Werkzeuge zum kooperativen Arbeiten. Im Bereich des schulischen Einsatzes ist je-weils sehr gewissenhaft nach dem Mehrwert solcher Systeme zu prüfen: Schülerinnen und Schüler in allgemeinbildenden Schulen haben in der Regel viele Möglichkeiten, di-rekt miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren. (Hierfür wird heutzutage — als sei es bereits die Ausnahmesituation — der schöne Begriff "face to face" verwendet). Elektronische Kommunikation kann zu einer Bereicherung führen, wie z.B. in Distanzpha-sen in der beruflichen Weiterbildung (vgl. das NRW-Projekt www.abitur-online.nrw.de für den zweiten Bildungsweg), oder eben zur Verarmung durch Surrogatkommunikation: Muss z.B. die Verteilung von Lernmaterial,

die Rücksendung und Kommentierung von Dokumenten auch bei schulischen Hausauf-gaben über eine Lernplattform laufen (vgl. das Schwesterprojekt www.selgo.de für die gymnasiale Oberstufe)? Oft wird auch der Aspekt der "verteilten Ko-gnition" beschworen. In kooperativen Ar-beitsumgebungen können Mitglieder arbeits-teilig ihre spezifische "Experten"sichten bei-tragen. So entsteht eine gemeinsame Wis-sensbasis in der Summe von Einzelbeiträ-gen. Verteiltes Wissen kann zu geteiltem Wissen werden. Systeme für ein solches Wissensmanagement können z.T. berückend einfach sein, wie das WIKI-Projekt zeigt (www.wikipedia. de). Schulen sammeln be-reits erste Erfahrungen, insbesondere im Be-reich der Informatik. Letztlich sind die zahl-reichen (kommerziellen) Hausaufgaben- und Facharbeitenbörsen auch solche Systeme verteilten Wissens. Ihre Existenz stellt eine Herausforderung für das Bild schulisch er-worbenen Wissens dar. Schließlich soll auch die (vermeintliche?) globale Öffnung durch elektronische Kom-munikation zur Sprache kommen. Der Sinn und Erfolg von E-Mail Austausch-Projekten ist im sprachlichen Bereich erwartungsge-mäß höher als in der Mathematik. Auch der Austausch mit externen Experten per E-Mail wird für den Mathematikunterricht wohl in nächster Zeit eher von sekundärer Bedeu-tung sein und auf Leuchtturmprojekte be-schränkt bleiben. Mit Schulmeister (2002, 206) kann man ab-schließend feststellen: "Ob und wie koopera-tiv gelernt wird hängt entscheidend davon ab, wie das technische System in den höheren Lernzusammenhang eingebettet ist".

(e) Interaktivität in Form von Adaptivität Alle Lernenden sind verschieden. Diese ebenso lapidare wie unbestreitbare Aussage muss Konsequenzen für die Gestaltung einer Lernumgebung haben. Vom menschlichen Lehrenden fordern wir eine flexible Anpas-sung an die Bedürfnisse der einzelnen Ler-nenden, angemessene Reaktionen auf deren individuellen Beiträge und das Angebot diffe-renzierter Lerngelegenheiten und Lerntempi. Doch auch ein Lehrer ist schnell überfordert, wenn er dies bei dreißig Schülerinnen und Schülern zugleich leisten soll. Konstruktivisti-sche Ansätze entheben den Lehrenden von der früher vehement propagierten, wenn-gleich unlösbaren Aufgabe der individuellen Differenzierung ("Jedem Schüler sein eige-nes Arbeitsblatt"). Eine angemessene Diffe-renzierung können letztlich allein die Lernen-

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen "instruktivistisch" und "konstruktivistisch"

29

den selbst leisten, indem sie ihre Lernumwelt nach ihren individuellen Bedürfnissen (mit-) gestalten. Die Hoffnung, die elektronische Lernumge-bungen nähren, besteht nun darin, dass die-ses Ideal der totalen Differenzierung durch die Anpassungsfähigkeit maschineller Sys-teme anscheinend wieder in erreichbare Nä-he rückt. Aber können so genannte adaptive elektronische Systeme dies wirklich leisten? Als Adaptivität von Systemen wird deren Fä-higkeit verstanden, sich automatisch an den Lernenden anzupassen. (Im Gegensatz dazu bedeutet Adaptierbarkeit, die Möglichkeit, an ihnen verschiedene Parameter voreinzustel-len, wie etwa die Sprache oder den Schwie-rigkeitsgrad, oder die Vorauswahl von funkti-onalen Schaltflächen bei einem DGS). Die Adaptivität von Lernumgebungen variiert nicht nur graduell, hier gibt es vielmehr er-hebliche prinzipielle Unterschiede. Erhoben werden können vom System eine ganze Rei-he unterschiedlicher Lernerdaten, sowohl vor als auch während des Lernprozesses. Sie können implizit aus dem Lernweg oder expli-zit aus Vor- und Zwischentests sowie aus Selbsteinschätzungen stammen. Eine typi-sche Form ist die Konstruktion eines so ge-nannten Lernermodells, in dem Eigenschaf-ten des Lernenden erhoben werden, wie et-wa sein lernrelevantes Vorwissen oder seine themenbezogene Selbsteinschätzung.

Die Forderung nach Lerneradaptivität und die Konstruktion von Lernermodellen zielen dar-auf ab, ein System in den Stand zu verset-zen, den Lernweg auf die (vermuteten bzw. modellierten) Bedürfnisse des Lernenden abzustimmen, also letztlich dem System die Möglichkeit einer differenzierten Kontrolle über den angebotenen Lernweg zu geben. Mit einer solchen Zielsetzung ist der hohe Anspruch verbunden, dass ein System hin-reichend komplexe, statistisch valide und vi-

able Lernermodelle (Kenntnisse, Fähigkeiten, Präferenzen) erstellen kann. Hier tritt jedoch eine typische, paradox anmutende und nicht überwindbare "Unschärferelation" zu Tage: Je detaillierter die Informationen, die das System über den Lerner gewinnen will, desto fragmentierter werden die Lernschritte, die angeboten werden und desto größer die In-terferenz in Form von Abfragen, Tests und Selbsteinschätzungen. Erkennt man die Begrenzungen der Nutzer-modellierung nicht nur an, sondern spricht man dem System a priori eine solche starke Kontrolle des Lernerverhaltens und der an-gebotenen Lernwege ab, so verfolgt man ein gegensätzliches Paradigma. Dann ist es nicht das System, das ein Modell des Ler-nenden erstellt und sich daran orientiert, sondern der Lernende selbst, der qua Wahl seines Lernwegs ein zunächst implizites "Selbstmodell" entwirft. Dieses Modell ist an-fangs unbewusst, kann aber im Laufe des Lernprozesses immer mehr vom Lernenden reflektiert werden. Einen solchen Weg ver-folgt der oben geschilderte "Matheführer-schein": Der Lernende muss immer wieder entscheiden, welche Darstellungsformen ("sprachlich/situativ", "grafisch", "numerisch" und "symbolisch", vgl. Abb. 8) er bevorzugt und wird durch das System darin unterstützt, sich diese Wahl bewusst zu machen. Man kann diese System-Nutzer-Interaktion als "re-

flektierte Offenheit" be-zeichnen. Man muss vielleicht ausgleichend feststel-len, dass eine Lern-umgebung eine sinn-volle Integration von beiden Paradigmen, dem der systemischen Adaptivität und dem der reflektierten Offen-heit, bieten sollte. Sol-che Variablen, die technisch erhoben werden können und die Lernwege und Dar-stellungsformen sinn-

voll modifizieren, ohne den Lerner zu gän-geln, sollten auch genutzt werden (etwa die Darstellungsform der Navigationsinstrumen-te). Die Variabilität des Lernprozesses darf sich hingegen nicht in einer vom System ge-troffenen Vorauswahl erschöpfen und auf ei-ner impliziten Systemebene dem Lernenden verborgen bleiben. Die Vielzahl der Lernwe-ge muss dem mündigen Lerner stets offen liegen. Eine solche Ausgleichsforderung liegt beispielsweise bei dem Modell der Adaptiven

Abb. 16: Selbsteinschätzung und Einschätzung durch das System in http://demo.activemath.org

Timo Leuders

30

Hypermedia-Systeme vor, wie sie Seeberg (2002, 10ff) vorstellt. Hier können z.B. alle Links offen stehen, aber mit Hilfe einer Am-pelmetapher dem Lerner deutlich gemacht werden, in wie weit er aufgrund seines Lern-modells und Lernweges die Voraussetzun-gen für die Bearbeitung des dahinter liegen-den Moduls erfüllt.

Ein weiteres Kriterium für eine offenere, ler-nerzentrierte Auffassung von Interaktivität ei-ner Lernumgebung liefert Schulmeister (2002). Diese kann dem Lernenden erlau-ben, aktiv in ihre Struktur einzugreifen und sie nach seinen Wünschen umzugestalten. Für diese Art von reziproker Adaptivität sind gerade Hypermedia-Systeme gut geeignet: Der Lernende kann den Elementen eigene Annotationen hinzufügen, kann ggf. auch Er-gänzungen und Änderungen von Inhalten oder strukturellen Verknüpfungen vorneh-men.

Einige zusammenfassende Bemerkungen

Die folgenden Bemerkungen zu einigen Kernfragen des Lernens in medialen, kon-struktivistischen Lernumgebungen sind zwar als Konsequenz der vorangehenden Ausfüh-rung zu verstehen, sind aber weniger syste-matisch und eher subjektiv geprägt.

Welche Rolle spielt das konstruktivisti-sche Paradigma für das Lernen? Es ist deutlich geworden, dass viele der hier zusammengetragenen Anforderungen an Lernumgebungen nicht unbedingt eines kon-struktivistischen Hintergrundes bedürfen. Die konstruktivistische Position, die vor allem Si-tuiertheit und Selbstregulation betont, erweist sich als wichtiges Korrektiv: Dass und warum gerade computergestützte Lernarrangements immer noch besondere Gefahr laufen, einen einseitig vermittlungsorientierten Ansatz zu verfolgen, ist aus den vorangehenden Argu-menten und Beispielen deutlich geworden.

Welche Hoffnungen sind mit computerge-stützten Lernumgebungen verbunden? Die Gründe, die für eine stärkere Förderung eines computer- und internetgestützten Ler-nens angeführt werden, klingen meist plausi-bel, müssen sich aber auf ihren Gehalt kri-tisch hinterfragen lassen. Um nur einige we-sentliche Beispiele zu nennen:

• Innovation der Lehrformen: Allein die Di-agnose mangelnder Qualität herkömmli-chen Unterrichts ist nicht hinreichend da-für, Hoffnungen in Computersysteme zu setzen. Vielen erkennbaren Vorteilen (emotionale Neutralität, individuelle Lern-tempi) können ebenso gewichtige Nach-teile entgegengesetzt werden (mangelnde Kommunikation, keine Verstehensprozes-se seitens des Systems). Ausgesproche-ne Kritiker formulieren ihre Thesen hierzu sogar noch krasser: "Alles, was man pä-dagogisch erreichen/vermeiden will, er-reicht/vermeidet man besser ohne den Computer. Alle Dummheiten, die die Schule macht, macht sie mit ihm ver-stärkt. Das, was man nur an und mit dem Computer lernen kann, ist herzlich wenig und kann kurz vor der Entlassung in die Arbeitswelt realistischer und wirksamer absolviert werden" (von Hentig 1993).

• Öffnung von Schule. In wie weit ist die Öffnung der Grenzen über die Lerngruppe hinaus wesentliche Qualitätssteigerung? In wie weit kann das Informationsangebot und die Möglichkeit der weltweiten Kom-munikation wirksam in den Unterricht in-tegriert werden?

• Aktualität. Wie aktuell müssen Informatio-nen für den Mathematikunterricht wirklich sein? Hier ist die Bedeutung des Aktuali-tätskriteriums für den Politikunterricht si-cherlich unmittelbarer (obwohl es auch hier Alternativmedien gibt!).

• Kommunikation. Eine Kommunikations-steigerung ist wohl allein dort zu ver-zeichnen, wo Lernende ansonsten not-wendig physisch getrennt agieren müss-ten (Flächenbesiedlung, Spezialkurse, Zweiter Bildungsweg).

• Medienkompetenz für lebenslanges Ler-nen, als Teil von Allgemeinbildung, als notwendige Bedingung für den ökonomi-schen Status der Gesellschaft ("Standort-frage"). Hier treffen wir wirtschafts- und bildungspolitische Argumente, die meist eher ideologisch als sachlich verwendet werden. Ob jeder Arbeitnehmer künftig heimischer Selbstlerner sein muss, um mit betrieblichen Entwicklungen mitzuhal-ten, wie viel Medienkompetenz in der Schule erworben werden muss ("Internet-führerschein"), ist mehr von normativen Zielvorstellungen als von nüchternen Ana-lysen bestimmt. Zum Auftrag der Pädago-gik gehört allerdings auch, junge Men-schen darin zu unterstützen, dass sie "der technischen Zivilisation gewachsen blei-ben" — so Hartmut von Hentig (2002).

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen "instruktivistisch" und "konstruktivistisch"

31

Prozesse wie Mediatisierung, Ökonomi-sierung, Kollektivierung und die damit einhergehende Vereinzelung und Ent-fremdung sind Kategorien, die bei allen technischen und didaktischen Entwicklun-gen mitreflektiert werden müssen.

Welche Rollenveränderungen in Schule zeichnen sich ab? Nicht das Klassenzimmer als Raum der Lernbegegnung ist obsolet, wie viele Apolo-geten medialer Lernumgebungen postulieren (vgl. z.B. "The Death Of The Classroom", Fielding 1999), sondern die Rollenverteilung zwischen Lehrenden und Lernenden ist re-formbedürftig. Eine stärkere Selbststeuerung und Verantwortung des lernenden Indivi-duums erreicht man allerdings nicht allein durch die Subtraktion eines Lehrenden aus dem Lernprozess, sondern nur durch eine Veränderung der Handlungsmuster und des Selbstverständnisses des Lehrenden. Dabei kann nicht das Ausblenden jeglicher Instruktion das Ziel sein, sondern ein sinnvol-les Einbetten von Instruktionsphasen, die die Lernenden nach ihren Bedürfnissen abrufen können. (Die Autorengruppe der BLK-Exper-tise (1996, 23f) weist ausdrücklich auf funkti-onale Äquivalenz von Unterrichtsmethoden hin und warnt vor "pädagogischem Dogma-tismus".) Der Lehrer ist — immer noch mehr als jedes computerbasierte Lernsystem — ein didak-tisch geschulter Instruktor, der die Lerngrup-pe aus vielfältigen Lern-, Leistungs- und Kommunikationszusammenhängen kennt, der Lernprozesse begleitet und beobachtet hat und der interaktiv auf die Anforderungen der Lernenden reagieren kann. Das Klassen-zimmer ist zwar nicht per se, aber immerhin doch potentiell eine ideale "Lernumgebung". Schauen wir einmal rückblickend auf die ver-schiedenen Anforderungen an eine Lern-umgebung so stellen wir fest: Die genannten Qualitätskriterien beziehen sich nicht allein auf elektronische Medien, sondern lassen sich ebenso auf die soziale Lernumgebung einer physischen Lerngruppe anwenden. Im Einzelnen muss man sich also immer nach dem Mehrwert einer elektronischen Lernumgebung fragen. Hier überschneiden sich ökonomische und pädagogische Krite-rien auf eine in diesem Metier typische Art und Weise: • Eine qualitative (und hinreichend offene)

Lernumgebung ist in vielen Lerngruppen nutzbar. Das Rad muss nicht von jeder Lehrkraft neu erfunden werden. Zudem

kann aus der Erfahrung der Nutzung in vielen Lerngruppen eine sukzessive Wei-terentwicklung erwachsen. Dies ist bei-spielsweise der Modus, in dem japanische Lehrerinnen und Lehrer idealiter ihre (nicht-digitalen Lernumgebung, sprich: Unterrichtsarrangements) kontinuierlich optimieren (Stigler & Hiebert 1999).

• Die Offenheit, die die Hyper-Umgebung "Internet" bieten kann, ist in klassischen abgeschlossenen Medien (Arbeitsblättern und Schulbüchern) nicht abbildbar und auch die Kenntnisse und die Kommunika-tionsfähigkeit des Lehrenden sind schnell erschöpft.

• Elektronische Lernumgebungen können das selbstständige (und je nach Anlage) auch das kooperative Lernen unterstüt-zen, ja geradezu herausfordern. Insbe-sondere die zeitweise Loslösung des Ler-nenden aus dem in Deutschland immer noch dominierenden "Gesamtunterricht" im Kursverband — mit all seinen bekann-ten Defiziten — kann eine innovierende Wirkung haben. Auch der Lehrer, der sol-che Lernumgebungen verwendet, ist so gezwungen, sich intensiver mit den quali-tativ anderen Arbeitsformen und Arbeits-ergebnissen auseinander zu setzen.

Gefahr droht dann, wenn die ökonomischen Kriterien die Überhand gewinnen — oder un-terschwellig die Entwicklungen lenken. Dies geschieht immer dann, wenn darüber nach-gedacht wird, ob Lernsysteme Unterrichtsab-läufe nicht mehr ergänzen, sondern ersetzen sollen. Viele digitale Lernumgebungen lassen sich interpretieren als das Bemühen, inter-personale Prozesse elektronisch immer per-fekter abzubilden (z.B. die non-verbalen In-terjektionen in virtuellen Klassenzimmern). Für den Ausbau von Konstellationen des Dis-tanzlernens (z.B. in der Erwachsenenbil-dung) sind solche Entwicklungen ein Zuge-winn, für den ersetzenden Einsatz im Rah-men von Schulunterricht ganz ausdrücklich ein Verlust (Schulmeister 2002, 223, 226f).

Anforderungen an eine (internetgestützte) Lernumgebung — eine Kurzfassung Aus den vorangegangenen Ausführungen wurde deutlich, dass man auch internetge-stützte Lernumgebungen immer nur einge-bettet in das Gesamtarrangement beurteilen kann. Es gilt also, eine ausgewogene Be-rücksichtigung der Mittel in den folgenden Bereichen zu reflektieren: Zu den vielen Kriterien, die man an solche Lernumgebungen stellen kann (z.B. Blum-

Timo Leuders

32

stengel 1998, Schulmeister 2002, Kerres 2001) gehören u.a.: • Welche Möglichkeiten der Exploration bie-

tet die Lernumgebung? In welcher Form sind individuelle Lernwege möglich und welche Navigationswerkzeuge unterstüt-zen den Lernenden dabei?

• Welche Möglichkeiten der Konstruktion (ggf. der Mitgestaltung an der Lernumge-bung) hat der Lernende? Welche kogniti-ven Werkzeuge unterstützen den Lernen-den dabei?

• In welcher Form sind instruktionale Ele-mente eingebettet?

• Wie problemorientiert und wie authentisch ist die inhaltliche Gestaltung?

• Welche Möglichkeiten der Kommunikation und Kooperation werden angeboten?

• In welchem Verhältnis stehen die medien-vermittelten zu den nicht medienvermittel-ten Elementen (z.B. bei der Kooperation und Kommunikation)?

• Welches Feedback erhält der Lernende über seinen Lernerfolg?

Dabei kann nicht jede Lernumgebung alle Bedarfe zugleich befriedigen. Insbesondere die Frage nach Novize- bzw. Expertenstatus des Lernenden und nach dem Grad seiner Selbstständigkeit spielen hier eine Rolle. Dennoch sollte man sich vor der Annahme hüten, es gebe je nach Lernervoraussetzun-gen jeweils eine ideale, auf seine Bedürfnis-se zurechtgeschnittene Lernumgebung. Eher sollte die Umgebung dem Lernenden die Wahl seiner Arbeitsformen in weiten Teilen überlassen, etwa wie viel Information er sich aus dem offenen Medium (z.B. dem Internet) holt, wie sehr er Instruktionsphasen in An-spruch nimmt und wie stark er die Kommuni-

kation mit dem realen oder virtuellen Gegen-über in Anspruch nimmt. Lernstile sind eher situa-tionsspezifisch als über-dauernd, Systeme, die Entwicklungsmöglichkei-ten bieten, sind besser als solche, die sich indi-viduelle Bedürfnisopti-mierung zum Ziel set-zen. Die Qualität der Lernumgebung bemisst sich somit danach wie flexibel der Lerner damit umgehen kann und wie sehr ihn Lehrende darin unterstützen, und auch

neue Angebote und wachsende Anforderun-gen geben. Eine derart orientierte Programmatik liegt — zumindest den Intentionen nach — z.B. dem bereits genannten NRW-Projekt SelGO zu Grunde:

"Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung und Förderung des selbstständigen Lernens in der Schule ist eine Neuorientierung des Unter-richts in Richtung offener und reichhal-tiger Lernumgebungen. Konkret be-deutet dies u.a., dass die Lernenden möglichst oft mit authentischen The-men und realistischen, wenig vorstruk-turierten Aufgaben konfrontiert wer-den, dass Probleme im Unterricht aus möglichst unterschiedlichen Perspekti-ven betrachtet werden und dass ko-operative Arbeitsformen zugelassen werden. [...] Die digitalen Medien ste-hen in diesem Projekt [...] im Dienste der Förderung des selbstständigen Lernens." (LfS 2003)

Neue Technologien eigenen sich grundsätz-lich als Werkzeuge für konstruktivistisches Lernen. Wie jedes Werkzeug haben sie am-bivalenten Charakter. Mindest ebensoviel Engagement muss in ihre sinnvolle Konstruk-tion gesteckt werden wie in die Sorge um ih-ren aufgeklärten Einsatz.

Literatur Barabási, Albert-László (2002): Linked: The New

Science of Networks. Cambridge, MA: Per-seus

Blumstengel, Astrid (1998): Entwicklung hyperme-dialer Lernsysteme. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin. Online:

Abb. 17: Reale und virtuelle Aspekte einer Lernumgebung

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet — zwischen "instruktivistisch" und "konstruktivistisch"

33

dsor.uni-paderborn.de/de/forschung/ publikationen/blumstengel-diss/Gestaltungs aspekte-hypermedialer-Lernumgebungen.html

BLK (Bund-Länder-Kommissions-Projektgruppe "Innovation im Bildungswesen") (1997): Stei-gerung der Effizienz des mathematisch-natur-wissenschafltichen Unterrichts. Heft 60 der Reihe BLK-Dokumente: www.blk-bonn.de/download.htm

BMBF (2002): IT-Ausstattung der allgemein bil-denden und berufsbildenden Schulen in Deutschland. Online: www.bmbf.de/pub/ it-ausstattung_der_schulen_2004.pdf

Borneleit, Peter, Rainer Danckwerts, Hans-Wolf-gang Henn & Hans-Georg Weigand (2001): Expertise Kerncurriculum Mathematik. In: Heinz Elmar Tenorth (Hrsg.) (2001): Kerncur-riculum Oberstufe. Weinheim: Beltz, 26–53

Burbules, Nicholas Constantine & Thomas A. Cal-lister (1996): Knowledge at the Crossroads: Some Alternative Futures of Hypertext Learn-ing Environments. Educational Theory. Online: www.whitman.edu/Departments/Education/ Education.html (1.8.2003)

CTGV (Cognition and Technology Group at Van-derbilt) (1994): Multimedia environments for enhancing student learning in mathematics. In: Vosniadou et al. (1994), 89–96

Döring, Nicola (1997): Lernen mit dem Internet. In: Klimsa & Issing (1997), 305–336. S.a. www.nicoladoering.net

Fielding, Randall (1999): The Death Of The Class-room. www.designshare.com/Research/ Schank/Schank1.html (10/2003)

Filler, Andreas (2002): 3D-Computergrafik und Analytische Geometrie — Vorschläge für den Mathematikunterricht in der Sekundarstufe II. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2002. Hildesheim: Franzbecker, 163–166

Gallin, Peter & Urs Ruf (1994): Ein Unterricht mit Kernideen und Reisetagebuch. In: mathematik lehren 64, 51–57

Gallin, Peter & Urs Ruf (1998): Dialogisches Ler-nen im Mathematikunterricht. Seelze-Velber: Kallmeyer

Gerstenmeier, Jochen & Heinz Mandl (1995): Wis-senserwerb unter konstruktivistischer Perspek-tive. In: Zeitschrift für Pädagogik 41, 867–888

Glasersfeld, Ernst von (1992): Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. in: Einführung in den Konstruktivismus. Beiträ-ge von Heinz von Foerster, Ernst von Glasers-feld, Peter M. Hejl, Siegfried J. Schmidt und Paul Watzlawick. München & Zürich: Piper

Gravemejer, K. & J. Terwel (2000): Hans Freuden-thal: A Mathematician On Didactics And Cur-riculum Theory. In: Journal of Curriculum Stud-ies 32, 777–796

Haack, Johannes (2002): Interaktivität als Kenn-zeichen von Multimedia und Hypermedia. In: Issing & Klimsa (2002), 127–136

Heintz, Bettina (2000): Die Innenwelt der Mathe-matik. Wien & New York: Springer

Hentig, Hartmut von (1993): Die Schule neu den-ken. München & Wien: Hanser

Hentig, Hartmut von (2002): Der technischen Zivi-lisation gewachsen bleiben. Weinheim: Beltz

Issing, Ludwig J. & Paul Klimsa (Hrsg.) (2002): In-formation und Lernen mit Multimedia und In-ternet. Weinheim: Beltz, 3. Auflage

Klimsa, Paul (2002): Multimedia aus didaktischer und psychologische Sicht. In: Issing & Klimsa (2002), 7–24

Klimsa, Paul & Ludwig J. Issing (Hrsg.) (1997): In-formation und Lernen mit Multimedia. Wein-heim: Beltz

Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2001): eEurope 2002 benchmarking: Europas Jugend ins Digitalzeitalter. Online: europa.eu.int/information_society/eeurope/ index_de.htm (1.8.2003)

Kubicek, Herbert (1998): Möglichkeiten und Ge-fahren der "Informationsgesellschaft". Univer-sität Tübingen: WSI. Online: infosoc2.informatik.uni-bremen.de/lehre/ig/ WS99-00/studienbrief/index.html (10/2003)

Kutzler, Bernhard & Vlasta Kokol-Voljc (2001): The Next generation: Pedagogical CAS. In: Wilfried Herget, Rolf Sommer, Hans-Georg Weigand & Thomas Weth (Hrsg.): Medien verbreiten Mathematik. Hildesheim: Franzbe-cker, 173–165

Leuders, Timo (2001): Qualität im Mathematikun-terricht der Sekundarstufe I und II. Berlin: Cor-nelsen Scriptor

Leuders, Timo (2003): Mathematik als Leistung des Gehirns — Mathematikunterricht aus der Perspektive des Lernenden. In: Timo Leuders (2003): Mathematik Didaktik. Berlin: Cornelsen Scriptor, 33–47

Leuders, Timo, Burkhard Jungkamp, Stephan Hußmann & Gerd Möller (2003): PISA 2000 — eine neue Mathematik? Online: www.learn-line.de/angebote/pisa

Leuders, Timo (2004): Kreatives geometrisches Konstruieren von Szenen und Animationen mit Ray-Tracing Software (POVRAY). In: Timo Leuders (Hrsg.) (2004): Materialien für einen projektorientierten Mathematik- und Informatik-unterricht. Hildesheim: Franzbecker, 17–26

LfS (Landesinstitut für Schule, Soest) (Hrsg.) (2003): Abitur-online.nrw — Selbstständiges Lernen mit digitalen Medien in der gymnasia-len Oberstufe. Bönen: Kettler

Lindemann, Holger & Nicole Vossler (1999): Die Behinderung liegt im Auge des Betrachters. Konstruktivistisches Denken für die pädagogi-sche Praxis. Neuwied: Luchterhand

Majewski, M. (1997): Ray tracing in the classroom. In: International Journal of Mathematical Edu-cation in Science and Technology 28, 211–223

Mandl, Heinz, Hans Gruber & Alexander Renkl (1994): Knowledge Application in Complex Systems. In: Vosniadou et al. (1994), 40–47

Mandl, Heinz, Manfred Prenzel & Gabi Reinmann-Rothmeier (1995): Computerunterstützte Lern-

Timo Leuders

34

umgebungen: Planung, Gestaltung und Be-wertung. Erlangen: Publicis

Matheführerschein (2003): Ein Brückenkurs für Studierende der Fachhochschule. Erstellt in Zusammenarbeit von Universität Duisburg (Barzel), PH Karlsruhe (Hußmann), Landes-institut für Schule Soest (Leuders), DFKI Saarbrücken (Melis), FH Dortmund (Michel). FH Dortmund. Online: www.mathe-fuehrerschein.de

Maturana, Humberto R. & Francisco J. Varela (1987): Der Baum der Erkenntnis. Die biologi-schen Wurzeln menschlichen Erkennens. Ber-lin & München: Goldmann

Meixner, Johanna (1997): Konstruktivismus und die Vermittlung produktiven Wissens. Neu-wied: Luchterhand

NUA (2003): Internet Surveys. Online: www.nua.ie/surveys/how_many_online/

Reich, Kersten (1998): Thesen zur konstruktivisti-schen Didaktik. In: Pädagogik 98, Heft 7-8, 43–46

Schulmeister, Rolf (Hrsg.) (2001): Virtuelle Univer-sität — virtuelles Lernen. München: Olden-bourg

Schulmeister, Rolf (2002): Grundlagen hyperme-dialer Lernsysteme. München: Oldenbourg

Schulmeister, Rolf (2003): Lernplattformen für das virtuelle Lernen. München: Oldenbourg

Schumann, Heinz (2003): Internet und Mathema-tikunterricht. Stuttgart: Klett

Seeberg, Corinna (2002): Life Long Learning. Mo-dulare Wissensbasen für elektronische Lern-umgebungen. Berlin: Springer

Spitzer, Manfred (2000): Der Geist im Netz. Hei-delberg: Spektrum

Stigler, James W. & James Hieber (1999): The Teaching Gap. New York: Free Press

Stoll, Clifford (2001): LogOut — Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben. Frankfurt: Fischer

Tergan, Olaf-Sigmar (1997): Hypertext und Hy-permedia: Konzeptionen, Lernmöglichkeiten, Lernprobleme. In: Klimsa & Issing (1997), 122–137

Vosniadou, Stella, Eric de Corte & Heinz Mandl (Hrsg.) (1994): Technology-Based Learning Environments. Berlin & Heidelberg: Springer

Watzlawick, Paul (1982): Die Unsicherheit der Wirklichkeit. München: Piper

Weizenbaum, Joseph (1977): Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt: Suhrkamp

Werning, Rolf (1998): Konstruktivismus — eine Anregung für die Pädagogik. In: Pädagogik 98, Heft 7-8, 39–41

Wessner, Martin (2001): Software für e-learning: Kooperative Werkzeuge und Umgebungen. In: Schulmeister (2001), 195–219

Westermann, Bernd (2001): Wiskunde A. In: ma-thematik lehren 107, 56–60

Wildt, Michael (1998): Ein konstruktivistischer Blick auf den Mathematikunterricht. In: Päda-gogik 98, Heft 7-8, 48–51

Winter, Heinrich (1995): Mathematikunterricht und Allgemeinbildung. In: Mitteilungen der Gesell-schaft für Didaktik der Mathematik, 61, 37–46

35

* Dieser Text ist eine stark gekürzte Überarbeitung von (Niederdrenk-Felgner 1998) und (2001).

Vorbemerkung

"Was, Sie sind Mathematikerin? Das sieht man Ihnen gar nicht an!" Dieser Ausspruch, den, wie ich, jede Frau, die sich als Mathematikerin outet, so oder ähnlich schon gehört hat, verdeutlicht das zentrale Problem, mit dem wir es auch heute noch zu tun haben: Mathematik wird nach wie vor der männlichen Lebenswelt zugeord-net. Frauen wird die Fähigkeit für mathemati-sches Denken abgesprochen. Liegt eine sol-che Fähigkeit offensichtlich vor, werden Zweifel an der Weiblichkeit geäußert, — wie im eingangs zitierten Ausruf, der ja im übri-gen als Kompliment gemeint ist. Ich möchte dieses Problem bezogen auf das schulische Umfeld mit seinen Ursachen, Er-klärungsansätzen und Konsequenzen aus-leuchten, wobei ich speziell und zusätzlich auf den Aspekt Computer im Mathematikun-terricht eingehe und damit versuche, eine Brücke zwischen den beiden GDM-Arbeits-kreisen "Mathematikunterricht und Informa-tik" und "Frauen und Mathematik" zu schla-gen.

Problemfelder

Wenden wir uns zunächst der Mathematik zu: Wo gibt es überhaupt ein Problem? Hier haben wir es mit einem quantitativen Problem zu tun: Frauen sind nach wie vor in-nerhalb der Mathematik unterrepräsentiert, in allen Bereichen und bei steigender Qualifika-tion in wachsendem Maße. In früheren Zeiten war das nicht weiter verwunderlich, hatten doch Mädchen und Frauen kaum Zugang zu mathematischer Bildung. Heute jedoch ha-

ben Frauen die gleichen Zugangsmöglichkei-ten zur Mathematik wie Männer, jedenfalls formal. Und mehr noch: Mathematik ist Pflichtfach in der Primarstufe und in der Se-kundarstufe I, somit haben wir hier eine ga-rantierte, gleiche Beteiligung von Mädchen und Jungen. Differenzierungen können sich erst zeigen, wenn Wahlmöglichkeiten beste-hen, also frühestens im Kurssystem der Oberstufe. Tatsächlich sehen wir dort bereits geschlechtsspezifisches Wahlverhalten: Nach wie vor haben wir eine geringere Betei-ligung der Mädchen an den Leistungskursen in Mathematik. Gravierender ist jedoch, dass sich diese Ten-denz der Mädchen, trotz formal gleicher Chancen die Bildungsangebote in Mathema-tik weniger zu nutzen, als Jungen dies tun, im Berufswahlverhalten fortsetzt. Sowohl bei der Wahl der Ausbildungsberufe, als auch bei der Wahl der Studienfächer lassen sich immer noch sehr deutliche, geschlechtstypi-sche Unterschiede feststellen, die unter an-derem auch mit der Vermeidungsstrategie der Mädchen gegenüber Mathematik, den harten Naturwissenschaften und Technik zu-sammenhängen (vgl. Abb. 1 und 2). Neben diesem quantitativen Problem haben die neueren Leistungs-Studien auch ein qua-litatives Problem aufgezeigt: Die Ergebnisse der IGLU-Studie zeigen schon zum Ende der vierten Jahrgangsstufe Kompetenzunter-schiede zu Gunsten der Jungen in Mathema-tik, zu Gunsten der Mädchen im Lesen (Bos u.a. 2003, 281ff). Die Ergebnisse von TIMSS haben sowohl für die 8. Jahrgangsstufe, als auch für die Abschlussklassen gezeigt, dass die Jungen in Mathematik im Durchschnitt deutlich besser abschneiden als die Mäd-chen (Baumert u.a. 1998). Wenden wir uns jetzt speziell dem Computer zu. Auf welche Probleme stoßen wir hier?

Mädchen, Jungen, Mathematik und Computer *

Cornelia Niederdrenk-Felgner, Nürtingen

Seit Jahren wird eine differenzierte Diskussion zum Thema "Mädchen und Mathematik"geführt und eine ebenso weit — wenn nicht gar weiter — ausdifferenzierte Diskussion zum Thema "Mädchen und Computer". In diesem Beitrag werden diese beiden Diskussi-onen mit ihren Parallelitäten und Abweichungen skizziert. Durch die Analyse der Hinter-gründe sollen darüber hinaus Perspektiven dafür aufgezeigt werden, wie ein Mathema-tikunterricht unter Einbeziehung des Computers gestaltet werden kann, der Mädchen und Jungen in gleicher Weise anspricht und ihnen beiden gerecht wird.

Cornelia Niederdrenk-Felgner

36

Bei der Nutzung von Computern scheint es zunächst kein quantitatives Problem zu ge-ben: Computer sind in allen Lebensbereichen inzwischen präsent, werden von Frauen und Männern in gleicher Weise genutzt, sowohl im beruflichen, als auch zunehmend im priva-ten Bereich. Schaut man jedoch den engeren Bereich der Informatik an, so müssen wir hier eine ähnliche Unterrepräsentanz von Frauen feststellen, wie wir sie in der Mathematik vor-finden. Der Frauenanteil bei den Informatik-Studierenden ist nach einem Stand von im-merhin 20% in den 70er Jahren auf ca. 10% abgefallen. Es ist nicht ganz einfach, an ent-sprechende Zahlen für das Wahl-Fach Infor-matik an den Schulen zu kommen. Aus einer Erhebung im Großraum Stuttgart in den Jah-ren 1990 bis 1992 ergab sich, dass 55% der Jungen aber nur 18% der Mädchen in der Klassenstufe 12 das Fach Informatik wähl-ten. Ähnliche Tendenzen sind aus anderen Bundesländern bekannt. Von diesem quantitativen Unterschied möch-te ich zu einen qualitativen Unterschied im Verhalten von Mädchen und Jungen gegen-über dem Computer übergehen. Mädchen haben heute zwar gleiche Zu-gangsmöglichkeiten zum Computer und nut-zen ihn weitgehend mit der gleichen Selbst-verständlichkeit, wie Jungen dies tun. Sie scheinen jedoch weniger bereit zu sein, sich mit dem Computer an sich zu beschäftigen und nutzen ihn mehr als Werkzeug.

Die folgenden Ergebnisse der zahlreichen Untersuchungen vor allem aus den 1990er Jahren — damals zum Thema "Mädchen und Computer" — haben auch heute noch Gültig-keit.

Engagement und Interesse von Mädchen und Jungen sind im Fall des Computers sehr unterschiedlich ausgeprägt.

Jungen verbringen einen wesentlich grö-ßeren Teil ihrer Freizeit am Computer (bis zu 40 Stunden/Woche, also eine volle Ar-beitswoche!).

Im Vorwissen gibt es teilweise sehr große Unterschiede.

Die Aufteilung in (vermeintliche) Experten und Unwissende verläuft nahezu nach den Geschlechtern: männliche Hacker, weibliche Laien.

Die Problemfelder lassen sich folgenderma-ßen zusammenfassen: Sowohl gegenüber Mathematik, als auch in der Auseinandersetzung mit dem Computer können wir eine distanziertere Haltung der Frauen und Mädchen beobachten, die sich in einer entsprechenden Unterrepräsentanz niederschlägt. Qualitativ sehen wir Leistungsunterschiede in Mathematik und Unterschiede im Ausmaß des Interesses am Computer. Ich muss auf die Bedeutung mathematischer und informatischer Bildung als Schlüsselqua-

StudienanfängerInnen 2001/02

0 25 50 75 100

Sprach-, Kulturwis., Sport

Kunst, Kunstwis.

Medizin

Agrar-, Forst-, Ernährungswis.

Recht-, Wirtschafts-&Sozialwis.

Mathem., Naturwis.

Ingenieurwis.

insgesamt

Zusammensetzung einzelner Fachrichtungen

FrauenMänner

Abb. 1: Verteilung der Studienanfängerinnen und -anfänger an deutschen Hochschulen 2001/2002. Daten entnommen aus: GEW Gender-Report 2003

Mädchen, Jungen, Mathematik und Computer

37

lifikation für fast alle Berufszweige hier nicht weiter eingehen. Auch nicht auf die Bedeu-tung insbesondere der Mathematiknote als Selektionsmittel in der schulischen Karriere. Vor diesem Hintergrund wird jedoch die Fra-ge brisant, warum Mädchen und junge Frau-en einerseits scheinbar aus freien Stücken ihre Chancen verpassen, indem sie sich schon frühzeitig in der Schule gegen eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Fach Mathematik bzw. Informatik entschei-den. Andererseits gibt zu denken, dass die geschlechtstypischen Unterschiede in ande-ren Ländern wesentlich geringer sind bzw. zu Gunsten der Mädchen ausfallen. So stellt sich also die Frage: Könnte es sein, dass der Unterricht die Mädchen weniger er-reicht? Bevor diese Frage beantwortet wer-den kann, muss man sich mit dem Bild aus-einandersetzen, das in der Öffentlichkeit von Mathematik und im etwas weiteren Sinne von Technik herrscht.

Bilder in der Öffentlichkeit

Einen ersten Eindruck vom herrschenden Mathematik-Bild erhalte ich z. B., wenn ich ir-gendjemandem erzählen, dass ich Mathema-tikerin bin. Alle Mathematikerinnen und Ma-thematiker kennen die mit großer Sicherheit abwehrende Reaktion, die dann noch meist mit Kommentaren zur Schulnote angereichert wird. Mathematik wird in ihrer Abstraktheit wahr-genommen als realitätsfern, wenig kommuni-kativ und manchmal auch mysteriös. Zwar finden wir einen kleinen Kreis von Menschen, die für Mathematik begeistert sind und mit leuchtenden Augen darüber reden. Wir fin-den auf der anderen Seite jedoch eine viel größere Gruppe, die der Mathematik skep-tisch bis ablehnend gegenübersteht. Kaum ein anderes Wissensgebiet ruft solch gegen-sätzliche Reaktionen hervor. Welche Vorstellungen und Erfahrungen lie-gen diesen merkwürdigen Reaktionen zu-grunde? Die Übertragbarkeit und Relevanz für das tägliche Leben sind im Falle der Ma-thematik — sieht man einmal von reinen Re-chentechniken ab — nur schwer nachzuvoll-ziehen und reduzieren sich selbst für diejeni-gen, die Mathematik im späteren Berufsleben benötigen, oftmals auf die Anwendung be-stimmter, rezeptartiger Verfahren. Im Gegen-satz zu dieser stark instrumentalisierten und damit in gewissem Sinne leichten Anwen-dung gilt das Fach selber als schwer und an-spruchsvoll. Mathematik gilt als Prototyp ei-ner abstrakten, objektiven und unpersönli-chen Wissenschaft, deren Gedankenpfaden nur noch wenige Experten folgen können und deren Inhalte und Methoden den Laien kaum vermittelt werden (können). Die Haltung der meisten Menschen gegen-über Mathematik lässt sich beschreiben als eine Mischung aus Respekt und Hochach-tung gegenüber dem Nutzen der Mathematik, der jedoch nicht genauer gefasst werden kann, und einer ablehnenden bis ängstlichen Einstellung, die vielfach auf persönliche Misserfolgserlebnisse im Verlauf der Schul-zeit zurückgeführt werden kann. Personen, die Mathematik betreiben, wird mit einer entsprechenden Mischung aus Vorein-stellungen begegnet. Sie müssen nach An-sicht der Öffentlichkeit zunächst einmal von besonderer Intelligenz sein. Aus Erfahrungen mit solchen Menschen oder vielleicht auch als Kompensation für das Zugeständnis gro-ßer Intelligenz wird Mathematikern aber auch eine gewisse Eigenartigkeit und Schrulligkeit

Frauen

Sprach-, Kulturwis., Sport31%

Recht-, Wirtschafts- &Sozialwis.

35%

them., Naturwis.15%

andere12%

Ingenieurwis.7%

Männer

Mathem., Naturwis.

24%

Ingenieurwis.27%

andere7%

Sprach-, Kulturwis.,

Sport12%

Recht-, Wirtschafts- &Sozialwis.

30%

Abb. 2a, b: Aufteilung der Studienanfängerinnen und -anfänger an deutschen Hochschulen 2001/2002 auf ausgewählte Fächergruppen. Daten ent-nommen aus: GEW Gender-Report 2003

Cornelia Niederdrenk-Felgner

38

zugeschrieben. Sie gelten als ernst, ein we-nig weltfremd, nicht sehr gesellig, tragen zwei verschiedene Schuhe und treten "in der Öffentlichkeit meist mit einem verlorenen Schirm in jeder Hand auf" (Pólya 1980, 94). Natürlich entsprechen nicht alle Mathemati-ker diesem Klischee. Es gibt aber genügend Wissenschaftler, die dieses Image — be-wusst oder unbewusst — pflegen und damit durchaus kokettieren. Anekdoten über skurrile Mathematikprofes-soren gibt es zuhauf und werden gerade von Mathematikern mit einiger Lust weitergetra-gen. Die zumeist männlichen Handlungsträ-ger solcher Geschichten werden vielleicht belächelt; sie werden aber trotzdem geachtet und — als Fachleute — respektiert. Dieser klischeebehaftete Mathematiker ist männlich: Mit dem gängigen Frauenbild ist der Typ des zerstreuten Professors nicht vereinbar. Einer Frau mit ähnlich schrulligen Merkmalen würde nicht mehr mit einem wohlwollenden Lächeln begegnet; — sie wür-de gnadenlos lächerlich gemacht. Personen-merkmale, die mit Mathematik verbunden werden, sind auch für Männer nicht unbe-dingt positiv. Eine Frau mit solchen Merkma-len ist nicht nur eine Witzfigur, sie wird in ih-rer Rolle als Frau unmöglich gemacht. Positive Leitbilder für Frauen, die Mathematik betreiben, gibt es wenige. Häufiger treffen wir auf einen negativ belegten Zusammenhang zwischen Frauen und Mathematik. Wie sieht es mit dem Bild von Technik in un-serer Gesellschaft aus? Technik ist im Prinzip ein eher positiv besetz-ter Bereich, der jedoch ganz stark der männ-lichen Lebenswelt zugeordnet wird. Umge-kehrt weisen die tradierten Rollenbilder eine starke Kopplung von Technik und Männ-lichkeit sowie eine weitgehende Unverein-barkeit von Weiblichkeit und Technik auf. Wir treffen hier auf die gleichen Vorurteile, wie bei der Mathematik: Nicht-Umgehen-Können und Desinteresse werden als Defizit, Kompetenz und Interesse für Technik dagegen werden als Abweichung vom erwarteten Rollenverhalten angesehen. In beiden Fällen wird das Verhältnis der Frau zur Technik als Abweichung von einer — durch Männer festgesetzten — Norm bewer-tet. Mit der männlichen Lebenswelt und den zu-gehörigen Rollenvorstellungen wird Technik dagegen eng verbunden. Männern wird weit-gehende Kompetenz zugeschrieben, techni-sche Berufe passen zum Rollenbild. Männer

werden aber nicht auf eine Ausrichtung auf Technik festgelegt. Auch Männer ohne Tech-nikinteresse werden akzeptiert, der Mann mit den beiden linken Händen z.B. Ihnen wird das ganze Spektrum zugestanden — von der Faszination bis zur Ablehnung — und ihr Verhalten wird respektiert. Anders als Mathematik ist Technik — wie ja auch der Computer — in unserem täglichen Leben allgegenwärtig. Der wesentliche Un-terschied zwischen dem Verhältnis von Frau-en bzw. Männern zur Technik lässt sich fol-gendermaßen fassen: Männer werden als Entwickler von Technik gesehen. Frauen werden als Bedienerinnen von Tech-nik gesehen. Technik beginnt erst, wenn man den Schrau-benzieher in die Hand nimmt. Das Umgehen mit Technik — was Frauen ja durchaus tun und zwar gut und kompetent — wird nicht als Technikkompetenz anerkannt. Und deshalb dürfen technischen Geräte aus dem Lebens-bereich der Frauen auch nicht nach Technik aussehen, im Gegensatz zu entsprechenden Geräten für Männer. Zusammenfassung der Bilder von Mathema-tik und Technik in der Öffentlichkeit:

Mathematik gilt als wichtig, hat aber scheinbar wenig mit dem Alltag zu tun,

gilt als schwierig und mysteriös, ist für viele Menschen negativ besetzt, wird der männlichen Lebenswelt zugeord-net.

Technik gilt als wichtig und ist überall präsent, ist für viele Menschen eher positiv be-setzt,

wird von Männern entwickelt und von Frauen bedient.

Computer sind nicht mit Technik gleichzuset-zen, sie werden aber natürlich auch als tech-nisches Gerät und zur Technik gehörig wahr-genommen. Und der technische Aspekt des Computers wird dann auch der männlichen Lebenswelt zugeordnet. Soviel zu den vorherrschenden Bildern. Sie dienen als Folie, vor der die folgenden Erklä-rungsansätze zu sehen sind.

Mädchen, Jungen, Mathematik und Computer

39

Erklärungsansätze

Unterschiede in der Einstellung gegenüber Mathematik spiegeln sich einerseits in der oben erwähnten Unterrepräsentanz von Frauen innerhalb der Mathematik wider und andererseits in der gängigen Zuordnung von Mathematik zur männlichen Lebenswelt. Die-se beiden Aspekte sind nicht unabhängig voneinander, sondern verstärken sich in ei-nem Teufelskreis gegenseitig: Die Unterre-präsentanz der Frauen trägt mit dazu bei, dass Mathematik als "männlich" angesehen wird, diese Zuordnung hält wiederum Frauen davon ab, sich intensiver damit auseinander zu setzen. Eine Reihe von Untersuchungen ist der Fra-ge nachgegangen, wie dieser Teufelskreis zu durchbrechen ist. Das Forschungsinteresse umfasste den gesamte Bereich Naturwissen-schaft, Mathematik und Technik. Als Beispiel für eine sehr frühe Arbeit zu diesem Thema sei die Untersuchung von Ilse Brehmer, Hil-degard Küllchen & Lisa Sommer (1989) ge-nannt. Sie untersuchten die Gründe für das geschlechtstypische Verhalten bei der Fä-cherwahl für die Leistungskurse in der Ober-stufe und fragten nach den Bedingungen, un-ter denen "typische" bzw. "untypische" Wah-len getroffen werden. In ihren Interviews stie-ßen sie auf die folgenden geschlechtstypi-schen Unterschiede, die Rückschlüsse ins-besondere auf unterschiedliche Einstellun-gen gegenüber dem Fach Mathematik zulas-sen: Mädchen, die sich für einen Leistungskurs Mathematik entschieden, und insbesondere solche, die sich besonders für Mathematik und Naturwissenschaften interessierten, ga-ben deutlich seltener Studien- oder Berufs-wünsche als Hauptmotiv an als Jungen. Jun-gen wiesen dagegen ganz selbstverständlich auf die Nützlichkeit der gewählten Fächer für bestimmte Berufe hin. Nach Ansicht der For-scherinnen deutet diese Tendenz auf einen eklatanten Mangel an Vorbildern und antizi-pierten Berufsmöglichkeiten für Frauen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereichen hin. Dieser Eindruck wird in der schulischen Umgebung verstärkt: Ein Blick auf die Lehrerschaft zeigt, dass der Frauen-anteil für das Fach Mathematik — immer noch — gering ist. Nach Angaben des Statis-tischen Landesamtes Baden-Württemberg (Stand September 1991) betrug der Anteil der männlichen Lehrkräfte für Mathematik an Gymnasien insgesamt 80% (74% Vollzeit, 6% Teilzeit); der Anteil der Frauen betrug entsprechend 20% (7% Vollzeit, 13% Teil-

zeit). Diese Zahlen sind in ihrer krassen Aus-prägung sicherlich nicht repräsentativ für die gesamte Bundesrepublik, tendenziell sind sie jedoch verallgemeinerbar. Für die Gruppen mit untypischem Wahlver-halten war weiterhin bemerkenswert, dass den Lehrkräften offensichtlich eine wichtige Rolle zukam. Diese Möglichkeit, durch Be-ratung und Ermunterung Einfluss zu nehmen, sollte demnach nicht unterschätzt werden. Für mathematisch-naturwissenschaftlich ori-entierte Mädchen spielte außerhalb der Schule die Unterstützung vor allem des Va-ters eine wesentliche Rolle bei einer untypi-schen Leistungskurswahl. Insgesamt stellte sich schulischer Erfolg als zentrales Motiv für die Leistungskurswahl heraus. Dieser wurde allerdings von Jungen und Mädchen in Bezug auf das eigene Lei-stungsvermögen unterschiedlich interpretiert. Lernerfolge führten bei Jungen eher zur Aus-bildung eines stabilen und positiven Selbst-konzepts als bei Mädchen. Mädchen verfüg-ten trotz der eigenen hohen Leistungsanfor-derungen über kein ungebrochenes Selbst-bewusstsein und Selbstvertrauen, beurteilten sich selbst kritischer und neigten eher dazu, die eigenen Fähigkeiten zu unterschätzen. Jungen dagegen stellten sich häufig eher zu positiv dar. Diese Befunde decken sich mit den Ergebnissen von Langzeitstudien zum Erwerb von Selbstvertrauen in der schuli-schen Sozialisation (vgl. Horstkemper 1987). Zur Erklärung dieser Unterschiede werden Ergebnisse der Attributionsforschung heran-gezogen. Hier hat sich gezeigt, dass Mäd-chen bezüglich ihrer Leistungen in Mathema-tik und Naturwissenschaften signifikant häufi-ger als Jungen Erfolge auf Glück zurück-führen und Misserfolge durch mangelnde Be-gabung erklären. Diese ungünstige Ursachenzuschreibung — Erfolg wird durch eine äußere und instabile Ursache, Misserfolg durch eine persönliche und unveränderbare, stabile Ursache erklärt — führt zu Vermeidungsstrategien, dadurch zu weiteren Misserfolgen, und erweist sich damit über längere Sicht als selbsterfüllende Prophezeiung (vgl. dazu Beerman, Heller & Menacher 1992). Wir können festhalten, dass Mädchen im all-gemeinen ein geringeres Selbstvertrauen in ihre mathematischen Fähigkeiten und Leis-tungen zeigen. Dies wirkt sich wiederum ne-gativ auf die Motivation aus, sich eingehen-der damit auseinanderzusetzen. Diese Hal-tung der Mädchen fügt sich schließlich stim-mig in das vorherrschende Bild ein: Ihnen

Cornelia Niederdrenk-Felgner

40

wird von vornherein weniger zugetraut, ihr "Versagen" wird nicht nur toleriert, sondern als "natürlich" gegeben hingenommen. Für die Jugendlichen kommt der Auseinan-dersetzung mit den Rollenbildern in der Zeit der Pubertät besondere Bedeutung zu. Die Attribute von Weiblichkeit und Männlichkeit werden von ihnen verinnerlicht und sie wol-len den Vorstellungen in der Regel möglichst gut entsprechen. Für Mädchen heißt das in erster Linie: attrak-tiv für das andere Geschlecht sein; für Jun-gen Stärke und Überlegenheit zeigen. Bettina Hannover (1992) hat analysiert, in welcher Weise sich die Auseinandersetzung mit den Rollenbildern auf die Interessenent-wicklung bei Jugendlichen in der Pubertät auswirkt. Dazu untersuchte sie vergleichend in koedukativen Klassen und in reinen Mäd-chenklassen die Bedingungen, unter denen Mädchen sich für als "unweiblich" geltende Fächer entschieden. Als zentralen Begriff verwendet sie dabei das spontane Selbst-konzept einer Person. Damit wird beschrie-ben, welche Aspekte der eigenen Person in einer gegebenen Situation abweichend, neu oder auf andere Weise besonders hervorge-hoben sind. Ihre Ergebnisse sprechen dafür, dass Mädchen, die im Unterricht das sponta-ne Selbstkonzepts der eigenen Geschlechts-zugehörigkeit aktivieren, eher weniger Inter-esse für typische "Jungenfächer" entwickeln. Da dieses Selbstkonzept durch die Anwesen-heit männlicher Klassenkameraden stärker aktiviert wird als in reinen Mädchenklassen, schlägt sie beispielsweise in den mathema-tisch-naturwissenschaftlichen Fächern die Trennung in geschlechtshomogene Gruppen als eine Möglichkeit vor, diesen auf die Mäd-chen sich negativ auswirkenden Einflussfak-tor auszuschalten. Nicht zuletzt als Reaktion auf diese For-schungsergebnisse ist in den letzten Jahren vielfach mit der zeitweisen Aufhebung der Koedukation experimentiert worden. Speziell für das Fach Mathematik liegt eine empirische Untersuchung zur Auswirkung ei-nes zeitweise monoedukativ durchgeführten Unterrichts vor (Nyssen, Ueter & Strunz 1996). Im Rahmen des BLK-Modellversuchs "Zur Förderung von Selbstfindungs- und Be-rufsfindungsprozessen von Mädchen in der Sekundarstufe I" wurde an einer der beteilig-ten Gesamtschulen über die Klassenstufen 7 bis 9 Mathematik monoedukativ unterrichtet. Die Auswertung der Unterrichtsbeobachtun-gen sowie der Vergleich der monoedukativen und koedukativen Unterrichtssituationen be-

stätigten die oben genannten Forschungser-gebnisse. Die Mädchen in der monoedukativ unterrichteten 9. Jahrgangsstufe entwickelten großes inhaltliches Interesse am Fach und arbeiteten sehr konstruktiv und mit Freude mit. Hinzu kommt, dass sie sich eine sehr ru-hige und konzentrierte Arbeitsatmosphäre schafften, die sich deutlich von der eher kon-kurrenz-betonten Atmosphäre in der Jungen-gruppe unterschied. Noch wichtiger erschei-nen mir die Ergebnisse aus der Beobachtung der wieder zusammengeführten 10. Jahr-gangsstufe. Nach einer anfänglichen Zurück-haltung der Mädchen war im weiteren Verlauf feststellbar, dass die Mädchen ihr Selbstbe-wusstsein in die eigenen Kompetenzen be-hielten und sich mit ihrem Sozialverhalten im Unterricht nicht nur gegenüber den Jungen durchsetzten, sondern sogar die gesamte Unterrichtssituation positiv beeinflussten. Ähnliche positive Effekte werden beim Ein-satz des Computers — z.B. im Rahmen des ITG-Unterrichts — mit zeitweise getrennten Gruppen berichtet. Allerdings muss davor ge-warnt werden, in der rein organisatorischen Maßnahme des getrennten Unterrichts die Lösung eines pädagogischen Problems zu sehen. Ich habe unterschiedliche Einflussfaktoren aufgezeigt, die sich auf die Mädchen und ihre Einstellung zur Mathematik eher negativ aus-wirken. Eine genaue Wirkungsanalyse, die auch Rückschlüsse auf die Leistungsunter-schiede zulässt, liegt mit der Promotion von Carmen Keller vor, die ich abschließend zu diesem Teil in Kürze skizzieren möchte. Carmen Keller befragte in der Deutsch-schweiz parallel zu TIMSS ca. 6600 Schüle-rinnen und Schüler der Klassenstufen 6 bis 8 über ihr Interesse an Mathematik, das Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähig-keit, ihre Beteiligung am Unterricht sowie die Geschlechter-Stereotypisierung von Schulfä-chern (Keller 1997 & 1998). Dieser letzte Fragenkomplex wurde auch den Lehrkräften vorgelegt. Die Ergebnisse der ersten Aus-wertung dieser Fragebogen bestätigen im Wesentlichen allgemein zu beobachtenden Tendenzen: Mädchen zeigen ein signifikant geringeres Interesse an Mathematik als Jun-gen, und ihr Selbstvertrauen in Mathematik ist deutlich geringer als das der Jungen. Mädchen wie Jungen betrachten — mit zu-nehmender Klassenstufe zunehmend — Ma-thematik als männliche Domäne. Die Lehr-personen ordnen Mathematik sogar in noch stärkerem Ausmaß der männlichen Lebens-welt zu.

Mädchen, Jungen, Mathematik und Computer

41

Carmen Keller hebt hervor, dass diese Ste-reotypisierung der Mathematik für Mädchen und Jungen nicht das Gleiche bedeutet. Jun-gen ordnen Mathematik dem eigenen, Mäd-chen dagegen dem anderen Geschlecht zu. Die Identifikation mit Mathematik ist für Mäd-chen — vor allem mit einsetzender Pubertät — damit viel schwieriger als für Jungen. Aus lernpsychologischer Perspektive können dar-aus wiederum negative Auswirkungen auf die Lern- und Leistungsvoraussetzungen resul-tieren. Diese These überprüft Keller, indem sie die Wirkungszusammenhänge der ein-zeln erhobenen Merkmale einer Mehrebe-nen-Analyse unterzieht. In dem hier betrachteten Zusammenhang sind zwei Ergebnisse besonders hervorzuhe-ben:

"Die Analysen haben gezeigt, dass das Selbstvertrauen in die eigene Mathematik-leistungsfähigkeit die Geschlechterdiffe-renzen in den Mathematikleistungen voll-ständig erklärt. Die Mädchen erreichen schlechtere Leistungen, weil sie in der Mathematik ein schlechteres Selbstver-trauen haben (...) Außerdem hat die Ste-reotypisierung von Mathematik als männ-liche Domäne der Mädchen und Knaben einen signifikanten Effekt auf ihre Leistun-gen: Mädchen, die Mathematik weniger als männliche Domäne betrachten und Knaben, die Mathematik mehr als männli-che Domäne betrachten, haben bessere Leistungen. (...) In der vorliegenden Arbeit wurde nicht nur untersucht, wie die Unterschiede in der Mathematikleistung erklärt werden kön-nen, sondern auch, weshalb die Mädchen ein schlechteres Selbstvertrauen, ein ge-ringeres Interesse und eine geringere Zu-schreibung der Mathematik zum eigenen Geschlecht haben als die Knaben. Die Stereotypisierung von Mathematik als männliche Domäne erwies sich als wich-tigster Grund für das schlechtere Selbst-vertrauen und das geringere Interesse der Mädchen. (...) Darüber hinaus ist das Selbstvertrauen der Mädchen auch des-halb schlechter, weil sie weniger Erwar-tungen von den Lehrpersonen wahrneh-men und weil die Lehrpersonen Mathema-tik als männliche Domäne stereotypisie-ren und deshalb ebenfalls eher den Kna-ben zuschreiben. (...) Dass die Mädchen Mathematik dem eige-nen Geschlecht viel weniger zuschreiben als die Knaben, ist unter anderem auch durch die Lehrpersonen bedingt: Mäd-

chen nehmen von der Lehrperson weni-ger Erwartungen wahr, und sie überneh-men die Stereotypisierung der Lehrper-son, Mathematik sei eine männliche Do-mäne." (Keller 1998, 146ff)

Mit dieser Arbeit wird einerseits eine fundier-te Analyse der verschiedenen Einflussfakto-ren und ihrer Wechselwirkung vorgelegt. An-dererseits zeigen die Ergebnisse aber auch auf, wo eines der Kernprobleme liegt: im ste-reotypen Bild von Mathematik als der männ-lichen Lebenswelt zugehöriger Bereich. Aus den Untersuchungen zum Einsatz des Computers im Unterricht kann man an dieser Stelle ergänzen, dass diese Tendenz durch den Computer noch zusätzlich verstärkt wer-den kann, wenn dieser in erster Linie als technisches Gerät und mit den entsprechen-den Stereotypen behaftet wahrgenommen wird (vgl. hierzu insbesondere Sinhart-Pallin 1990, Schründer-Lenzen 1995).

Blick in den Mathematik- unterricht

Sowohl die Methoden und Interaktionen, als auch die Inhalte des Unterrichts aller Fächer sind im Rahmen der Koedukationsdebatte kritisiert worden. Für den Mathematikunterricht möchte ich nur einige Kritikpunkte nennen: Kennzeichnend für den Mathematikunterricht in den Sekundarstufen ist das Unterrichtsge-spräch: Geleitet durch Fragen der Lehrper-son werden die Inhalte gemeinsam in der Klasse erarbeitet. Diese Unterrichtsform führt teilweise zu einer hoch entwickelten Kommu-nikationskultur und zu niveauvollen Gesprä-chen zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schülern. Andererseits birgt sie jedoch auch die Gefahr, dass aus dem Gespräch ei-ne Art "Frage-und-Antwort-Spiel" wird, das nach bestimmten, allen Beteiligten bekann-ten Regeln verläuft und stark auf die Lehrper-son zentriert ist. Die gestellten Fragen sind keine echten Fragen, da die fragende Person die Antworten bereits weiß, ganz bestimmte Antworten erwartet und in ihren Rückmel-dungen die Antworten häufig jeweils als falsch oder richtig bewertet. Die Schülerinnen und Schüler spielen dieses Spiel mit und wissen auch, dass es sich um eine Art Spiel und nicht um ein echtes Gespräch handelt. Natürlich ist ein solcher Unterrichtsstil auch in anderen Fächern verbreitet. Für die Ma-thematik erscheint er jedoch vermutlich des-

Cornelia Niederdrenk-Felgner

42

halb besonders geeignet, als hier im Rahmen des Gespräch ähnlich wie in einem mathe-matischen Beweis schrittweise Folgerungs-ketten aufgebaut werden. Persönliche Ein-schätzungen und narrative Elemente haben bei einem solchen Vorgehen wenig Raum. Die starr erscheinenden Unterrichtsformen in Mathematik untermauern und festigen noch das Bild von einer starren Wissenschaft, in der eigentlich schon Alles bekannt ist, für die stures Befolgen gewisser Strategien zum Er-folg führt, in der die Lehrperson immer alles (besser) weiß und immer unerreichbar über-legen sein wird. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Reaktion auf den üblichen kleinschrittigen Unterrichtsstil hat Helga Jungwirth (1990) in einer Fallstudie untersucht. Ihre Beobachtun-gen deuten darauf hin, dass Jungen sich auf diese Art Unterricht bereitwilliger einlassen und die dafür angemessenen Handlungswei-sen besser beherrschen als Mädchen. Damit entsprechen die Jungen auch besser den Er-wartungen der Lehrpersonen, die ja ebenfalls auf diesen Unterrichtsstil eingestellt sind. Die beobachtbaren Unterschiede in den Ver-haltensweisen von Mädchen und Jungen ins-besondere beim Einsatz des Computers er-klärt Jungwirth schließlich mit den unter-schiedlichen "sozialen Welten", in denen Mädchen und Jungen sich jeweils bewegen — und wohl fühlen:

"Die zentrale Idee der Erklärung ist, dass Mädchen und Buben über jeweils spezifi-sche Gewohnheiten, Gesprächssituatio-nen zu gestalten, verfügen. Das heißt, sie sind gewohnt, bestimmte sprachliche Handlungen zu setzen und — damit in Zu-sammenhang — Gesprächsthemen in ei-ner bestimmten Art und Weise zu behan-deln. Mit diesen Gewohnheiten gehen sie auch an das Geschehen im Computer-unterricht heran. (...) Zusammenfassend lässt sich sagen: Es wird von einer sozia-len Welt der Mädchen und einer sozialen Welt der Buben ausgegangen, in denen die beiden Geschlechter unterschiedliche Handlungsweisen, unterschiedliche Vor-stellungen von einer "normalen" Behand-lung eines Themas und damit auch von einem "normalen" Interaktionsverlauf im Unterricht erwerben. (...) Die soziale Welt der Mädchen lässt sich mit den Begriffen "Nähe" und "Intimität" charakterisieren. In dieser Welt lernen die Mädchen vor allem, enge, auf Gleichheit basierende Beziehungen aufzubauen bzw. aufrecht zu erhalten. Dazu ist es er-

forderlich, sich intensiv mit den Gedanken anderer auseinanderzusetzen, zu koope-rieren und gemeinsam die gemeinte Be-deutung von Äußerungen zu erschließen. Ebenso ist es aber für die Mädchen nötig, sich selbst genau zu überlegen, was sie ihrem Gegenüber sagen und was nicht. Erforderlich ist also auch die Entwicklung der Fähigkeit, Probleme allein für sich selbst zu durchdenken. (...) In der sozialen Welt der Buben geht es vornehmlich um Selbstdarstellung. (...) Buben lernen also, sich selbst gut darzu-stellen und dabei neuen Anforderungen schnell zu begegnen. Ebenso lernen sie, spontan Einwürfe zu machen und Rand-bemerkungen anzubringen, mit denen sie die Aufmerksamkeit anderer auf sich zie-hen können. (...) Dies bedeutet, dass sich Eindenken in ein Problem, es von allen Seiten zu betrachten, um es möglichst vollständig zu verstehen, nicht zu dem ge-hört, was in der Bubenkultur in besonde-rem Maß gelernt wird." (Jungwirth 1994, 45f)

Bestätigung findet der Ansatz von Jungwirth durch eine neuere Untersuchung, die Sylvia Jahnke-Klein (2001) im Rahmen ihrer Pro-motion durchgeführt hat. Sie hat genauer analysiert, unter welchen Bedingungen sich jeweils Mädchen und Jungen im Mathema-tikunterricht wohl fühlen, was sie für einen guten Mathematikunterricht halten. Bei den Mädchen konnte sie ein deutlich größeres Si-cherheitsbedürfnis feststellen. Sie wollten langsam vorgehen, viele Übungen zum glei-chen Thema machen, auch wenn sie die Techniken bereits beherrschten. Den Jungen fiel dagegen ein längeres Verbleiben am sel-ben Thema schwerer. Sie strebten stärker nach Abwechslung, unabhängig davon, ob das Thema bereits verstanden und be-herrscht war oder nicht. Diese Tendenzen sind natürlich nicht unproblematisch, und es kann nicht darum gehen, den — auch wieder stereotypen — Wünschen einfach nachzu-kommen. Wichtig erscheint hier vielmehr, diese Wünsche in ihrer Unterschiedlichkeit überhaupt erst einmal wahrzunehmen, um dann damit reflektiert umgehen zu können. Unabhängig davon, dass sich nach den vor-liegenden Untersuchungen insbesondere Mädchen von einem solchen Unterrichtsstil weniger angesprochen fühlen als Jungen, spiegelt sich in diesem kleinschrittigen und engen Kommunikationsmuster auch eine re-duzierte Sichtweise auf die "objektiven" In-halte wider, die für das Lernen von Mathema-tik und das Entwickeln eines Verständnisses

Mädchen, Jungen, Mathematik und Computer

43

für dieses Fach keineswegs förderlich ist. Für Diskussionen mit Meinungsbildung und Aus-handeln von Gesprächsergebnissen scheint auf den ersten Blick im Mathematikunterricht wenig Bedarf zu bestehen. Die Argumenta-tion läuft meistens auf ein Richtig-oder-Falsch hinaus; persönliche Einschätzungen werden eher selten einbezogen. Kommen wir zu den Unterrichtsinhalten. Die oben beschriebene Schieflage des Bildes von Mathematik hat natürlich viel damit zu tun, wie mathematische Inhalte in der Schule vermittelt werden. Ich möchte einige Kritik-punkte herausgreifen, die alle seit Jahren — und nicht erst seit TIMSS — in der Fach-didaktik immer wieder genannt und diskutiert werden: • Die Inhalte stehen oftmals unverbunden

nebeneinander. • Vieles wird auf Vorrat gelernt: Als Be-

gründung für einen Inhalt wird ein späte-rer Nutzen angegeben.

• Relevanz und Sinnhaftigkeit der Mathe-matik werden nur selten deutlich.

• Anwendungen werden häufig aus dem technischen und naturwissenschaftlichen Bereich gewählt.

• Es wird eine formale Sprache benutzt, die sich deutlich von der Umgangssprache unterscheidet. Die Ausdrucksfähigkeit der Schülerinnen und Schüler bleibt im ma-thematischen Zusammenhang auf der Strecke.

Vor dem Hintergrund dieser Kritik wird deut-lich, dass die "Probleme" der Mädchen mit Mathematik nur ein Indikator dafür sind, dass die Unterrichtskultur insgesamt dringend ge-ändert werden muss. Der vielfach zu beo-bachtende Rückzug der Mädchen aus der Mathematik kann in einem ganz anderen Licht gesehen werden: Handeln sie nicht ganz vernünftig, wenn sie sich in einer nicht nur für sie selber sondern auch für die Jun-gen mangelhaften Lehr-Lern-Umgebung we-nig engagieren? Unter dem Gesichtspunkt, eine Unterrichts-kultur in Mathematik zu schaffen, die Mäd-chen und Jungen in gleicher Weise gerecht wird, sind in den letzten Jahren eine Fülle von konkreten Vorschlägen erarbeitet wor-den, wie die Inhalte im Hinblick auf diese Kri-tikpunkte verändert und verbessert werden können. Ich kann dazu hier nur auf die ent-sprechende Literatur verweisen (ausführliche Literatur dazu z. B. Grevholm & Hanna 1995, Hanna 1996, Kaiser & Rogers 1995, Leder 1995, ZDM 26 (1994), Heft 1 & 2).

Hier soll es nun zum Abschluss um die Frage gehen, welche Chancen speziell der Compu-tereinsatz im Mathematikunterricht im Hin-blick auf die aufgeführte Kritik birgt. Nach meinen vorherigen Ausführungen ist klar, dass die Gefahr besteht, dass sich zwei negative Tendenzen verstärken können: Die möglicherweise bestehende distanzierte Hal-tung der Mädchen gegenüber dem Computer kann sich auf das Fach Mathematik übertra-gen. Umgekehrt kann sich eine ablehnende oder distanzierte Haltung gegenüber Mathe-matik auf den Computer übertragen, wenn er schwerpunktmäßig in diesem Fach einge-setzt wird. Diese Gefahr ist umso größer, je mehr die rein technische Seite des Compu-ters betont wird. Demgegenüber steht eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die Kritik am Mathematikun-terricht ernsthaft aufzugreifen und Verände-rungen einzuleiten, die einen Unterricht er-möglichen, der sowohl den Jungen als auch den Mädchen gerechter wird: • Verstärkter Einsatz alternativer Unter-

richtsformen, Gruppenarbeit in — geschlechtshomoge-nen — Kleingruppen, Differenzierungen nach Kenntnisstand;

• Förderung kooperativer Lernformen, Aufteilung von Arbeitsaufträgen z.B. in Form eines Gruppenpuzzles, bei dem je-de Person einen Beitrag leisten muss;

• Möglichkeiten für entdeckendes Lernen, experimentelles Vorgehen durch Einsatz geeigneter Software (CAS; DGS), da-durch Veränderung des Bildes von Ma-thematik als "fertiger" Wissenschaft, Fra-gestellungen selber erfinden, selber Ma-thematik machen;

• Kommunikation in und über Mathematik, Dokumentationen über die Arbeiten am Computer anfertigen lassen, Präsentationen über mathematische The-men, dadurch Förderung der Sprachkompetenz im Mathematikunterricht;

• Sicht über das Fach hinaus, fächerübergreifende Projekte, Bezüge zu anderen Bereichen und zu his-torischen Hintergründen; Einbeziehung des WWW als Quelle von Informationen, Einbeziehung künstlerischer, kreativer und ästhetischer Gesichtspunkte.

Cornelia Niederdrenk-Felgner

44

Konkrete Unterrichtsbeispiele zu einigen die-ser Aspekte sind in (Niederdrenk-Felgner 1998) zu finden. Es geht nicht darum, leuchtende Beispiele vorzustellen. Vielmehr möchte ich die Krite-rien aus der Geschlechterperspektive be-wusst machen, die an einen guten Mathema-tik-Unterricht mit dem Computer angelegt werden sollten. In diesem Sinne wünsche ich uns allen, dass es gelingen möge, Mathema-tik mit und ohne Computer zu einem positiv besetzten Fach werden zu lassen, und den Unterricht so zu gestalten, dass Mädchen wie Jungen mit Interesse und Begeisterung daran teilnehmen.

Literatur Baumert, Jürgen, Wilfried Bos & Rainer Water-

mann (1998): TIMSS/III Schülerleistungen in Mathematik und den Naturwissenschaften am Ende der Sekundarstufe II im internationalen Vergleich. Zusammenfassende und deskriptive Ergebnisse. Berlin: Max-Planck-Institut für Bil-dungsforschung

Beerman, Lilly, Kurt A. Heller & Pauline Menacher (1992): Mathe: nichts für Mädchen? Begabung und Geschlecht am Beispiel von Mathematik, Naturwissenschaft und Technik. Bern: Huber

Bos, Wilfried, Eva-Maria Lankes, Manfred Prenzel, Knut Schwippert, Gerd Walther & Renate Val-tin (Hrsg) (2003): Erste Ergebnisse aus IGLU. Münster u.a.: Waxmann

Brehmer, Ilse, Hildegard Küllchen & Lisa Sommer (1989): Mädchen, Macht (und) Mathe. Doku-mente und Berichte 10 der Parlamentarischen Staatssekretärin für die Gleichstellung von Frau und Mann, Düsseldorf.

GEW Gender Report 2003: www.lakofnrw.fh-koeln .de/download/gew-gender-report2003.pdf

Grevholm, Barbro & Gila Hanna (Hrsg.) (1995): Gender and Mathematics Education. An ICMI Study in Stiftsgården Åkersberg, Höör, Swe-den 1993. Lund: Lund University Press

Hanna, Gila (Hrsg.) (1996): Towards Gender Eq-uity in Mathematics Education. An ICMI Study. Dordrecht: Kluwer

Hannover, Bettina (1992): Spontanes Selbstkon-zept und Pubertät. Zur Interessenentwicklung von Mädchen koedukativer und geschlechts-homogener Schulklassen. In: Bildung und Er-ziehung 45, 31–46

Horstkemper, Marianne (1987): Schule, Ge-schlecht und Selbstvertrauen. Eine Längs-schnittstudie über Mädchensozialisation in der Schule. Weinheim & München: Juventa

Jahnke-Klein, Sylvia (2001): Sinnstiftender Ma-thematikunterricht für Mädchen und Jungen.

Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohen-gehren

Jungwirth, Helga (1990): Mädchen und Buben im Mathematikunterricht. Eine Studie über ge-schlechtsspezifische Modifikationen der Inter-aktionsstrukturen. Österreichisches Bundes-ministerium für Unterricht, Kunst und Sport (Hrsg.), Reihe Frauenforschung Band 1. Wien.

Jungwirth, Helga (1994): Mädchen und Buben im Computerunterricht — Beobachtungen und Erklärungen. In: Zentralblatt für Didaktik der Mathematik 26, Heft 2, 41–48

Kaiser, Gabriele & Pat Rogers (Hrsg.) (1995): Eq-uity in Mathematics Education. Influences of Feminism and Culture. London &Bristol: The Falmer Press

Keller, Carmen (1997): Geschlechterdifferenzen: Trägt die Schule dazu bei? In U. Moser, E. Ramseier, C. Keller & M. Huber (Hrsg.) (1997): Schule auf dem Prüfstand. Eine Evaluation der Sekundarstufe I auf der Grundlage der Third International Mathematics and Science Study. Zürich: Rüegger, 137–179

Keller, Carmen (1998): Geschlechterdifferenzen in der Mathematik: Prüfung von Erklä-rungsansätzen: Eine mehrebenenanalytische Untersuchung im Rahmen der Third In-ternational Mathematics and Science Study. Universität Zürich: Dissertation

Leder, Gilah (Hrsg.) (1995): Mathematics and Gender. In: Educational Studies in Mathe-matics 28,

Niederdrenk-Felgner, Cornelia (1993): Computer im koedukativen Unterricht. Mädchen und Computer. Studienbrief Mädchen und Compu-ter. Tübingen: DIFF

Niederdrenk-Felgner, Cornelia (1998): Entde-ckendes Lernen und Problemlösen im Mathe-matikunterricht. Studienbrief Mädchen und Computer. Tübingen: DIFF

Niederdrenk-Felgner, Cornelia (2001): Die Ge-schlechterdebatte in der Mathematikdidaktik. In: Heidrun Hoppe u.a. (Hrsg.) (2001): Ge-schlechterperspektiven in der Fachdidaktik. Weinheim & Basel: Beltz, 123–144

Nyssen, Elke, Pia Ueter & Edda Strunz (1996): Monoedukation und Koedukation im Mathema-tikunterricht des neunten und zehnten Schul-jahres. In: Elke Nyssen (Hrsg.) (1996): Mäd-chenförderung in der Schule. Ergebnisse und Erfahrungen aus einem Modellversuch. Wein-heim & München: Juventa, 93–105

Pólya, George (1980): Schule des Denkens. Bern: Francke, 3. Auflage

Schründer-Lenzen, Agi (1995): Weibliches Selbst-konzept und Computerkultur. Weinheim: Deut-scher Studien Verlag

Sinhart-Pallin, Dieter (1990): Die technik-zentrierte Persönlichkeit. Sozialisationseffekte mit Com-putern. Weinheim: Deutscher Studien Verlag

45

1 Grundsätzliches zu MaDiN

Seit Beginn des Jahres 2000 wurde für die Dauer von 3 Jahren vom Bundesministerium für Bildung und Forschung das Projekt Ma-DiN (Mathematikdidaktik im Netz) finanziell gefördert. Ziel des Projekts war es, die "ge-samte" Didaktik der Mathematik, die in der Lehrerausbildung der Primarstufe sowie den Sekundarstufen I und II gelehrt wird, unter sinnvoller Nutzung multimedialer Komponen-ten im Internet anzubieten. Realisiert wurde das Projekt von den Lehrstühlen für Didaktik der Mathematik an den Universitäten Braun-schweig, Erlangen/Nürnberg, Münster und Würzburg. Die Themen, die im Projekt für die Nutzung im Internet aufbereitet wurden, um-fassen • Grundschuldidaktik • Zahlsysteme • Geometrie • Algebra • Analysis • Stochastik und • Computereinsatz im Mathematikunter-

richt. Neben der eigentlichen Materialentwicklung war die wissenschaftliche Evaluation weiterer konstitutioneller Bestandteil des Gesamtpro-jekts. Über eine Evaluation wird im zweiten Teil dieses Artikels berichtet; eine weitere findet sich im Artikel von G. Wittmann in die-sem Tagungsband. Die Zielgruppen des Projekts sind Studieren-de, Dozenten und praktizierende Lehrer. Studierenden dient das Material zum einen zur Nachbereitung des Vorlesungsstoffs. Zu-dem sind die Inhalte so ausgearbeitet, dass sie sich (zumindest ansatzweise) zur selb-ständigen Erarbeitung von Lerninhalten eig-nen. Darüber hinaus versteht sich MaDiN als Nachschlagewerk und als Aufgabensamm-lung zu zentralen didaktischen Themen.

Dozenten bietet MaDiN eine Medien- und Quellensammlung zur Didaktik der Mathema-tik und zum Mathematikunterricht. Während universitärer Veranstaltungen lassen sich professionell erstellte Grafiken, Animationen, Lehrfilme usw. zur Veranschaulichung und Unterstützung nutzen und einsetzen. Vergleichbaren Nutzen bietet MaDiN prakti-zierenden Lehrern in seiner Funktion als Me-dien-, Aufgaben- und Ideensammlung. Um diesen Benutzergruppen ein möglichst vollständiges Angebot zur Didaktik der Ma-thematik anbieten zu können, war ein we-sentlicher konzeptioneller Aspekt bei der Entwicklung, dass Standardthemen (s.o.) und nicht nur "ausgewählte Aspekte" aufbe-reitet werden sollten. Anders formuliert: die Projektpartner wollten sich bewusst der Her-ausforderung stellen, keine "Perlen"-Didaktik im Netz anzubieten, sondern möglichst be-nutzerorientiert genau diejenigen Themen zu bearbeiten, welche in der Standardausbil-dung von Bedeutung sind. Und gerade die Fokussierung auf "Standardinhalte" stellt das Anspruchsvolle und viele konzeptionelle Überlegungen erfordernde Element von Ma-DiN dar. Denn das Abwägen des sinnvollen Einsatzes und das Einbeziehen multimedia-ler Elemente in Lehrtexte fällt für "trockene, spröde" Themen wie etwa "schriftliche Addi-tion" wesentlich schwerer als die Konzeptio-nierung "bunter, ergiebiger" Themen wie "der goldene Schnitt" oder "die Satzgruppe des Pythagoras". Um insbesondere der Zielgruppe der Studie-renden gerecht zu werden, wurde bei der Aufbereitung der Inhalte darauf geachtet, dass neben der eigentlichen Didaktik auch die fachwissenschaftlichen Grundlagen Be-standteil der Materialien sind. Denn die ein-hellige Erfahrung aller Projektpartner war, dass die Studierenden die Didaktikvorlesung im Allgemeinen mit defizitärem fachwissen-schaftlichem Wissensstand betreten, und die Überzeugung die, dass Didaktikvorlesungen nur auf der Basis eines soliden fachwissen-schaftlichen Fundaments sinnvoll und ertrag-reich sein können.

MaDiN — Mathematikdidaktik im Netz

Thomas Weth, Nürnberg

Das internet-basierte Lehr-Lern-System MaDiN mit seinen Grundsätzen, Ideen und Mög-lichkeiten wird vorgestellt, und erste Erfahrungen beim Einsatz in einer Geometrie-Vor-lesung werden beschrieben.

Thomas Weth

46

2 Ein Streifzug durch MaDiN Um einen Eindruck über Art der Aufbereitung der Inhalte und den Umgang mit MaDiN beim

Lernen von Mathematikdidaktik zu gewinnen, sollen im Folgenden einige Charakteristika des Projekts vorgestellt werden.

Abb. 1

Abb. 2

MaDiN — Mathematikdidaktik im Netz

47

2.1 Die "Verpackung" MaDiN präsentiert die mathema-tikdidaktischen Inhalte über einen Schreibtisch als Navigations- bzw. Auswahlinstrument (vgl. Abb. 1), der den größten Teil des Bildschirms einnimmt und das "Hauptfenster" bildet. Das Lehr-material ist zu jedem einzelnen Thema (z.B. Kongruenzabbildun-gen) in die "Schreibtisch-Schubladen" Theorie, Beispiele, Übungen, Literatur, Links und Medien eingeordnet (s.u.). Wählt man eine dieser Schubladen (per Mausklick) an, werden die Inhalte im Hauptfenster eingeblendet (vgl. Abb. 2). Eine Navigationsleiste mit den-selben Elementen wird zusätzlich über dem Schreibtisch angezeigt, da es sich (aus me-diendidaktischer Sicht) als günstig erweist, dem Benutzer Steuerelemente redundant anzubieten (so lassen sich im realen Einsatz von MaDiN auch wirklich Benutzer beobach-ten, welche ausschließlich über den Schreib-tisch und andere, welche ausschließlich über die Navigationsleiste im System navigieren). In Bildschirmabschnitten (Frames) links und oberhalb des Hauptfensters sind Orientie-rungshilfen eingeblendet, die den Benutzer über seinen Standort im System informieren (vgl. Abb. 1, 2 und 3). Die Standortinformati-on ist kontextabhängig und stellt lediglich die "nähere" Umgebung und nicht die Struktur al-ler Inhalte grafisch dar. Neben weiteren Navigations- und Steuerhil-fen (z.B. Einblenden der Gesamtstruktur aller Inhalte, "History"-Funktion, ...) zählt eine Lu-pe — als Metapher für eine Volltextsuche — zu den Bedien-Elementen von MaDiN. Die "Map" von MaDiN (in Abb. 4 etwa für das Thema Geometrie — fachwissenschaftlich) stellt die Inhalte in der "Windows-Explorer"-

üblichen Art dar und dient gleichzeitig als weiteres Navigations- und Orientierungs-instrument.

2.2 Die Inhalte Ein Blick auf die Geometrie-Map (Abb. 4) zeigt, dass die Inhalte ausschließlich "klas-sisch" sind. In diesem Sinne ist von MaDiN also weder eine "neue" Mathematik noch ei-ne "neue" Didaktik zu erwarten. Das Neue an MaDiN steckt nicht in den Inhalten, sondern in deren multimedialen Aufbereitung.

Um mathematikdidaktische Inhalte über den Computer bzw. über das Internet darzustel-len und zu vermitteln, bedarf es — allein schon wegen der Verfügbarkeit unterschied-licher Medien — anderer Gestaltungsprinzi-pien als etwa bei einer Darbietung in Buch-form. Aus dem Studium der mediendidakti-schen Literatur, aus der eigenen pädagogi-schen Erfahrung und dem erworbenen Wis-sen aus vorherigen "Computerprojekten" wurde versucht, bei der Gestaltung u.a. fol-gende Prinzipien einzuhalten: 1. Die MaDiN-Texte sollen kurz sein; denn

Lesen/Lernen scheint — unabhängig vom Alter und der Vertrautheit mit dem Com-puter — am Bildschirm schwieriger und unangenehmer empfunden zu werden, als mit Hilfe eines Buchs.

2. Die MaDiN-Texte sollen die Inhalte auf verschiedenen Niveaus darstellen; in kur-zen Texten werden Begriffe etwa in Form "propädeutischer" Erklärungen bis hin zu formal korrekten Definitionen angeboten (vgl. Abb. 2).

3. Die MaDiN-Texte sollen authentisch sein; die Orientierung an den genannten Ziel-gruppen erfordert, dass die Texte mit pra-

Abb. 3

Abb. 4

Thomas Weth

48

xisorientiertem Material unterstützt wer-den. Dem wurde u.a. dadurch Rechnung getragen, dass zu den eigentlichen Lehr-texten Lehrplanausschnitte, Schulbuch-seiten, Filme zu Unterrichtsversuchen usw. einbezogen wurden.

4. Die MaDiN-Texte sollen auf überflüssige Animationen verzichten; auf alle gestalte-rischen Elemente (wie z.B. blinkender Text, "amüsante" animated-gifs, ...), die den Benutzer von den Lerninhalten ab-lenken bzw. die mit den Lerninhalten höchstens indirekt zu tun haben, wurde verzichtet.

5. Die MaDiN-Texte sollen zur Selbsttätigkeit anregen; in den Seiten finden sich zahl-reiche Möglichkeiten, selbst am Bild-schirm aktiv zu werden; dies reicht etwa von interaktiven Multiple-choice-Tests über bewegliche geometrische Konstruk-tionen bis hin zu "Pop-up-Ikonogrammen" (einer parallel zu MaDiN entwickelten strukturierten und animierten Bild- und Filmfolge (Hartmann 2003), mit Hilfe derer komplexere Beweise selbständig erlernt werden können).

2.3 Beispiele Am Beispiel "geometrische Abbildungen" soll im Folgenden ein kurzer Einblick in die hier-archische Struktur der Inhaltsseiten von Ma-DiN gegeben werden. Dabei wird im gesamten System der Weg "Geometrische Abbildungen" – "Kongruenz-abbildungen" – "Achsenspiegelungen" durch-laufen, um dem Leser ein Gespür für die Ausprägung der Inhalte auf den einzelnen Hierarchiestufen zu vermitteln.

2.3.1 Der Schreibtisch "geometrische Abbildungen"

Die Theorie-Schublade des Schreibtischs "geometrische Abbildungen" behandelt auf allgemeinem Niveau den Begriff einer geo-

metrischen Abbildung und erklärt Begriffe wie Fixelemente, surjek-tiv, injektiv usw. Anzumerken ist, dass hier (wie im gesamten Sys-tem) die Texte durch zahlreiche Beispiele und Gegenbeispiele unterstützt werden. Die Beispiel-Schublade des Schreibtischs "Geometrische Ab-bildungen" beinhaltet im Wesent-lichen Experimentiermaterial in Form von interaktiven Cinderel-

la-Konstruktionen, mit Hilfe derer die o.g. Begriffe be-"greif"-bar gemacht werden. Wie-der wurde Wert darauf gelegt, neben klassi-schen Abbildungen (Kongruenzabbildungen) auch Alternativbeispiele wie etwa das fol-gende zur Verfügung zu stellen, in welchem die Gerade CD auf die schwarze Kurve ab-gebildet wird.

Abb. 6: Beispiel für eine geometrische Abbildung

Abb. 7: Beispiel für eine surjektive, nicht injektive

Abbildung

Abb. 8: Beispiel für eine geometrische Abbildung

In der Übungs-Schublade finden sich im All-gemeinen Übungen aus Schulbüchern, "klassische" Aufgaben, Schulbuchaufgaben, Aufgaben zur didaktischen Reflexion oder wie hier u.a. Multiple-Choice-Tests.

2.3.2 Der Schreibtisch "Kongruenzab-bildungen"

Eine Hierarchiestufe unter dem Schreibtisch "geometrische Abbildungen" finden sich die

Abb. 5

MaDiN — Mathematikdidaktik im Netz

49

Schreibtische "Kongruenzabbildungen", "Ähnlichkeitsabbildungen" und "Projektio-nen". Auf dieser Hierarchiestufe (vgl. Abb. 5) enthält die Theorie-Schublade aller Schreib-tische eine Darstellung des gestuften Wis-senserwerbs über die Schuljahre hinweg. Pa-rallel werden die Theoriestufen des Begriffs-erwerbsmodells von Vollrath (1984), inhaltli-che Konkretisierungen und (als Pop-ups) Lehrplanauszüge und Schulbuchausschnitte angeboten. Die Beispiel-Schublade beinhaltet konkrete Beispiele für Zugänge zum Kongruenzbegriff (Basteln, Schneiden, Zeichnen, ...) und die Übungs-Schublade bietet eine Sammlung von (bayerischen) Staatsexamensaufgaben.

2.3.3 Der Schreibtisch "Achsenspiege-lungen"

Eine Hierarchiestufe unter dem Schreibtisch "Kongruenzabbildungen" finden sich u.a. die Schreibtische "Achsenspiegelungen", "Ver-schiebungen", ..., "Gruppe der Kongruenz-abbildungen", "Kongruenzsätze am Dreieck" oder "Symmetrie". Im Theorieteil zu "Achsenspiegelungen" wer-den den Prinzipien von MaDiN entsprechend u.a. verschiedene, alternative Definitions-möglichkeiten zum Begriff "Achsenspiege-lung" gegeben. Weitere Elemente der Theorieseite sind eine Darstellung der Eigenschaften von Achsen-spiegelungen, Konstruktionsvorschriften (pa-

rallel dazu werden zum Ex-perimentieren interaktive Cinderella-Applets angebo-ten) und der Theorie der Hin-tereinanderausführung von Achsenspiegelungen. Mit Hilfe eines Pop-up-Ikono-gramms wird der Satz (gra-fisch, animiert und mit hörba-rem Text) über die Hinter-einanderausführung dreier Achsenspiegelungen dem Benutzer nahegebracht und bewiesen.

3 Ergebnisse ei-ner Evaluation

Die zentralen Fragen beim nicht unbeträchtlichen finan-ziellen Aufwand, der bei der Realisierung von MaDiN an-fiel, sind ganz lapidar: Wird MaDiN von den Studieren-

den beim Lernen von Mathematikdidaktik als hilfreich akzeptiert? Führt das Einbeziehen von MaDiN in die Ausbildung zu einem höhe-ren Lernerfolg? Die zweite Frage ist langfristiger Natur und kann demgemäß in der Entwicklungsphase nicht beantwortet werden. Ihr wird im Zuge einer Dissertation am Lehrstuhl für Didaktik der Mathematik der Universität Erlangen/ Nürnberg in den kommenden Jahren nach-gegangen werden. Auf die Frage, ob MaDiN von Studierenden als hilfreich akzeptiert wird, gibt der Artikel von Wittmann in diesem Tagungsband eine (positive) Antwort. Anders als dort mit dem direkten Interview als Evaluationsinstrument wurde im SS 2003 an der Universität Erlan-gen/Nürnberg versucht, über Fragebögen (also eher "klassisch") eine Antwort zu fin-den. Bei der zur Verfügung stehenden Test-population von etwa 14 Hauptschullehramt-studierenden verstehen sich die folgenden "Ergebnisse" in keiner Weise als empirisch abgesichert, sondern stellen nur ein erstes Stimmungsbild dar, das durch eine größer angelegte empirische Untersuchung zu veri-fizieren ist. Die folgende Befragung wurde mit den Teil-nehmern der Vorlesung "Geometrie in der Hauptschule" (3 Stunden Vorlesung + 2 Stunden Übung) am Semesterende durchge-führt. Die Studierenden saßen zu etwa einem Drittel der Vorlesungsstunden in einem Mul-timediaraum an einem eigenen Computer

Abb. 9: Ausschnitt aus einem Multiple-Choice-Test

Abb. 10: Ausschnitt aus der Theorie-Schublade des Schreibtischs

"Kongruenzabbildungen"

Thomas Weth

50

und konnten MaDiN entsprechend der Vor-gaben des Dozenten während der Vorlesun-gen nutzen. Außerhalb der Vorlesungen hat-ten alle Studierenden von zu Hause aus Zu-gang zu MaDiN über das Internet. In der ers-ten Vorlesung wurde eine etwa halbstündige Einführung in die Bedienung und Struktur von MaDiN gegeben. Bei der Evaluation am Ende des Semesters erhielten die Studierenden einen Fragebo-gen, bei dem zu jedem Statement (vgl. un-ten) jeweils eine von drei möglichen Antwor-ten (+, 0 oder –) anzukreuzen war. Die fol-gende Darstellung zeigt eine kleine Auswahl von Antworten.

3.1 Akzeptanz der Nutzung außerhalb der Vorlesung

Einer der Fragenkomplexe bezog sich auf die Akzeptanz von MaDiN ausserhalb der Vorle-sung:

Ich habe MaDiN zur Nachbe-reitung des Vorlesungsstoffes genutzt. (11; 2; 0) Die überwiegend positiven Antworten bilden einen ersten Hinweis, dass die Inhalte von den Studierenden genutzt und akzeptiert werden. Diese Tendenz zeigt sich auch im Antwortverhalten auf das nächste Statement: MaDiN war für mich eine Hilfe, den Lernstoff besser zu ver-stehen. (12; 1; 1)

3.2 Akzeptanz der Nutzung innerhalb der Vorlesung

Die Vorlesungsstunden, in denen die Studierenden zeit-weise mit MaDiN am Compu-ter arbeiteten, erschienen mir als Dozenten in irgendeiner Art und Weise als "langsa-mer", "zäher", in gewissem Sinne "ineffektiver" und weni-ger gut steuer- und planbar oder mit einem Wort: chaoti-scher als die (bei mir) her-kömmlichen Tafel- und Krei-de-Veranstaltungen. Die fol-genden Fragen sollten einen Einblick geben, ob diese Emp-findung und Stimmung von den Studierenden auch als

eher negative Begleiterscheinung von MaDiN erachtet wurde. Die Vorlesungsstunden, in denen MaDiN eingesetzt wurde, waren für mich verständli-cher als herkömmliche Vorlesungsstunden. (5; 5; 4) Das ausgeglichene Antwortverhalten läßt sich evtl. in dem Sinne interpretieren, dass die Studierenden die Intention der Fragestel-lung nicht verstanden und mit einem achsel-zuckenden "ich weiß gar nicht, was er jetzt von mir will" reagieren. Ähnlich wären even-tuell auch die Antworten auf die nächste Fra-ge zu interpretieren: Eine herkömmliche Veranstaltung ist mir lie-ber als eine Vorlesung mit MaDiN. (3; 6; 4) Mein Eindruck, dass die Vorlesungsstunden mit Einbeziehung von MaDiN "zäh" und schleppend erschienen, wurde von den Stu-dierenden anscheinend nicht geteilt, wie die Antworten auf die folgende Frage zeigen:

Abb. 11: Alternative Definitionsmöglichkeiten

Abb. 12: Pop-up-Ikonogramm

MaDiN — Mathematikdidaktik im Netz

51

Die Stunden, in denen MaDiN eingesetzt wurde, litten aus meiner Sicht unter zu viel 'Leerlauf', die deutlich mit einem "stimmt eher nicht" beantwortet wurde. (0; 4; 10) Ein weiteres Indiz, dass MaDiN von den Stu-dierenden angenommen wird, liefern die po-sitiven Antworten auf die Frage MaDiN läßt sich als Skriptersatz verwenden. (10; 0; 3) Die positive Resonanz spiegelt sich auch in den Freitext-Antworten wieder, die im Frage-bogen vorgesehen waren. Auf die Frage: "Welche Vor- und Nachteile sehen Sie beim Einbezug von MaDiN in den Lehr-Lern-Prozess?" wurden Antworten gegeben wie z.B.: "leicht zu verstehen", "sehr kompakt, viel Inhalt", "Animationen verdeutlichen und machen vieles klarer" oder "Interaktionen veranschaulichen komplexe Inhalte".

3.3 Akzeptanz der multimedialen Elemente Die Entwickler von MaDiN waren bemüht, Texte knapp zu formulieren, mit Animationen sparsam umzugehen und sich an die in 2.2 genannten Prinzipien zu halten. Eine deshalb interessierende Frage war, ob die multimedi-alen Elemente seitens der Studierenden als "passend" anerkannt würden. Die Fragen nach der Verständlichkeit von Lehrtexten, Schulbuchseiten, Grafiken, Interaktionen und Beweisfilmen (Pop-up-Ikonogrammen) wur-den durchweg gleichermaßen positiv beant-wortet. Stellvertretend sei deshalb hier nur die Antwort auf folgende Frage dargestellt: Die Texte in MaDiN sind verständlich und lehrreich. (11; 2; 1)

3.4 Weitere Fragestellungen Weitere Aspekte, die für die Entwickler von MaDiN von Interesse sind, wurden durch Fragen nach der Einfachheit der Navigation, der Orientierung innerhalb des Systems oder der Vollständigkeit des Systems geklärt. Inte-ressant war, dass die Nutzer eher dahinge-hend tendieren, weitere Applikationen wie z.B. einen Chat, ein Forum, Email-Funktio-nen, einen persönlichen virtuellen "Notizzet-tel" usw. generell nicht vermissen bzw. sogar eher ablehnen. In Gesprächen wurde seitens der Studierenden die Meinung geäußert,

dass MaDiN so, wie es ist, übersichtlich sei und alle weiteren zusätzlichen Elemente die Navigation und Orientierung im System "nur behindern" würden.

4 Subjektives Resümee

Zu Beginn des Projekts war ich mit der eher kritischen Idee angetreten, nach bestem Wissen und mit vollem Einsatz multimediales Material zum Erwerb mathematikdidakti-schen Wissens zu erstellen, um anschlie-ßend empirisch nachweisen zu können, dass alle vollmundigen Visionen über das "Internet als Schule (oder Universität) der Zukunft" le-diglich marktschreierische Prophezeiungen sind, welche einer empirischen Überprüfung nicht standhalten. Diese kritische Haltung über die "revolutionären Auswirkungen des Internet auf die (schulische oder universitäre) Ausbildung" habe ich auch nach dem Projekt nicht geändert. Allerdings habe ich gelernt, dass die Lehre — entsprechend gut entwi-ckelte Gesamtkonzeptionen vorausgesetzt — durch die multimedialen Elemente, welche durch das Internet verfügbar gemacht wer-den, durchaus unterstützt und verbessert werden kann. Ich sehe es deshalb als sinn-voll an, sich weiterhin mit der Entwicklung von Lehrmaterial im Internet und entspre-chenden Evaluationen zu beschäftigen; we-sentliche Änderungen im Lehr-Lern-Verhal-ten erwarte ich allerdings auch weiterhin nicht. Darüber hinaus habe ich gelernt (bzw. erneut erfahren), dass die Entwicklung professionell ausgearbeiteter Internetauftritte "teuer" ist: Der finanzielle Aufwand für die Realisierung der in diesem Artikel vorgestellten Geometrie beträgt etwa 250 000 €. Ob die Entwicklung "preiswert" ist, müssen zukünftige Evaluatio-nen zeigen.

Literatur Hartmann, Mutfried (2003): Eine neue Repräsen-

tationsform schulmathematischer Inhalte für das WWW: Pop-up-Ikonogramme. In: Der Ma-thematikunterricht 49, Heft 4, 59–70

Vollrath, Hans-Joachim (1984): Methodik des Be-griffslehrens im Mathematikunterricht. Stutt-gart: Klett

52

1 Einleitung

Die unüberschaubare Fülle von Informatio-nen, die im Internet zur Verfügung stehen, führt bei sehr vielen Nutzern entweder gar nicht oder nur unter sehr großem Zeitauf-wand zu Generierung von Wissen. Vor allem Schülerinnen und Schüler können weder sys-tematisch suchen, noch können sie die ge-fundenen Dokumente nach ihrer Relevanz, Verlässlichkeit oder Gültigkeit einordnen. Um die vielen Möglichkeiten, die die Ver-wendung des Internets — oder der compu-tergestützten Medien — bietet, überhaupt nutzen zu können, ist organisationales Den-ken dringend notwendig.

2 Organisationales Denken

Unter "organisationalem Denken" verstehen wir die Summe der Überlegungen und Maß-nahmen, die notwendig sind, um Aufgaben-lösungen — alleine und/oder in Zusammen-arbeit mit anderen — in einer effizienten, sys-tematischen und koordinierten Weise zu er-möglichen. Im Kontext von Lernen beziehen sich diese Aufgaben vor allem auf die Gene-rierung von Wissen aus Informationen und Kompetenzen sowie die Verbindung von Faktenwissen mit Handlungswissen.

Diese Definition basiert auf einer allgemeinen Definition von "Organisation", wie sie z.B. in der Internet-Enzyklopädie "Wikipedia" (vgl. URL http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite, Zugriffsdatum 25.10.2003) zu finden ist: "Or-ganisation ist eine dauerhafte Anordnung von Elementen, deren Tun durch Regeln so fest-gelegt ist, dass eine Aufgabenlösung in einer zusammenarbeitenden, koordinierten Weise stattfinden kann." Kennzeichnend für Organi-sation ist also das Zusammenwirken ver-schiedener Elemente, die Befolgung von Re-geln und die Unterstützung einer Aufgaben-lösung — in einer kooperativen Art und Wei-se. Dies lässt sich direkt auf Lehr-/Lernpro-zesse übertragen. So gibt es gewisse Regeln oder erprobte Vorgehensweisen, die das Lernen hilfreich unterstützen, wie Gliedern, in eigenen Wor-ten Wiedergeben usw. Dass beim Lernen verschiedene Aspekte wie Motivation, Vor-wissen, Transfermöglichkeiten, … eine große Rolle spielen und diese Teile alle zusammen erst ein erfolgreiches Lernen ermöglichen, ist bekannt. Organisationales Denken beinhaltet die geis-tige Bemühung um eine effiziente Arbeit auf verschiedenen Ebenen: • häufig als trivial angesehene Hilfsmittel

(gespitzte Buntstifte, genug Platz auf der Arbeitsfläche zum Zeichnen, ...)

Mathematiklernen und Organisieren

Christine Bescherer & Herbert Löthe, Ludwigsburg

Die Internet-Nutzung beim Lehren und Lernen führt bei Schülern und Studierenden — ja selbst bei Wissenschaftlern — sehr leicht zu inkohärenten und teilweise falschen Vorstel-lungen. Dies liegt mit daran, dass durch die chaotische Vielfalt des Internets und durch die Nutzung der neuen Medien mit ihren gewaltigen Potenzen eine Recherche sehr leicht zu einer Anhäufung von spektakulären Details führt und die fachlichen Inhalte und Pro-zesse in ihrer Struktur nicht mehr erkennbar sind. Um sinnvoll aus der Informationsfülle des Internets und der neuen Medien Wissen und Kompetenzen aufbauen zu können, ist "organisationales Denken" notwendig. Wir denken dabei nicht nur an das Organisieren des mathematischen Arbeitens, Lehrens und Ler-nens, sondern wir meinen vor allem die Fähigkeit der Lehrenden und Lernenden, gut or-ganisierte Inhalte und Kompetenzen von vornherein anzustreben und als wertvoll anzu-sehen. Nur solche organisierte Strukturen von Wissen und Können werden für Lehren und Lernen fruchtbar.

Es ist interessant, dass organisationales Denken mit dem Gebiet der Datenverarbeitung Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts thematisiert worden ist, und immer mit der Informatik verbunden war. Für die Mathematik ist es eine querliegende aber auch verbindende Kompetenz, die die process standards (im Sinne der NCTM) ergänzen. Die-se Thesen werden anhand einer Reihe von Beispielen erläutert.

Mathematiklernen und Organisieren

53

• Hilfstechniken des geistigen Arbeitens (Nachschlagewerke geordnet und greif-bar, Notizen machen, Skizzen erstellen, ...)

• Nutzung neuer Medien (Bookmarks ver-wertbar aufbereitet, Browser mit entspre-chenden Sicherheitseinstellungen, E-Mail-Filter, regelmäßige Sicherungen, Ver-ständnis für Ordnerstrukturen, Versionen, Dateitypen, ...)

• systematische Arbeitstechniken (Gliedern z.B. durch farblich Kennzeichnen, Be-schriften,...)

• Strategien des Wissenserwerbs (Ordnen, Strukturieren, Ergänzen, Gliedern, ...)

Diese Bemühungen beziehen sich bewusst nicht nur auf die Nutzung von computerge-stützten Medien, sondern auch auf herkömm-liche Arbeitsweisen. Eine gute (Eigen-) Or-ganisation hört nicht beim Abschalten des Rechners auf. Dabei ist zu beachten, dass gute Organisati-on allein nicht automatisch gute Arbeit oder erfolgreiches Lernen bedeutet, sondern sie stellt lediglich eine notwendige Bedingung dar. Ohne Organisation entsteht Chaos, und dies ist fast immer kontraproduktiv für das Lernen. Noch wichtiger ist hingegen, dass der Umgang mit den computergestützten Me-dien kein sich selbst organisierender Prozess ist. Im Gegenteil: der Computer erzwingt in starkem Maße eine gut strukturierte Arbeits-haltung. Dies ist jedem klar, der schon ein-mal eine bestimmte Datei auf alten Siche-rungsdisketten gesucht hat. (Für die Festplat-te gibt es immerhin noch die Suchfunktion z.B. des Windows Explorers, aber die Disket-ten müssen einzeln durchgesehen werden.) Dabei stellt die (fast) unbegrenzte Speicher-kapazität das Hauptproblem dar. Ein reales Regal mit Büchern, Ordnern und Unterlagen ist irgendwann einmal so voll, dass ent-schieden werden muss, auf welche Inhalte verzichtet werden kann. Wird die Festplatte zu klein, so wird eher ein neuer Speicher gekauft, anstatt einmal richtig "auf-zuräumen". Als Test stellen Sie sich einfach Ihre

Bookmark- bzw. Favoriten-Datei in Ihrem Browser vor. Sind die Einträge in sinnvolle Kategorien organisiert und durchsichtig kom-mentiert? Oder besteht Ihre Bookmark-Datei aus einer wilden Sammlung mehr oder weni-ger aussagekräftigen Seitentiteln von Inter-netseiten. Wenn das letztere zutrifft, dann finden Sie meist schneller die entsprechen-den Seiten wieder, wenn Sie mit einer Such-maschine im Internet suchen.

3 Mathematikstandards und Querstandards

Werden Bildungsstandards im Bereich Ma-thematik nach Inhalts- und Prozessstandards organisiert wie z.B. in den "Principles and Standards for School Mathematics, 2000" des NCTM, so bietet sich die Darstellung in einer 2x2-Matrix an. Die Inhaltsstandards be-stehen aus "Zahlen und ihre Verknüpfun-gen", "Muster, Funktionen und Strukturen", "Geometrie", "Größen und Messen", "Daten-analyse und Wahrscheinlichkeit" und die Pro-zessstandards aus "Lösen von Aufgaben und Problemen", "Begründen und Beweisen", "mathematisch Denken und Kommunizieren", "Bezüge inner- und außerhalb der Mathema-tik" und "Repräsentieren und Modellieren". Denn weder kann mathematisches Prozess-denken ohne mathematische Inhalte vermit-telt werden, noch macht das Lernen mathe-matischer Inhalte ohne Beachtung der dabei angemessenen Prozesse Sinn. Nach unserer Vorstellung fehlen bei dieser Darstellung noch fünf "Querstandards", die, wie in der Abbildung 1 zu sehen ist, quer so-wohl zu den Inhalts- wie auch den Prozess-

Abb. 1

Christine Bescherer & Herbert Löthe

54

standards liegen. Diese Querstandards sind selbstverständlich nicht auf das Fach Ma-thematik beschränkt, sondern spielen auch in anderen Fächern eine Rolle. Die einzelnen Querstandards beschreiben die Überlegungen, die Lehrende zum Unter-richtsprozess anstellen sollten: Wie kann Un-terricht bei vorgegebenen Inhalten und ange-zielten (mathematischen) Prozessen ablau-fen, gefördert und unterstützt werden? Um den Querstandard "organisationales Denken", der in diesem Beitrag ausführlich geschildert wird, entsprechend in den größe-ren Kontext einzuordnen, werden die weite-ren Querstandards kurz erklärt: • Der Lehrer konzipiert und motiviert die

Entwicklung mathematischer Produkte durch Schüler (für diese selbst und für an-dere) sowohl alleine, mit Anleitung durch den Lehrer und innerhalb einer Gruppe. Beispiele hierfür wären eine Zusammen-fassung zur Bruchrechnung (als Gedächt-nisstütze, Spickzettel), die Erstellung ei-nes "persönlichen Schülerdudens" zur Er-haltung des Überblicks, ein Plakat zu Py-thagoras für eine Elternpräsentation.

• Die Lehrerinnen und Lehrer ermuntern und fördern kontinuierlich den Erwerb und die ständige Anwendung von Vorstellun-gen durch die Schüler (mentale Modelle, quasigeometrische Darstellungen usw.), indem beispielsweise die Zahlvorstellung, der Aufbau eines Tabellensystems oder Selbstdemonstrationen mit Realmodellen bzw. Software (Geobrett, Java-Applets) thematisiert und immer wieder überprüft wird.

• Die Lehrenden geben den Lernenden Raum zum selbstständiges Lernen, er-möglichen das Entdecken durch Explora-tion in einer mathematikhaltigen Umge-bung, regen an und unterstützen das ge-zielte Sammeln und Verarbeiten von In-formationen über Mathematik (Bsp.: le-sendes Erarbeiten, WebQuests, Explora-tion in einer mathematikhaltigen Umge-bung unter Verwendung geometrischer Modelle, Taschenrechner, Logo).

• Die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten die Schüler ein in eine begrifflich und nicht technisch orientierte Nutzung mathemati-scher Werkzeuge (wie Zeichenwerkzeu-ge, Taschenrechner, CAS, DGS oder Pro-grammiersprachen, Laptop als ständig präsentes Medium usw.).

Das organisationale Denken steht in starker Wechselwirkung mit allen diesen Querstan-

dards und spielt deshalb eine besondere Rol-le.

4 Organisationales Denken und Mathematikstandards

Anhand der Prozessstandards des NCTM werden nun Aspekte der Verzahnung mit diesem Querstandard exemplarisch aufge-zeigt. Dies bedeutet nicht, dass die Verzah-nung mit den Inhaltsstandards weniger wich-tig oder gar trivial wäre, sondern nur, dass wir leider nicht alle unsere Überlegungen auf diesem engen Raum schildern können. Die NCTM-Standards illustrieren die Inhalts-standards anhand von Beispielaufgaben und die Prozessstandards durch beispielhafte Unterrichtssituationen. Für die Darstellung der Querstandards wählten wir die Themati-sierung der Grundfragen, die sich die Leh-renden stellen sollten, um einen entspre-chenden Unterricht zu konzipieren, versehen mit illustrierenden Beispielen. Grundlegend ist hierbei, dass die Lehrerin-nen und Lehrer selbst über organisationales Denken aus eigenen Lernerlebnissen verfü-gen und ihnen die Wichtigkeit bewusst ist.

4.1 Organisationales Denken und Problemlösen:

Dazu gehören sämtliche Überlegungen zur Förderung der Problemlösenkompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Welche Frei-räume sind beim Problemlösen notwendig, ohne dass das Lernen zu sehr in die "fal-sche" Richtung abdriftet? Welches Zeitbud-get muss dafür eingeplant werden? Eine Ab-wägung von Vor- und Nachteilen von Grup-pen- bzw. Einzelarbeit usw. Wie wird Vorwis-sen aktiviert? Und vor allem: wann wird es aktiviert? Zu Beginn der Unterrichtseinheit oder erst, wenn die Lernenden selbst den Bedarf erkannt haben? Gibt es eine Aufga-ben-, eine Problemesammlung zu vorgege-benen Gebieten? Gibt es eine Sammlung von Hilfen, die systematisch angelegt, ange-wendet und bewertet sind? (z.B. im Internet URL www.mathe-online.at/mathint.html, Zu-griffsdatum: 25.10.2003) Gibt es eine Proto-kollierung für die spätere Reflexion? Dies ist besonders wichtig bei der Verwendung von Computeralgebra- oder Dynamische-Geome-trie-Systemen. Daran schließt sich sofort die Frage an: Wie wird neues Wissen und Kön-nen festgehalten oder sogar dokumentiert

Mathematiklernen und Organisieren

55

(als Notizen, als ausgearbeitetes Essay usw.)? Welche Organisationsform des Unter-richts ist zur Anregung von Problemlösepro-zessen die richtige?

4.2 Organisationales Denken und Begründen & Beweisen:

Wie ist organisiert, auf welchen Grundannah-men (Axiomen) bewiesen und begründet wird? Gibt es eine Struktur aufeinander auf-bauender Beweise bzw. Begründungen für ein Teilgebiet? Gerade bei der Satzgruppe des Pythagoras sollte sich die Lehrperson klar darüber sein, dass zwar jeder Satz sich aus den anderen herleiten lässt, dabei aber verschiedene Vorstellungen in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler erzeugt wer-den. Wie werden Vermutungen dokumentiert, ausgewertet, in eine Reihenfolge gebracht? Wie werden Argumentationen und Beweise für spätere Bewertung und Bewertung durch andere festgehalten? So ist z.B. in USA der "Zweispaltenbeweis" (two column proof) in der Mittelstufengeometrie sehr verbreitet. Ein Beispiel dafür findet sich auf den "Dr. Math"-Seiten (s. Abb. 2 oder URL http://mathforum. org/dr.math/faq/proof_fetter.html, Zugriffsda-tum 25.10.2003) Diese Art, geometrische Be-weise in zwei Spalten zu organisieren, wobei in der einen Spalte die Aussage steht und in

der anderen der Grund, warum diese Aussa-ge wahr ist, ist eigentlich eine sehr schöne Art, Beweise zu strukturieren. Mathematikdi-daktiker in den USA bemängeln allerdings den inflationären Gebrauch, der von dieser Darstellungsart gemacht wird. Und dass die Form des Zweispaltenbeweises für Behaup-tungen missbraucht wird, die eigentlich kei-nes Beweises bedürfen. (vgl. z.B. Burrill 1998)

Gibt es eine Sammlung von Begründungen, Beweismethoden? Wie findet man sich da zurecht? Auch könnte entsprechend einer ei-genen Formelsammlung eine eigene "Be-weissammlung" von den Schülerinnen und Schülern oder auch von der gesamten Klas-se angelegt werden. Auf höherer Ebene könnte man an Axiome und eine Folge von Sätzen denken, um Ordnung zu erzeugen.

4.3 Organisationales Denken und Kommunikation:

Welche Sprachmittel sind geeignet? Wie stellt man mathematische Gedanken, Inhalte und Verfahren systematisch sachgerecht und strukturiert dar? Da können Mindmaps sehr hilfreich für die Strukturierung und Darstel-lung von Zusammenhängen sein. (vgl. z.B. URL www.math-edu.de/Mind_Mapping/mind

_mapping.html, Zugriffsdatum 25.10.2003) Wie kann man durch Gestalten mathematischer Inhalte und Ge-danken mehr Klarheit und Systematik errei-chen? Wie kann man durch akti-ves Lesen und Hören Mathema-tisches besser darstellen (Noti-zen, Selbstvisu-alisierung, erhel-lende Beispiele usw.)? Aktives Lesen und Hö-ren bedeutet Verbinden des Gelesenen und Gehörten mit Bekanntem (Gliedern, Struk-turieren, Visuali-

Abb. 2

Christine Bescherer & Herbert Löthe

56

sieren von Zusammenhängen). Ein typischer "verbindungsloser" mathematischer Sach-verhalt ist die Vorstellung des Satzes von Py-thagoras als "a2+b2=c2". Frühestens wenn mit dem Stichwort "Pythagoras" sofort ein Bild des rechtwinkligen Dreiecks mit den Quadra-ten über den Seiten verbunden wird, ist der mathematische Sachverhalt verstanden wor-den. Diese "mentale Lücke" muss von den Lehrenden überprüft, thematisiert, und es muss gegebenenfalls eine "Füllung" angeregt werden. Wie kann man Präzision erzeugen und stän-dig verbessern? Selbstverständlich geht dies nur, wenn man sich als Lehrender selbst um Präzision bemüht und sie von den Schülerin-nen und Schüler auch ständig fordert.

4.4 Organisationales Denken und Verbindung inner- und außer-halb der Mathematik:

Wie ist eine Lernumgebung organisiert? Da-zu gehört in erster Linie die "Hypertext-Problematik". Es wurde vermutet, dass Hy-pertext mit der Möglichkeit der Vernetzung verschiedener Teile und Medien Lernen un-terstützt, da Lernen ja auch eine Vernetzung von Informationen, Kompetenzen und Wis-sen darstellt. Nach neueren Untersuchungen (z.B. Unz 2000) ergibt sich allerdings die Vermutung, dass Lernende spezielle Kompe-tenzen benötigen, um Hypertext effektiv nut-zen zu können. Welche Navigationshilfen sind notwendig und hilfreich (guided tours unter bestimmten Aspekten, Sitemaps nach Sachlogik, Querverweise usw.)? Wie sind elementare Beziehungen darge-stellt, wie kann man sie verknüpfen? Wie wird eine kohärente Struktur aufgebaut, dar-gestellt, beschrieben, kommuniziert? Welche Form hat ein neues Ganzes? Welche Samm-lung von geeigneten Lernumgebungen gibt es?

4.5 Organisationales Denken und Darstellen & Repräsentieren / Modellieren:

Welche Organisationsformen sind für ver-schiedenartige Repräsentationsformen und modellierte Strukturen adäquat? Welche Beschreibungs- und Dokumentationsmittel sind geeignet? Welches Repertoire mit wel-chen Hilfen ist wie bereitzustellen? Wie or-ganisiert man ein Repertoire an Anwendun-gen (Lernumgebungen)? Eine von vielen ver-

schiedenen Möglichkeiten wäre hier ein WebQuest, eine Projektstruktur, die die Ver-wendung von Information (auch aus Internet-quellen) anhand von fachlichen Themen in-szeniert. Diese fragen-basierte Aktivität ist auf das Niveau der Lernenden abgestimmt, die durch die fest vorgegebene Struktur un-terstützt werden. (vgl. URL http://webquest. ph-bw.de, Zugriffsdatum 25.10.2003) Darstellen & Repräsentieren/Modellieren hängt eng mit den anderen Prozessstan-dards zusammen, deshalb treffen viele der oben geschilderten Beispiele auch hierfür zu.

5 Fazit

Beim Mathematiklernen ist offensichtlich ein hoch entwickeltes organisationales Denken sehr hilfreich. Deshalb sollte organisationales Denken einen wichtigen Teil der Lernziele darstellen. Ohne dieses Denken ist eine sinn-volle Nutzung computergestützter Medien zur Wissensgenerierung (fast) nicht möglich. Bei der Nutzung des Computers wird aber besonders deutlich, dass organisationales Denken eine entscheidende Rolle beim Lern-vorgang spielen muss. Der Computer wirkt — wie häufig — auch hier als Medium, das bestimmte Aspekte erst ins Bewusstsein rückt. Selbstverständlich ist damit nicht gesagt, dass in anderen Fächern nicht auch organi-sationales Denken eine Rolle spielt bzw. dort nicht gefördert werden kann. Hier sollte eine fachübergreifende Arbeitsteilung einsetzen.

Literatur Burrill (1998): Interview with Gail Burrill in: Notices

of the AMS 45, Nr. 1 http://www.ams.org/notices/199801/ comm-burrill.pdf, Zugriffsdatum 25.10.2003

NCTM (2000): National Council of Teachers of Mathematics: Principles and Standards for School Mathematics, 2000. Reston, Va: NCTM http://standards.nctm.org/, Zugriffsdatum 25.10.2003

Unz, Dagmar (2000): Lernen mit Hypertext: Infor-mationssuche und Navigation. Münster usw.: Waxmann zitiert nach http://www.trinks.org/hypertext/ hypertext_printtext.html, Zugriffsdatum 25.10.2003

57

1 Das Internet als Chance für den Mathematikunter-richt

Hinsichtlich der Integration des Internets in den (Mathematik-) Unterricht stehen wir im Jahr 2003 sicherlich noch am Anfang der Entwicklung, und gegenwärtig spielt dieses Medium im (Mathematik-) Unterricht — außer an wenigen Versuchsschulen — kaum eine nennenswerte Rolle. Es haben sich aber in den letzten Jahren zumindest einige ver-schiedene Funktionen des Internets für den (Mathematik-) Unterricht herauskristallisiert. So wird das Internet als ein Nachschlage- und Recherchemedium für mathematische Begriffe (z.B. bei der Konzeption von Web-Quests: webquest.ph-bw.de/), als eine Quel-le für Unterrichtsmaterialien (etwa: www.zum. de/), als ein Demonstrationsmedium im Klas-senzimmer (etwa www.matheprisma.uni-wu ppertal.de) oder als ein Kommunikationsme-dium genutzt.

Wie immer hängt es von der genauen Art des Einsatzes des Internets im Unterricht ab, ob Schüler aktiver und verantwortlicher in das Unterrichtsgeschehen einbezogen werden, neue und sinnvolle methodische Aspekte oder fachübergreifende Ansätze im Unter-richt unterstützt werden und sich die Aktuali-tät zu einer größeren Wirklichkeitsnähe nut-zen lässt. Auf jeden Fall bedarf es für eine erfolgreiche Nutzung des Internets im Unter-richt zusätzlicher Kompetenzen bei den Leh-renden. Eine notwendige Voraussetzung für die Nut-zung des Internets im (Mathematik-) Unter-richt ist, dass der Lehrer mit den technischen Möglichkeiten dieses neuen Mediums ver-traut ist. Nur wer die Vorzüge und Nachteile eines neuen Mediums erkannt und möglichst auch selbst authentisch kennen gelernt hat, der wird auch in der Lage sein, dieses Medi-um im Unterricht konstruktiv zu nutzen. Schließlich wird Lernen in der Schule — auch wenn letztlich die Wissenskonstruktion durch den Einzelnen das Entscheidende ist — durch den Lehrer initiiert. Wie so oft be-

Ein virtuelles Seminar — Konzeption, Durchführung und Auswertung

Christine Bescherer, Ludwigsburg Matthias Ludwig, Weingarten Barbara Schmidt-Thieme, Karlsruhe Hans-Georg Weigand, Würzburg

Virtualität von Veranstaltungen, der Einbezug neuer Medien in die Lehre wird auch an Hochschulen verlangt, Medienentwicklungspläne sichern die hard- und softwaremäßige (Grund-) Ausstattung, die Lehrenden werden zu deren Nutzung aufgefordert. Wie kann jetzt eine sinnvolle Umsetzung im Rahmen der Hochschullehre aussehen? Welche "neu-en" Gestaltungsmöglichkeiten ergeben sich durch die Nutzung des Internets für ein Se-minar? Welcher Mehrwert — inhaltlich, didaktisch, organisatorisch, kommunikativ — ent-steht aus diesen Formen für Studierende und Dozenten? Wo liegen aber auch die Prob-lemstellen? Im Sommersemester fand ein virtuelles Seminar "Geometrie in der Umwelt" als Zusam-menarbeit der Pädagogischen Hochschulen Karlsruhe (Barbara Schmidt-Thieme), Lud-wigsburg (Christine Bescherer) und Weingarten (Matthias Ludwig) sowie der Universität Würzburg (Hans-Georg Weigand) statt. Die Veranstaltungsform basierte auf einer "virtu-ellen" Art des Gruppenpuzzles (Jigsaw), die Zusammenarbeit und Kommunikation verlief in der Hauptsache über eine netzbasierte Groupware. Aufgabe der Studierenden war die Erarbeitung von Inhalten zum Thema "Geometrie in der Umwelt" sowie die Gestaltung und Präsentation von Websites. Neben fachlichen, didaktischen und unterrichtlichen In-halten stand die Entwicklung von Medienkompetenz durch die Studierenden als Veran-staltungsziel im forscherlichen Fokus der Veranstalter. Beobachtung der Aktivitäten der Studierenden sowie Fragebögen lassen erste Aussagen über Erfolg und Nutzen dieser Seminarform treffen.

Christine Bescherer, Matthias Ludwig, Barbara Schmidt-Thieme & Hans-Georg Weigand

58

ginnt eine Änderung oder Neuerung im schu-lischen Bereich also eigentlich bei der Leh-rerausbildung.

2 Das Internet in der Lehrerausbildung

Es gibt heute ein wachsendes Angebot an In-ternetmaterialien, die neben Universitätsver-anstaltungen sinnvoll genutzt werden können (vgl. Ludwig & Wittmann 2002, Weth 2005). Darüber hinaus bleibt es aber eine offene Frage, ob dabei die Chance für selbstbe-stimmtes, ortsunabhängiges und kooperati-ves Lernen in der Universitäts- und insbe-sondere in der Lehrerausbildung genutzt werden wird. Diese Frage stand im Mittel-punkt des virtuellen Seminars "Geometrie in der Umwelt", das im Sommersemester 2003 als Zusammenarbeit der Pädagogischen Hochschulen Karlsruhe (Barbara Schmidt-Thieme), Ludwigsburg (Christine Bescherer) und Weingarten (Matthias Ludwig) sowie der Universität Würzburg (Hans-Georg Weigand) stattfand. Grundlage und Ausgangspunkt wa-ren dabei die Ziele der Lehrerbildung, wie sie etwa in der Denkschrift von DMV und GDM zur Lehrerbildung (2001), Krauthausen (1998) oder in den "Perspektiven der Lehrer-bildung in Deutschland" (Terhart 1999) ange-führt werden. Wir strebten also durch unser virtuelles Seminar keine neuen Ziele, son-dern ein besseres (oder auch "nur" anderes) Erreichen der Ziele an, die wir auch in traditi-onellen Veranstaltungen anstreben würden. Ferner sahen wir uns der folgenden Forde-rung verpflichtet: "Die Einbeziehung neuer Medien in die Lehrerausbildung ist eine wich-tige Aufgabe, die in den mathematischen Fachbereichen geleistet werden muss" (DMV & GDM 2001).

3 Erwartungen, Schwierigkeiten, Ziele

Außer Christine Bescherer, die seit vier Jah-re im Rahmen des durch die Landesregie-rung Baden-Württembergs finanzierten Pro-jekts "Virtualisierung im Bildungsbereich" als Teil der "Virtuellen Hochschule Baden-Würt-temberg" teilvirtualisierte Hochschulveran-staltungen konzipiert und umsetzt, hatte kei-ner der beteiligten Dozenten bisher Erfah-rungen mit einem rein virtuellen Seminar. Es gibt wohl zahlreiche Überlegungen zum ko-operativen Arbeiten (vgl. etwa Renkl 1997

oder Friedrich u.a. 2002), aber im Hinblick auf das online-Arbeiten und insbesondere im Hinblick auf das Lernen von Mathematik lie-gen bisher kaum Erfahrungen vor (vgl. etwa Reinmann-Rothmeier & Mandl 2001 oder Dö-ring 2002). Wendet man ein klassisches ky-bernetisches Verarbeitungsmodell an, das kommunikatives Handeln in "Input – Prozes-se – Ergebnisse" untergliedert (vgl. Friedrich & Hron 2002), dann gehen wir von Studie-renden bzw. Gruppen von Studierenden und einer Lernumgebung aus, haben verschiede-ne Interaktionsprozesse der beteiligten Per-sonen untereinander und der Personen mit dem Computer und erhalten als Ergebnisse evtl. Veränderungen bei den Personen und ein Produkt (Internetseiten). Gegenüber traditionellen Seminaren erwarte-ten wir • ein stärkeres (zeitliches) Engagement der

Studierenden aufgrund der Möglichkeit, zeitungebunden arbeiten zu können, aber auch wegen der zusätzlichen technischen Fähigkeiten, die für die Nutzung des In-ternets notwendig sind;

• eine größere Bedeutung des Verbalisie-rens bzw. Verschriftlichens fachdidakti-scher und fachlicher Inhalte;

• eine höhere Qualität bei Aufbereitung und Darstellung der Inhalte aufgrund der Prä-sentation im Netz (und damit der weltwei-ten Veröffentlichung), insbesondere durch das Nutzen neuer Möglichkeiten wie die Verwendung von Applets und Links;

• eine verstärkte Kommunikation zwischen den Studierenden und auch zwischen Do-zenten und Studierenden.

Wir rechneten aber auch mit Problemen der Studierenden • beim Umgang mit der der neuen Technik; • hinsichtlich der inhaltlichen und organisa-

torischen Abstimmung zwischen Studie-renden verschiedener Hochschulen;

• durch das "Ausklinken" einzelner Studie-render aus ihrer Arbeitsgruppe;

• aufgrund der verlangten höheren Selbst-steuerung;

• aufgrund der eingeschränkten Möglich-keit, vor allem mathematische Formeln und Skizzen, Graphen und Diagramme elektronisch darzustellen zu können.

Bei unserer Veranstaltung waren wir an fol-genden zunächst sehr allgemein gehaltenen Fragen interessiert:

Ein virtuelles Seminar — Konzeption, Durchführung und Auswertung

59

• Wie ist ein virtuelles Seminar zu gestal-ten, das Studierende verschiedener Hochschulen zusammenbringt?

• Werden unsere Erwartungen und Hoff-nungen im Hinblick auf das selbstbe-stimmte und kooperative Arbeiten erfüllt?

• Ist gegenüber einem traditionellen Semi-nar ein Mehrwert im Hinblick auf die Ziele (ein Ziel) der Lehrerausbildung festzustel-len?

• Welche technischen, inhaltlichen, kommu-nikativen Schwierigkeiten treten während des Seminars auf?

• Welche Qualität hat das zu erzeugende Produkt (Internetseiten)?

Bevor aber spezielle Forschungsfragen ge-stellt und untersucht werden können, müssen zuerst Erfahrungen mit der Realität virtueller Veranstaltungen gemacht werden, sonst be-steht die Gefahr, in den technischen Proble-men stecken zu bleiben.

4 Konzeptionelle Gestaltung

4.1 Personen Teilnehmer an dem Seminar waren Studie-rende für die Lehrämter an Gymnasien, Real- und Hauptschulen. Somit war das Vorwissen sowohl in fachlicher als auch didaktischer Hinsicht sehr unterschiedlich. Die Studieren-den für das Lehramt an Gymnasium waren mehrheitlich im 3. Semester und hatten bis-her noch keine Didaktikveranstaltung gehört.1

4.2 Thema Das Thema des Seminars "Geometrie in der Umwelt" spricht Lernende an, ist wichtig für alle Schularten und in jede Studienordnung integrierbar. Die Dozenten wählten sechs Themenbereiche im Hinblick auf gute Bear-beitungsmöglichkeiten aus: Flächeninhalte, Dreiecke, Spiegel, Spiralen, Strahlensatz und Trigonometrie. Für alle Studierenden war dieses Seminar eine Pflichtveranstaltung, in der ein Leistungsnachweis erworben werden konnte.

1 Das ist sicherlich nicht wünschenswert; aufgrund einer Änderung

der Studienordnung musste diesen Studierenden kurzfristig eine neue Veranstaltung angeboten werden; und dabei handelte es sich um das hier beschriebene Virtuelle Seminar.

4.3 Interaktionsformen

Um den durch die Virtualität gegebenen Vor-teil verteilter Standorte mit verschiedenen personalen Ausgangssituationen (fachliches, didaktisches Vorwissen sowie Studien-schwerpunkt) bestmöglich zu nutzen (und die Studierenden zur Kooperation mit den ande-ren Hochschulen zu zwingen), wurde jedem Standort ein Bearbeitungsschwerpunkt zu-geordnet. • Würzburg übernahm die fachliche

Aufarbeitung der Inhalte, • in Ludwigsburg widmete man sich der di-

daktischen Aufbereitung der Themenbe-reiche, und

• in Karlsruhe geschah die Umsetzung für den Unterricht, also die methodische Auf-bereitung.

• Weingarten setzte die Themen durch Ver-messungsaufgaben im Gelände um, es handelte sich also um eine praktische Aufbereitung.

Entsprechend der sechs Themenbereiche wurden an jeder Hochschule sechs Gruppen von je 2 – 4 Personen gebildet, die Standort-gruppen. Eine Themengruppe bestand dann aus den vier Standortgruppen der vier Hoch-schulen, somit aus 10 – 16 Personen. Insge-samt nahmen 83 Personen an dem Seminar teil. Die Arbeit an den Standorten war sehr unter-schiedlich organisiert. In Weingarten traf sich die Gesamtgruppe überwiegend "real", in Ludwigsburg nur "virtuell" und in Karlsruhe und Würzburg in Mischformen. Die Zusam-menarbeit innerhalb der Themengruppe ver-lief rein virtuell. Eine weitere Aufteilung der Zuständigkeiten innerhalb einer Standort-gruppe blieb den Studierenden selbst über-lassen. So bot es sich an, dass sich etwa ein Student um die technische Aufbereitung, ein anderer um das Literaturstudium in der Bi-bliothek und ein dritter um die Internetrecher-che kümmerte. Somit entstand eine virtuelle Form eines "Gruppenpuzzles" (Stebler u.a. 1994, Bett u.a. 2002), bei dem zunächst von den Stand-ortgruppen je ein Teil eines Themenberei-ches bearbeitet wurde. In der Mischung von realen Terminen vor Ort, virtueller Zusam-menarbeit hochschulintern und -extern ent-stand somit eine "hybride Form" des Lernar-rangements.

Christine Bescherer, Matthias Ludwig, Barbara Schmidt-Thieme & Hans-Georg Weigand

60

4.4 Kommunikationsplattform

Wir stellten folgende Anforderungen an die Kommunikationsplattform: • Es sollte eine organisatorische sowie in-

haltsbezogene Kommunikation der Grup-penmitglieder untereinander, aber auch zwischen Studierenden, Tutoren und Leh-renden stattfinden;

• der Austausch von Sachinformationen sollte in verschiedenen elektronischen Formaten (Texte, Dateien, URLs usw.) er-folgen;

• es sollten Annotationsmöglichkeiten (auf Beiträge gezielt reagieren können) und eine gezielte Betreuung von einzelnen oder Gruppen unterstützt werden.

Als Kommunikationsplattform wurde BSCW (Basic Support for Cooperative Work — www.bscw.de) gewählt.

4.5 Anforderungen an die Studierenden

Jede Gruppe hatte die Aufgabe, bis zum Semesterende eine Website zu ihrem Thema zu erstellen, welche Studierenden oder (an-gehenden) Lehrern Information in übersichtli-cher und ansprechender Weise anbietet. Vorgaben für die Gestaltung der Websites gab es keine. Diese Freiheit stellte sich als ein sehr zeitraubender Faktor heraus, da die Studierenden in den ersten Entwürfen anstatt sich mit den Inhalten zu beschäftigen, sehr viel Zeit in die farbliche Gestaltung und das Design der Website investierten. In technischer Hinsicht wurden von den Teil-nehmern keine Vorkenntnisse erwartet. An jeder Hochschule fanden Einführungsveran-staltungen im Umfang von etwa einer Stun-deneinheit zur Nutzung von BSCW statt. Wieterhin wurde den Studierenden — eben-falls im Rahmen einer Stundeneinheit — eine Einführung in die Erstellung von HTML-Sei-ten gegeben. Es wurden drei unterschiedlich komplexe Vorlagen für Websites angeboten, die jedoch von den Studierenden nicht ge-nutzt wurden. Die Studierenden mussten also ihre Auf-merksamkeit und Arbeitszeit im Wesentli-chen auf drei Bereiche verteilen: Inhalt, Kommunikation oder soziale Interaktion und Technik. Daraus ergaben sich folgende Anforderun-gen an die Studierenden:

• Selbstständige Einarbeitung in die fachli-chen und didaktischen Grundlagen des Themas;

• Kennen lernen elektronischer Kommuni-kationsmöglichkeiten;

• Aufarbeitung eines mathematischen The-menbereichs in Form einer Internetprä-sentation;

• selbstständige Organisation des gesam-ten Arbeitsablaufes zur Erstellung des In-ternet-gestützten Produkts;

• Präsentation des Produkts in der realen Abschlussveranstaltung.

5 Ablauf

5.1 Rahmenplan Ein virtuelles Seminar auf Projektbasis ge-währt viele Freiheiten, es ist deshalb umso wichtiger, organisatorische Eckdaten für die Ergebnissicherung festzusetzen. Tabelle 1 zeigt einen Ausschnitt aus dem Rahmenplan, der bei Veranstaltungsbeginn veröffentlicht wurde (vgl. www.vib-bw.de/tp2/achiv/ sose2003/seminar3/zeitplan.pdf). Die Eckdaten orientieren sich an Wende-punkten der Projektarbeit. Während die Ge-samtgruppen virtuell arbeiteten, waren hoch-schulinterne Gruppentreffen natürlich mög-lich, erwiesen sich auch als fruchtbar. Eben-so fand die Betreuung durch den jeweils Leh-renden virtuell wie real statt, in Ludwigsburg und Würzburg standen den Teilnehmern zu-dem Tutoren für alle technischen Fragen zur Verfügung. Die rein virtuelle Organisation in Ludwigsburg lässt sich auch am Plan erken-nen, da ohne reale Treffen die Aufgabenstel-lung viel klarer formuliert werden muss.

5.2 BSCW Über die Einführungsveranstaltung zu BSCW und zu HTML hinaus standen den Studieren-den Online-Hilfen und Lernaufgaben zur Ver-fügung, die sich in einem eigenen Ordner be-fanden. Von der Eingangsseite (Screenshot s. Abb. 1) aus gelangte man direkt in den Ar-beitsordner seiner Gruppe, bekam fachliche Informationen und technische Hilfestellung im virtuellen Handapparat "Materialien & Links", organisatorische Hilfen in "Organisa-torisches" oder konnte sich in der "Cafeteria" austauschen. Bei einigen Ordnern be-schränkte sich der Zugang der Studierenden auf "Leserechte", in den Ordnern ihrer eige-

Ein virtuelles Seminar — Konzeption, Durchführung und Auswertung

61

nen Arbeitsgruppe durften sie natürlich Do-kumente jeder Art einstellen, diese kommen-tieren, sich an einem Diskussionsforum be-teiligen oder neue Ordnerstrukturen erstellen. Wie schon erwähnt, verwendeten die Studie-renden viel Zeit für die Diskussion über die farbliche und bildnerische Gestaltung ihrer Website, inhaltlichen Fragen wurden deshalb erst im weiteren Verlauf der Veranstaltung

analysiert. So lautet ein typischer Diskussi-onsbeitrag vom 22.5.:

"Ja, die Idee mit der gemeinsamen Dis-kussion find ich gut! Vorschläge zur URL: — Die Randleiste finde ich sehr gut ge-lungen, aber die zentrale Hintergrundfar-be (weiss) könnte aber auch ruhig blau oder gelb sein. — Von den Buttons an der Randleiste könnte man dann ja auf die Themenbestandteile der einzelnen Hoch-

Woche / Datum Aktion

Besonder-heiten

Würzburg Ludwigsburg Karlsruhe Weingarten

28.4. bis 4.5.

Erstellen ei-nes Ablauf-plans für die Arbeit inner-halb der hochschul-übergreifen-den Arbeits-gruppen

Einführung ins Seminar LB: Bearbeiten den Aufgabe im BSCW-Ordner: "Aller Anfang ist schwer"

Einführung ins Seminar KA

Einführung ins Seminar WG

Semester-beginn Ba-Wü

… … … 16.6. bis 22.6. zweiter Entwurf wird noch von allen Gruppen kommentiert

23.6. bis 29.6.

Überarbeitung des zweiten Entwurfs. Erstellen der Website, vernetzt mit den anderen Gruppen.

4.7. …

Präsentation …

Tab. 1

Abb. 1

Christine Bescherer, Matthias Ludwig, Barbara Schmidt-Thieme & Hans-Georg Weigand

62

schulen kommen. — Man müsste sich auch auf gemeinsame Formatvorlagen (einheitlicher Hintergrund, gemeinsame Schriftart, Schriftgröße, Kopf- und Fußzei-le, ...) einigen. So weit so gut. Ich hoffe, wir bringen die Geschichte auf einen ge-meinsamen Nenner!"

5.3 Webseiten Die Vorgaben für die Gestaltung der Websei-ten waren sehr gering, doch hatten wir die technischen Schwierigkeiten zu wenig be-dacht. So wurden von den einzelnen Grup-pen zunächst hochschulintern die Internet-Seiten konzipiert und erstellt. Das Problem war dann, die unterschiedlichen Internetsei-ten zu einer Gesamtstruktur zusammenzufü-gen. Einige Beispiele der Webseiten finden sich unter der Adresse www.ph-weingarten.de/ homepage/faecher/mathematik/virgeo/ (Bei-spiel eines Screenshots s. Abb. 2). Wir konn-ten leider nicht alle Websites veröffentlichen, da sich manche Gruppen nicht an die Copy-right-Regelungen gehalten und z.B. Seiten aus Schulbüchern eingescannt haben.

5.4 Präsentation Am Ende des Seminars wurde ein "Face-to-face-Treffen" durchgeführt, bei dem die hoch-schulübergreifenden Themen-Gruppen ihre Webseiten präsentierten. Die Gesamt-Rede-

zeit jeder Themengruppe umfasste 50 Minu-ten (plus 10 Minuten Diskussion), wobei die Präsentation innerhalb der Gruppe abge-stimmt werden sollte. Die Vorbereitung die-ser — benoteten — Präsentation fand eben-falls virtuell statt. Ergiebiger wären sicherlich zweitägige Gesamttreffen sowohl zu Beginn wie auch zum Abschluss der Veranstaltung gewesen, dies war aber sowohl aus organi-satorischen wie auch aus finanziellen Grün-den nicht möglich.

6 Ergebnisse und Eindrücke

6.1 Webseiten Die am Semesterende von den Studierenden zusammengestellten Internetseiten lassen die Gliederung des jeweils bearbeiteten Themenbereichs in einen fachlichen, didakti-schen, methodischen und anwendungsorien-tierten Untermodul gut erkennen. Sie zeigen weiterhin, dass sich die einzelnen Gruppen intensiv mit dem jeweiligen Thema ausein-andergesetzt und ein vorzeigbares Produkt erstellt hatten. Die Qualität der Seiten stufen wir (die Dozenten) als "gut" und teilweise "sehr gut" ein.

6.2 Diskussionsforen Ein virtuelles Seminar bringt es mit sich, dass die gesamte Interaktion über Sprache in

Abb. 2: Screenshot einer im Seminar entstandenen Webseite

Ein virtuelles Seminar — Konzeption, Durchführung und Auswertung

63

elektronischer Form erfolgt. Interessant ist das Kommunikationsverhalten in Bezug auf Thema und Häufigkeit in Abhängigkeit von dem Seminarablauf, welches anhand der Diskussionsbeiträge der Studierenden analy-siert wurde. Diagramm 1 zeigt die gesamten Beiträge aller Teilnehmer im zeitlichen Ver-lauf. Bei insgesamt 414 Diskussionsbeiträ-gen ergibt sich eine Beitragsdichte von knapp 6 Beiträgen pro Teilnehmer im gesam-ten Seminar.

Auffallend war, dass der Anteil organisatori-scher Diskussionsbeiträge sehr hoch war; d.h. die Arbeitsverteilung, das Erstellen der Seiten, Terminabsprachen und Fragen, die mit der Präsentation am Ende des Seminars zusammenhingen, sowie technische Proble-me und Fragen im Bereich der Seitenerstel-lung wurden mehr diskutiert als mathemati-sche und didaktische wie methodische Fra-

gen. Das lässt sich eventuell darauf zurück-führen, dass die einzelnen Standortgruppen doch zum grossen Teil eigenständig arbeite-ten, ohne Bezug zu den anderen Modulen ih-rer Themengruppe. Absprachen zwischen den Standortgruppen wurden allerdings auch über (private) Emails getroffen. Die Diskussionsfreudigkeit stieg in fast allen Hochschulen stetig bis zum Ende des Semi-nars an. Nur in Ludwigsburg wurde durch ei-ne verpflichtende Maßnahme erreicht, dass

die Studierenden in der Mitte des Seminars ihren Diskus-sionsanteil stark erhöhten (Diagramm 2a und 2b). Ins-gesamt war der Diskussi-onsanteil der Ludwigsburger Studierenden wesentlich hö-her als an den anderen Hochschulen. Dies lässt sich wohl darauf zurückführen, dass in Ludwigsburg sowohl seitens der Dozentin als auch seitens der Studieren-den bereits Erfahrungen mit virtuellen Seminaren vorlie-gen, diese Kommunikations-form den Studierenden also vertrauter war.

So erfreulich einerseits ein reges Diskussi-onsverhalten im Forum ist, so ergibt sich an-dererseits dadurch eine — auch von den Do-zenten — kaum zu bewältigende Informati-onsfülle. Es war kaum möglich, alle Beiträge im Diskussionsforum zu lesen, geschweige denn auch noch darauf zu antworten.

6.3 BSCW und HTML (Technologie)

Die Bedienung des BSCW-Systems brachte mehr Probleme mit sich, als wir gedacht hat-ten. Diese lagen nur z.T. in der hohen Einge-wöhnungszeit der Studierenden, auch die — je nach Netzauslastung — lange Übertra-gungszeit bei jeder Aktion erschwerte den Austausch, zudem gab es Schwierigkeiten

mit verschiedenen Datei-formaten (insbesondere mit Word-Dokumenten). Darüber hinaus hatten wir die Vertrautheit der Stu-dierenden mit dem Inter-net überschätzt. Unklar war vielen, was das "Netz" eigentlich ist, was eine Website ist (eine HTML-Datei auf einem Rechner), ganz abgese-

gesamte Diskussionsbeiträge

010203040506070

28.04

.2003 -

04.0.

..

05.05

.2003 -

11.0.

..

12.05

.2003 -

18.0.

..

19.05

.2003 -

25.0.

..

26.05

.2003 -

01.0.

..

02.06

.2003 -

08.0.

..

09.06

.2003 -

15.0.

..

16.06

.2003 -

22.0.

..

23.06

.2003 -

29.0...

30.06

.2003 -

06.0...

gesamt

Diagramm 1

Diskussionsverhalten Ludwigsburg

010203040

Diagramm 2a

Diagramm 2b

Christine Bescherer, Matthias Ludwig, Barbara Schmidt-Thieme & Hans-Georg Weigand

64

hen davon, wie man eine solche Seite selbst erstellt.

7 Fazit und Ausblick

• Die Auswertung der Abschlussdiskussion zeigt, dass die Veranstaltung von den Studierenden positiv beurteilt wurde. Dies lag zum einen an den hochschulübergrei-fenden Kontakten und zum anderen dar-an, dass die Studierenden Zeit hatten, sich intensiv mit einem Thema auseinan-der zu setzen. Allerdings wurde auch her-ausgestellt, dass eine Veranstaltung in dieser Form einen erheblichen Mehrauf-wand im Vergleich zu traditionellen Semi-naren erforderte. Dies gilt in gleicher Wei-se auch für die Lehrenden, da die immer wieder erforderlichen Einzelberatungen sehr viel Zeit benötigte.

• Die Email-Anfragen seitens der Studie-renden an die Dozenten hielten sich — anders als erwartet — doch in sehr be-grenztem Rahmen. Hier zeigt sich das al-te Phänomen, dass es eines fortgeschrit-tenen Wissens bedarf, um Fragen zu stel-len. Bei Unsicherheiten in der Fragestel-lung scheint man seitens der Studieren-den ein persönliches Gespräch einer Email-Anfrage vorzuziehen.

• Das Vermitteln von Grundlagenkenntnis-sen im Umgang mit dem Kommunika-tionssystem und einem Programm zur Er-stellung von Internetseiten sollte zu Be-ginn in einem konzentrierten Kurs ange-boten werden. Wir gehen zwar davon aus, dass in Zukunft mehr und mehr Studie-rende mit derartigen Programmen vertraut sein werden und deren Bedienung auch immer einfacher werden wird. Gegenwär-tig ist die Unkenntnis im Umgang mit den Programmen aber noch ein leistungslimi-tierender Faktor im Hinblick auf die Ziele einer virtuellen Veranstaltung.

• Die Freiheit, die sich aus dem Projektcha-rakter ergab, wurde allgemein positiv ge-sehen, dennoch stand dazu im Wider-spruch, dass sich die Studierenden mehr Strukturvorgaben wünschten (z.B. mehre-re bestimmte Zwischentermine, genaue Angaben zur Erstellung, zum Umfang, usw.). Ein Zitat aus der Abschlussdiskus-sion, die in der Präsenzveranstaltung an-gefangen und dann über BSCW weiterge-führt wurde, beschreibt stellvertretend die Meinung der Studierenden: "Im Gesamten gesehen und im Hinblick auf die derzeit an den Schulen geforderte

Projektdidaktik hat mir dieses Virtuelle Se-minar viele Aspekte (Planung, Kommuni-kation, Gruppenarbeit, Teamgeist, -fähig-keit, Problembewältigung, Präsentieren, ...), die für ein Projekt erforderlich sind, mit vielen ihrer Vor- und Nachteile sowie Problemen gezeigt. Eine wichtige Grund-erfahrung, um später selbst Projekte mit Schülern durchführen zu können."

• Entscheidend ist die Vorgabe strukturie-render und ordnender Maßnahmen zu Beginn des Seminars. Insbesondere be-darf es klar formulierter Aufgabenstellun-gen, die den Studierenden den Einstieg in die inhaltliche Diskussion erleichtern.

• Was wir zu wenig bedacht haben: Neben der Gruppenbewertung sollten auch die Leistungen der Einzelnen deutlicher her-ausgestellt werden. "Förderung der indivi-duellen Verantwortlichkeit bei gleichzeiti-ger Gruppenbelohnung lautet die Gestal-tungsformel." (Fischer u. Waibel 2002).

• Bei einem Seminar über vier Universitäten hinweg ist es kaum leistbar, dass sich ein Dozent mit jeder Themenstellung intensiv auseinandersetzt. Insbesondere ist es kaum möglich, alle Beiträge im Diskussi-onsforum zu würdigen. Es ist deshalb notwendig, dass sich jeder der beteiligten Dozenten auf einen Teilbereich konzent-riert. Dies könnte etwa dadurch erfolgen, dass jeder Dozent die Themengruppe be-treut, die seinen Interessen am nächsten steht.

• Vor allem im Hinblick auf die Darstellung von Internetseiten ist BSCW nicht das geeingete Werkzeug für ein virtuelles Seminar. Auch wird es gerade im Bereich der Mathematik sehr wichtig sein, mit ei-nem Programm kommunizieren zu kön-nen, das die einfache Darstellung mathe-matischer Symbole und Skizzen erlaubt.

Diese Veranstaltung, in der die Studierenden in Teamarbeit einen mathematischen Kontext erarbeiteten und ihn elektronisch recherchier-ten, aufbereiteten und präsentierten, sollte zunächst die Akzeptanz einer virtuellen Ver-anstaltung im Bereich der Mathematikdidak-tik seitens der Studierenden und seitens der Dozenten aufzeigen. Mit ihr wurden vor allem Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten und Grenzen ausgelotet. Ob langfristige Ver-änderungen im Arbeitsverhalten oder in der Einstellung zu Mathematik bzw. zu Mathema-tikdidaktik erzielt wurden, lässt sich im Mo-ment noch nicht sagen.

Ein virtuelles Seminar — Konzeption, Durchführung und Auswertung

65

Literatur Bett, K. u.a. (2002): Das Gruppenpuzzle als ko-

operative Lernmethode in virtuellen Seminaren — ein Erfahrungsbericht. In: Gudrun Bach-mann, Odette Haefeli & Michael Kindt (Hrsg.) (2002): Campus 2002. Münster u.a.: Wax-mann, 357-365

DMV & GDM (2001): Denkschrift zur Lehrerbil-dung. www.mathematik.de/gdm unter Stel-lungnahmen, Zugriffsdatum 17.11.2003

Döring, Nicola (2002): Online-Lernen. In: Issing & Klimsa (2002), 247–264

Fischer, F. & M. C. Waibel (2002): Wenn virtuelle Lerngruppen nicht so funktionieren, wie sie ei-gentlich sollten. In: Rinn & Wedekind (2002), 35–50

Friedrich, H. F., W. Hesse, B. Garsoffky & A. Hron (2002): Netzbasiertes cooperatives Lernen. In: Issing & Klimsa (2002), 283–298

Friedrich, H. F. & A. Hron (2002): Gestaltung und Evaluation virtueller Seminare. In: Rinn & We-dekind (2002), 11–34

Issing, Ludwig J. & Paul Klimsa (Hrsg.) (2002): In-formation und Lernen mit Multimedia und In-ternet. Weinheim: Beltz PVU, 3. Auflage

Krauthausen, Günter (1998): Lernen — Lehren — Lehren lernen. Stuttgart: Klett

Ludwig, Matthias & Gerald Wittmann (2002): Eine internetgestützte Wissensbasis zur Didaktik der Geometrie — Entwicklungsprinzipien und Pilotstudie. In: mathematica didactica 24, 81–92

Reinmann-Rothmeier, Gabi & Heinz Mandl (2001): Virtuelle Seminare in Hochschule und Weiter-bildung. Göttingen: Huber

Renkl, Alexander (1997): Lernen durch Lehren: Zentrale Wirkmechanismen beim kooperativen Lernen. Wiesbaden: DUV

Rinn U. & J. Wedekind (Hrsg.) (2002): Referenz-modelle netzbasierten Lehrens und Lernens. Virtuelle Komponenten der Präsenzlehre. Münster u.a.: Waxmann

Stebler, R., K. Reusser & C. Pauli (1994): Interak-tive Lehr-Lern-Umgebungen: Didaktische Ar-rangements im Dienst des gründlichen Verste-hens. In: Reusser, K. und M. Reusser-Wey-enth (1994): Verstehen. Psychologischer Pro-zess und didaktische Analyse. Göttingen: Hu-ber, 227–259

Terhart, Ewald (1999) Perspektiven der Lehrerbil-dung in Deutschland. Weinheim: Beltz

Weth, Thomas (2005): MaDiN — Mathematikdi-daktik im Netz. In diesem Band

66

1 Einleitung Heutzutage wird in den Schulbüchern der Kosinussatz üblicherweise bewiesen, indem ein gegebenes spitzwinkliges Dreieck in zwei rechtwinklige Teildreiecke zerlegt wird (bzw. im stumpfwinkligen Fall entsprechend er-gänzt wird) und dann der Satz des Pythago-ras angewandt wird.

Dieser Beweis verfolgt einen algebraisch ori-entierten, statischen Ansatz. Die schließlich errechnete Formel dominiert. Sie bleibt dabei bezugslos, es gibt kein adäquates Bild zur Formel. Der Satz des Pythagoras wird im Beweis zwar angewandt, bleibt aber unter der Oberfläche.

Eine Verwandtschaft zum Pythagoras-Satz, die ja aus der Formel offensichtlich nahe liegt, ist in der Beweisfigur nicht mehr zu er-kennen. Der Zusammenhang der Sätze ist völlig verdunkelt, er wird nicht einmal mehr im rechtwinkligen Sonderfall deutlich. Aus γ = 90° folgt nur noch algebraisch der Wegfall eines Terms, weil ein Faktor darin 0 ist. Fi-gürlich ist vom klassischen Pythagoras-Ansatz nichts zu finden, das betrachtete Dreieck mutiert nur zu einem rechtwinkligen Dreieck, in dem der Beweisansatz überhaupt nicht mehr sichtbar wird.

Der Kosinussatz — wiederentdeckt als Flächensatz

Hans-Jürgen Elschenbroich, Korschenbroich

Der Beitrag beschreibt, welche Erfahrungen und Entdeckungen die Autoren elektroni-scher Geometrie-Arbeitsblätter (Elschenbroich & Seebach 2003) bei der Entwicklung vonAufgaben zum Kosinussatz machten, wie eine alte Idee mühsam wieder freigelegt wurde, wie sich dies bei der Lektüre alter Schulbücher entwickelte und wie sich schließlich mit DGS derartige alte Ideen mit neuen Werkzeugen dynamisch umsetzen lassen.

Abb. 2: Lambacher–Schweizer Klasse 10 (2000)

Abb. 1: Duden Basiswissen Schule Mathematik

Abb. 3a: Beweisfigur für γ > 90°

Der Kosinussatz — wiederentdeckt als Flächensatz

67

Unsere eigenen (Elschenbroich und See-bach) Erinnerungen an den Kosinussatz als Verallgemeinerung des Pythagoras fanden keine Entsprechung im heutigen Schulbuch. Es gab keinen textlichen Hinweis, geschwei-ge denn eine entsprechende Figur, das Sym-bolische triumphierte über das Visuelle.

2 Flächen(un)gleichheiten

Abb. 4a: Fall γ = 90°: a2 + b2 = c2

Abb. 4b: Fall γ > 90°: a2 + b2 < c2

Abb. 4c: Fall γ < 90°: a2 + b2 > c2

Ein qualitativer Zusammenhang zum Kosi-nussatz ist durch eine Dynamisierung und Verallgemeinerung des Pythagoras-Satzes schnell und einfach herzustellen. Bei fester Seite c und beweglichem Eckpunkt C erhält man die Konfigurationen in Abb. 4a, b, c. Hierbei bleibt jedoch noch im Dunkeln, um wieviel a2 + b2 größer oder kleiner als c2 ist und woran das liegt.

3 Der Kosinussatz im Spiegel der Schulbücher

Unsere zunächst enttäuschte Erinnerung an den Kosinussatz als Verallgemeinerung des Pythagoras führte uns dazu, in älteren Schul-büchern nachzuschlagen. Im Lambacher-Schweizer der 70er Jahre wurden wir als ers-tes dahingehend fündig, dass wenigstens im Text ein Bezug zum Satz des Pythagoras hergestellt wurde.

Abb. 5: Lambacher-Schweizer 1975

Im Lambacher-Schweizer der 60er Jahre fand sich dann folgende Formulierung des Satzes, die durch einen erhöhten Textanteil auffällt:

Abb. 6: Lambacher-Schweizer 1960

Abb. 3b: Beweisfigur für γ = 90°

Hans-Jürgen Elschenbroich

68

Es folgen dazu zweierlei Beweise, einmal der erwähnte Zerteilungsansatz und dann ein zweiter Beweis, in dem explizit eine pythago-ras-ähnliche Figur auftaucht, in der der Cha-rakter des Flächensatzes sichtbar wird.

Abb. 7: Lambacher-Schweizer 1960

Auch ist hier im Text wieder der Hinweis auf die Verallgemeinerung des Pythagoras-Sat-zes zu finden. Fast die gleiche Figur ist dann auch im Lam-bacher-Schweizer von Ende 40er / Anfang 50er Jahre zu finden. Es gibt jedoch einen kleinen, aber bedeutenden Unterschied: Der Hinweis b·cosγ am Rande des Quadrats über a ist nicht mehr vorhanden und die For-mel c2 = a2 + b2 - 2ab cosγ ist nicht mehr zu finden.

Abb. 8: Lambacher-Schweizer ca. 1950

Bemerkenswert: Der Satz ist hier rein als Flächensatz mit Quadraten und Teilrecht-ecken formuliert! Dies erklärt sich daraus, dass dieser Sachverhalt nicht im Kapitel Tri-gonometrie thematisiert wurde (die damals noch in der Oberstufe behandelt wurde), sondern im Kapitel "Flächensätze im recht-winkligen Dreieck" unter "Vermischte Aufga-ben" auftauchte. Anstelle des Kosinus wird

hier mit der Projektion einer Strecke auf eine andere argumentiert.

4 Der Ursprung

Insgesamt fällt auf, dass die Formulierung von 1950 rein verbal ist und die Deutung des Sachverhalts als Kosinus-Satz offensichtlich neuzeitlicher zu sein scheint. Der Flächen-Aspekt samt Projektionsgedanken dürfte klassischer sein. Die weitere Rückverfolgung der Lambacher-Schweizer-Reihe stößt an ei-ne natürliche Grenze. Ein Blick in den Klassi-ker, die Elemente des Euklid, brachte folgen-des zu Tage:

§ 13 (L. 12). An jedem spitzwinkligen Dreieck ist das

Quadrat über der einem spitzen Winkel ge-genüberliegenden Seite kleiner als die Qua-drate über den diesen spitzen Winkel umfas-senden Seiten zusammen um zweimal das Rechteck aus einer der Seiten um diesen spitzen Winkel, nämlich der, auf die das Lot fällt, und der durch das Lot innen abgeschnit-tenen Strecke an dieser spitzen Ecke.

Damit hat die Rückverfolgung des Kosinus-satzes nun ihr Ende gefunden.

5 Die Dynamisierung mit DGS

Bei der Umsetzung in eine dynamische Kon-struktion haben wir uns auf den Fall des spitzwinkligen Dreiecks beschränkt. Dabei kann man den Scherungsansatz des Bewei-ses von Euklid zum Satz des Pythagoras aufgreifen1.

Es ist ein spitzwinkliges Dreieck ABC gege-ben samt Quadraten über den Seiten. (Wenn C so gezogen wird, dass das Dreieck stumpf-winklig würde, verschwindet es.) a) Woran erinnert dich diese Figur? b) Begründe: Die blau gefärbten Teilrecht-

ecke in a² und c² sind gleich groß. Ziehe dazu an Zug1 und Zug2. Dann kannst du die blau schraffierten Flächen in eine solche Gestalt und Lage bringen, dass du ihre Kongruenz begründen kannst.

1 Euklid hatte das selbst nicht so gemacht, sondern auf das Ergeb-

nis des Pythagoras-Satzes zurück gegriffen und nicht auf den Be-weisansatz. Die Scherungsargumentation macht aber den Flä-chenaspekt besonders deutlich.

Der Kosinussatz — wiederentdeckt als Flächensatz

69

Abb. 9a: Scherungsbeweis

Abb. 9b: Scherungsbeweis

Abb. 9c: Scherungsbeweis

Üblicherweise wird dieser Satz jedoch heut-zutage im Unterricht als eine Anwendung des Kosinus behandelt. Dem wurde in einem elektronischen Arbeitsblatt Rechenschaft ge-tragen, das den Sachverhalt sowohl in heuti-ger Form formuliert, als ihn auch in Adaption der klassischen Flächensichtweise visuali-

siert. Die Schüler finden so einerseits die gängige Formulierung des Schulbuchs wie-der und lernen andererseits den Flächenas-pekt und die Verbindung zum Satz des Py-thagoras kennen.

Es ist ein spitzwinkliges Dreieck ABC gege-ben samt Quadraten über den Seiten. (Wenn C so gezogen wird, dass das Dreieck stumpf-winklig würde, verschwindet es.) a) Woran erinnert dich diese Figur? b) Begründe: Die blau gefärbten Teilrecht-

ecke in a² und c² sind gleich groß, die rot gefärbten in b² und c² ebenfalls. Tipp: Suche nach Teildreiecken von ABC, in denen du geeignete Seiten berechnen kannst.

c) Zeige für die die schraffierten hellroten bzw. hellblauen Teilrechtecke, dass ihr Flächeninhalt a·c·cos(β) beträgt. Tipp: Suche nach Teildreiecken von ABC, in denen du geeignete Seiten berechnen kannst.

d) Folgere daraus den Kosinussatz: c² = a² + b² – 2a·b·cos(γ).

e) Findest du bekannte Sonderfälle?

Abb. 10: Screenshot Elektronisches Arbeitsblatt

Die Dynamik der Dateien kommt in der Print-version naturgemäß nur unzureichend zur Geltung, ebenso die farblichen Hilfen. Die Dateien sind Teil der CD "Dynamisch Geo-metrie entdecken Klasse 10" und können in einer Demo-Version auch aus dem Internet (www.dynamische-geometrie.de) geladen werden.

Hans-Jürgen Elschenbroich

70

Literatur DUDEN (2001): Basiswissen Schule Mathematik. Berlin & Mannheim: Duden-Verlag Elschenbroich, Hans-Jürgen & Günter Seebach (2003): Dynamisch Geometrie entdecken. Elek-tronische Arbeitsblätter Klasse 10. Rosenheim: CoTec Euklid (1997): Die Elemente. Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften. Frankfurt: Harri Deutsch

Lambacher-Schweizer Geometrie 2 (1948). Stutt-gart: Klett Lambacher-Schweizer Ebene Trigonometrie (1960). Stuttgart: Klett Verlag, 12. Auflage Lambacher-Schweizer Geometrie 2 (1975). Stutt-gart: Klett Lambacher-Schweizer Klasse 10 (2000). Stuttgart: Klett

71

0 Einleitung

Der typische Umgang mit Lehr- und Lehrsys-temen ist dadurch gekennzeichnet, dass Lehrende Inhalte in das System einstellen und Lernende die Inhalte für die Vor- und Nachbereitung von Klausuren, Seminaren usw. "entnehmen". Zu diesem Zweck arbei-ten dann didaktische und fachliche Experten am Aufbau einer Wissensbasis zusammen. In diesem Sinne werden im vom bmb+f ge-förderten MADIN-Projekt (homepage: http://www.madin.net) größere Wissensbe-reiche der Lehramtsausbildung Mathematik für das Internet aufbereitet (vgl. auch die Bei-träge von T. Weth und G. Wittmann zu MADIN in diesem Band). Betrachtet man die Anforderungen, die z.B. an Lehrer/innen in der Unterrichtspraxis ge-stellt werden, so ist die Anpassung gegebe-ner Unterrichtsinhalte an die Lernvorausset-zungen der Lerngruppe eine zentrale Aufga-benstellung, die unabhängig vom unterrichte-ten Fach von jedem/r Lehrer/in geleistet wer-den muss. In diesem wie in vielen anderen Anwendungsbereichen genügt es heute nicht mehr, wenn Lernende Inhalte ausschließlich rezeptiv nutzen. Internetbasierte Lehr- und Lernsysteme können Lernende bei einer konstruktiven Nutzung von Inhalten auf un-terschiedliche Weise unterstützen, z.B. in-dem die Inhalte als Informationsquelle für die Bearbeitung projektartiger Aufgabenstellun-gen in Gruppenarbeitssituationen gewinn-bringend nutzbar sind. Internetbasierte Lehr- und Lernsystemen können es Lernenden a-ber auch ermöglichen, Inhalte in einem per-sönlichen Bereich neu zu organisieren, neue Inhalte in das System einzubringen und so selbst zu Autorinnen und Autoren zu werden. Die im Rahmen des MADIN-Projektes von der Arbeitsgruppe um M. Stein, Münster, entwickelte Software SIMLA (System for in-ternet based multimedia enriched learning

acitivites) unterstützt Studierende bei einer konstruktiven Nutzung des Lehr- und Lern-systems in diesem Sinne. Wenn es lediglich darum geht, einen Unter-richtsentwurf oder ein Video in ein System einzubinden, kann dies in der Regel "ad hoc" geschehen. Problematisch wird dieses Vor-gehen aber, wenn viele Personen an einer Wissensbasis arbeiten bzw. größere Wis-sensbereiche aufbereitet werden. Es entsteht dann u.U. eine unstrukturierte Ansammlung von einzelnen Informationseinheiten, die für eine/n spätere/n Nutzer/in unüberschaubar werden können. Deshalb wurde zum einen ein internetbasiertes Lehr- und Lernsystem entwickelt, das die Präsentation, Reorganisa-tion und Produktion von mathematischen und didaktischen Inhalten unterstützt, und zum anderen eine darauf abgestimmte Methode erarbeitet, die Studierende bei der eigen-ständigen Aufbereitung von Inhalten für das Lehr-Lernsystem unterstützt. Diese Methode wurde innerhalb von drei Generationen von Examenstudentinnen und -studenten erprobt, die im Rahmen ihrer Examensarbeit ein ma-thematikdidaktisches Thema für das Lehr- Lernsystem aufbereiteten. Im Folgenden wird zunächst das entwickelte Lehr- und Lernsystem kurz vorgestellt. An-schließend werden Methoden behandelt, die Autoren/innen bei der Erstellung von Lern-software unterstützen können. Dazu werden zwei Modelle aus dem ISD (Instructional Sys-tems Design) vorgestellt und ihre Eignung für den Einsatz im Lehramtsstudium und insbe-sondere im Rahmen von Examensarbeiten diskutiert. Die in Münster erarbeitete Lösung wird dann überblicksartig dargestellt. Ab-schließend werden Möglichkeiten behandelt, wie eine Autorentätigkeit im Lehramtsstudi-um schrittweise von Vorlesungen über Semi-nare bis hin zu Examensarbeiten aufgebaut werden kann. Wege einer konstruktiven Nut-

Konstruktiv arbeiten mit dem Internet in Schule und Lehrerausbildung — Methoden der Content-Erstel-lung mit Beispielen aus der Praxis

Astrid Ernst & Engelbert Niehaus, Münster

Lehr- und Lernsysteme können es Lernenden ermöglichen, selber Inhalte in das System einzubringen und so zu Autoren und Autorinnen zu werden. In diesem Beitrag werden Möglichkeiten und Wege einer solchen konstruktiven Nutzung von Lehr- Lernsystemen in der Lehrerausbildung vorgestellt.

Astrid Ernst & Engelbert Niehaus

72

zung des Systems in der Referendarzeit und später als Lehrer/in werden vorgestellt.

1 Vorstellung des entwickel-ten Lehr-Lernsystems

Das entwickelte webbasierte Lehr- und Lern-system besteht aus zwei Komponenten: • der Navigationsumgebung, mit dem Inhal-

te angeschaut werden können. • dem Autorentool, mit dem neue Inhalte in

das System "geladen" werden können und mit dem die Struktur der vorhandenen Inhalte in einem persönlichen Bereich modifiziert und erweitert werden kann.

Abb. 1: Schreibtisch als Navigationselement, er-möglicht Zugriff auf theoretische Informationen, Anwendungsbeispiele, Anregungen zu Aktivitäten usw.

Abb. 2: Menü ermöglicht Navigation in der hierar-chisch vernetzten Inhaltsstruktur

Zentrales Element der Navigationsumgebung ist der Schreibtisch, über den die Nut-zer/innen auf die Inhalte zugreifen. Dieser wird kontextabhängig unterschiedlich gefüllt: Beim Thema "Bruchrechnung" enthält er the-oretische Informationen, Anwendungsbei-spiele, Anregungen zu Aktivitäten, Links ins Internet usw.. Navigiert der/die Nutzer/in mit-tels des Menüs (Abb. 2) zu einem anderen

Thema, so werden die Inhalte im Schreib-tisch ausgetauscht (weitere Erläuterungen siehe Absatz "4 Grundkonzeption für den In-haltsbereich des Lehr-Lernsystems").

2 Modelle des Instructional Systems Design (ISD)

ID- (Instructional Design) bzw. ISD- (Instruc-tional System Design) Modelle stellen eine Hilfe dar, die für die Entwicklung eines Lern-systems relevanten Arbeitsschritte und As-pekte effizient zu planen und durchzuführen. Typischerweise findet sich bei den ISD-Modellen eine Einteilung in folgende größere Arbeitsabschnitte: Analyse, Planung, Ent-wicklung/Produktion, Implementierung, Eva-luation/Revision (vgl. Issing 2002, 151; Wa-ger et al. 1997; Fardouly 2002). Viele ISD-Modelle zielen auf die Erstellung eher linear organisierter Lernangebote ab und wurden insbesondere bei der Erstellung von Pro-grammen in der Tradition von drill and practi-ce angewendet. In Abbildung 3 ist ein ISD-Grundmodell zu sehen, in dem Issing (2002) typische Elemente von ISD-Modellen zu-sammenfasst. Modelle für die Entwicklung von konstrukti-vistisch orientierten Angeboten, wie z.B. von Hypermediasystemen, befinden sich in der Entwicklung. Ein solches Modell ist das von Blumstengel entwickelte (Abb. 4). Beide Mo-delle werden im Folgenden kurz vorgestellt.

2.1 ISD-Grundmodell (vgl. Issing 2002)

Die Arbeitsphasen des Entwicklungsprozes-ses werden beim ISD typischerweise zeitlich weitgehend nacheinander durchgeführt. Der Entwicklungsprozess beginnt mit der Phase der "Analyse/Planung".

2.1.1 Analyse/Planung: In der Analyse/Planung werden die didakti-sche und pädagogische Grob- und Fein-planung durchgeführt. Dazu wird zunächst eine didaktische Zielsetzung sowie ein didak-tischer Entwurf für das Lernangebot erarbei-tet. Typisches Element dieser Phase ist eine präzise "Definition der Lernziele". Diese bil-det die Voraussetzung für die Ableitung ge-eigneter Methoden der Inhaltsvermittlung und der Beurteilung des Lernerfolges. Bei der Entwicklung des didaktischen Entwurfes soll-te auf Basis einer Zielgruppenanalyse eine

Konstruktiv arbeiten mit dem Internet — Methoden der Content-Erstellung

73

Abstimmung auf die Zielgruppe erfolgen ("Identifizierung der Lernereigenschaften"). Dabei sind insbesondere deren Vorwissen und Motivationslage wichtig. Die Planungen werden anschließend weiter verfeinert ("Auswahl und Vorbereitung der Lerninhalte" "Planung der Lehr- Lernmethode und der Medien"). Feinlernziele werden be-stimmt, Inhalte und Vermittlungsstrategien festgelegt, die Inhalte in eine Abfolge ge-bracht und geeignete Medien ausgewählt.

2.1.2 Entwicklung und Produktion: Die praktische Umsetzung der Planungen ist Gegenstand der Entwicklungs- und Produkti-onsphase. Als Hilfsmittel werden u.a. Flow-charts verwendet, die insbesondere die Pla-nung linearer Ablaufstrukturen unterstützen. Außerdem wird der Arbeitskräfteeinsatz und die Teamzusammensetzung geplant, sowie der Zeit- und Mittelaufwand für die Medien-produktion kalkuliert. Es werden geeignete Werkzeuge und technische Hilfsmittel aus-gewählt.

2.1.3 Evaluation, Revision, Implemen-tation:

Die Erprobung der Einheiten sowie des Lehr- Lernprogramms in der Anwendung sollte als formative Evaluation den Entwicklungs- und Produktionsprozess begleiten. Eine summa-tive Evaluation ist mit einem wesentlich hö-herem Aufwand verbunden und mit verschie-denen Problemen der Umsetzung verbun-den. Die Aussagen können aufgrund der lan-gen Dauer des Evaluationsprozesses in der

Regel nicht mehr für die Verbesserung des Produktes verwendet werden. Vielmehr sind die Ergebnisse für eine abschließende Beur-teilung der Entwicklung von Interesse.

2.2 Entwicklungsmodell für hy-permediale Lernsysteme von Blumstengel (1998)

Blumstengel (1998; s. Abb. 4) entwickelte ein an konstruktivistischen Konzepten orientier-tes Entwicklungsmodell für hypermediale Lernsysteme, in dem sie Elemente des ISD aufgreift. So unterteilt auch Blumstengel (1998, 155–184) den Projektverlauf in größe-re Phasen, und zwar in Bedarfsanalyse, Ent-wicklung von Alternativen, Produktion/Pla-nung sowie Anwendung und Evaluation.

In ihr Modell integriert Blumstengel das Kon-zept des "rapid prototyping", das aus der Software-Entwicklung stammt und durch die frühzeitige Produktion eines "Prototypen", seiner Erprobung in der Praxis und iterativen Verbesserungsmaßnahmen an dem Prototy-pen gekennzeichnet ist. Dies führt auch zu einer Überlappung von Arbeitsphasen, so dass eine eindeutige Abgrenzung der einzel-nen Arbeitsphasen mit einer streng linearen Abfolge nicht mehr gegeben ist. In Abb. 4 ist das Modell in einer Grafik skizziert. Von dem oben dargestellten ISD Grundmo-dell unterscheidet sich das Modell von Blumstengel insbesondere in den folgenden Hinsichten: • Es wird keine genaue und detaillierte

Lernzieldefinition vorgenommen. Statt dessen werden die Ziele "weicher" defi-niert, indem z.B. relevante Wissensdomä-

Abb. 3: Modell des Systematischen Instruktions-design (aus Issing 2002, 158)

Abb. 4: Entwicklungsmodell für hypermediale Lernsysteme (Blumstengel 1998, Abb. 3.1, 156)

Astrid Ernst & Engelbert Niehaus

74

nen bestimmt werden und ein Kernbe-reich festgelegt wird.

• Die Phase der didaktischen Feinplanung und die Produktionsphase werden zu ei-ner einzigen Phase zusammengefasst, nämlich zu der Produktions-/Planungs-phase. In dieser Phase wird rapid prototy-ping eingesetzt. Es erfolgt daher eine ver-zahnte Entwicklung der (didaktischen) Feinplanung sowie der (softwaretechni-schen) Realisierung. Die Planungs-/Pro-duktionsphase wird von formativer Evalu-ation begleitet.

• Die Planungen, deren Umsetzung und Erprobung folgen rasch aufeinander und werden in mehreren Entwicklungszyklen nachgebessert. Der Entwicklungsprozess ist daher nicht mehr streng linear, sondern von Phasenüberschneidungen gekenn-zeichnet.

• Die Empfehlungen zur didaktischen Ges-taltung des Lernangebotes sind auf ler-ner/innengesteuerte Systeme zugeschnit-ten. Als Planungshilfen werden beispiels-weise concept maps und storyboards empfohlen, die auch die Planung nichtli-nearer Strukturen unterstützen. Eine Li-nearisierung bzw. Sequenzialisierung von Lernschritten des geplanten Lernangebo-tes findet nicht statt.

3 Anwendbarkeit der vorge-stellten Modelle im Rah-men von Examensarbeiten

Inwiefern sind die vorgestellten Modelle nun geeignet, Studierende des Lehramtes bei der Aufbereitung eines Inhaltes im Rahmen einer Examensarbeit zu unterstützen? Zentraler Bestandteil des ISD-Grundmodells sind genaue Lernzieldefinitionen und eine Li-nearisierung von Arbeitsschritten innerhalb des zu entwickelnden Lernangebotes. Beides ist mit den Zielsetzungen im vorliegenden Projekt nicht vereinbar: Studierenden soll es gerade ermöglicht werden, das Lernsystem unter verschiedenen Zielvorstellungen ei-gengesteuert zu durchwandern. In diesen Hinsichten erscheint das von Blumstengel entwickelte Modell angemesse-ner. Allerdings beinhaltet dieses Modell auch zahlreiche Arbeitsschritte, die für die Studie-renden nicht relevant sind bzw. die eine Überforderung darstellen würden. Dazu ge-hört beispielsweise die Planung der Teamzu-sammensetzung und der Produktionskosten

sowie die Erarbeitung einer grundlegenden didaktischen Konzeption. Da das Blumstengel-Modell auf viele ver-schiedene Anwendungssituationen übertrag-bar sein soll, sind die Hinweise und Hilfen, die zur Vorgehensweise bei der Aufbereitung von Inhalten gegeben werden, eher allge-mein gehalten. Für Studierende, die mit der Erstellung von Inhalten für Lernsysteme in der Regel keine Erfahrung haben, wären hier detailliertere und konkretere Hilfen wün-schenswert. Im Projekt wurden daher folgende Entschei-dungen getroffen: • Es wird eine grundlegende didaktische

Konzeption für den Inhaltsbereich des Lehr-Lernsystems bis hin zur Definition geeigneter "Formate" entwickelt.

• Es wird eine Methode entwickelt, die die Studierenden bei der Erzeugung von In-halten gemäß dieser Formate unterstützt. Diese Methode beschränkt sich auf die re-levanten Aspekte der Inhaltsaufbereitung und beschreibt detailliert die notwendigen Arbeitsschritte. Zu der entwickelten Me-thode wird eine Art Anleitung oder Doku-mentation entwickelt, in der die Abläufe und notwendigen Überlegungen be-schrieben werden.

4 Grundkonzeption für den Inhaltsbereich des Lehr-Lernsystems

Die entwickelte Konzeption zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: • Modulare Inhaltsaufbereitung: Die Inhalte

sollen als Module konzipiert werden, die dann in einer "Wissensbasis" zusammen-gesteckt werden können.

• Sachlogische hierarchisch vernetzte Grundstruktur: Die hierarchische Grund-struktur soll die Orientierung der Nutzer und Nutzerinnen im Informationsbestand unterstützen. Die Vernetzungen sollen ein eigengesteuertes Vorgehen erleichtern und Querbezüge aufzeigen.

• Informationsbündel statt Informationskno-ten: Zu jedem Thema gibt es verschiede-ne Informationsangebote wie Theorie, Anwendungsbeispiele, Anregung zur akti-ven Auseinandersetzung mit den Inhalten, Hinweise auf weiterführende Literatur, Links ins Internet usw. Dadurch soll eine Verzahnung theoretischer Informationen

Konstruktiv arbeiten mit dem Internet — Methoden der Content-Erstellung

75

insbesondere mit Anwendungssituationen und Anregungen zur aktiven Auseinander-setzung mit den dargestellten Inhalten er-reicht werden

• Selbsterklärende Informationseinheiten: Soll ein eigengesteuertes Vorgehen mög-lich sein, so sind aus sich heraus ver-ständliche Informationseinheiten eine we-sentliche Voraussetzung.

Diese Struktur wird innerhalb des Lehr- Lern-systems auf dem Bildschirm visualisiert: Ein Schreibtisch visualisiert die Informationsbün-del (s. Abb. 1). Hier können Theorie, Anwen-dungsbeispiele, Anregungen zu Aktivitäten, Links ins Internet, Literaturhinweise, usw. "einsortiert" werden. Die hierarchisch ver-netzte Struktur der Module spiegelt sich in dem Menü wieder (s. Abb. 2). Die Navigation im Informationsbaum füllt den Schreibtisch dann kontextabhängig mit Inhalten.

5 Die entwickelte Methode

Die entwickelte Methode ist als eine Schritt-für-Schritt-Anleitung konzipiert. Sie kann also in aufeinander folgenden Arbeitsschritten "abgearbeitet" werden. In Abbildung 6 ist ei-ne Übersicht über den Ablauf der Methode zu sehen. Als sinnvoll hat sich die Integration des rapid prototyping hinsichtlich der techni-schen Umsetzung erwiesen: der frühe Be-ginn der technischen Umsetzung hilft Studie-renden, die Stärken aber auch Schwächen der geplanten Module zu erkennen. Deshalb sollte mit der technische Umsetzung, ähnlich wie im Blumstengel-Modell, schon in der Phase der Planung begonnen werden.

Die entwickelte Methode integriert das con-cept mapping als Planungshilfsmittel für die Strukturierung des Angebotes und greift Ele-mente des storyboarding auf. Die entwickelte Methode beginnt mit der Phase der Struktu-rierung.

Abb. 6: Überblick über den Ablauf der entwickel-ten Methode. Die technische Umsetzung sollte früh begonnen werden.

Abb. 5: entwickelte Grundstruktur am Beispiel des Themas "Konzepte zur Bruchrechnung" (Th=Theorie, Bsp=Beispiel, Akt=Anregung zu Aktivitäten, Lin=Links ins Internet, Lit=Hinweis auf Quellen)

Astrid Ernst & Engelbert Niehaus

76

5.1 Strukturierung In dieser Phase entwickeln die Studierenden zunächst eine concept map, mit der sie die In-halte abgrenzen und vorstruktu-rieren (Schritt 1). Auf Basis der concept map entwickeln sie dann eine hierarchisch-vernetzte Struktur für die geplante Aufbe-reitung (Schritt 2). Dazu müssen Sie verschiedene Entscheidun-gen treffen: Bei welchen Bezie-hungen zwischen zwei Begriffen handelt es sich um Unterord-nungen, bei welchen um Bezü-ge? Welche Begriffe sind zent-ral, welche nicht? Wie kann ich gleichwertige Unterthemen fin-den und eine stimmige Struktur aufbauen? Die Zuteilung der Begriffe zu den Kategorien er-folgt in enger Anlehnung an die OOA (objektorientierte Analyse, vgl. dazu auch Ernst 2005, Nie-haus 2001), eine Analysetech-nik, die aus der Softwareent-wicklung stammt.

Schritt 1

Schritt 2

Objektorientierte Themenbeschreibung "Konzepte zur Bruchrechnung" Kurzbeschreibung Wir zeigen in diesem Modul, wie Bruchzahlen unter fünf verschiedenen Konzeptionen definiert werden und wie dann mit ihnen gerechnet wird. Außerdem werden typische Schülerfehler analysiert und be-sprochen. In allen fünf Konzeptionen lassen sich Sätze und Regeln formulieren und exakt beweisen.

Beschreibung/Unterthemen — Im Rahmen eines formalen Konzepts wird gezeigt, wie Bruchzahlen ausschließlich auf der Kennt-

nis der natürlichen Zahlen aufbauend behandelt werden können. In diesem Abschnitt wird ein voll-ständiger Kurs bis zum Beweis der Irrationalität von Wurzel 2 vorgestellt.

— Das Äquivalenzklassenkonzept lehnt sich stark an die formale Theorie an. Die Überlegungen und Begründungen werden allerdings exemplarisch durchgeführt.

— Das Größenkonzept geht vom intuitiven Vorverständnis der Bruchzahlen als Maßzahlen aus. — Das Operatorkonzept sieht Bruchzahlen als "Zusammenbau" von Multiplikations- und Divisions-

maschinen. — Das Gleichungskonzept führt Bruchzahlen als Lösung von Gleichungen ein, also z.B. "3/4" ist die

Lösung der Gleichung "4x=3".

Zweck Die "sortenreine" Darstellung der fünf Konzepte stellt eine didaktische Fiktion dar. In der Schulwirk-lichkeit wird man keines dieser Konzepte in reiner Form antreffen; es wäre auch in keiner Weise sinn-voll, den Unterricht längs einer einzelnen Konzeption "sortenrein" zu gestalten. Die getrennte Benen-nung und Behandlung der Konzepte dient dem Zweck, die im Unterricht oder in Schulbüchern vorfind-baren Beispiele klassifizieren und beschreiben zu können. Ein Verständnis dessen, was ein Bruch "ist", kann aber nur als Wissensnetz zwischen den vielen verschiedenen Konzepten und ihren Ausdeu-tungen im Alltag aufgebaut werden.

Bezug Im Modul Rechnen mit Brüchen wird gezeigt, wie die verschiedenen Themenkreise der Bruchrech-nung mithilfe der verschiedenen Konzepte in der Schule behandelt werden können.

Schritt 3

Konstruktiv arbeiten mit dem Internet — Methoden der Content-Erstellung

77

Ist eine stimmige Struktur gefunden, beginnt die Erstellung der Theorie-Seiten. Dazu wird zu jedem Thema der erarbeiteten Struktur eine Theorie-Seite erstellt. Ein Ziel bei der Erstellung der Seiten ist es, aus sich heraus verständliche Informationseinheiten zu er-zeugen. Um dieses zu unterstützen, wurde aus der oo (objektorientierten) Analyse eine Seitenstruktur abgeleitet, die die Vollständig-keit der Seiten unterstützen soll. Jede Seite weist folgende Elemente auf (siehe Schritt 3): • eine Kurzbeschreibung, in der das Thema

der Seite "definiert" wird, • einen Beschreibungs-/Unterthemen-Teil,

in der das Thema der Seite ausführlicher erläutert wird und Unterthemen ggf. auf-gelistet werden,

• einen Zweck-Teil, in dem erläutert wird, wozu man die dargestellten Inhalte "ver-wenden" kann, und

• einen Bezüge-Teil, in dem interessante Bezüge zu anderen Themengebieten auf-gelistet werden.

Bei der Erstellung jeder Theorie-Seite muss auch die endgültige Verlinkungsstruktur fest-gelegt werden. Nach Fertigstellung aller Theorie-Seiten kann dann eine Übersichts-karte über die endgültige Modulstruktur an-gefertigt werden (s. Schritt 4).

5.2 Informationsformen In dieser Phase konzipieren die Studieren-den Anwendungsbeispiele, Anregungen zu Aktivitä-ten, Links ins Internet, weiterführen-de Literaturhinweise usw. Dazu finden sie in der zur Methode gehörigen Dokumentation Hilfestellungen und Beispiele. Die Konzep-

tion der Informations-formen ist eng verbun-den mit der nächsten Arbeitsphase, in der passende Medien aus-gewählt werden.

5.3 Medienein-satz

In dieser Phase wählen die Studierenden zu den konzipierten Infor-mationsformen ge-eignete Medien aus. Dabei sollen Erkennt-nisse aus der Medien-didaktik berücksichtigt werden, wie z.B. die

besondere Eignung von Videos oder Anima-tionen für die Veranschaulichung von Pro-zessen. Insbesondere soll ein "zweck-loser" Medieneinsatz vermieden werden.

5.4 Textliche Umsetzung Nun werden die Textteile der geplanten Do-kumente hinsichtlich ihrer Internet-Taug-lichkeit überarbeitet. Dazu gehört z.B. die Formulierung von kurzen, gut verständlichen Sätzen, die Fett-Markierung von Schlüssel-wörtern, die Verwendung von Hints und Pop-up-Fenstern, aber auch Aspekte des Web-Designs wie die Auswahl von Schrifttypen und die Verwendung von Lay-out-Vorlagen.

5.5 Technische Umsetzung Wie schon zuvor erläutert, sollte die techni-sche Umsetzung den gesamten Entwick-lungsprozess begleiten. In der zugehörigen Dokumentation werden in diesem Teil die re-levanten Aspekte der technischen Realisie-rung behandelt.

6 Anwendungsszenarien für den rezeptiven und konstruktiven Umgang mit einer internetbasier-ten Wissensbasis

Wie kann eine konstruktive Nutzung eines Lehr-Lernsystems durch Lernende im Rah-men der Lehramtsausbildung aufgebaut wer-den?

Schritt 4: In diesem Schritt besitzt jeder Knoten eine objektorientierte The-menbeschreibung. Durch die Erstellung der oo Themenbeschreibungen verändert sich u. U. auch die Baumstruktur.

Astrid Ernst & Engelbert Niehaus

78

Innerhalb der universitären Ausbildung er-folgt zunächst die Einführung in den rezepti-ven Umgang mit einem Informationssystem mit dem Ziel, sich mit der Wissensbasis ver-traut zu machen und diese ausbildungsbe-gleitend als Informationsressource zu nutzen. Beispielsweise können die im MADIN-Projekt erstellten Inhalte direkt aus dem Informati-onssystem entnommen und in Vorlesungen eingesetzt werden. In Seminaren wird diese Aufgabenstellung durch Inhaltsproduktionen der Studenten/in-nen erweitert. Dies beinhaltet das Zusam-menstellen professionell erstellter Inhalte in einem persönlichen Arbeitsbereich und die Ergänzung von zusätzlichen selbst erstellten Inhalten. Die Ausbildung zielt in dieser Phase bereits darauf ab, die Trennung von Auto-ren/innen und Lesern/innen aufzuheben. Persönliche Bedürfnisse und Erfahrungen in Unterrichtspraktika bestimmen dabei eben-falls die Wissensorganisation und die Adapti-on von Inhalten. Professionell erstellte Inhal-te können in einem persönlichen Arbeitsbe-reich durch eigene Dokumente ergänzt bzw. ersetzt werden, ohne die Originaldokumente zu verändern. Im Zusammenhang mit der Er-stellung von Projekten eröffnet internetba-sierte Wissensrepräsentation zudem die Möglichkeit, kooperativ in der Lehrerbildung zu arbeiten und internetbasierte Projektent-wicklung im Team zu erlernen. Im Folgenden werden die Anwendungs-szenarien in den unterschiedlichen Ausbildungsphasen kurz skizziert. Al-le bisherigen Erprobungen dieses Konzeptes fanden in Münster auf der Basis der SIMLA-Software statt.

Szenario 1: Nutzer: Studierende Nutzungsform: rezeptiv — in Vorle-sungen und zur Nachbereitung Nutzungsziel: ausbildungsbegleiten-de Informationsrecherche In der Vorlesung werden Materialien wie Animationen, Videos und HTML-Seiten für die Darstellung von Inhalten und für Aufgabenstellungen für die Studierenden verwendet. Der/die Studierende wird mit der Arbeitsumgebung vertraut gemacht Nach der Vorlesung können die Studierenden mit dem aus der Vorlesung bekannten Navigations-system auf die Information der Vorlesung on-line zugreifen und zusätzliche Quellen zur Nachbereitung nutzen. Durch diese rezeptive Arbeit bekommt der/die Studierende eine Vorstellung von der Wissensrepräsentation in

dem Informationssystem. Studierende des Lehramts sollen in die Lage versetzt werden, Informationen zur Vorlesung zu recherchie-ren.

Szenario 2: Nutzer: Studierendengruppe Nutzungsform: rezeptiv & konstruktiv — in Seminaren Nutzungsziel: Vorbereitung von Seminarvor-trägen In einem Seminar bereiten die Studierenden in Gruppen einen Seminarvortrag vor. Dazu ist wie beim vorlesungsbegleitenden Einsatz auch die Fähigkeit zur Informationsrecherche notwendig. Professionell erstellte Inhalte werden entsprechend dem Vortragsthema in einem Arbeitsbereich zusammengestellt. Hin-zu kommt, dass die Studierenden einen ers-ten Kontakt zur Inhaltserzeugung erhalten. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Organi-sation des Wissensnetzes mit Hilfe von mind mapping und in Anfängen auch mit Hilfe der objektorientierten Themenanalyse und an-schließender Umsetzung in vernetzte html- Dokumente. Eine von einer Studierenden-gruppe im Rahmen eines Seminars entwi-ckelte Strukturierung ist in Abbildung 7 zu sehen.

Szenario 3: Nutzer: Studierende Nutzungsform: konstruktiv — in Examens-arbeiten Nutzungsziel: Erstellung und Einbettung der Examensarbeit in ein Informationssystem Lehramtsstudierende fertigen im Rahmen der Prüfungsleistungen zum ersten Staatsexa-men eine Hausarbeit zu einem bestimmten

Abb. 7: Von Studierenden im Rahmen eines Seminars er-stellte Strukturierung als Planung für eine Internet-Aufberei-tung des Themas

Konstruktiv arbeiten mit dem Internet — Methoden der Content-Erstellung

79

Thema an. Im Gegensatz zu Seminararbei-ten, die bereits konstruktive Elemente ent-hielten, können bei der Erstellung von Exa-mensarbeiten alle Aufbereitungsschritte von der objektorientierten Strukturierung und Sei-tenerstellung über die Konzeption der Infor-mationsformen bis hin zur Medienauswahl berücksichtigt werden. Eine Ausarbeitung ei-nes Inhaltes für ein internetbasiertes System erfordert die Einbettung eines erarbeiteten Inhaltes in eine bestehende Wissensstruktur. Bezogen auf eine internetbasierte Wissens-repräsentation enthält eine Examensarbeit daher drei wesentliche Bestandteile: • Den in die Wissensbasis einzubettenden

Inhalt, der in der Examensarbeit ausgear-beitet wurde.

• Die Analyse des Informationskontextes der Wissensbasis, in den der Inhalt ein-gebettet wird.

• Die Dokumentation der Einbettung und der notwendigen Anpassungen des In-formationskontextes, in den der Inhalt ein-gebettet wurde.

Szenario 4: Nutzer: Referendare Nutzungsform: rezeptiv & konstruktiv Nutzungsziel: Vorbereitung von Unterrichts-entwürfen mit kooperativer Planung Die Planung von Unterricht erfordert die Ein-arbeitung in didaktisches Wissen über die jeweiligen Unterrichtsinhalte. Dafür können die notwendigen Inhalte in den persönlichen Arbeitsbereich eingebettet werden. An Schu-len müssen Referendare nach einer Einar-beitungsphase bedarfsdeckenden Unterricht erteilen. In dieser Phase ist der Betreuungs-aufwand durch Mentoren minimal. Eine ko-operative Planung und eine Weiterentwick-lung von Unterrichtsideen in einer Gruppe kann durch die Verteilung der Referendare auf unterschiedliche Schulen durch eine in-ternetbasierte kooperative Planung unter-stützt werden.

Szenario 5: Nutzer: Schülergruppen Nutzungsform: rezeptiv & konstruktiv Nutzungsziel: kooperative Projektplanung und Projektdokumentation Werden Unterrichtsprojekte durchgeführt, so können Schülergruppen für ihr Teilprojekt be-reitgestellte Informationen in ihren Gruppen-arbeitsbereich einbetten, wenn sie dieses für

wesentlich erachten. Neben der rezeptiven Arbeit in den Teilprojekten können sich Schü-ler/innen bei online dokumentierten Inhalten jederzeit über den Stand der anderen Teil-projekte informieren und ihre Arbeit bei Ver-änderungen ggf. schnell anpassen. Die kon-struktive Arbeit der Schülergruppen beinhal-tet die Dokumentation des eigenen Teilpro-jektes, wie das Sammeln, Auswerten und In-terpretieren von Daten.

7 Fazit

Die vorangegangenen Abschnitte zeigen ei-nige Möglichkeiten und Wege eines kon-struktiven Umgangs mit einer online verfüg-baren Wissensbasis im Rahmen einer inter-netbasierten Lehrerausbildung auf. Die An-passung von Lerninhalten an eine Lerngrup-pe ist eine grundlegende Fähigkeit, die Leh-rer/innen in ihrer alltäglichen Arbeit benöti-gen. Die Entwicklung und der Ausbau dieser Fähigkeit sollte durch die Ermöglichung einer personalisierten Wissensorganisation und -aufbereitung im Bereich der internetgestütz-ten Lehrerausbildung die gesamte Leh-rerausbildung durchziehen. Sie kann bei der Wissensorganisation von Studierenden und Dozenten/innen für Vorlesungen und Semi-naren beginnen und über die kooperative Un-terrichtsplanung von Referendaren bis hin zur Planung und Dokumentation von Projek-ten in Schulen führen, bei denen Schüler-gruppen eigene Teilprojekte dokumentieren und mit anderen Schülergruppen ihre Ergeb-nisse abstimmen. Die Recherche in einem in-ternetbasierten Informationssystem, die indi-viduelle Organisation der für die Lernenden wesentlichen Inhalte und das Ergänzen per-sönlicher Inhalte hat die folgende Zielset-zung: • Die Lernenden sollen ihr eigenes Wissen

im Verlaufe ihrer Ausbildung durchgängig organisieren und erweitern lernen.

• Die Lernenden sollen lernen, Inhalte so zu strukturieren und aufzubereiten, dass sie wiederum für andere gut lernbar sind.

• Die Lernenden sollen sicher im Umgang mit Internet und digitalen Medien werden.

• Die Lehrenden bereiten Lerninhalte für Lerngruppen auf und stellen damit für die Lernenden einen Rahmen für die Unter-stützung von individuellen Lernprozessen bereit (Dozent für Studierende oder Refe-rendar/Lehrer für Schüler oder Fachleiter für Referendare).

Astrid Ernst & Engelbert Niehaus

80

Für die Organisation des eigenen Wissens ist es notwendig, Methoden für die Strukturie-rung von Inhalten bereitzustellen. Inhalte hy-permedial so aufzubereiten, dass sie für an-dere gut erlernbar sind, stellt außerdem be-sondere Anforderungen an die Autoren und Autorinnen. Das entwickelte Modell für die Aufbereitung von Inhalten (s. Ernst 2005) stellt diese Methoden zur Verfügung. Es un-terstützt die Studierenden dabei, Inhalte mo-dularisiert und vernetzt aufzubereiten, in Ver-bindung zu Anwendungssituationen zu stel-len und die späteren Nutzer/innen zur aktiven Auseinandersetzung mit den Inhalten anzu-regen. Unterstützt werden die Autoren/innen dabei durch das darauf abgestimmte Lehr-Lernsystem, das die angestrebte Strukturie-rung durch den Schreibtisch visualisiert und somit ein Gerüst für die Integration eigener Inhalte in die Wissensbasis liefert. Bei der Integration einer internetbasierten Wissensorganisation in die Lehramtsausbil-dung wird der angehende Lehrer/ die ange-hende Lehrerin vom rezeptiven Einsatz in Vorlesungen zu einer konstruktiven Arbeit mit einer Wissensbasis in Seminaren, Examens-arbeiten und Referendariat geführt. Die dabei gesammelten mediendidaktischen Erfahrun-gen dienen beim Wechsel von der lernenden in die lehrende Rolle dazu, selbst Wissen im schulischen Zusammenhang für Schüler und Schülerinnen internetbasiert bereit zu stellen und z.B. in einer Projektarbeit eigenverant-wortliches Wissensmanagment bei den Schülergruppen zu initiieren. Insgesamt ist festzustellen, dass die Dyna-mik und kooperative Weiterentwicklung "un-fertiger Inhalte" eine sinnvolle und wichtige Ergänzung zu der Nutzung "fertiger Inhalte" im Rahmen einer internetbasierte Lehrerbil-dung darstellt.

Literatur Buzan Centres homepage:

http://www.mind-map.com Blumstengel, Astrid (1998): Entwicklung hyperme-

dialer Lernsysteme. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin

Ditson, Leslie A., Lynne Anderson-Inman & Mary T. Ditson (1998): Computer-based concept mapping: promoting meaningful learning in

science for students with disabilities. Informa-tion Technology and Disability, V 5 N1-2 Arti-cle 2. http://www.rit.edu/%7Eeasi/itd/itdv05.htm

Duffy, T. M. & J. Lowyck u.a. (Hrsg.) (1993): De-signing Environments for constructive learning. Berlin, Heidelberg u.a.: Springer

Ernst, Astrid (2005): Konstruktivistisch orientierte Aufbereitung mathematikdidaktischer Inhalte für Hypermedia — Entwicklung einer modell-haften Vorgehensweise. Hildesheim & Berlin: Franzbecker

Fardouly, N. (2002): The ADDIE Instructional De-sign Model. Sydney: University of New South Wales, Faculty of the built environment. http://www.fbe.unsw.edu.au/learning/instructionaldesign/materials.htm; Zugriff: 19. 11. 2002

Honebein, P. C., T. M. Duffy & B. J. Fishman (1993): Constructivism and the design of learn-ing environments: context and authentic activi-ties for learning. In: Duffy & Lowyck u.a. (1993), 87–108

Issing, Ludwig J. (2002): Instruktions-Design für Multimedia. In: Ludwig J. Issing & Paul Klimsa (2002): Information und Lernen mit Multimedia und Internet. Weinheim: Beltz PVU, 3. Auflage, 151–177

Jacobson, M. J. & R. J. Spiro (1995): Hypertext learning environments, cognitive flexibility and the transfer of complex knowledge: An empiri-cal investigation. In: Journal of Educational Computing Research 12, 301–333

Kerres, Michael (1998): Multimediale und teleme-diale Lernumgebungen: Konzeption und Ent-wicklung. München & Wien: Oldenbourg

McAleese, R. (1998): Coming to know: The Role of the Concept Map — Mirror, Assistant, Mas-ter? In: Euroconference — New Technologies for Higher Education. Aveiro, Portugal. http://www.clab.edc.uoc.gr/hy302/papers%5C coming%20to%20know%201998.pdf

Mousley, Judy & Peter Sullivan (1996): Learning about Teaching. Adelaide: Australian Associa-tion of Mathematics Teachers (AAMT)

Niehaus, Engelbert (2001): Objektorientierte Ana-lyse für die modularisierte Aufbereitung von webbasierten mathematikdidaktischen Inhal-ten. In: mathematica didactica 24, 89–106

Simons, P. R.-J. (1993): Constructive learning: The role of the learner. In: Duffy & Lowyck u.a. (1993), 291–314

Wager, Walter W., Jim Applefield, Rodney Earl & Jack Dempsey (1997): Learners Guide to Ac-company Principles of Instructional Design. New York: Holt, Rinehart & Winston, 3. Auf-lage

81

1 Warum 3D-Computergra-fik im Stoffgebiet Analyti-sche Geometrie?

Über die Bedeutung der Analytischen Geo-metrie für die Allgemeinbildung bestehen kaum Zweifel. Die Autoren der Expertise (Borneleit u.a. 2001) sehen den allgemeinbil-dende Wert der Analytischen Geometrie in "ihren mächtigen Methoden und interessan-ten Objekten zur Erschließung des uns um-gebenden Raumes" (S. 81). In den Einheitli-chen Prüfungsanforderungen im Fach Ma-thematik von 2002 wird hervorgehoben, dass dem Gebiet Lineare Algebra / Analytische Geometrie "unverändert zentrale Bedeutung zu(kommt)" (EPA 2002, 3). In den Curricula und in der weitläufig verbrei-teten Unterrichtspraxis des Stoffgebietes "Analytische Geometrie" bestehen jedoch einige gravierende Defizite (vgl. Borneleit u.a. 2001, Schupp 2000, u.a.): • Durch die weitgehende Beschränkung auf

lineare geometrische Objekte (Geraden und Ebenen) kennzeichnet eine Armut an Formen den Unterricht.

• Die Untersuchung interessanter geometri-scher Objekte wird zugunsten der De-monstration von Methoden vernachläs-sigt. Die Leistungsfähigkeit von Abstrakti-onen (Vektorbegriff), Beschreibungen (im-plizite Gleichungen, Parameterdarstellun-gen) und Verfahren (Zurückführung von Schnittmengen auf Lösungsmengen von Gleichungssystemen) wird dadurch nicht genügend nachvollziehbar.

• Es besteht ein Mangel an "echten", für die Schüler nachvollziehbaren Anwendungen sowie an stoffgebiets- und fächerübergrei-fenden Bezügen.

• Fundamentale Ideen des Mathematikun-terrichts, die in der Analytischen Geome-trie besonders beheimatet sein müssten, wie Koordinatisieren und räumliches Strukturieren, kommen ungenügend zur Geltung; der Bedeutung der Analytischen Geometrie für die Modellierung räumlicher Strukturen kann nur in Ansätzen entspro-chen werden.

• Der Unterricht ist durch eine starke Domi-nanz kalkülhaften Arbeitens gekennzeich-net. Die Darstellung und Untersuchung geometrischer Gebilde tritt häufig in den Hintergrund zugunsten des formalen Lö-sens von linearen Gleichungssystemen.

Besonders gravierend wirken sich diese Pro-bleme in Grundkursen aus, in denen an-spruchsvollere algebraisch-strukturelle Über-legungen kaum durchgeführt werden. Der Unterricht reduziert sich dadurch oft weitge-hend auf das Lösen von Standardaufgaben. Die Einbeziehung der 3D-Computergrafik in den Unterricht der Analytischen Geometrie bietet die Möglichkeit, dieses Stoffgebiet zu "geometrisieren", den Modellierungsaspekt zu stärken und den Unterricht attraktiver zu gestalten. Mit der Einbeziehung von Elemen-ten der 3D-Computergrafik werden vor allem folgende Ziele verfolgt: • Ergänzung der algebraischen Untersu-

chung geometrischer Objekte und Relati-onen durch Visualisierungen.

Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik in das Stoffgebiet Analytische Geometrie

Andreas Filler, Berlin

Die engen Beziehungen zwischen der 3D-Computergrafik und der Analytischen Geome-trie können für eine anschaulichere und attraktivere Gestaltung des Stoffgebietes Analy-tische Geometrie in der SII genutzt werden. In diesem Beitrag werden Erfahrungen bei der Nutzung einer skriptgesteuerten 3D-Grafiksoftware für den Einstieg und die Visuali-sierung von traditionellen Inhalten dieses Stoffgebietes beschrieben. Weitere Möglichkei-ten der Einbeziehung der Computergrafik sind u.a. die Beschreibung von Farben durch Vektoren und die Funktionsweise der Bildberechnung in 3D-Grafikprogrammen. Letztere beruht wesentlich auf dem Reflexionsgesetz, dessen analytische Formulierung für den Raum das Skalarprodukt sowie Normaleneinheitsvektoren benötigt.

Andreas Filler

82

• Sichtbarmachen der Anwendungsrele-vanz der Analytischen Geometrie auf ei-nem Gebiet, das für viele Schüler sehr at-traktiv ist.

• Die Schüler erkennen bei der praktischen Arbeit an computergrafischen Darstellun-gen die Notwendigkeit, geometrische Ob-jekte durch Koordinaten zu beschreiben, Gleichungen aufzustellen und Koordina-ten parameterabhängig anzugeben.

• Einbeziehung heuristischer und experi-menteller Arbeitsweisen in den Unterricht.

• Größere Formenvielfalt durch Betrachtung nicht mehr im Unterricht vorkommender nichtlinearer geometrischer Objekte durch den mittels CG-Software möglichen visu-ellen und experimentellen Zugang.

• Ermöglichen stoffgebiets- und fächerüber-greifender Bezüge (Analysis, Physik, In-formatik, Kunst).

• Motivierung durch den ästhetischen Reiz 3D-computergrafischer Darstellungen.

Im Gegensatz zu anderen Einsatzgebieten des Computers im Mathematikunterricht kann die 3D-Computergrafik nicht nur als Hilfsmittel für den Unterricht dienen, sondern auch als Unterrichtsgegenstand den Schü-lern die Bedeutung und Nützlichkeit der Ana-lytischen Geometrie an einem praxisrelevan-ten und interessanten Gegenstand verdeutli-chen. Die Schüler können dabei mathemati-sche Modelle (z.B. der Lichtausbreitung in der Realität) erarbeiten und deren Nutzen in für sie interessanten computergrafischen Anwendungen erleben. Bereits die Veranschaulichung von geometri-schen Objekten und Lagebeziehungen mithil-fe einer Grafiksoftware kann die überwiegend rechnerisch betriebene Analytische Geome-trie sinnvoll visuell ergänzen. Die 3D-Compu-tergrafik bietet jedoch mehr Möglichkeiten für eine interessantere Gestaltung des Stoffge-bietes. Diese können allerdings nur zum Tra-gen kommen, wenn — gegenüber der aktuell praktizierten, meist von algebraischen Über-legungen ausgehenden Herangehensweise an das Stoffgebiet — Ausgangs- und Schwerpunkte bei der Behandlung der Analy-tischen Geometrie modifiziert werden. Insbe-sondere ist dazu eine Prioritätensetzung zu-gunsten geometrischer Inhalte und Herange-hensweisen gegenüber algebraischen Aspekten notwendig. In diese Richtung ge-hende Forderungen sind auch unabhängig von computergrafischen Inhalten u.a. von Schupp (2000) gestellt worden.

In diesem Beitrag gehe ich auf vier Gebiete der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik in den Unterricht der Analyti-schen Geometrie ein: 1. Einstieg in das Stoffgebiet über die Be-

schreibung von Körpern im Raum durch Koordinaten und die darauf basierende Modellierung von Objekten in einer 3D-Grafiksoftware,

2. Nutzung einer Grafiksoftware zur Visuali-sierung herkömmlicher Inhalte des Stoff-gebietes,

3. Computergrafik und Vektorbegriff, Be-schreibung von Farben durch Vektoren,

4. Skalarprodukt und Normalenvektoren als zentrale mathematische Grundlagen der 3D-Computergrafik.1

2 Rahmenbedingungen Neben Vorschlägen zur Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik in den Un-terricht werde ich in diesem Beitrag auf erste Erfahrungen eingehen, die ich damit in einem Unterrichtsversuch gesammelt habe, der im Herbst 2003 in einem Grundkurs ma-13 in Berlin-Friedrichshain stattfand. Bei der Durchführung des Unterrichtsversuches mussten natürlich die Vorgaben des Rah-menplanes berücksichtigt werden. Im Rah-menplan des Landes Berlin [4] tritt die Analy-tische Geometrie an drei Stellen auf. Am Ende von Klasse 11 sind 30 Stunden für das Stoffgebiet Analytische Geometrie vor-gesehen; dabei werden Punkte und Vektoren im kartesischen Koordinatensystem und Ab-stände von Punkten behandelt. Die Schüler sollen mit Vektoren rechnen und Geraden im R2 durch Gleichungen beschreiben. Am Ende der Klassenstufe 12 im Grundkurs ma-2 sind 15 Unterrichtsstunden für lineare Gleichungs-systeme, dabei vor allem für die Behandlung des Gauß-Algorithmus, bestimmt. In vielen Fällen wird jedoch weder am Ende von Klas-se 11 noch am Ende von Klasse 12 die vor-gesehene Zeit für die Analytische Geometrie bzw. die Behandlung linearer Gleichungssys-teme aufgewendet, da diese Stoffgebiete je-weils am Ende des Schuljahres liegen und oft aufgrund von Verzögerungen verkürzt werden. Auch in dem Kurs ma-3, in dem der hier beschriebene Schulversuch stattfand,

1 Damit sind nicht alle sinnvollen Bezüge zwischen der 3D-Compu-

tergrafik und dem Unterricht in Analytischer Geometrie erfasst. Ausführungen zu weiteren Aspekten, wie z.B. der visuellen Unter-suchung von Kegelschnitten sowie von Flächen des Raumes, sind z.B. in Filler 2001 und 2002 enthalten.

Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik

83

ergaben Überprüfungen am Anfang des Kur-ses sehr lückenhafte Kenntnisse; — der Vek-torbegriff z.B. wurde von den Schülern vor al-lem mit seiner aus der Physik bekannten Be-deutung für die Beschreibung von Kräften assoziiert. Schwerpunktmäßig wird die Analytische Ge-ometrie nach dem Berliner Rahmenplan am Anfang des 13. Schuljahres (im Grundkurs ma-3) behandelt; dabei sind folgende The-men vorgesehen: • Skalarprodukt von Vektoren, Rechenre-

geln, • Längen- und Winkelgrößen, Orthogonali-

tät, • Geraden- und Ebenengleichungen in Pa-

rameter- und Koordinatenform, • Hessesche Normalenform der Ebenen-

gleichung, • Lagebeziehungen, Schnittpunkte und -ge-

raden, • Abstandsberechnungen (Punkt – Gerade,

Punkt – Ebene), • Schnittwinkelberechnungen, • Gleichung der Kugel in allgemeiner La-

ge.2 Der Berliner Rahmenplan zeigt die typische Ausrichtung bei der Behandlung der Analyti-schen Geometrie in Grundkursen: Mit Aus-nahme der Kugel (für deren Behandlung zu-dem oft keine Zeit bleibt) werden als geomet-rische Objekte lediglich Geraden und Ebenen betrachtet. Der Unterricht wird durch die Be-rechnung von Schnittpunkten und -geraden, Skalarprodukten sowie Längen und Winkel-größen dominiert; — es bildet sich ein auch als "Aufgabeninseln" (Tietze u.a. 2000, 100) bezeichneter enger Kanon an Standardauf-gaben heraus. Wie bereits dargelegt, erfordert jedoch eine geometrisch orientierte Behandlung der Ana-lytischen Geometrie und die Einbeziehung von Elementen der Computergrafik die Be-trachtung einer größeren Vielfalt von Objek-ten an Stelle der sehr ausführlichen Anwen-dung algebraischer Verfahren auf nur sehr wenige Objekte. Sollen die oben genannten Ziele in regulären Kursen unter Berücksichti-gung der heute gültigen Rahmenpläne reali-siert werden, so ist es notwendig, einen Kompromiss zwischen stärker koordinaten-bezogenen geometrischen Überlegungen und der geforderten algebraisch orientierten

2 Diese Aufzählung spiegelt natürlich nicht die Reihenfolge der Be-

handlung im Unterricht wider; vielmehr ist eine verzahnte Behand-lung der genannten Stoffinhalte vorgesehen.

Untersuchung von Geraden und Ebenen zu finden. Um die Anknüpfung an die Geometrie der Sekundarstufe I herzustellen, bietet es sich an, geometrische Grundkörper zu be-trachten und durch Koordinaten zu beschrei-ben. Damit kann gleichzeitig der Einstieg in die Arbeit mit einer koordinatenorientierten 3D-Grafiksoftware gefunden werden.

3 Koordinatengeometrie als Grundlage der Modellie-rung von Objekten

Die Nutzung einer dreidimensionalen Grafik-software eröffnet gute Visualisierungsmög-lichkeiten für eine koordinatenbezogene Raumgeometrie. Gleichzeitig "zwingt" — falls eine skriptgesteuerte Software verwendet wird — der Wunsch, 3D-Computergrafiken zu erstellen, zur Beschreibung von Objekten durch Koordinaten. Ein gut geeignetes Pro-gramm ist die Freeware POV-Ray [3]. POV-Ray ermöglicht sehr hochwertige, fotorealis-tische Ergebnisse und steht in dieser Hin-sicht kommerziellen Programmen, die für die Produktion computergenerierter Spielfilme benutzt werden, nicht nach. Jedoch müssen Objekte bei POV-Ray mithilfe einer Skript-sprache durch Koordinaten modelliert wer-den; — die Erstellung und Positionierung mithilfe der Maus ist nicht möglich. Insofern erfordert die Erzeugung von Computergrafi-ken mit POV-Ray tatsächlich die Beschäfti-gung mit der Analytischen Geometrie; — die-se Tatsache erweist sich beim Einstieg in das Stoffgebiet in Klasse 13 als nützlich. Da allerdings dreidimensionale Szenen nicht nur aus geometrischen Objekten bestehen, sondern auch die Beschreibung einer Kame-ra und von Lichtquellen erfordern (siehe z.B. Filler 2001 und 2002) ist der Einstieg in POV-Ray recht komplex und würde den zur Verfü-gung stehenden zeitlichen Rahmen spren-gen. Aus diesem Grunde habe ich Vorlagen entwickelt, bei denen Kameras und Licht-quellen bereits vorbereitet sind und außer-dem sehr leicht ein die Orientierung erleich-terndes Koordinatenkreuz in Szenen einge-fügt werden kann.3 Unter Verwendung der Vorlagen können die Schüler recht schnell einfache geometrische Körper modellieren, im Raum positionieren und entsprechende Grafiken erzeugen. Nach einer kurzen Diskussion, durch welche Punk-te und Größen Kugeln, Kegelstümpfe und 3 Die Vorlagen, eine kurze Anleitung für ihre Nutzung und einige

Beispiele stehen auf der Internetseite [1] zur Verfügung.

Andreas Filler

84

Zylinder im Raum beschrieben werden, war die Verwendung der folgenden Befehle in POV-Ray für die Schüler unproblematisch: sphere{<x,y,z>,r} (Koordinaten des Mit-

telpunktes und Radius), cylinder{<x1,y1,z1>,<x2,y2,z2>,r}

(Koordinaten der Mittelpunkte von Grund- und Deckfläche, Radius),

cone{<x1,y1,z1>,r1,<x2,y2,z2>,r2} (Koordinaten der Mittelpunkte sowie Ra-dien von Grund- und Deckfläche).

Zusätzlich zu diesen Anweisungen, welche die Art und Lage geometrischer Körper im Raum beschreiben, müssen noch Oberflä-chenerscheinungen (Texturen) der Körper festgelegt werden. Da sich die Schüler zu Anfang auf die Beschreibung geometrischer Objekte durch Koordinaten konzentrieren sol-len, enthält die zur Verfügung gestellte Vor-lage einfach anzuwendende Texturen, die nur die Eingabe von (in der Kurzanleitung dokumentierten) Begriffen wie blau_matt, silber oder holz erfordern. Bereits in der ersten Doppelstunde zur Ana-lytischen Geometrie in Klasse 13 erhielten die Schüler die Aufgabe, unter Nutzung der Vorlagen und der Kurzanleitung einen Schneemann zu modellieren. Abbildung 1 zeigt ein typisches Ergebnis einer Schülerin am Ende dieser Doppelstunde (nach ca. 35-minütiger Arbeit mit POV-Ray).

Abb. 1

Für die Erzeugung dieses Bildes gab die Schülerin folgenden Quelltext ein: sphere{<3,2,2.5>, 2

texture{blau_matt}} sphere{<3,4.5,2.5>, 1.5

texture{blau_matt}} sphere{<3,-1.2,2.5>, 2.7

texture{blau_matt}}

cylinder{<3,5.8,2.5>,<3,5.9,2.5>, 2.5 texture{schwarz}}

cylinder{<3,5.9,2.5>,<3,9,2.5>, 1.2 texture{schwarz}}

Das Hauptproblem bei der Erstellung des Schneemannes verlagerte sich für die Schü-ler sehr schnell von der Bedienung der Soft-ware hin zur Wahl geeigneter Koordinaten. Dabei gelangten sie von zunächst recht ziel-losem Experimentieren zu gezielten Verän-derungen einzelner Koordinaten und überleg-ten, welche Anordnung der Objekte bezüg-lich der Koordinatenachsen ihre Positionie-rung vereinfacht. Durch geschicktes Variie-ren der Koordinaten mithilfe von Skizzen auf Papier gelang einigen Schülern sogar bereits eine annähernd realistische Anordnung von Knöpfen und Augen des Schneemannes. In der folgenden Unterrichtsstunde erfolgte eine Diskussion der dazu angestellten Überlegun-gen. Es wurde herausgearbeitet, dass es sinnvoll ist, Objekte — wenn möglich — ent-lang der Koordinatenachsen oder zumindest auf Koordinatenebenen zu positionieren, da ihre Koordinaten dann durch Skizzen oder einfache Berechnungen ermittelt werden können. Die Schüler erkannten, dass die An-ordnung der Hauptbestandteile (Rumpf, Kopf) lediglich eindimensionale Überlegun-gen erfordert, für die Positionierung der Knöpfe zweidimensionale und die der Augen sogar dreidimensionale Betrachtungen not-wendig sind (s. Abb. 2).

Abb. 2

Die Erkenntnis, dass für eine völlig exakte Positionierung der Knöpfe und Augen somit Gleichungen des Kreises bzw. der Kugel be-nötigt werden, lag damit auf der Hand. In der folgenden Unterrichtsstunde wurden Glei-chungen des Kreises und der Kugel mithilfe des Satzes des Pythagoras hergeleitet. Die Schüler lösten dann einige Beispielaufgaben zur Berechnung der fehlenden Koordinate eines Punktes, von dem zwei Koordinaten gegeben sind und der auf einer Kugel mit vorgegebenen Mittelpunktskoordinaten und festgelegtem Radius liegen soll.

Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik

85

Im Anschluss beschäftigten sich die Schüler eine Doppelstunde lang mit der "Perfektionie-rung" ihrer Schneemänner und erreichten dabei teilweise beachtliche Ergebnisse (s. Abb. 3 — der betreffende Schüler fertigte durch Änderung der Kameraposition zwei Ansichten seines Modells an — und Abb. 4).

Abb. 3

Abb. 4

Allerdings nutzten nicht alle Schüler die Ku-gelgleichung für die Positionierung der Au-gen, vielen gelang eine korrekte Anordnung am Kopf auch durch geschicktes schrittwei-ses Ändern von Koordinaten. Die von mir be-absichtigte Motivierung der Kugelgleichung durch ihre Notwendigkeit für die exakte Posi-tionierung gelang somit nicht vollständig überzeugend; — einen Einblick in die Nütz-lichkeit von Beschreibungen geometrischer Objekte durch Gleichungen für exakte An-ordnungen im Raum und somit die Modellie-rung komplexerer Formen haben die Schüler jedoch erhalten. In jedem Falle haben sie durch die Arbeit an der sinnvollen Anordnung einiger Körper — auch durch schrittweises "Herantasten" — eine gewisse "Orientie-rungsfähigkeit" im räumlichen Koordinaten-system erlangt, die auch für andere Teile des

Stoffgebietes Analytische Geometrie von Nutzen ist. Zugleich bietet ein derartiger Ein-stieg in das Stoffgebiet Anknüpfungspunkte an die Elementargeometrie der Sekundarstu-fe I, die ansonsten bei der heute gängigen Behandlung der Analytischen Geometrie kaum hergestellt werden. Es muss hinzugefügt werden, dass einige Schüler ihre z.T. recht ausgereiften Ergeb-nisse nicht in den insgesamt ca. 120 Minuten Unterrichtszeit erreicht haben, die dafür am Computer zur Verfügung standen, sondern auch (freiwillig) zu Hause oder in Freistunden an ihren Schneemännern arbeiteten; dies gilt u.a. für die Schülerin, die Abbildung 4 anfer-tigte. Neben Kugeln, Zylindern und Kegeln verwendete sie auch Quader, aus denen der Besen besteht. Die passende Anordnung der insgesamt 25 geometrischen Objekte, wel-che die Schülerin für ihr Modell verwendete, erfordert zu Beginn der Beschäftigung mit Koordinatengeometrie deutlich mehr Zeit als 2 Stunden.4 Bei einigen Schülern verlagerte sich das Hauptinteresse schnell von der perfekten Modellierung hin zu der Frage, wie sie ein Vi-deo ihres Modells erzeugen können. Dazu müssen in POV-Ray beliebige Werte in Ab-hängigkeit von einem Parameter "clock" an-gegeben werden, der sich in einem festge-legten Intervall verändert. Da die Kamerapo-sition in der erwähnten Vorlage, die ich den Schülern zur Verfügung gestellt habe, durch einen Winkel beschrieben wird, gelang es ih-nen durch Animation dieses Winkels schnell, einen Rundflug der Kamera um den Schnee-mann darzustellen. Einige Schüler arbeiteten auch mit Transformationen (Verschiebungen, Drehungen und Streckungen) von Objekten, die sie zeitabhängig ausdrückten. Aus Zeit-gründen konnte ich hierauf im Unterricht nicht mehr eingehen, sondern nur noch ein-zelne Schüler beraten, die sich in ihrer Frei-zeit weiter damit beschäftigten. Die Erstel-lung von Videos (z.B. durch Veränderung der Kamerakoordinaten) würde sich jedoch gut eignen, um die Darstellung von Kurven im Raum durch Parameterdarstellungen zu mo-tivieren. Um eine gewünschte Kamerafüh-rung zu simulieren, müssen sich die Kame-rakoordinaten auf einer Kurve des Raumes bewegen, also abhängig von einem Parame-ter (der Zeit) beschrieben werden.5

4 Die POV-Ray-Datei dieser Schülerin mit der Beschreibung des

Schneemannes ist auf der Internetseite [1] unter der Rubrik "Raytracing-Praxis" zugänglich.

5 Für eine Kurzanleitung zur Erstellung von Videos mithilfe von POV-Ray s. [1].

Andreas Filler

86

4 Nutzung einer Grafiksoft-ware zur Visualisierung herkömmlicher Inhalte des Stoffgebietes

Nach dem skizzierten, insgesamt 6 Unter-richtsstunden umfassenden Einstieg in das Stoffgebiet Analytische Geometrie über An-wendungen der räumlichen Koordinatengeo-metrie wurde mit der Behandlung der durch den Rahmenplan vorgegebenen Inhalte des Stoffgebiets (Geraden, Ebenen und ihre La-gebeziehungen) begonnen. Die Erfahrungen mit der Bedienung von POV-Ray, welche die Schüler sich vorher aneigneten, nutzten sie dabei, um ergänzend zur rechnerischen Be-handlung von Aufgaben der Analytischen Geometrie Visualisierungen anzufertigen und damit ihre Ergebnisse zu überprüfen oder zu Vermutungen hinsichtlich bestimmter Zu-sammenhänge zu gelangen. Da POV-Ray als fotorealistisches Grafikpro-gramm und nicht als Visualisierungswerk-zeug für Zusammenhänge der Analytischen Geometrie vorgesehen ist, müssen Punkte als kleine Kugeln, Pfeile (die Vektoren reprä-sentieren sollen) als Vereinigungen von Zy-lindern mit Kegeln, Strecken als Zylinder mit geringem Radius, Geraden als Zylinder, die über die Grenzen des Bildes hinausreichen, und Ebenen z.B. als dünne Quader darge-stellt werden. Allerdings wäre es im Rahmen der zur Verfügung stehenden Zeit für die Schüler nicht möglich, jeweils selbst mit die-sen "Ersatzobjekten" zu arbeiten. Aus die-sem Grunde habe ich eine Sammlung von Makros und eine Vorlagendatei erstellt, die es den Schülern ermöglichen, unmittelbar Punkte (wahlweise einschließlich der Projek-tion auf die x-y-Ebene und der Lote auf die Koordinatenachsen), Vektoren (als Pfeile), Strecken, Geraden sowie Ebenen (anhand einer Parameterdarstellung oder durch die Koeffizienten einer Koordinatengleichung) darzustellen. Im Einzelnen stehen folgende Befehle zur Verfügung: punkt(<P>,textur)

Punkt (als kleine Kugel dargestellt), pluspunkt(<P>,textur)

Punkt mit Lot auf die x-y-Ebene und Verbindungs-strecken zu den Koordinatenachsen,

ortsvektor(<P>,textur) Ortsvektor des Punktes P,

verbindungsvektor(<P>,<Q>,textur) Verbindungsvektor der Punkte P und Q,

vektoranpunkt (<P>,<x>, textur) Pfeildarstellung des Vektors xr , angetragen an den Punkt P,

strecke(<P>,<Q>,textur) Strecke mit den Endpunkten P und Q,

gerade (<P>,<Q>,textur) Gerade durch die Punkte P und Q,

ebenepar (<P>,<a>,<b>,textur) Ebene durch P mit Richtungsvektoren ar und b

r,

ebene (A,B,C,D,textur) Ebene mit der Gleichung Ax+By+Cz+D=0.

An Stelle von <P> bzw. <x> sind jeweils die Koordinaten des Punktes bzw. Vektors ein-zugeben. Für textur müssen die Schüler jeweils — wie oben beschrieben — ein Schlüsselwort für die Oberflächenerschei-nung des betreffenden Objekts angeben. Ins-besondere für Ebenen können sie dazu auch transparente Texturen verwenden.6 Nach einer Zusammenfassung den Schülern bereits bekannter Aspekte des Vektorbegriffs bearbeiteten sie eine Folge von Aufgaben zur Darstellung von Vektoren als Pfeile, zu Orts- und Verbindungsvektoren sowie zur Vektoraddition, welche letztlich zur Parame-terdarstellung der Geraden führt.7

Abb. 5

• Stellen Sie 4 Punkte als pluspunkt dar, blenden Sie das Koordinatenkreuz ein.

6 Das Makropaket für POV-Ray und die Vorlage stehen — zusam-

men mit einer kurzen Anleitung für die Nutzung und einer Doku-mentation der Befehle — auf meiner Internetseite [1] zur Verfü-gung. Für den Fall, dass ein Grafikprogramm nur für die Veran-schaulichung traditioneller Inhalte des Stoffgebietes genutzt, die Computergrafik also nicht thematisiert wird, können auch einfache-re Programme, die speziell für das Stoffgebiet Analytische Geo-metrie entwickelt wurden, zum Einsatz kommen (z.B. DreiDGeo, s. Andraschko 2001). Die Verwendung von POV-Ray (im Zusam-menhang mit geeigneten Makros und Vorlagen) bietet sich im Kon-text mit den anderen hier unterbreiteten Vorschlägen zum Einstieg in das Stoffgebiet sowie zu weitergehenden Überlegungen zur Computergrafik an.

7 Im Folgenden werden nur einige repräsentative Aufgaben und mögliche Lösungen dargestellt. Eine umfangreichere Sammlung von Aufgaben kann unter [1] heruntergeladen werden. Die Abbil-dungen 5 – 9 wurden von Schülern bei der Lösung der Aufgaben erstellt.

Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik

87

• Wählen Sie einen Vektor. Setzen Sie mit-tels vektoranpunkt an jeden der von Ihnen dargestellten Punkte einen Pfeil, der diesen Vektor beschreibt (Abb. 5).

• Stellen Sie die Vektoren ,311

= −ar

=

132

br

als Pfeile so dar, dass der zu ar gehören-

de Pfeil im Koordinatenursprung und der zu b

r gehörende Pfeil in der Pfeilspitze

von ar beginnt. Berechnen Sie ba

rr+ und

stellen Sie barr

+ als Pfeil dar, der im Ko-ordinatenursprung beginnt.

Abb. 6

• Gegeben sind der Punkt P(2;-1;2) und der

Vektor

−=

112

ar .

- Stellen Sie P als pluspunkt und ar

als Pfeil, beginnend an P, dar. - Stellen Sie die Punkte aP

r⋅+ 5,0 ,

aPr

+ , aP r⋅+ 5,1 , aP r

⋅+ 2 sowie aP r

⋅− 5,0 , aP r− , aP r

⋅− 5,1 und aP r

⋅− 2 dar. - Betrachten Sie die Darstellung aus

verschiedenen Richtungen. Anhand derartiger Aufgaben konnten sich die Schüler eine anschauliche Vorstellung von Vektoren im Raum verschaffen, gleichzeitig stellten sie nach Lösung der letzten Aufgabe (s. Abb. 7) sofort fest, dass alle genannten Punkte auf einer Geraden liegen. Nach der Betrachtung verfeinerter Darstellungen (Abb. 8) und schließlich eines Videos, das die Ent-stehung einer Geraden durch kaum noch er-kennbare Punkte zeigt (s. [1]) war ihnen auch klar, dass man alle Punkte dieser Geraden erhält, wenn man den gegebenen Vektor statt mit -2, -1,5, ..., 2 mit beliebigen reellen Zahlen multipliziert. Somit sind die Schüler auf visuellem Wege zur Parameterdarstel-lung der Geraden gelangt. Die Parameterdar-stellung der Ebene wurde dann etwas später auf ähnliche Weise erarbeitet. Gerade bei der Herausarbeitung der Parameterdarstel-

lungen erwiesen sich die computergrafischen Visualisierungsmöglichkeiten als sehr sinn-voll, da die Schüler diese Gleichungen so mit anschaulichen Vorstellungen verbinden.

Abb. 7

Abb. 8

Im weiteren Verlauf des Unterrichts fertigten die Schüler computergrafische Darstellungen vor allem an, um die Lage von Objekten im Raum sowie Lagebeziehungen zu veran-schaulichen. Die im Rahmenplan vorgesehe-nen Aufgaben zu Lage- und Schnittberech-nungen wurden somit visuell ergänzt. • Stellen Sie die Ebene mit der Parameter-

darstellung

),(5,021

211

111

: R∈

−−

⋅+

−⋅+

= srsrx

rε dar.

(Nutzen Sie für die Darstellung der Ebene eine transparente Textur.) Stellen Sie au-ßerdem den Aufpunkt und die beiden Richtungsvektoren der Ebene dar. Fügen Sie der Darstellung die Gerade, die durch die Punkte A(1;-1;1) und B(-5;1;-2) verläuft, hinzu. Schätzen Sie — so gut wie möglich — die Koordinaten des Schnitt-punktes der Geraden und der Ebene.

Auf analoge Weise wurden auch Aufgaben zur gegenseitigen Lage zweier Ebenen sowie später zu Normalenvektoren von Ebenen be-arbeitet.8 Im Unterricht wurden Visualisierungen aus Zeitgründen nur exemplarisch für einige Auf-gaben angefertigt. Viele Schüler nutzten je-doch die Möglichkeit, Aufgaben der Analyti- 8 Neben diesen Aufgaben und exemplarischen Lösungen befindet

sich auf [1] auch eine etwas komplexere Visualisierung, die das Verhalten dreier durch Koordinatengleichungen beschriebener Ebenen bei der Durchführung des Gauss-Algorithmus veranschau-licht.

Andreas Filler

88

schen Geometrie mithilfe von POV-Ray gra-fisch darzustellen, auch für ihre Hausaufga-ben, — obwohl dies nicht verlangt war. Als Grund gaben sie an, dass sie sich so unter den Aufgaben mehr vorstellen und vor allem ihre rechnerischen Ergebnisse kontrollieren können.

Abb. 9

5 Computergrafik und Vektorbegriff

Das dominierende Modell für Vektoren, wel-ches im Mathematikunterricht Verwendung findet, ist das der Pfeilklassen. Äquivalenz-klassen werden dabei allerdings i.Allg. nicht thematisiert; statt dessen wird herausgear-beitet, dass Vektoren durch verschiedene gleich lange und gleich gerichtete Pfeile dar-gestellt werden können. Diese Vektorauffas-sung steht auch in Beziehung zum Physikun-terricht der Sekundarstufe I, in dem Kräfte als vektorielle Größen bezeichnet, durch Pfeile beschrieben und grafisch addiert werden. Auch der Zusammenhang zwischen Ver-schiebungen und Vektoren wird anhand der Pfeilauffassung gut deutlich. Untersuchungen von G. Wittmann ergaben, dass Schüler zum großen Teil sinnvolle geometrische Vorstel-lungen von Vektoren erlangen, vielfach aber inhaltliche und begriffliche Probleme mit der Abstraktion, die der Vektorbegriff beinhaltet, bestehen (Wittmann 2003, 100–123). Ein weiterer Aspekt des Vektorbegriffs ergibt sich aus dem Rechnen mit Vektoren. Dazu werden diese durch n-Tupel (meist Paare oder Tripel) reeller Zahlen charakterisiert. Aus mathematischer Sicht stellen die n-Tupel ebenso ein Modell für den Vektorbegriff dar wie die Pfeilklassen. In der Auffassung von Schülern besteht diese Gleichwertigkeit meist nicht: Häufig verbinden sie in ihrer Vor-stellung Vektoren mit Pfeilen, die durch Zah-lentripel beschrieben werden, — wie auch Punkte durch Koordinatentripel beschrieben werden können (s. Tietze u.a. 2000, Witt-mann 2003, u.a.).

In der Informatik (und auch im Informatikun-terricht) versteht man unter Vektoren generell Zahlen-n-Tupel, die in den meisten Fällen keine geometrische Bedeutung besitzen. An diese Vektorauffassung angelehnt, heißt es z.B. in der Hilfe von POV-Ray:

"A vector is a set of related float values." Vektoren in diesem Sinne, also Zahlen-n-Tu-pel, treten in der Computergrafik in sehr un-terschiedlichen Zusammenhängen auf. Sie beschreiben in POV-Ray u.a.: • Punkte des Raumes: <x,y,z>

• Geometrische Transformationen: - Translationen:

translate <tx,ty,tz>

- Drehungen: rotate <φx, φy, φz> φx, φy und φz sind dabei die Drehwinkel um die x-, y- bzw. z-Achse.

- Streckungen: scale <sx,sy,sz> sx, sy und sz geben die Skalierungs-faktoren in x-, y- bzw. z-Richtung an.

• Farben: color rgb <r,g,b> r steht für den Rot-, g für den Grün- und b für den Blau-Anteil einer Farbe.9

Von den genannten Bedeutungen des Vek-torbegriffs ist die Beschreibung von Farben sicherlich am weitesten von den Beispielen entfernt, die im Mathematikunterricht be-trachtet werden. Die Farbvektoren sind aber insofern besonders interessant, als sie in vie-len Bereichen moderner Medien (wie z.B. in der Bildbearbeitung und der Beschreibung von Internetseiten) ein große Bedeutung ha-ben und zugleich ein Beispiel sinnvoller ge-ometrischer Interpretation eines an sich un-geometrischen Sachverhaltes darstellen. Aus diesem Grunde soll im Folgenden etwas nä-her auf die Beschreibung von Farben einge-gangen werden. Nach der Tristimulustheorie besitzt das menschliche Auge drei Arten von Sensoren (Synapsen) mit unterschiedlichen wellenlän-genabhängigen Empfindlichkeiten. Die Emp-findlichkeitsmaxima dieser Synapsen liegen im roten, grünen bzw. im blau-violetten Be-reich des Farbspektrums (s. z.B. Nyman 1999 und Watt 2002). Menschliche Farb-wahrnehmung entsteht durch Auswertung der Intensitäten der Reize, die auf jede der Arten von Synapsen ausgeübt werden. Somit kann jede mögliche Farbempfindung durch 9 Erweiterte Farbbeschreibungen durch Quadrupel oder Quintupel in

POV-Ray beinhalten zusätzlich die Beschreibung von Transpa-renzeigenschaften, wobei zwei unterschiedliche Modelle von Transparenz zum Einsatz kommen (s. Hilfe von POV-Ray bzw. [3]).

Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik

89

drei Grundfarben hervorgerufen werden, de-ren Wellenlängen in der Nähe der Empfind-lichkeitsmaxima liegen. Diese Tatsache liegt dem Aufbau elektronischer Bildwiedergabe-geräte (wie Fernsehgeräte und Monitore) zu Grunde, die in jedem ihrer Bildpunkte (Pixel) über drei Subpixel in den Farben Rot, Grün und Blau verfügen. Alle Farben werden somit durch geeignete Zusammensetzungen von Rot-, Grün- und Blauanteilen erzeugt. Eine Farbe lässt sich somit durch einen Vektor

bgr

beschreiben. Dabei ist es allerdings ma-

thematisch nicht ganz korrekt, von Vektoren zu sprechen, da die Farben keinen Vektor-raum bilden: Die Komponenten von rgb-Vek-toren können nicht negativ sein und sind nach oben beschränkt. In POV-Ray sind die r-, g- und b-Komponenten reelle Zahlen aus dem Intervall [0;1], Bildbearbeitungsprogram-me verwenden oft natürliche Zahlen zwi-schen 0 und 255, in HTML müssen diese Werte in Hexadezimalschreibweise angege-ben werden. Die Beschränkung auf 256 Wer-te kommt daher, dass sich für die Steuer-elektronik von Monitoren eine Farbbeschrei-bung mit 8 bit je Grundfarbe durchgesetzt hat und somit 28 = 256 Stufen dargestellt werden können. Auch bei den gängigen Bilddateien ist eine Auflösung von 24 bit je Bildpunkt, al-so 8 bit für jede Grundfarbe üblich. Die fol-genden Ausführungen beziehen sich jedoch auf das u.a. von POV-Ray verwendete nor-mierte System der Farbbeschreibung mit Komponenten aus dem Intervall [0;1].

Abb. 1010

Die Menge aller rgb-Farbvektoren ist eine Teilmenge des R3. Betrachtet man nun diese Vektoren als Ortsvektoren von Punkten des Anschauungsraumes, so entspricht jeder Farbe genau ein Punkt des Würfels mit den Eckpunkten (0;0;0), (1;0;0), (0;1;0), (0;0;1), (1;0;0), (1;1;0), (1;0;1) und (1;1;1). Dieser 10 Eine farbige Darstellung des RGB-Würfels, bei dem die Farben

erkennbar werden, die den Punkten auf den Seitenflächen zuge-ordnet sind, und ein zugehöriges Video, in welchem sich der Würfel dreht, befinden sich auf der Internetseite [1].

Würfel wird als Farbwürfel oder genauer RGB-Würfel bezeichnet (s. Abb. 10). Dem Koordinatenursprung entspricht die Far-be, die entsteht, wenn die Intensität aller drei Grundfarben Null ist: Schwarz. Bei maxima-ler Intensität aller drei Grundfarben wird Weiß erzeugt. Sehr gut lassen sich auf dem Farbwürfel Komplementärfarben erkennen; dabei handelt es sich um Farben, denen ge-genüberliegende Eckpunkte zugeordnet sind. Die elementaren Vektoroperationen (Vektor-addition und Multiplikation mit Skalaren) sind für Farben sinnvoll anwendbar, so lange die Ergebnisse für alle Komponenten im Intervall [0;1] liegen. Es gilt z.B.:

Rot + Grün =

=

+

011

010

001

= Gelb,

Rot + Grün + Blau =

=

+

+

111

100

010

001

;

als Summe der drei Grundfarben ergibt sich also auch rein rechnerisch Weiß. Da Weiß die hellste mögliche Farbe ist, ergeben aber Ergebnisse bei der Farbaddition, die größere Komponenten als 1 besitzen, keinen Sinn. Eine sinnvolle allgemeine Definition für die Summe zweier Farbvektoren ist daher

+++

=

+

)1,max()1,max(

)1,max(

21

21

21

3

2

2

1

1

1

bbgg

rr

bgr

bgr

.

Die Addition von Farben kann mit Bildbear-beitungsprogrammen wie Adobe Photoshop oder Corel Photopaint gut nachvollzogen werden. Dazu werden z.B. drei Kreise in den Grundfarben auf jeweils eine Ebene über ei-ner schwarzen Hintergrundebene gelegt. Für die Ebenen der Kreise wird jeweils der Ebe-nenverrechnungsmodus "Addieren" (Photo-paint) bzw. "Aufhellen" (Photoshop) einge-stellt. Es wird sofort sichtbar, zu welchen Farben sich die einzelnen Paare von Grund-farben addieren; Punkte, die im Durchschnitt aller drei Kreise liegen, werden weiß darge-stellt (siehe Abb. 11). Das RGB-Modell — auch als additives Farb-modell bezeichnet — beschreibt sehr gut die Funktion elektronischer Bildwiedergabegerä-te. Im Ausgangszustand (ohne Signal) bleibt der Bildschirm dunkel; folgerichtig entspricht der Koordinatenursprung der Farbe Schwarz, und Farben werden durch die Addition von Helligkeitswerten der drei Grundfarben gebil-det. Demgegenüber verhält sich Papier um-gekehrt; — ist es unbedruckt, so wirkt es weiß. So wie bei Bildschirmen die Farbkom-ponenten Helligkeit addieren, wird durch den Auftrag von Farbpigmenten (Reflexions-)

Andreas Filler

90

flexions-) Helligkeit des Papiers subtrahiert. Daher kann die Farbwiedergabe im Druck durch das subtraktive CMY-Modell mit den Grundfarben Cyan, Magenta und Gelb (Yel-low) beschrieben werden. Wie der RGB-Farbwürfel (Abb. 10) zeigt, sind dies die Komplementärfarben der Farben Rot, Grün und Blau. Es gilt:

Abb. 11

Weiß – Rot = Cyan, Weiß – Grün = Magenta, Weiß – Blau = Gelb. Im CMY-Würfel (Abb. 12) entspricht der Ko-ordinatenursprung dem Weißpunkt; denn für diesen Punkt erfolgt kein Farbauftrag. Die Koordinatenachsen entsprechen den Intensi-täten c, m und y der Farbauftragungen für die Grundfarben Cyan, Magenta und Gelb. Zwi-schen den rgb- und den cmy-Vektoren einer Farbe besteht daher der Zusammenhang

=

bgr

ymc

111

.

Abb. 1211

Das RGB- und das CMY(K)-Modell orientie-ren sich an den Eigenschaften der Farbein- und -ausgabegeräte sowie an der Physiolo-gie der Farbwahrnehmung. Demgegenüber wurden Farbmodelle geschaffen, welche be-sonders gut für Bildkomposition und Design genutzt werden können. Dazu gehört das HSB-Modell, wobei H für Hue (Farbton), S für Saturation (Farbsättigung) und B für Bright-ness (Helligkeit) stehen. Um zu diesem Mo-

11 In der Praxis können Druckmaschinen durch den Aufdruck der

drei Druckfarben Cyan, Magenta und Gelb kein überzeugendes Schwarz erzeugen. Aus diesem Grunde wird zusätzlich schwarze Druckfarbe verwendet, es kommt das CMYK-Modell zum Ein-satz, wobei K für Schwarz steht (s. Nyman 1999).

dell zu gelangen, wird der RGB-Farbwürfel (Abb. 10) parallel zur Schwarz-Weiß-Diago-nalen auf die zu dieser Diagonalen orthogo-nale Ebene im Punkt W projiziert. Dabei ent-steht ein regelmäßiges Sechseck mit den Eckpunkten Rot, Gelb, Grün, Cyan, Blau und Magenta (Abb. 13). Jeder Farbton (außer Schwarz, Weiß und reinen Grautönen) wird nun durch einen Winkel im Intervall [0;360°) dargestellt. Diese Darstellung liegt auch dem häufig anzutreffenden Farbkreis zu Grunde.

Rot (0°)

Grün (120°) Gelb (60°)

Cyan (180°)

Blau (240°) Magenta (300°)

WeißSchwarz

Abb. 13

Rot (0°)

Grün (120°) Gelb (60°)

Cyan (180°)

Blau (240°) Magenta (300°)

Weiß

Schwarz (B=0)

B

SH

B=1

Abb. 14

Das Farbsechseck bildet die Basis einer Py-ramide (siehe Abb. 14), deren Spitze der Hel-ligkeitswert 0 (schwarz) entspricht. Die Achse dieser Pyramide bildet die Helligkeits- (B-) Achse; der Abstand einer Farbe von dieser Achse bestimmt deren Sättigung S. Durch den bereits erwähnten Winkel im Farbkreis wird schließlich der Farbton H beschrieben. Das HSB-Modell unterstützt die Auswahl har-monisch wirkender Farben: • Die Kombination von Farben mit annä-

hernd gleicher Sättigung wird als ange-nehm empfunden. Demgegenüber zählt die Verwendung von Farben mit sehr un-terschiedlichen Sättigungswerten für in-haltlich vergleichbare Grafikelemente zu den häufigsten Fehlern bei der Gestaltung von Informationsgrafiken und Internetsei-ten.

Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik

91

• In vielen Fällen ist auch die Auswahl ähn-licher Helligkeitswerte sinnvoll.

• Für korrespondierende Grafikelemente ist die Auswahl komplementärer Farben (H-Differenz 180°) bzw. von Farben mit H-

Differenzen von n

m °⋅360 (für n Grafik-

elemente, m = 1,...,n) sinnvoll. Die Beschreibung von Farben durch Vekto-ren kann dazu beitragen, dass die Schüler die Bedeutung des Vektorbegriffes etwas umfassender sehen und ein Beispiel für die sinnvolle und offensichtlich nützliche geomet-rische Interpretation eines nichtgeometri-schen Sachverhaltes kennen lernen. Die n-Tupel bilden dabei ein "Bindeglied" zwischen sehr verschiedenen Bedeutungen, die Vekto-ren haben können.12

6 Grundlagen der Compu-tergrafik: Skalarprodukt und Normalenvektoren

Computergrafische Anwendungen können für die Motivierung zentraler Inhalte der Analyti-schen Geometrie genutzt werden. Besonders bietet sich dies bei der Behandlung des Ska-larproduktes und des Winkels zwischen Vek-toren sowie von Normalen(einheits-)vektoren an. Dabei sollte aber die Frage, wie die Soft-ware Bilder berechnet, nicht nur theoretisch diskutiert werden. Die Schüler können den praktischen Nutzen des Verständnisses die-ser Zusammenhänge anhand von Möglich-keiten erfahren, die sie dadurch für die Ges-taltung von Oberflächen und die bewusste Wahl dafür geeigneter Parameter — letztlich also für die Erstellung eigener Bilder — ge-winnen. Ausgangspunkte der Betrachtungen zum Skalarprodukt und zu Normalenvektoren bilden die folgenden Fragen: • Wie werden geometrisch komplizierte "re-

ale" Objekte wie z.B. Menschen und Tiere in der Computergrafik beschrieben und dargestellt?

12 Den Vektorbegriff unmittelbar am Anfang des Stoffgebietes Ana-

lytische Geometrie zu thematisieren, erscheint m.E. nicht emp-fehlenswert. Anhand der Beschreibung von Punkten und einfa-chen geometrischen Objekten durch Koordinaten finden die Schüler einen anschaulicheren und einfacheren Einstieg in die Analytische Geometrie (s. z.B. Filler & Wittmann 2003), als wenn gleich am Anfang der vergleichsweise abstrakte Vektorbegriff "auf Vorrat" eingeführt wird. Eine spätere Zusammenfassung der verschiedenen Auffassungen und Anwendungen von Vektoren (Zahlentripel, Klassen bzw. Mengen von Pfeilen, Kräfte, Ver-schiebungen, Farben) bietet sich an, um den Schülern einen Einblick in Leistungsfähigkeit und Universalität des Vektorbegriffs zu vermitteln.

• Wie wird das Aussehen von Oberflächen — über die Farbgebung hinaus — model-liert? Wodurch unterscheiden sich spie-gelnde von matten, glänzende von rauen Oberflächen?

Indem die Schüler den POV-Ray-Quelltext eines komplexeren dreidimensionalen Mo-dells analysieren, stellen sie fest, dass Ob-jekte durch die Vereinigung einer großen Zahl von Dreiecken dargestellt werden. Der in Abb. 15 dargestellte Fisch besteht z.B. aus ca. 6000 Zeilen der Form triangle { <-0.22, 4.38, 2.17>, <-0.26, 4.25, 1.92>, <-0.32, 4.50, 1.81> } .

Abb. 15

Bei der Berechnung des Bildes in POV-Ray sind die dreieckigen Facetten deutlich er-kennbar. Bereits an dieser Stelle können die Schüler eine Datei analysieren, bei der die-ses Problem gelöst wurde — der in Abb. 16 dargestellte Fisch besteht aus ebenso vielen, jedoch "geglätteten" Dreiecken:

Abb. 16

smooth_triangle { <-0.22, 4.38, 2.17>, <-0.91, -0.17, 0.36>, <-0.26, 4.25, 1.92>, <-0.90, -0.33, 0.27>, <-0.32, 4.50, 1.81>, <-0.97, -0.04, 0.20> } Bei dieser Darstellung wird zu jedem Eck-punkt ein aus den anliegenden Dreiecksfa-cetten gemittelter Normaleneinheitsvektor angegeben. Aus den zu den Eckpunkten ge-hörenden Normalenvektoren werden beim Rendern die Helligkeits- bzw. Farbwerte der einzelnen Oberflächenpunkte interpoliert.

Andreas Filler

92

Dieses Verfahren (Gouraud- bzw. Phong-Shading, vgl. z.B. Watt 2002 oder Xiang & Plastock 2003) können die Schüler an dieser Stelle noch nicht nachvollziehen; — dazu sind Kenntnisse über das Skalarprodukt und über Normaleneinheitsvektoren erforderlich. Zu dieser Erkenntnis führen die im Folgen-den geschilderten — an den Physikunterricht der Sekundarstufe I anknüpfenden — Über-legungen zur prinzipiellen Funktionsweise der 3D-Computergrafik.13 Die Bildberechnung in hochwertiger 3D-Com-putergrafiksoftware wie POV-Ray erfolgt nach dem Raytracing-Verfahren, bei dem Verläufe von Lichtstrahlen ausgehend vom Auge des Beobachters (bzw. der Kamera) über Spiegelungen an Körpern der Szene und evtl. Durchdringungen transparenter Körper hin zu den Lichtquellen zurück ver-folgt werden. Eine kurze Beschreibung des Verfahrens habe ich in (Filler 2001) sowie auf der Internetseite [1] gegeben, ausführlichere Darstellungen finden sich u.a. in (Watt 2002) und (Xiang & Plastock 2003). Nach einer kurzen Erläuterung der — recht nahe liegen-den — Funktionsweise des Raytracing liegt für die Schüler auf der Hand, dass die Be-rechnung von Reflexionen entscheidend für die Generierung computergrafischer Darstel-lungen ist. Davon ausgehend wird das Refle-xionsgesetz aus dem Physikunterricht der Mittelstufe wiederholt. Dieses besagt, dass Einfallswinkel und Reflexionswinkel maß-gleich sind, wobei der Einfallswinkel α vom einfallenden Strahl und dem Einfallslot, der Reflexionswinkel β vom reflektierten Strahl und dem Einfallslot gebildet wird. Als Einfalls-lot wird die auf der spiegelnden Oberfläche im Auftreffpunkt des einfallenden Strahles er-richtete Senkrechte verstanden (siehe Abb. 17). Teilweise wird hinzugefügt, dass die beiden Lichtstrahlen und das Einfallslot in ei-ner Ebene liegen; im Allgemeinen werden je-doch ebene Versuchsaufbauten als selbst-verständlich vorausgesetzt. Um das Reflexionsgesetz für allgemeine An-ordnungen im Raum zu formulieren und Ver-läufe reflektierter Lichtstrahlen berechnen zu können, ist es notwendig, Einfallslote für be-liebige Ebenen im Raum anzugeben und Winkel zwischen diesen Einfallsloten und 13 Es sei hier noch angemerkt, dass die Betrachtung der in der

Computergrafik üblichen Darstellung realer Objekte durch Drei-ecksfacetten — also ebene Oberflächen — als Motivierung für die ansonsten geometrisch recht bedeutungsarme, im Unterricht jedoch sehr ausführliche Behandlung der Ebenen dienen kann. Ein offensichtlich für Computerspiele begeisterter Schüler merkte bei der Diskussion dieser Thematik im Unterricht an, dass er nun den Aufdruck "Dreiecksdurchsatz: 4,2 Mill./Sekunde" auf dem Karton seiner Grafikkarte verstehe.

Lichtstrahlen in Abhängigkeit von den Rich-tungsvektoren auszudrücken. Ausgehend von diesen Überlegungen wird das Skalar-produkt zweier Vektoren eingeführt sowie der Zusammenhang zwischen dem Winkel zwi-schen zwei Vektoren und ihrem Skalarpro-dukt behandelt. Durch Darstellung von Bei-spielen, die in Aufgaben vorkommen, mithilfe von POV-Ray können die Schüler zumindest qualitativ den Zusammenhang zwischen dem Winkel zweier Vektoren, dem Produkt ihrer Beträge und dem Skalarprodukt erkennen. Geeignete Anregungen stehen auf der Inter-netseite [1] zur Verfügung.

Abb. 17

Bei der Einführung der Normalenvektoren stellen die Schüler durch die Darstellung mehrerer Ebenen, die durch Koordinaten-gleichungen der Form DCzByAx =++ ge-geben sind, und der jeweils zugehörigen

Vektoren

CBA

in POV-Ray fest, dass diese

Vektoren jeweils senkrecht zu den zugehöri-gen Ebenen sind. Die betrachteten Koeffi-zientenvektoren werden dann als Normalen-vektoren bezeichnet. Anschließend untersu-chen die Schüler die Zusammenhänge zwi-schen den Normalen- und den Richtungsvek-toren der Ebenen. Nach diesen Betrachtungen kann mithilfe des Skalarproduktes und des Normaleneinheits-vektors das Reflexionsgesetz nun folgen-dermaßen formuliert werden: Ist nr der Nor-maleneinheitsvektor der spiegelnden Ober-fläche und sind l

r und b

r die normierten

Richtungsvektoren des einfallenden bzw. re-flektierten Lichtstrahls, so gilt:

1. nr , l

rund b

r sind komplanar,

2. bnlnrrrr

,, = .

Abb. 18

Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik

93

Einzelne Berechnungen des Verlaufes reflek-tierter Lichtstrahlen können anhand dieser Formulierung des Reflexionsgesetzes zwar durchgeführt werden, entsprechen aber kaum Anwendungsbedürfnissen in der Com-putergrafik. Interessanter ist es, anhand von Beobachtungen der Realität zu diskutieren, ob die durch das Reflexionsgesetz beschrie-bene direkte Reflexion die einzige Art ist, in der Körper beleuchtet werden, und welchen Einfluss hierauf die Glätte oder Rauheit der Körperoberfläche hat. Neben der direkten (spiegelnden) Reflexion sind auch eine völlig richtungsunabhängige (ambiente) Beleuch-tung, die durch Unebenheit von Körperober-flächen verursachte diffuse Beleuchtung so-wie die durch nicht ganz exakte Reflexion von Lichtquellen ausgehender Strahlen ent-stehenden "Leuchtflecken" (Highlights) von Bedeutung. Diese Beleuchtungskomponen-ten können durch die Normalenvektoren so-wie die Verbindungsvektoren zu den Licht-quellen und zur Kamera realitätsnah be-schrieben werden. So ist es den Schülern möglich, geeignete mathematische Modelle der Beleuchtungskomponenten zu entwi-ckeln. In engem Zusammenhang damit kön-nen sie die Wirkung der entsprechenden Pa-rameter ambient, diffuse, reflexion und phong in POV-Ray erproben.14 Die am Beispiel des Fisches erwähnte Glät-tung von Kanten durch Normaleninterpolation können die Schüler nach der Behandlung der Normalenvektoren von Ebenen anhand eines Körpers mit wenigen Facetten selbst nach-vollziehen. Dazu bietet sich z.B. das Okta-eder mit den Eckpunkten (1;0;0), (0;1;0), (-1;0;0), (0;-1;0), (0;0;-1) und (0;0;1) an. Zu-nächst stellen die Schüler dieses Oktaeder als Vereinigung von Dreiecken dar, wodurch sich in POV-Ray das erwartete Bild ergibt. Anschließend bestimmen sie die Normalen-vektoren der Ebenen, in denen die Seitenflä-chen des Oktaeders liegen. Um die Kanten des Oktaeders zu glätten, werden für jeden Punkt die Mittelwerte der Normalenvektoren der anliegenden Facetten komponentenwei-se berechnet und normiert; — für das ge-wählte Oktaeder stellt sich heraus, dass die Koordinaten dieser "Mittelwertvektoren" mit denen der zugehörigen Eckpunkte identisch sind. Durch Darstellung der Vereinigung von 8 geglätteten Dreiecken der Form smooth_triangle {<1,0,0>,<1,0,0>, <0,0,-1>,<0,0,-1>, <0,1,0>,<0,1,0> } 14 Eine Beschreibung der Beleuchtungskomponenten und Beispiele

für die Wirkung der genannten Parameter sind u.a. auf der Inter-netseite [1] unter "Ray-Tracing-Theorie" zu finden.

in POV-Ray (siehe Abb. 19) ergibt sich auch für das Oktaeder eine Kantenglättung wie für den in Abb. 16 dargestellten Fisch.

Abb. 19

Es fällt auf, dass die durch die Software vor-genommene Kantenglättung in diesem ex-tremen Fall merkwürdige Effekte in der Dar-stellung verursacht. Dass der dargestellte Körper geometrisch immer noch ein Okta-eder ist, sehen die Schüler, wenn sie ihn durch Änderung der Kameraposition aus ver-schiedenen Richtungen betrachten.15 Die Glättung der Kanten des Oktaeders, wel-che die Schüler durch eigene Berechnungen vornahmen, löste bei ihnen Erstaunen aus. Durch den Bezug auf das Beispiel des Fi-sches, das sie zuvor kennen gelernt hatten, war ihnen bewusst, dass sie eine der wich-tigsten Berechnungen, die für Computerspie-le und Spielfilme millionenfach vorgenommen werden muss, selbst ausgeführt haben.

7 Schlussbemerkungen Die bisherigen Erfahrungen mit der Einbe-ziehung von Elementen der 3D-Computer-grafik in das Stoffgebiet Analytische Geomet-rie schätze ich als ermutigend ein. Die Schü-ler zeigten sich sehr interessiert an dieser Thematik; die Anfertigung eigener Compu-tergrafiken empfanden sie als ausgespro-chen reizvoll. Die Verwendung einer skript-gesteuerten Software wie POV-Ray führt zwangsläufig dazu, dass reines "Spielen" zu keinen Ergebnissen führt und die Schüler sich mit der Mathematik, die "hinter der Com-putergrafik steht", auseinander setzen müs-sen, um zu Ergebnissen gelangen. Neben den besonders reizvollen Beispielen Schneemannbau und Glättung des Okta-eders empfanden die Schüler auch die Vi-

15 Ein Video, das dies deutlich zeigt, steht — neben den entspre-

chenden POV-Ray-Dateien — auf der Internetseite [1] zur Verfü-gung.

Andreas Filler

94

sualisierung von Standardaufgaben der Ana-lytischen Geometrie als sinnvolle Ergänzung zu deren rechnerischer Bearbeitung. Die Beschreibung von Farben sowie der be-wusste Einsatz der Beleuchtungskomponen-ten führen — miteinander kombiniert — zu weit gehenden Möglichkeiten der Gestaltung von Körperoberflächen. Die zu Grunde lie-genden mathematischen Modelle sind recht elementar und schaffen nicht nur ein Ver-ständnis der Funktionsweise der Computer-grafik sondern auch einen anderen Blick auf Erscheinungen der täglichen Umgebung. Klassische Inhalte der Analytischen Geome-trie können dadurch von den Schülern mit ei-ner anderen Bedeutung wahrgenommen werden, als dies anhand der im Unterricht normalerweise behandelten Beispiele der Fall ist. Als problematisch erwies es sich, in der vor-gegebenen Zeit die vom Rahmenplan festge-legten Inhalte zu bearbeiten und Fragen der Computergrafik zu thematisieren. Die Spiel-räume, die der Berliner Rahmenplan lässt, sind sehr gering; auf die Behandlung der Far-ben musste ich deshalb z.B. verzichten. In Cottbus führte F. Rieper (ebenfalls in ei-nem Grundkurs ma-13) ein dreiwöchiges Un-terrichtsprojekt zur 3D-Computergrafik durch und lies den Schülern große Freiräume bei der Wahl der Schwerpunkte. Die Ergebnisse dieses Projektes sind hinsichtlich der erstell-ten Grafiken, noch mehr aber aufgrund der von den Schülern verwendeten mathemati-schen Beschreibungen beeindruckend (s. [2]). Diese Ergebnisse unterstreichen die Forderung, durch veränderte Rahmenpläne Freiräume für weitergehende Überlegungen und Unterrichtsprojekte zu schaffen. Da die Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik Zeit benötigt, sollten Abstri-che an den traditionellen, stärker algebraisch orientierten Inhalten des Stoffgebietes mög-lich sein. Das Setzen von Schwerpunkten, die Beschränkung auf Kernthemen, die ver-tieft und durch Anwendungen motiviert und gefestigt werden, sowie die Reduzierung der mit Routineaufgaben verbrachten Zeit sind Ansätze für Straffungen. Das durch visuelle Vorstellungen unterstütze Verständnis kann die Reduzierung der für Routineaufgaben aufgewendeten Zeit zumindest teilweise kompensieren. Auch wenn an einigen Stellen Abstriche gemacht werden müssen, kann ei-ne stärker geometrische und anwendungs-

orientierte Behandlung der Analytischen Ge-ometrie eine Bereicherung für den Mathema-tikunterricht in der Sekundarstufe II sein.

Literatur und Internet Andraschko, H. (2001): DreiDGeo — ein Compu-

terwerkzeug für die analytische Geometrie im E3. In: Der Mathematikunterricht 47, Heft 5, 54–68

Borneleit, Peter, Rainer Danckwerts, Hans-Wolf-gang Henn & Hans-Georg Weigand (2001): Expertise zum Mathematikunterricht in der gymnasialen Oberstufe. In: Journal für Mathe-matik-Didaktik 22, 73–90

EPA (Einheitliche Prüfungsanforderungen) (2002). Beschluss der 298. Kultusministerkonferenz am 23./24.05.2002 in Eisenach

Filler, Andreas (2001): Dreidimensionale Compu-tergrafik und Analytische Geometrie. In: ma-thematica didactica 24, Heft 2, 21–56

Filler, Andreas (2002): 3D-Computergrafik und Analytische Geometrie — Vorschläge für den Mathematikunterricht in der Sekundarstufe II. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2002, Hildesheim & Berlin: Franzbecker, 163–166

Filler, Andreas & Gerald Wittmann (2004): Raum-geometrie vom ersten Tag an! Einstiege in die Analytische Geometrie. In: Der Mathematikun-terricht 50, Heft 1/2, 91–103

Nyman, M. (1999): 4 Farben 1 Bild. Berlin, Heidel-berg & New York: Springer

Schupp, Hans (2000): Geometrie in der Sekun-darstufe II. In: Journal für Mathematik-Didaktik 21, 50–60

Tietze, Uwe-Peter, Manfred Klika & Hans Wolpers (2000): Mathematikunterricht in der Sekundar-stufe II, Band 2: Didaktik der Analytischen Ge-ometrie und Linearen Algebra.Braunschweig & Wiesbaden: Vieweg

Watt, A. (2002): 3D-Computergrafik. München: Pearson Education

Wittmann, Gerald (2003): Schülerkonzepte zur Analytischen Geometrie. Hildesheim & Berlin: Franzbecker

Xiang, Z. & R. A. Plastock (2003): Computergrafik. Bonn: mitp-Verlag

[1] Internetseite des Autors mit Materialien zum Thema dieses Beitrags: http://www-didaktik. mathematik.hu-berlin.de/org/filler/3D

[2] Mathe-Projekt "Raytracing" in einem Grund-kurs ma-13, Fürst-Pückler-Gymnasium Cott-bus: http://fpg-cottbus.de/faecher/mathematik/ povrayprojekt.html

[3] POV-Ray-Homepage: http://www.povray.org/ [4] Rahmenpläne des Landes Berlin:

http://www.senbjs.berlin.de/schule/ rahmenplaene/thema_rahmenplaene.asp

95

I. Das Problem der Kontinuität

Postuliert man, dass DGS sich stetig verhal-ten soll, stellen sich zwei neue Fragen: (1) Welches Zug-Verhalten ist als stetig zu bezeichnen? (2) Wie stellt man es her? Die Antwort auf (1) ist nur scheinbar offen-kundig; — in Kap. I.1 werden wir sehen, dass man hierüber schon in einfachsten Beispie-len ganz unterschiedlicher Ansicht sein kann. Und es zeigt sich in Kap. I.2, dass die konträ-ren Auffassungen sich tatsächlich jeweils auf verschiedene mögliche Präzisierungen des Begriffs Kontinuität stützen können. Schließ-lich lehrt auch der geschichtliche Rückblick in Kap. I.3, dass sich aus der historischen Ent-wicklung das Kontinuitätsprinzips keines-wegs so einfach und eindeutig einer dieser Interpretationen den Vorzug geben lässt. Nun könnte man meinen, dass sich doch wenigstens aus der Antwort auf (2) eine Maßregel für stetiges Verhalten ableiten lässt. Dem ist jedoch nicht so; — in Kap. I.4 beschreiben wir, wie in "Cinderella" Stetigkeit erzeugt werden soll, indem Ausnahmesitua-tionen durch Umwege ins Komplexe vermie-den werden. Ebenso gut kann man jedoch als Geometer auch einen reellen Umweg be-schreiten; — und das führt zu einem abwei-chenden Verhalten, welches gemäß der Ana-lyse in Kap. I.2 sogar höhere Stetigkeits-eigenschaften hat. Insofern muss also offen

bleiben, ob überhaupt eine einzige Zug-Strategie als die stetige benannt werden kann.

I.1 Springende Punkte: unstetig — oder auch nicht

Abb. 1

Bei spielerischen Erkundungen im Vorfeld der klassischen Zweikreis-Konstruktion der Mittelsenkrechten kann man folgende Erfah-rung machen: Gegeben seien zwei Kreise mit gleichem Radius r und Mittelpunkten A, E, die frei beweglich gedacht sind — und mit DGS auch so erfahren werden können. Für 0< AE <2r schneiden sich die Kreise in zwei Punkten; sei F der "obere" der beiden Schnittpunkte (Abb. 1). Bewegt man nun ei-

Konstruktion und Kontinuität in der Dynamischen Geometrie

Thomas Gawlick, Landau

Das Erscheinen der Dynamischen Geometrie-Software (DGS) "Cinderella" war der Aus-löser für eine aspektreiche und teils kontroverse Diskussion über die Frage: Was ist das korrekte Verhalten von DGS im Zugmodus? "Dazu muss festgelegt werden, was man als korrekt ansieht, und eine naheliegende Forderung ist[,] hier Kontinuität zu erreichen. Da-bei entspricht der Begriff der Kontinuität dem der Stetigkeit (eine sinnvolle Topologie vor-ausgesetzt). ... Da Kontinuität offensichtlich nicht trivial zu erreichen ist, stellt sich die Frage, ob sie denn überhaupt erreichbar ist. Die Frage kann positiv beantwortet werden, und mit Cinderella ist inzwischen ein[e] kontinuierliche DGS erhältlich." (Kortenkamp 2000). In Teil I. werden wir zeigen, dass diese Antwort in zweierlei Hinsicht mehr Proble-me aufwirft, als sie löst. Scheut man jedoch zurück vor der Tragweite solcher Grund-satzüberlegungen, aber auch vor den bekannten Nebenwirkungen des stetigen Zug-Paradigmas, stellt sich natürlich um so dringender die Frage: Kann man auch auf andere Weise korrektes Verhalten von DGS im Zugmodus herbeiführen? Ja, das kann man — in Teil II. zeigen wir, dass die Restrukturierung des dynamischen Konstruktionsbegriffs zu einem Lösungsweg führt, der auch didaktisch fruchtbar gemacht werden kann.

A

E

F

Thomas Gawlick

96

nen der Mittelpunkte ein wenig, so wird F sich ebenfalls mitbewegen, — und zwar ste-tig. Das wird sicher als so natürlich empfun-den, dass man es gar nicht bewusst wahr-nimmt. Über kurz oder lang bemerkt man je-doch folgende Phänomene: (V1) Werden E und A zur Übereinstimmung

gebracht, verschwindet F. 1

(V2) Entfernt man E weit genug von A, ver-schwindet F ebenfalls.

Abbildung 2 zeigt für (V1) verschiedene Sta-dien einer solchen Bewegung: E1, E2 und E3 sind vorherige Positionen von E, sowie F1, F2 und F3 die dazugehörigen "früheren" Schnittpunkte. In beiden Fällen ist offenbar die Bedingung 0< AE <2r nicht mehr erfüllt. Und wenn wir E nun so weiterbewegen, dass sie wieder gilt; — was soll, was wird dann passieren? Der geneigte Leser möge sich einen Moment Zeit gönnen und dies wirklich einmal vor sei-nem geistigen Auge geschehen lassen. Und es dann mit dem vergleichen, was bei der Vi-sualisierung dieser Bewegung mit DGS ge-schieht. Denn bei den meisten Menschen er-gibt sich eine überraschende Abweichung: Während in der Imagination gewöhnlich bloß die Kreise auftauchen, zeigt uns der Compu-ter-Bildschirm stets auch wieder einen mit F markierten Schnittpunkt. Dieses Wiederauf-tauchen wird von den Benutzern in der Regel fraglos hingenommen, — obwohl man allen-falls Verwunderung erntet, wenn man vorher fragt: "Was wird bei dieser weiteren Bewe-gung mit F passieren?" ("F ist doch weg!") Und nachher befragt, lautet die Antwort meist bloß etwa so: "Es taucht an der selben Stelle wieder auf, wo es verschwunden ist."

1 Um A exakt zu treffen, wähle man in "Cinderella" den "Hufeisen"-

Modus und setze A auf einem Gitterpunkt. Bei "Euklid" verwende man im Kontextmenu der Punkte die Schrittweiteneinstellung 0,1.

Es wäre wohl übertrieben, hier auch nur von einer impliziten Erwartung zu sprechen; — dennoch erlebt man bei verschiedenen DGS hier durchaus auch Überraschungen: (V1) Wenn man mit "Euklid" E über A hin-

weg bewegt, scheint F zu springen: Denn was auftaucht, ist der "untere" Schnittpunkt Fu der beiden Kreise. "Cinderella" dagegen setzt die Bewe-gung von F mit dem "oberen" Schnitt-punkt Fo fort.

(V2) Nähert man E wieder A an, zeigt sich hier die gleiche Alternative, — aber mit verteilten Rollen: Nun ist es "Euklid", das erwartungskonform den "oberen" Schnittpunkt Fo erscheinen lässt, wäh-rend "Cinderella" die Bewegung durch den "unteren" Schnittpunkt Fu fortsetzt.

Die Ortslinie von F macht das dynamische Verhalten von F auch auf Papier sichtbar. Abbildung 3 zeigt den Fall (V1) in "Euklid" : E wurde durch A hindurchbewegt, und F springt — scheinbar ...

Leider kann bei (V2) nicht entsprechend das überraschende Verhalten von "Cinderella" mittels einer Ortslinie veranschaulicht wer-den, da "Cinderella" diese weder als En-semble von Stützpunkten darstellen noch durch freies Ziehen erzeugen kann. Ersatz-weise wurde "Cinderellas" Verhalten daher mit "Euklid" nachgebildet: Abbildung 4 zeigt zunächst in Grau das Wegbewegen von E und den gleichzeitigen "Abstieg" von F zum Berührpunkt Fo =Fu der beiden Kreise. Beim Wiederannähern von E erscheint F wieder dort, steigt dann aber weiter ab; — hat sich also in Fu verwandelt, wie die schwarzen Ortslinien zeigen. Nun mag man zweifeln, ob es tatsächlich an-gemessen ist, (V1) und (V2) in einem Atem-zug zu nennen und auch bezeichnungsmä-ßig auf die gleiche Ebene zu stellen, denn

A

E

F

Abb. 3

AE3

F3

E1 E2E

F F1 F2

Abb. 2

Konstruktion und Kontinuität in der Dynamischen Geometrie

97

1. scheinen (V1) und (V2) doch nur ober-flächlich ähnliche Situationen und Verhal-tensweisen darzustellen, dem Sinne nach aber ganz verschieden zu sein,

2. wird man (V1) und (V2) zunächst ganz un-terschiedlich werten: während das abwei-chende Verhalten von "Euklid" in (V1) Ausdruck eines mathematischen Mangels (Unstetigkeit) zu sein scheint, ist man wohl geneigt, die mangelnde Erwartungs-konformität von "Cinderella" in (V2) eher als eine harmlose Kuriosiät zu betrachten.

Beide Ansichten erweisen sich jedoch bei näherer Betrachtung als falsch: 1. (V1) und (V2) hängen dadurch zusammen,

dass "Cinderella" Situationen vom Typ (V1) behandelt, indem es sie — und nicht nur sie! — in Situationen des Typs (V2) verwandelt.

2. Es wird sich sowohl bei (V1) als auch bei (V2) zeigen, dass die Bewertung, was tat-sächlich abweichend sein soll und wie schwer es wiegt, aus guten Gründen an-ders ausfallen kann.

Der Zusammenhang zwischen beiden Son-dersituationen wird anhand einer weiteren of-fenbar: (V3) Erhöht man den Abstand zwischen E

und A auf 2r, fallen Fo und Fu zusam-men.

Verringert man anschließenden den Abstand wieder, gibt es aus der Anschauung der Si-tuation heraus offenbar keinerlei sinnvolle Vorerwartung an das Verhalten von F: Fo und Fu sind a priori gleichberechtigte Kandidaten für die Fortsetzung von F! Wenn man denn überhaupt eine generelle Regel formulieren will, nach der DGS eigenständig in solchen Situationen die Entscheidung trifft, bedarf es dafür einer grundsätzlich anders gearteten Richtschnur, um unserer geometrischen An-schauung hierfür die Richtung zu weisen.

Bedingt vergleichbar ist die Geschichte des Parallelenaxioms: bemühte man sich schon seit Euklid um einen Beweis und erwog dabei durchaus auch seine Verneinung, erwuchs doch erst aus dem Studium alternativer Mo-delle der Geometrie eine Leitlinie, die es er-möglichte, mit den vormals als bloße Absur-ditäten erscheinenden Aussagen der Nicht-euklidischen Geometrie erstmals eine wirkli-che Anschauung zu verbinden (etwa für sich schneidende Parallelen) und auf dieser Grundlage tragfähige Alternativen zum Paral-lelenaxiom zu formulieren. Zugleich wurde auch klar, dass es für die Mathematik nicht darum gehen kann, ein für alle Mal ein sol-ches Axiom als absolute Wahrheit zu setzen, sondern dass situativ Maßregeln zu entwi-ckeln sind, welche Axiome für bestimmte Zwecke geeignet ist, die jeweilige Situation zu modellieren. (Bis zu welchem Maßstab darf ein Kartograph die Erdkrümmung igno-rieren und die Vermessungspunkte einer Landschaft in einem euklidischen Modell (Landkarte!) repräsentieren?) Auch in der Dynamischen Geometrie er-wächst das propagierte Stetigkeitsprinzip aus einer Modellierung: Kortenkamp & Richter-Gebert (2001) postulieren, dass ihre funktio-nentheoretische Auffassung des Poncelet-schen Kontinuitätsprinzips sowohl eine sol-che konzeptionelle Ausdeutung des Zugmo-dus liefert als auch zugleich eine Hinter-grundtheorie und gegenüber rein geometri-schen Zugängen anderer DGS stets zu hö-herer mathematischer Konsistenz führe, was auch didaktisch vorteilhaft sei. Wie jedoch die Beispiele in (Gawlick 2002) zeigen, be-wirkt ihr Ansatz auch diverse Aberrationen der "Cinderella"-Geometrie von der (Schul-) Geometrie, die geeignet sind, den Lernpro-zess zu beeinträchtigen (vgl. Kap. I.3). Aber auch schon das obige Beispiel gibt An-lass, die Zugstrategie von "Cinderella" zu überdenken: Da Situationen vom Typ (V3) sich rein geometrisch nicht auflösen lassen, müssen sie vermieden werden. In "Cinderel-la" wird dazu jede Zugbewegung so abgeän-dert, dass Situationen des Typs (V2) entste-hen, die sich in der funktionentheoretischen Modellierung behandeln lassen. Insofern hängt alles an der Stimmigkeit dieses "Prin-zips der ständigen Verformung": Denn man wird solch eine nichttriviale Modifikation des Bewegungsvorganges doch nur dann als Richtschnur für sein Ergebnis akzeptieren, wenn sie in einfach nachvollziehbaren Spe-zialfällen Ergebnisse liefert, die mit der eige-nen Anschauung übereinstimmen.

A E

F

Abb. 4

Thomas Gawlick

98

Im Beispiel führt jedoch die von "Cinderella" vorgenommene Ersetzung des "gestörten" Zugweges zu anderen Ergebnissen, als es die Anschauung nahe legt. Schauen wir uns das etwas näher an: Im einfachsten Fall zieht man E also längs einer Geraden auf A (Abb. 5a). Im Grenzfall E=A ist F offenbar zunächst nicht definiert, danach aber stetig fortsetzbar.

Abb. 5a

Abb. 5b

Wenn man E über A hinaus bewegt, gibt es offenbar genau zwei Möglichkeiten: • F wird weiter durch den "oberen" Schnitt-

punkt Fo fortgesetzt: stetiges Verhalten, — so scheint es wenigstens ...

• F wird nun durch den "unteren" Schnitt-punkt Fu fortgesetzt: Dieses „sprunghafte“ Verhalten ist scheinbar unstetig.

"Euklid" realisiert (wie die meisten DGS) das scheinbare Umspringen von F in den ande-ren Schnittpunkt (Abb. 5b). Man beachte jedoch: Definitionsgemäß ist die Zugfigur von F dennoch auch im zweiten Fall der Graph einer stetigen Funktion, die abschnittsweise durch Ea F bzw. Ea Fu ge-geben ist. Denn für E=A ist diese Funktion ja nicht definiert. Ihr Definitionsbereich ist also unzusammenhängend; — und auf den bei-den Komponenten ist sie offenbar stetig! Man sollte daher nicht von "sprunghaft" sprechen, sondern eher von "lückenhaft". Trotzdem erscheint die erste Lösung zu-nächst als die bessere: Wird doch in diesem Fall die Zugfigur durch den "oberen" Schnitt-punkt Fo zum Graphen der stetigen Funktion Ea Fo auf dem ganzen Zugweg fortgesetzt. Doch diese von "Cinderella" realisierte Mög-lichkeit führt selbst zu einer Unstetigkeit: Betrachten wir dazu (in Abb. 6) die geradlini-ge Bewegung von E durch A als Grenzfall ei-ner geradlinigen Bewegung durch D, wobei D immer näher an A liegt. Durchläuft E für fes-tes D eine solche Gerade c, bewegt sich da-bei stets das jeweilige F=FD auf dem festen Kreis um A immer weiter nach unten, je nä-her D an A liegt, um dann wieder nach oben zurückzukehren. Der scheinbare "Sprung" in der Bewegung von E durch A in Abb. 5b ist also der stetige Grenzfall dieser Bewegung. Abbildung 6 zeigt vier Stadien der Annähe-rung. Bewegt man D auf A zu, gilt offenbar FDØFu für jedes Zwischenstadium der Bewe-gung von E "links" von A. Mit anderen Wor-ten: Die Folge der Funktionen Ea FD zu fes-tem D konvergiert für DØA nicht gegen die überall stetige Funktion Ea Fo, sondern ge-

Abb. 6

Konstruktion und Kontinuität in der Dynamischen Geometrie

99

gen die "lückenhafte" Funktion, die stückwei-se durch Ea Fo bzw. Ea Fu definiert ist.

I.2 Was bedeutet Kontinuität in der Dynamischen Geometrie?

Die Unklarheit, was für die Zweikreisfigur als "richtige" Auffassung von Stetigkeit gelten soll, motiviert sicher den Versuch, dies nicht durch "lokale Anschauung" sondern aus "globalen Prinzipien" abzuleiten. Zur Begrün-dung des Zug-Verhaltens der Zug-Strategie von "Cinderella" wird von seinen Autoren das Ponceletsche Kontinuitätsprinzip (KP) an-geführt:

"Ist eine Figur aus einer anderen durch stetige Veränderung hervorgegangen und 'ebenso allgemein als diese', so kann eine an der ersten Figur bewiesene Eigen-schaft ohne weiteres auf die andere über-tragen werden." (Poncelet 1822, z.n. Köt-ter 1901, 121)

In dieser Form definiert das Prinzip jedoch nicht die Stetigkeit der Veränderung, sondern folgert aus ihr eine andere Eigenschaft: die Theoreminvarianz (TI):

Bewiesene Sätze bleiben bei stetiger Ver-änderung richtig.

KP liefert damit eine notwendige Bedingung für das Vorliegen stetiger Veränderung: nur wenn Theoreme "zug-invariant" sind, kann man das Verziehen einer Konstruktion stetig nennen. Was stetige Veränderung als solche bedeuten soll, wird dagegen wohl eher in Leibniz' Version des Kontinuitätsgesetzes (KL) deutlich:

"Wenn sich (bei den gegebenen Größen) zwei Fälle stetig einander nähern, so daß schließlich der eine in den anderen über-geht, muss notwendig bei den abgeleite-ten bzw. abhängigen (gesuchten) Größen dasselbe geschehen." (Leibniz 1687 & 1996, 192f)

Dies lässt sich mit Hilfe eines geeigneten Abstandsbegriffs (etwa des verallgemeiner-ten Euklidischen Abstands auf einem höher-dimensionalen Raum) schon als eine "mo-derne" Stetigkeitseigenschaft formulieren. Gehen nämlich in einer Konstruktion aus den unabhängigen Elementen u=(u1, ..., un) die abhängigen Elemente a=(a1, ..., ak) hervor, so bedeutet (KL) nichts anders als stetige Abhängigkeit (sA) im gewohnten Sinne:

d(u, u’) → 0 ⇒ d(a, a’) → 0 Lässt sich die betrachtete Konstruktion als funktionaler Zusammenhang a=f(u) auffas-sen, ist diese Bedingung offenbar gleichbe-

deutend mit der üblichen Stetigkeit von f; — allerdings ist genau diese funktionale Be-schreibung der konstruktiven Abhängigkeit oftmals nicht möglich, weil die verwendeten Operationen mehrdeutig sind: Ein Winkel hat zwei Halbierende, zwei Kreise schneiden sich i.a. in zwei Punkten etc. Üblicher Weise wählt man stets nur eine Instanz a der ab-hängigen Elemente einer Konstruktion zu den unabhängigen Elementen u aus; — al-lerdings ist diese Auswahl in der Regel nicht stabil gegenüber stetiger Veränderung: Wird u längs eines geschlossenen Weges wieder auf den Ausgangspunkt bewegt, wird a nicht notwendig in sich überführt, sondern i.a. in eine andere Instanz a* derselben Konstruk-tion!

Das paradigmatische Beispiel hierfür ist das folgende: Sei w die in-nere Halbierende von —AMB und S der Schnittpunkt von w mit dem Kreis k um M durch A. Für u=B→A "von un-

ten" gilt nicht a=S→A (vgl. Abb. 7). Denn —AMB→360°, also —AMS→180°. In dieser Betrachtungsweise kann (KL) durch kein DGS erfüllt werden! Dennoch nimmt "Cinderella" für sich in An-spruch, stetiges Verhalten zu realisieren; — und in der Regel nimmt der Benutzer dabei auch keine Sprünge wahr. Das aber bedeutet hier nur das Vorliegen einer stetigen Hoch-hebung (sH) von u auf a:

Bewegt man u längs eines stetigen We-ges t→u(t), t∈[0,1], so gibt es auch einen stetigen Weg t→a(t), der die Bewegung des abhängigen Elements a beschreibt. Wir schreiben dafür u a.

Insbesondere wird dabei nicht behauptet, dass aus u(1)=u(0) auch a(1)=a(0) folgt! Eine DGS mit (sH) braucht also nicht determinis-tisch zu sein. Erschwerend kommt Folgen-des hinzu: Die Eigenschaft (sH) ist nicht nur wesentlich schwächer als (KL); — sie verän-dert auch auf subtile Art die Auffassung von Punkten; — es gibt jetzt nicht mehr den un-abhängigen Punkt u der Ebene, anhand des-sen sich Aussagen über die abhängigen Ele-mente a der Konstruktion machen lassen, wie man es aus der statischen Geometrie ja gewohnt ist; — vielmehr kommt es nun ent-scheidend auf die "Vergangenheit" von u an. An dieser Stelle divergieren also die inten-dierte Visualisierung durch die DGS und die ihr zugrunde liegende begriffliche Modellie-rung auf wesentliche Weise! Sichtbar ma-

Abb. 7

Thomas Gawlick

100

chen lässt sich dies am leichtesten, indem man "Cinderella" in Abb. 7 —AMB anzeigen lässt; — beim Bewegen im bzw. gegen den Uhrzeigersinn erhält man dann beliebig klei-ne bzw. große Werte für —AMB. Dies zeigt, dass B "in Wirklichkeit" gar nicht in der Eukli-dischen Ebene E bewegt wird. Wo aber dann? Um die Information über die Auswahl von a gleichsam in u zu konzentrieren und so beide Seiten wieder etwas anzunähern, bietet es sich an, u mit "Zustandsinformation" darüber anzureichern, welche der möglichen Instan-zen für a aktuell gewählt wurde. Das ent-spricht dem Übergang von Punkten u in der Euklidischen Ebene E zu Paaren (u,a)∈E×E . Diese Paare bilden eine Überlagerung von E: "über" jedem u (außer dem Verzwei-gungspunkt M) liegen zwei Paare (u,a). Ver-möge der Projektion (u,a)→u wird diese Überlagerung von "Cinderella" in der Bild-schirmebene dargestellt. Dabei gehen be-stimmte Information notwendig verloren, — ähnlich wie bei der ebenen Projektion eines Kantenmodells: Wenn Kanten im Bild zu-sammenfallen, kann man allein aus der Ab-bildung nicht mehr erschließen, welche ge-meint ist. Erst beim Bewegen wird das deut-lich, — ähnlich bei "Cinderella": hier jedoch sieht man stets nur einen der beiden mögli-chen Punkte, — und muss sich überlegen, welcher. Durch Ziehen lässt sich das evtl. entscheiden; — allerdings ändert sich dabei dann auch die Auswahl des Punktes ... Auch Kortenkamp und Richter-Gebert konzedie-ren, "dass das auf einem Computerbild-schirm gezeigte reelle [sic!] Verhalten eines DGS nur ein unvollständiges Bild des ge-samten mathematischen Inhalts einer Kon-struktion angibt ... Vielmehr hat der Weg, den man von einer Startsituation aus nimmt, ent-scheidenden Einfluss. Das stimmt sogar dann noch, wenn die komplette Bewegungs-situation auf einen Parameter t reduziert worden ist. Selbst dann entscheidet immer noch die relative Windungszahl in C des We-ges von t um die Verzweigungspunkte über die erreichte Endinstanz." (a.a.O., 138f) All diese Sachverhalte wird man aber wohl kaum einem Lehrer (zu schweigen von Schü-lern!) deutlich machen können; — dennoch beeinflussen sie auf nachdrückliche Weise die Gesetze der "Cinderella"-Geometrie, wie wir sehen werden. Noch weitreichender ist jedoch die in Kap. I.1 offenbar gewordene Unstetigkeit der "Cinderella"-Fortsetzung bei Verformung des Zugweges! Man mag diese bloß für eine Er-schwernis der Aufgabenstellung halten, und

daher für unpassend, solange nicht einmal die Ausgangsfrage geklärt ist. Tatsächlich wird aber die Analyse der Zugstrategie von "Cinderella" in Kap. I.4 nachweisen, dass genau diese Eigenschaft essentiell für ihre tatsächliche Umsetzung ist. Wir kommen in-sofern nicht umhin, noch eine weitere Bedin-gung für stetiges Verhalten zu formulieren, die sich als notwendig für "Cinderella" erwei-sen wird! Stetige Verformung von Wegen führt auf den topologischen Begriff der Homotopie, worauf hier aber nicht eingegangen werden braucht: Interpretieren wir nämlich wie in (Gawlick 2001) die stetige Verformung einer Figur selbst wieder als neue Figur — die Zugfigur! —, können wir auch deren stetige Deforma-tion (sD) verlangen:

Verformt man den Zugweg einer Figur stetig, soll sich die Zugfigur ebenfalls ste-tig verhalten.

Sinnvoller Weise wird (sH) vorausgesetzt. Dann lässt sich (sD) mittels (KL) beschrei-ben: Der Zugweg eines Punktes u ist nichts ande-res als die Zugfigur U von u, wenn man u als Figur auffasst. Entsprechend sei A die Zugfi-gur eines abhängigen Punktes a. Dann be-deutet (sD) nichts anderes als stetige Ab-hängigkeit der Zugfigur (sZ):

d(U, U’) → 0 ⇒ d(A, A’) → 0 Man genieße die Kürze und Eleganz dieser Formel und ihre starke Ähnlichkeit mit (sA)! Mit Wegen lässt (sD) sich so formulieren:

u' a'

↓ ↓

u a

Also ist (sD) nichts anderes als (KL) für We-ge! Die Autoren von "Cinderella" versuchen je-doch, noch einen Schritt weiter zu gehen und (sD) zur Behebung von Ausnahmesituatio-nen zu benutzen. Das ist mehr als Kontinuität — sozusagen das Prinzip der stetigen Er-weiterung (sE):

Zugfiguren längs Wegen durch Ausnah-mesituationen sollen stetig fortgesetzt werden, indem der durchlaufene Weg ste-tig abgeändert wird.

Damit dies von Erfolg gekrönt ist, muss die Zugfigur sich bei einer solchen Verformung natürlich ebenfalls stetig verhalten, also (sZ) und damit auch (sD) gelten. Unsere Beispiele

Konstruktion und Kontinuität in der Dynamischen Geometrie

101

zeigen jedoch folgenden, in Kap. I.4 zu be-weisenden,

Ausschließungssatz: (sD) und (sE) sind unvereinbare Prinzipien der Dynamischen Geometrie.

Fassen wir nun zusammen, was all diese Prinzipien für die Dynamische Geometrie hergeben: • (KP) liefert keine Präzisierung des Stetig-

keitsbegriffs, — aber eine notwendige Bedingung für eine solche: (TI).

• (KL) lässt sich dagegen in die Stetigkeits-bedingung (sA) übersetzen; — deren Vor-aussetzungen sind jedoch i.A. zu stark.

• (sH) lässt sich dagegen für die Dynami-sche Geometrie als Stetigkeitsbedingung verwenden, — liefert aber zwischen den beiden Fortsetzungen von Ea F aus Kap. I.1 nicht unbedingt die gewünschte Abgrenzung: o Auch die "lückenhafte" Fortsetzung

durch Ea Fu erfüllt (sH). o Die überall stetige Fortsetzung Ea Fo

erfüllt (sH) zwar in einem Punkt mehr; — dass man dadurch auch in diesem Beispiel die Euklidische Ebene ver-lässt, wird von (sH) aber natürlich nicht erfasst.

• (sD) ist als (sZ) bündig präzisierbar und daher gut als Prüfstein tauglich,

• (sE) ist wohl die stärkste Forderung, ge-nügt aber nicht als alleiniges Kriterium der Unterscheidung: o (sD) wird von "Cinderella" im Beispiel

aus Kap. I.1 verletzt, — obwohl not-wendige Bedingung der internen Zug-strategie!

o Dagegen erfüllen andere DGS (sD) im Beispiel aus Kap. I.1; — sie verzichten aber auf (sE) Erweiterung der Gültig-keit von (sH) auf E=A.

Die Autoren von "Cinderella" entscheiden sich dafür, (sD) zu opfern, um (sH) durch-gängig zu realisieren. Ob dies tatsächlich (KP) entspricht, muss jedoch fraglich bleiben, da doch in einigen Beispielen (TI) verletzt zu werden scheint (vgl Kap. I.3). Die anderen DGS erkaufen dagegen die Gültigkeit von (sD) mit der scheinbaren "Sprunghaftigkeit" von Zugfiguren, deren Definitionsbereich eben nicht um E=A erweiterbar ist, ohne Wi-dersprüche zu produzieren. Welchem dieser widersprüchlichen Prinzipien soll aber der Anwender nun den Vorzug ge-ben? Eine genauere Analyse ihrer begriffli-

chen Relationen erfordert sicherlich mehr Mathematik, als man billigerweise von Leh-rern als fertig abrufbar verlangen wird, — umso mehr, als dies letztlich nicht zu definiti-ven Antworten führen kann, da sich der Wi-derspruch zwischen Erfüllbarkeit von (sD) und (sE) auch nicht auf höherer Ebene auflö-sen wird. Diesen Weg weiter zu begehen, wäre ggf. wohl eher ein adäquater Gegen-stand für Topologie-Vorlesungen, — die sich zukünftig ja vielleicht auch mehr solch kon-kreten Dingen zuwenden werden ...

I.3 Das historische Ringen um das Kontinuitätsprinzip

Das vorige Kapitel lieferte statt der ge-wünschten "globalen Ableitung" einer Präzi-sierung des Kontinuitätsprinzips deren meh-rere, die in durchaus nicht einfach zu durch-schauender Beziehung zueinander stehen. Dies kann zu einem Gefühl der Verwirrung führen, von dem man sich vielleicht durch den Rückgriff auf historische Autoritäten be-freien möchte, die diese Entscheidung even-tuell bereits mit größerem Weitblick getroffen haben könnten. Wie auch immer, bei ihrer Lesart des Kontinuitätsprinzips berufen sich die Autoren von "Cinderella" jedenfalls auf Felix Kleins Interpretation: "Erst die Bezug-nahme auf die Analysis, die Poncelet grund-sätzlich ablehnt, konnte das neue Gedan-kengebäude auf eine sichere Grundlage stel-len. Der imaginäre Punkt ist dann ebenso wie der reelle nur ein gemeinsamer Lösungswert einer Anzahl gleichzeitig erfüllter Gleichun-gen, die je eines der zum Schnitt gebrachten Grundgebilde darstellen. ... Ein jeder geo-metrischer Satz ist analytisch auszudrücken (wenn wir Geometrie so umgrenzen, wie es damals üblich war) durch die Nullsetzung ei-ner algebraischen oder auch nur analyti-schen Funktion f(a,b,c,...) der darin in Bezie-hung gesetzten Stücke a, b, c, ... der Figur. Das Prinzip der Kontinuität spricht dann nichts anderes aus, als dass eine analytische Funktion, die längs eines noch so kleinen Stückes ihres Bereiches verschwindet, über-haupt Null ist." (Klein 1928, 82) Schon zu Kleins Zeiten war allerdings deut-lich, dass diese Sicht von Geometrie zahlrei-che elementargeometrische Sachverhalte und Beweise nicht erfasst, — nämlich insbe-sondere die, welche auf Lageverhältnissen beruhen: • Z.B. der Umfangwinkelsatz lässt sich nicht

mehr wie gewohnt darstellen, weil die Voraussetzung, dass ein Punkt auf einem

Thomas Gawlick

102

Kreisbogen liegt, nicht als Gleichung for-muliert werden kann.

• Ebenso wenig lässt sich der bekannte (fehlerhafte) Beweis, dass alle Dreiecke gleichschenklig sind, in dieser Sprache untersuchen, da sie keinen Ausdruck da-für hat, ob ein Punkt inner- oder außer-halb eines Dreiecks liegt.

In der Arbeit (Gawlick 2002) wurden weitere Aberrationen der "Cinderella"-Geometrie ge-zeigt. Ein lehrreiches Beispiel wird auch in Teil II. genauer analysiert. Darüber hinaus weiß man heute, dass es aber auch Sätze gibt, die im Komplexen falsch werden, ohne dass sie auf solchen Lagebezeichnungen beruhen, z.B. der fol-gende Satz (MacLane):

Seien A0, ..., A7 Punkte mit Ai+3∈AiAi+1 für i=0,…,7 (alle Indizes mod 8). Dann sind A0, ..., A7 kollinear.

Dies merkt man allerdings in der Regel nicht, da eine solche Konfiguration sich mit "Cinde-rella" wohl nur im Reellen erstellen lässt (soll-te dem Leser dennoch ein Trick zur Realisie-rung einer nichtkollinearen komplexen Mac-Lane-Konfiguration in "Cinderella" einfallen, möge er dies dem Vf. mitteilen!). Wer sich auf die (ohnehin nur probabilistisch) von "Cinderella" verifizierte Zugfestigkeit dieser Aussage verlässt, erliegt also einem katego-rialen Irrtum! Auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die von Klein propagierte Auffassung der Elementargeometrie als komplex-analytische Geometrie nicht doch zu kurz greift. Und ein historischer Rückblick zeigt, dass diese Kal-külisierung des Prinzips auch keineswegs so zwangsläufig ist, wie Klein es nahe legt: Eine Theorie imaginärer (Schnitt-) Punkte, die für die Dynamische Geometrie natürlich benötigt wird, lässt sich ja nämlich auch rein synthe-tisch betreiben, wie von Staudt (1856) ge-zeigt hat. Aber auf diese Weise vermeidet man natürlich ebenso wenig das in Kap. I.1 geschilderte Dilemma. Hier offenbart sich, dass die didaktisch scheinbar so nutzbrin-gende Konkretisierung vorgestellter Verände-rungen durch reale Bilder in gewissem Sinne den Teufel mit dem Beelzebub austreibt, weil die Fülle der mit ihr erzeugten Bilder so recht auf keinen theoretischen Begriff mehr zu bringen ist. Nahe gelegt wird diese Sicht der Dinge u.a. von den prophetischen Worten ei-nes historischen Protagonisten des Ponce-letschen Kontinuitätsprinzips:

"Die alte Geometrie strotzt von Figuren. Das Raisonnement darin ist einfach. ... Man hat aber die Unbequemlichkeit dieser

Verfahrungsart erfahren durch die Schwierigkeit der Construction gewisser Figuren und durch die Complication, wel-che das Verständnis mühsam und be-schwerlich macht. ... Man muss sich hier-nach fragen, ob es nicht auch in der rei-nen und speculativen Geometrie eine Art des Raisonnements gäbe, wobei nicht beständig Figuren nöthig wären, deren wirkliche Unbequemlichkeit, selbst wenn die Konstruktion leicht ist, doch immer darin besteht, den Geist zu ermüden und die Gedanken zu hemmen." (Chasles 1839)

Selbst wenn eine DGS für sich in Anspruch nehmen könnte, das Ponceletsche Kontinui-tätsprinzip getreuer als andere zu realisieren — gemäß einer definitiven Lesart, die freilich immer noch zu ermitteln bliebe! —, wäre da-mit noch keineswegs der Intention dieses Prinzips entsprochen, das offenbar doch er-sonnen wurde, um sich von der Vielfältigkeit konkreter Figuren nicht den Blick verstellen zu lassen. Es ist in diesem Zusammenhang sehr be-merkenswert, dass sowohl Leibniz als auch Poncelet sich zwar ausführlichst über die phi-losophische Begründung des Kontinuitäts-prinzips äußern, die Anwendung auf konkrete Situationen aber stets nur knapp und vage beschreiben. Insbesondere verlieren beide nach Kenntnis des Vf. kein einziges Wort darauf, die Schwierigkeit in Kap. I.1 (oder ähnlich simplen Situationen) auch nur anzu-deuten, geschweige denn aufzulösen. Den-noch wäre sie sicherlich diesen Geistesgrö-ßen (aber auch ihren Nachfolgern) nicht ent-gangen; — wenn sie sich denn einer solch konkreten Betrachtung figürlicher Verände-rung überhaupt unterzogen hätten. Hierfür fehlte ihnen aber doch wohl weniger das rechte Werkzeug als vielmehr das Bedürfnis! Bei Leibniz gibt es i.W. überhaupt nur ein geometrisches Beispiel: die bewegte Variati-on eines Kegelschnitts. Er kommt dabei zur Herleitung von Tangenteneigenschaften auch auf das Verhalten von Schnittpunkten zu sprechen: "Nun kann die den Kreis schneidende Gerade so bewegt werden, dass sie mehr und mehr aus diesem heraus-tritt und sich die Schnittpunkte mehr und mehr einander nähern, bis sie schließlich koinzidieren, in welchem Fall die Gerade den Kreis verlässt und zur Tangente wird" (Leib-niz 1687 & 1996, 192f). Dieses Verhalten wird auf Kegelschnitte übertragen: "Wenn deshalb die Gerade den Kreis berührt, wird auch die Projektion der Geraden den zuge-hörigen Kegelschnitt tangieren. Auf diese

Konstruktion und Kontinuität in der Dynamischen Geometrie

103

Weise lässt sich eines der Haupttheoreme über Kegelschnitte beweisen, ohne Um-schweife und Aufwand von Figuren, auch nicht für jeden Kegelschnitt besonders, son-dern ganz allgemein, durch bloße geistige Anschauung." Leibniz spricht also immer nur von "zwei Punkten", ohne sie zu unterschei-den; — und da er sie "durch bloße geistige Anschauung" nur zusammen-, aber nicht wieder auseinanderlaufen lässt, braucht er auch nicht genauer betrachten, wie sie sich dabei ggf. unterscheiden lassen, — und ob überhaupt! Ganz genauso spricht Poncelet angesichts der Verwandlung einer Geraden in eine Kreistangente immer nur von einem "System von Punkten"; — und auch bei ihm wird die umgekehrte Bewegung nicht ange-sprochen. Schon im Vorfeld der Veröffentlichung von Poncelets Kontinuitätsprinzips kam es jedoch auch zu Zweifeln an seiner Gültigkeit: Cau-chy sprach 1820 in seinem "Rapport à l'aca-démie des sciences... sur un mémoire ... par M. Poncelet" nur von einer "induction forte"! Aus der so begonnenen Auseinandersetzung um die Rechtfertigung des Kontinuitätsprin-zips (und durch persönlichen Querelen auf-grund von Prioritätsstreitigkeiten!) erwuchs ein recht fruchtbar wirkender Gegensatz von synthetischer und analytischer Geometrie, der schließlich in von Staudts rein syntheti-scher Auffassung gipfelte, wie man dem le-senswerten Aufsatz von Fano (1903–1915) entnimmt. Dagegen scheiterte der Versuch von Schubert (1879), das algebraische Kon-tinuitätsprinzip, die o.a. Problematik durch Reduktion allein auf den quantitativen Aspekt als "Prinzip von der Erhaltung der Anzahl" zu retten: Kohn (1902) führt eine Anzahl von Gegen-beispielen auf und schließt mit dem vernich-tenden Urteil: "Das Schubertsche Prinzip von der Erhaltung der Anzahl als Prinzip mathe-matischer Beweisführung ist krank, unheilbar krank sogar in gewissem Sinne; allein als heuristisches Prinzip von allzeit frischer Kraft wird es fortleben in der Wissenschaft." Und schließlich führte sogar Hilbert (1900) in sei-ner berühmten Liste ungelöster Probleme als Nr. 15 die "Strenge Begründung von Schu-berts Abzählungskalkül" auf, was er wie folgt begründete: "Wenn auch die heutige Algebra die Durchführbarkeit der Eliminationsproces-se im Princip gewährleistet, so ist zum Be-weise der Sätze der abzählenden Geometrie erheblich mehr erforderlich, nämlich die Durchführung der Elimination bei besonders geformten Gleichungen in der Weise, daß der Grad der Endgleichungen und die Viel-fachheit ihrer Lösungen sich voraussehen

läßt." Die Lösung dieses Problems durch van der Waerden u.a. im Rahmen der grundle-genden Neugestaltung der Algebraischen Geometrie in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erfordert ganz andersartige Begriffe und Methoden; — sie lässt dement-sprechend von der ursprünglichen Fragestel-lung kaum noch etwas erahnen ... Von dem Versuch, die anschauliche Fragestellung aus Kap. I.1 in diese so ganz andersartige Spra-che zu übersetzen, soll hier abgesehen wer-den; — selbst wenn es darauf dort auch eine Antwort geben mag, ist doch deren Rück-übersetzbarkeit fraglich, sicherlich aber we-nig erhellend.

I.4 Cinderellas Behandlung von Ausnahmesituationen

Um die funktionentheoretische Interpretation von (KP) zu realisieren, verwenden die Auto-ren von "Cinderella" noch eine weitere we-sentliche Idee:

Ausnahmesituationen werden durch Ab-änderung des Weges vermieden.

Konkret bedeutet das: Die Bewegung des unabhängigen Elements u wird in einer Serie u0, u1, ..., un von Stütz-stellen repräsentiert, die sich z.B. aus der Position des Mauszeigers zu verschiedenen Zeitpunkten ergeben. Diese Stützstellen sind nun durch stetige Wege zu verbinden. Dabei machen die Autoren von "Cinderella" jedoch zwei wesentliche Einschränkungen: - Punkte dürfen nur linear verbunden wer-

den. - Umwege dürfen nur auf komplex-lineare

Wegen in einer Koordinate vorgenommen werden.

Vgl. dazu Abb. 8 aus Richter-Gebert (o.J.). Die Homogenität dieser Darstellung lässt leicht übersehen, dass gerade die zweite Einschränkung sehr wesentlich ist: Denn sie erfolgt keineswegs nur, um Ausnahmesituati-onen möglichst zu vermeiden sondern über-haupt bei jeder Bewegung: "'Cinderella' er-zeugt für je zwei aufeinander folgende Stütz-stellen einen quasi-linearen Weg, bei dem der Kontrollparameter durchs Komplexe führt" (Kortenkamp & Richter-Gebert 2001). Mit anderen Worten: "Cinderella" führt nie die visualisierte reelle Bewegung aus, — selbst dann nicht, wenn diese bereits linear ist: hat etwa im Musterfall der Anwender die Bewe-gung von E durch A so modelliert, dass E auf einer Geraden durch A bewegt wird, so wird beim Ziehen nicht diese Bewegung ausge-

Thomas Gawlick

104

führt, sondern durch eine Sequenz komple-xer Kreisbögen zwischen den Interpolations-punkten des Mauszeigers ersetzt. All dies könnte als nachrangiges Implemen-tationsdetail hier unerwähnt bleiben, — wenn es denn eines wäre! Dazu müsste aber gesi-chert sein, dass diese Ersetzung jeder durchgeführten Bewegung durch einen kom-plexen Umweg tatsächlich nichts Wesentli-ches verändert oder höchstens verbessert. Das sollte bedeuten: • War die Ersetzung "unnötig" (keine Aus-

nahmesituation auf dem Weg des Benut-zers), kommt Dasselbe heraus, wie wenn nicht ersetzt wird.

• War die Ersetzung "nötig" (Ausnahmesi-tuation auf dem Weg), ist dieser Vergleich nicht möglich, daher sollte gelten: A) Für die Ersetzung gibt es im Wesentli-

chen nur eine Möglichkeit. B) Bei der vorgenommenen Ersetzung

sollte Dasselbe herauskommen wie bei anderen Umwegen, — d.h.: durch stetige Verformung des Ersetzungs-weges sollen die Zugfiguren ineinan-der überführbar sein, also (sD) erfül-len:

Genau das ist aber Beides nicht der Fall: A) Wie wir sehen werden, gibt es eine

geometrisch naheliegende Variante der Ersetzungsstrategie; — reelle statt komplexe Umwege! — die zu einem abweichenden Ergebnis führt,

B) im Fall der Zweikreisfigur zeigt sich, dass der von Cinderella gewählte kom-plexe Umweg (sD) verletzt.

Wir weisen zunächst B) nach: Der obstruierte Weg ut wird in einer ε-Umgebung der Aus-nahmestelle t=1/2 durch ein komplexes Kreisbogenstück u't(ε) ersetzt. Für ε→0 gilt dann u't(ε)→u (Abb. 9). Wenn sich die Wege u't(ε) der unabhängigen Punkte hochheben

lassen zu stetigen Wegen a't(ε) der abhängi-gen Punkte und diese Wege für ε→0 eben-falls gegen einen Weg a' konvergieren, lässt sich dieser Folgengrenzwert in sinnvoller Wiese als Ersatz für die Hochhebung des obstruierten Weges ut verwenden. Und defi-nitionsgemäß gilt dann a'(ε)→a', so dass we-nigsten für diese Folge (sD) erfüllt ist:

u'(ε) a'(ε)

↓ ε→0 ↓

u a'

Wie sieht es aber mit anderen Wegen aus? Dazu folgt die Bestimmung von a' im Bei-spiel. Für ε=1/2 zeigt Abb. 10 die Abände-rung von ut durch u't(ε). Der Einfachheit hal-ber rechnen wir im Folgenden aber nur mit ε=1. — Bei der Bewegung des Punktes E von u0=E0=(1,0) nach u1=E1=(-1,0) wird dann

xIm_x

A E

F

Abb. 9

Abb. 8

1x

y

A E

u'(ε)

im_x

ε→ 0

u

Abb. 10

Konstruktion und Kontinuität in der Dynamischen Geometrie

105

die "quasi-lineare" Verbindung ut=Et= (1-2t, 0), t=0,...,1, ersetzt durch den "quasi-linearen" Weg u't mit u'0=u0, u'1=u1, aber u't∉R für t≠0, 1. Der Einfachheit halber be-trachten wir hier u't=(x't,y't)=(cos(πt)+i·sin(πt), 0), t=0,...,1. (Dieser Weg erfüllt übrigens im Gegensatz zu dem a.a.O., 138, betrachteten Weg die Definition von "quasi-linear" mit komplexem Kontrollparameter!) Der abhängige Punkt a=F ist eine der beiden Lösungen des Gleichungssystems

x²+y²=1 (x-1)²+y²=1

Längs des abgeänderten Weges u't wird a stetig durch den Punkt at=F't fortgesetzt, wo-bei die Koordinaten (x,y) von at jeweils

x²+y²=1 (x-x't)²+(y-y't)²=1

erfüllen. Erst durch die Stetigkeitsforderung ist at eindeutig bestimmt. Man rechnet nach, dass für a0=(1/2, 1/2· 2 )=F tatsächlich a1= (-1/2, 1/2· 2 )=Fo entsteht. Für ε→0 folgt da-her: a' ist die bereits in Kap. I.1 betrachtete Hochhebung von u zu der stetigen Fortset-zung von F durch Fo.. Unsere Berechnung stimmt also mit dem von "Cinderella" gezeig-ten Ergebnis überein. Wir wissen aber be-reits, dass diese Fortsetzung nicht als Grenzwert der linearen Abänderung des Zug-weges entsteht, die ja auch möglich sein soll. Daher ist (sD) verletzt, also B) gezeigt.

Nun zu A): Vom geometrischen Standpunkt aus ist es einfacher und anschaulicher, die Ausnahmesituation ut=Et=A für t=1/2 nicht durch einen komplexen, sondern durch einen reellen Umweg zu umgehen. Statt eines Halbkreises in C nehme man einen in R2: uo

t=(cos(πt), sin(πt)), t=0,...,1. Die Bewegung von E längs dieses Weges kann man mit jedem DGS selbst nachvollzie-hen und sich davon überzeugen, dass ao

t dabei Eo

0=E0 nach Eo1=FU überführt.

Es bietet sich also an, E1 (die nicht definierte Fortsetzung längs ut) als Eo

1 zu definieren und entsprechend auch at:=Et:=(1/2–t, sign(1/2–t)· 1–(1/2-t)2 ) für t≠1/2. Dieser Weg ist stetig auf seinem Definitionsbereich, wenn auch nicht stetig fortsetzbar nach t=1/2.

Insbesondere entsteht bei dieser reellen Er-setzung eine andere Fortsetzung als zuvor, diesmal nämlich die "lückenhafte" Fortset-zung von F durch Fu. Damit ist A) gezeigt. Aber mehr noch: C) Die reelle Ersetzung erfüllt (sD). Denn sie hat die folgende angenehme Ei-genschaft: Ist un

t irgendein Weg der unab-hängigen Elemente mit un

t→ut für n→∞, so gilt auch an

t→at. Es gilt also:

unt an

t

↓ n→∞ ↓

ut at

Der Weg at ist also zwar selbst nicht stetig erweiterbar, erfüllt aber die nächsthöhere Kontinuitätseigenschaft (sD). Insgesamt folgt aus A), B) und C) der angekündigte

Ausschließungssatz: (sD) und (sE) sind unvereinbare Prinzipien der Dynamischen Geometrie.

Denn natürlich lässt sich die reelle Abände-rung des Weges stetig in die komplexe de-formieren (Abb. 12). Aber diese Deformation lässt sich nicht auf die Wege der abhängigen Punkte hochheben: Denn im Beispiel erfüllt ja die reelle Ersetzung (sD), aber nicht (sE). Bei der komplexen Ersetzung ist es umge-kehrt: sie erfüllt (sE), aber nicht (sD). Daher können diese beiden Zugfiguren nicht stetig ineinander überführbar sein, wie man mit ei-nem CAS nachrechnen kann (Abb. 13):

U0 A0

↓ ↓

U' A'

I.5 Diskussion Nach Auffassung des Vf. kann sich die in Kap. I.4 verwendete reelle Ersetzungsstrate-gie mit gleichem Recht auf Poncelets Konti-nuitätsprinzip stützen wie die komplexe. Nach der Diskussion auf der Tagung in Dil-lingen hat jedoch Herr Kortenkamp einge-

1x

y

A E

u0(ε)

ε→ 0

u

Abb. 11

A E

u0(ε)

sD

Abb. 12

Thomas Gawlick

106

A E

u0(ε)sD

u'(ε)

a'(ε)

a0(ε)x

Abb. 13

wandt, diese Anwendung von (KP) sei unzu-lässig: Die Bewegung von E durch A dürfe nur durch einen linearen Weg beschrieben und dieser daher nur durch einen rein-ima-ginären, nicht etwa durch einen reellen Weg ersetzt werden. Dazu ist folgendes zu sagen: • Die von uns in Kap. I.1 gewählte freie

Beweglichkeit der Punkte E und A dürfte doch wohl eher dem entsprechen, was vor dem geistigen Auge eines unvoreinge-nommenen Betrachters abläuft, als eine wie immer begründete Einschränkung durch Linearisierung und Koordinatisie-rung.

• Formal könnte man das so begründen: Die Fragestellung "Wie verhält sich F bei Bewegung von E durch A?" gehört zu-nächst einmal zur synthetischen Dynami-schen Geometrie als möglicher Erweite-rung der statischen Euklidischen Geome-trie: Hier ist zu fragen, welche zusätzli-chen Axiome die anschaulichen Vorstel-lungen vom Verhalten bewegter Punkte adäquat beschreiben; — und solche Vor-stellungen treten ja explizit schon im Ori-ginalbeweis von Euklids Proposition I,2 auf! Damit dürfte aber auch klar sein, dass von Anfang — zumindest von Euklid! — an eine Beschränkung auf lineare Be-wegungsmöglichkeiten nicht gedacht war. Es müsste also erst noch dargelegt wer-den, aus welcher späteren Entwicklungs-linie eine solche Beschränkung herrühren und wie sie gerechtfertigt werden sollte.

• Im Sinne der kinematischen Geometrie würde man die Bewegung der Punkte in obiger Fragestellung adäquat mittels ste-tiger Wege beschreiben; — so dürfte es wohl auch Leibniz verstanden haben. Der Schritt von stetigen zu linearen Wegen ist aber natürlich groß und auch nicht da-durch zu rechtfertigen, dass er etwa zu stärkeren Aussagen führt (s.u.).

• Erst nach einer Koordinatisierung und Komplexifizierung des Anschauungs-raums leuchtet die von Herrn Kortenkamp nahegelegte Einschränkung ein: dann wird die Bewegung von E durch A nämlich

durch einen reell-differenzierbaren Weg in einem komplex-eindimensionalen Gebilde beschrieben. Und erst auf solche Wege lässt sich dann die klassische Funktionen-theorie in der von Klein beschriebenen Weise anwenden.

Deutlich wurde aber bereits in Kap. I.4, dass diese Vorgehensweise auf wesentlichen Ein-schränkungen basiert, die nicht aus der Fra-gestellung zu rechtfertigen sind; — das kon-zedieren im Grunde auch "Cinderellas" Auto-ren: "Es mag zunächst befremdlich erschei-nen, dass in der Definition von Kontinuität le-diglich das Verhalten auf quasi-linearen und nicht auf quasi-stetigen Wegen als Eingangs-variation berücksichtigt wird. Würde die Defi-nition aber auf allgemeinen quasi-stetigen Wegen aufbauen, so könnten wir nicht er-warten, dass es überhaupt nicht-triviale kon-tinuierliche formale DGS gibt" (Kortenkamp & Richter-Gebert 2001, 133). Wir teilen jedoch nicht den impliziten Umkehrschluss, dass sich dies durch Einschränkung auf quasi-lineare Wege abwenden lässt! Denn man überlegt sich leicht, dass das nicht zu einer Verbesserung der Antwort führen kann: Be-kanntlich lässt sich jede stetige reelle Funk-tion auf einem abgeschlossenen Intervall gleichmäßig durch Polynome approximieren (Satz von Stone-Weierstraß). Und jedes Po-lynom kann auf einem Intervall durch hinrei-chend viele Stützstellen gleichmäßig gut durch stückweise quasi-lineare Funktionen interpoliert werden. Wendet man beides zu-sammen auf die Komponenten eines quasi-stetigen Weges an, sieht man, dass man ihn gleichmäßig durch quasi-lineare Wege ap-proximieren kann. Jedes Stetigkeitsresultat für quasi-lineare Wege lässt sich daher auf quasi-stetige Wege übertragen. Umgekehrt lässt sich auf diesem Hintergrund vermuten, dass sich die begrüßenswerte Ab-sicht, "man kann aber auch a priori bestimm-te Qualitätsmerkmale axiomatisch fordern und auf mathematischer Basis zeigen, dass eine bestimmte Modellierung diesen Quali-tätsansprüchen genügt, — oder zeigen, dass es eine solche Modellierung nicht geben kann" (Kortenkamp & Richter-Gebert 2001, 124), für den selbst gestellten Anspruch, Zugfiguren maximal stetig zu erweitern und zugleich stetig zu verformen, nur in der letzt-genannten negativen Hinsicht erfüllen lässt: Entgegen dem ersten Augenschein ist nicht nur "Cinderella" offenbar nicht in der Lage, zugleich (sD) und (sE) zu realisieren, — son-dern wohl überhaupt kein DGS.

Konstruktion und Kontinuität in der Dynamischen Geometrie

107

I.6 Fazit Die Autoren von "Cinderella" beantworten die einleitenden Fragen nach dem korrekten Verhalten von DGS im Zugmodus auf fol-gende neuartige Weise: (1) Stetigkeit ist im Sinne einer funktio-

nentheoretischen Interpretation des Ponceletschen Kontinuitätsprinzips zu verstehen.

(2) Stetigkeit ist durch geeignete Verände-rung des "Zug-Weges" zu erreichen.

Wir haben gesehen: Die Antwort auf (1) kann auch durchaus anders ausfallen; — und da-für gibt es aus mathematischen und histori-schen Gründen auch ganz gute Argumente. Und diese alternative Antwort lässt sich auch geometrisch realisieren, wenn man sich die Antwort auf (2) zueigen macht, aber nicht einseitig auf eine Interpretation verengen lässt.

II. Geometrie — mit dem dynamischen Lineal

Der Zug-Modus von "Cinderella" zeigt inte-ressante Phänomene; — wie sie zustande kommen, ist aber für (viele) Schüler und (ei-nige) Lehrer nicht leicht zu verstehen und lässt sich auch nicht so ohne weiteres aus einfachen Antworten auf klare Fragen ablei-ten. Daher bietet es sich an, weniger nach der DGS mit dem "richtigen" Zugmodus zu suchen, sondern vielmehr nach der passen-den Art, das gesuchte Zug-Verhalten einer Figur konstruktiv zu erzeugen.

II.1 Die Notwendigkeit, den dyna-mischen Konstruktionsbegriff zu restrukturieren

Man betrachte dazu folgendes Beispiel: Durch Ziehen an den Ecken des Dreiecks kann man entdecken, dass sich die Winkel-halbierenden stets im Inkreismittelpunkt I schneiden. Die "Cinderella"-Version dieser Konstruktion erlaubt eine überraschende Va-riante: zieht man B durch A, bewegt sich I al-lerdings manchmal aus dem Dreieck heraus (Abb. 14). Offenbar läuft ein solches Verhalten dem Ziel der interaktiven Satzfindung völlig zuwider und wirft im geometrischen Einführungsun-terricht der Sekundarstufe I erhebliche didak-tische Probleme auf. Nun könnte man mei-nen, dass es sich dabei um nichts anderes

Abb. 14 als einen offenbaren Software-Fehler han-delt; — warum also nicht einfach "Cinderella" debuggen? Es lässt sich aber zeigen (Gaw-lick 2001), dass das nicht möglich ist: dieses Verhalten ist eine mathematisch notwendi-ge Konsequenz der Stetigkeit! Angesichts der Dichotomie von Stetigkeit und Determi-nismus könnte dieser schwer kontrollierbare Seiteneffekt stetigen Verhaltens für unter-richtliche Zwecke die Wahl eines determinis-tischen Systems als vorteilhaft erscheinen lassen, — aber wie wir gleich sehen werden, liegt die Sache noch etwas komplizierter: Was ist der Ort I des Inkreismittelpunkts I ei-nes gleichschenkligen Dreiecks ABC, wenn C den Kreis durch B um A durchläuft? Eine Konstruktion von I mittels "Euklid" liefert eine Ortskurve mit einer Singularität, bei der es sich scheinbar um eine Spitze handelt.

Abb. 15

Warneke (2001) hat jedoch erläutert, wie man mittels elementarer Trigonometrie eine Parameterdarstellung für I erhält, aus der man dann durch algebraische Umformungen à la Pythagoras eine Gleichung für I gewin-nen kann. Der Gleichung zufolge ist die Kur-ve vom Typ der Strophoide; — der singuläre Punkt muss also ein Doppelpunkt sein! Durch Plotten der Kurve bemerkt man, dass der geometrische Ort nur ein Teil des alge-

Thomas Gawlick

108

braischen Orts ist: man erhält nur den Teil der Kurve, der sich im Innern des Kreises be-findet. Dies widerspricht der gewohnten Auf-fassung der Cartesischen Korrespondenz, wonach jeder geometrisch erzeugte Ort sich in Koordinaten als Nullstellenmenge einer geeigneten, zumeist algebraischen Glei-chung beschreiben lässt. Man ist zunächst versucht zu folgern, dass das kontinuierliche Verhalten von "Cinderel-la" hier ein didaktischer Vorteil ist, da es den gesamten Ort zu erzeugen erlaubt (Abb. 16).

Aber der Preis, den man dafür zahlen muss, lautet: Akzeptiere, dass der Inkreismittel-punkt I sich bei jedem zweiten Durchlauf aus dem Dreieck ABC herausbewegt! Im Grunde wird durch das stetige Verhalten von "Cinderella" hier auch eine Kontinuität der Konstruktion vorgetäuscht, die so nicht gegeben ist: offenbar hört I ja "unterwegs" auf, der Inkreismittelpunkt des Dreiecks zu sein; — aber was repräsentiert I denn dann? Beim Ziehen wird ja die Innen- stetig in die Außenwinkelhalbierende überführt, I wird al-so zum Ankreismittelpunkt! An der Stelle wird deutlich, dass derartige Phänomene allein durch die Wahl der Zug-Strategie nicht zufriedenstellend geklärt wer-den können, sondern dass ein neuer Begriff von Konstruktion erforderlich ist: Eine dyna-mische Konstruktion hat offenbar einen Gül-tigkeitsbereich, der sowohl von der Lage der Ausgangspunkte als auch von ihrer "Ge-schichte" abhängt. Dafür gibt es in der stati-schen Geometrie keine Parallele. Auf der Basis des gewohnten Konstruktions-begriffs lässt sich die obige Schwierigkeit je-doch ebenfalls beheben; — wenn man die gewohnte Konstruktion der Strophoide durch eine Linealkonstruktion ersetzt, wird auch von deterministischen DGS die ganze Ortsli-nie erzeugt!

II.2 Dynamische Linealkonstruk-tionen

Gewöhnlich beschreibt man die Mächtigkeit eines Zeichengeräts durch die Menge der mit ihm konstruierbaren Punkte. Dann gilt be-kanntlich (Bieberbach 1952) der Satz: Die Koordinaten der mit dem Lineal konstruierbaren Punkte sind genau die, die sich durch rationale Ausdrücke in den Koor-dinaten der gegebenen Punkte beschreiben

lassen. Ein neues Element tritt je-doch dann hinzu, wenn man die Beweglichkeit der ge-gebenen Punkte zu erfassen sucht. Variiert ein Punkt P auf einer Geraden, sind seine Koordina-ten lineare Funktionen eines Parameters t, die wir mit die-sem halbfreien Punkt identifi-zieren können. Ein Punkt Q, der aus P und weiteren festen Punkten allein mit Hilfe des Li-neals konstruiert ist, hat Koor-dinaten, die rationale Funktio-

nen von t sind. Die Ortslinie von Q bei Varia-tion von P nennen wir dynamisches Lineal-konstrukt. Den bekannten Satz über die Konstruierbarkeit mit dem Lineal können wir daher so dynamisieren.

Satz über dynamische Linealkonstruk-te: Die dynamischen Linealkonstrukte sind genau die Ortslinien, für die es eine rationale Parameterdarstellung gibt.

Überraschend ist nun, wie groß die Klasse der Ortlinien mit diesen beiden äquivalenten Eigenschaften ist; — zunächst einmal erweist sich der Kreis als dynamisches Linealkon-strukt: Dies haben wir in (Gawlick 2004a) auf dreierlei Art sowohl algebraisch als auch ge-ometrisch gezeigt. Am einfachsten zugäng-lich ist wohl folgende Anwendung der Um-kehrung des Satzes von Thales: Sind P und Q diametrale Punkte des Kreises k und durchläuft R eine von PQ verschiedene Ge-rade g, so durchläuft der Schnittpunkt S von PR und des Lots aus Q auf PR den Kreis, — der umgekehrt so mit dem Lineal allein re-konstruiert werden kann (vgl. Abb. 17)!

Aber auch die algebraische Zugangsweise vermittelt wertvolle Einsichten: Für den Be-weis der obigen Sätze überlegt man sich ja, dass sich mit Hilfe des Lineals alle vier Grundrechenarten geometrisch realisieren lassen. Zur konkreten Durchführung der in (Gawlick 2004a) erläuterten Konstruktionen

Abb. 16

Konstruktion und Kontinuität in der Dynamischen Geometrie

109

ist schon im Fall des dynamischen Lineal-kreises die Verfügbarkeit von Makros prak-tisch unerlässlich. Auf diese Weise kommt es im Geometrieunterricht dann einmal zu der oft als Ziel angestrebten Restrukturierung ei-ner Konstruktion durch Zusammenfassung ganzer Sequenzen von Konstruktionsschrit-ten zu einem neuen Ganzen. Aber auch in-haltlich weist dieser Zugang weit über den Kreis hinaus: zu den rational parametrisier-baren, also mit dem Lineal konstruierbaren Kurven gehören nämlich insbesondere die Ortslinien des Höhenschnittpunkts und der Mittelpunkte von Um- und in einigen Fällen auch Inkreis (Gawlick (2004b). Dieser alge-braische Sachverhalt wirft geometrische Fra-gen auf: Lassen sich denn auch Mittelsenk-rechten, Höhen und Winkelhalbierende allein mit dem Lineal konstruieren? Das würde überraschen, da sie ja auf metrischen Eigen-schaften wie "senkrecht" oder "halbierend" basieren. Diese sind allein mit Linealkon-struktionen nicht zu realisieren; — aber es ist möglich, sie in der Menge der Startpunkte zu kapseln:

Denn man kann aus ihnen die Koordinaten-achsen und den Ursprung U konstruieren und hat auf diesen je zwei Punkte mit Mittel-punkt. Zu einer solchen Geraden AB kann man aber die Parallele durch einen gegebe-nen Punkt F ziehen, wenn man noch über ei-nen weiteren Punkt R auf AF verfügt, von dessen Existenz man sich jeweils vorher überzeugen muss: Ist E der Mittelpunkt von

A und B, D = ER∩BF und G = AD∩BR, dann gilt ABFG (vgl. Abb. 18).

Auf das Parallelenziehen kann man die meis-ten elementargeometrischen Konstruktionen zurückführen (vgl. Gawlick 2004b):

II.3 Die Elementargeometrie als Linealgeometrie

Mit einem Parallelenlineal sind fast alle Grundaufgaben lösbar: Senkrechte zu einer Geraden g durch U: g schneide die x-Achse in Q. Die Parallele zu x1y1 durch P schneide die x-Achse in P', die durch Q schneide die y-Achse in PQ'. P'Q' ist das Spiegelbild von g = PQ an der ersten Winkelhalbierenden. Sei P" der Schnittpunkt der Parallelen durch P' und Q' zu den Koor-dinatenachsen. Dann steht UP" senkrecht auf g (vgl. Abb. 19).

y1

x1 Q

P

g

P'

Q'

U

P''

Abb. 19

Senkrechte zu g durch einen beliebigen Punkt R: Diese erhält man als Parallele zu der eben konstruierten Senkrechten durch den Punkt R. Mittelpunkt M = MP(A,B) der Punkte A und B: Sei C ein Punkt außerhalb von AB und D ein Punkt auf der Parallelen zu AB durch C. Sei E = AC∩BD und F = AD∩BC. Aufgrund der harmonischen Eigenschaften des voll-ständigen Vierseits ist dann M = AB∩EF (vgl. Abb. 20 und Bieberbach 1952). Mittelsenkrechte MS(A,B) der Punkte A und B: Dies ist natürlich die Senkrechte auf AB in M. Seitenhalbierende und Höhen des Dreiecks ergeben sich entsprechend. Folglich sind auch Umkreismittelpunkt, Schwerpunkt und Höhenschnittpunkt des Dreiecks schon allein mit dem Lineal konstruierbar! Dabei haben wir gesehen, dass man nicht nur, wie üblich, das Parallelenziehen auf das Lotfällen zurückführen kann, sondern auch umgekehrt. Der Einfachheit halber bietet es sich aber an,

R

QP

S g

Abb. 17

Abb. 18

Thomas Gawlick

110

ein Lineal zu benutzen, mit dem man, wie gewohnt, Senkrechte konstruieren kann.

A B

F

M

C

ED

Abb. 20

Welche Konsequenzen zieht nun die Durch-führbarkeit der meisten elementargeometri-schen Konstruktionen mit dem Lineal allein nach sich? Dass man auf den Zirkel weitge-hend verzichten kann, ist ja nichts Neues; — schon Steiner zeigte, dass sich die üblichen Konstruktionen allein mit dem Lineal und ei-nem festen Kreis durchführen lassen. Hier liegen die Dinge etwas anders: DGS kann ja in Makros eine Vielzahl von Konstruktions-schritten zu einem einzigen zusammenfas-sen; — dadurch ist es möglich, die effektive Durchführbarkeit von Linealkonstruktionen wesentlich zu erhöhen. Die Benutzung einer DGS entspricht also der Verwendung eines Rechtwinkellineals, das nicht nur Geraden zeichnen kann, sondern auch Lote fällen: Mit dem Rechtwinkellineal lassen sich außer dem Winkelhalbieren alle elementargeomet-rischen Konstruktionen fast ebenso effizient ausführen wie mit dem Zirkel. In diesem Sinn gilt also: Die Elementargeometrie ist eine (Rechtwin-kel-) Linealgeometrie! Man beachte dabei: Die Mächtigkeit des Rechtwinkellineals ist nicht größer als die des gewöhnlichen, sofern die Startpunkte die metrischen Daten enthalten; — aber es er-höht die praktische Durchführbarkeit von Li-nealkonstruktionen. Was bedeutet diese Einsicht für die Nutzung von DGS? Auf der positiven Seite gilt: Viele Konstruktionen lassen sich durchführen, oh-ne auf mehrdeutige Operationen wie den Schnitt mit Kreisen oder das Halbieren von Winkeln zurückgreifen zu müssen. Das be-schränkt die Auswirkungen des stetigen Ver-halten einer DGS. Das Rechtwinkellineal lie-fert stets eindeutige Ergebnisse; — daher lässt sich damit die Stetigkeitsproblematik umschiffen. Sie tritt nur auf, wenn sich die Verwendung von Winkelhalbierenden nicht vermeiden lässt; — aber in manchen Fällen ist dennoch sogar die Ortslinie des Inkreis-mittelpunkts mit dem Lineal konstruierbar:

II.4 Linealisierung der Strophoide Aufgrund der Charakterisierung der Lineal-kurven als rationale Kurven muss es eine Li-nealkonstruktion der Strophoiden geben (die Rationalität liest man aus ihrer Gleichung ab, vgl. Gawlick 2004c). Insbesondere ist diese dann mit deterministischen DGS durchführ-bar. Offenbar erhält man dabei aber als geo-metrischen Ort nur den im Innern von k lie-genden Teil der Kurve, wenn man verlangt, dass I der Schnittpunkt von Innenwinkelhal-bierenden ist — und bleibt: dann muss näm-lich die Winkelhalbierende in B beim Passie-ren von C durch B um 90° springen. (Verhält sie sich demgegenüber stetig, so verlassen bei dieser Bewegung die Winkelhalbierende wB und der Inkreismittelpunkt das Dreieck!) Es ist daher nötig, wB und I anders zu inter-pretieren. Nur so erhält man die ganze Strophoide als Ortslinie einer deterministi-schen DGS, etwa durch folgende Konstruk-tion: Man lässt β = ∠ABC/2 die Bewegung der Figur steuern, indem man die Winkelhal-bierende um B dreht, — etwa durch Bewe-gung des Zugpunktes Z auf einem Kreis um B (Abb. 21). wA ist lineal-konstruierbar als MS(B,C). I ergibt sich als Schnitt von wA und wB. Mit einer Linealkonstruktion des Träger-kreises von Z ist die Linealkonstruktion der Strophoide komplett!

Abb. 21

II.5 Ausblick Geben wir nun abschließend dem Studium der lineal-konstruierbaren Kurven seine theo-retische Abrundung: Eine Kurve ist, wie ge-sagt, genau dann mit dem Lineal konstruier-bar, wenn sie rational ist, also eine rationale Parameterdarstellung besitzt. Das ist zu-nächst einmal eine gute Eigenschaft: Für ra-tionale Kurven lassen sich effektiv Gleichun-gen ermitteln und Schnittpunkte exakt be-rechnen. Damit sind sie für jegliche Art pro-fessioneller geometrischer Datenverarbei-tung das geeignete Terrain. Im Computer Ai-ded Design (CAD) ist sogar der Begriff "Pa-rametrisierung" mittlerweile synomyn zu "rati-

AB

Z

C

A'wB

γ

β

Konstruktion und Kontinuität in der Dynamischen Geometrie

111

onale Parametrisierung", da diese offenbar die einzig praktisch verwendbaren darstellen. Auch im Hinblick auf eine Integration symbo-lisch-algebraischer Methoden in die Arbeits-weise von DGS sind die Linealkurven also der adäquate Gegenstand. Es gibt aber auch problematische Auswir-kungen: Damit Rationalität vorliegt, muss aufgrund der erwähnten Plücker-Formel eine Kurve umso singulärer sein, je höher ihr Grad ist. Damit handelt man sich systema-tisch Phänomene des Typs ein, dass eine Kurve eigentlich Singularitäten hat, die aber nicht sichtbar sind, da komplex oder unend-lich fern; — und dennoch beeinflussen sie die sichtbare Geometrie. Bestes Beispiel da-für sind wohl die Höhenschnittpunktskurven (vgl. Gawlick 2000, 2001c!) Hier ist also etwas Theorie nötig und hilf-reich, um mit dynamischen Figuren sachge-recht umgehen zu können. Und wer in der am Beispiel der Strophoide gezeigten Art die Konstruktion nicht nur einer Kurve, sondern einer ganzen Kurvenklasse restrukturiert, be-treibt ja globales Ordnen im Sinne Freuden-thals; — und das ist die höchste Stufe des geometrischen Denkens, die allerdings auf der Schule oft nicht (mehr) erreicht wird ... Derartige Überlegungen werfen aber neues Licht auf den Hintergrund der Schulgeomet-rie und sind daher hilfreich für die Lehreraus- und -weiterbildung, aber auch im Kontext der Begabtenförderung: Denn aus der Reflexion der Phänomene erwachsen Einsichten, die weit über die Schulgeometrie hinaus zu ak-tuellen Themen der mathematischen For-schung weisen können. Dies gibt Begabten die Möglichkeit, ihr Potential zu erproben und einen möglichen zukünftigen Tätigkeitsbe-reich zu erkunden.

Literatur Bieberbach, Ludwig (1952): Theorie der geometri-

schen Konstruktionen. Basel: Birkhäuser Chasles, Michel (1839 & 1968): Geschichte der

Geometrie. Wiesbaden: Sändig, Nachdruck Elschenbroich, Hans-Jürgen, Thomas Gawlick &

Wolfgang Henn (Hrsg.) (2001): Zeichnung – Figur – Zugfigur. Hildesheim: Franzbecker

Fano, G. (1903–1915): Gegensatz von syntheti-scher und analytischer Geometrie. In: Ency-clopädie der mathematischen Wissenschaften, Band III, 1. Leipzig: Teubner

Gawlick, Thomas (2000): Die Ortslinie des Höhen-schnittpunktes. Einführende didaktische und mathematische Bemerkungen. Vechtaer fach-didaktische Forschungen und Berichte, Heft 3. Vechta: Institut für Didaktik, 43–54

Gawlick, Thomas (2001a): Über einige Prinzipien der Dynamischen Geometrie. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2001. Hildesheim: Franz-becker, 213–216

Gawlick, Thomas (2001b): Zur Mathematischen Modellierung des Dynamischen Zeichenblatts. In: Elschenbroich u.a. (2001), 55–67

Gawlick, Thomas (2001c): Exploration reell alge-braischer Kurven mit DGS. In: Elschenbroich, Gawlick & Henn (2001), 69–76

Gawlick, Thomas (2002): Dynamic Notions for Dynamic Geometry. In: Manfred Borovcnik & Hermann Kautschitsch (Hrsg.) (2002): Pro-ceedings of ICTMT 5. Plenary Lectures and Strands. Wien: öbv & hpt, 297–300

Gawlick, Thomas (2004a): Dynamische Kon-struierbarkeit des Kreises allein mit dem Line-al. In Praxis der Mathematik 3, 126–129

Gawlick, Thomas (2004b): Dynamische Linealkon-struktionen von Ortslinien der besonderen Punkte des Dreiecks. In: Der Mathematikunter-richt 50, Heft 4, 31–37

Gawlick, Thomas (2004c): Dynamische Linealkon-struktionen höherer Kurven. In: Der Mathema-tikunterricht 50, Heft 4, 38–50

Hilbert, David (1900): Mathematische Probleme. Göttinger Nachrichten mathematisch-physikali-sche Klasse 3, 253–297

Hölzl, Reinhard (1999): Qualitative Unterrichtsstu-dien zur Verwendung dynamischer Geometrie-Software. Augsburg: Wissner

Klein, Felix (1928): Vorlesungen über die Entwick-lung der Mathematik im 19. Jahrhundert. Ber-lin: Springer

Kohn, Gustav (1902): Über das Prinzip von der Erhaltung der Anzahl. In: Archiv für Mathema-tik und Physik 4, 312–316

Kötter, Ernst (1901): Die Entwickelung der synthe-tischen Geometrie. DMV Jahresbericht 5. Leipzig: Teubner

Kortenkamp, Ulrich & Jürgen Richter-Gebert (2001): Grundlagen dynamischer Geometrie. In: Elschenbroich u.a. (2001), 123–144

Leibniz, Gottfried (1687 & 1996): Ein allgemeines Prinzip, das nicht nur in der Mathematik, son-dern auch in der Physik von Nutzen ist. In: T. Leinkauf (1996): Leibniz. München: Diederichs

Richter-Gebert, Jürgen (o.J.): Das komplexe Ver-halten geometrischer Objekte. http:// www-m10.ma.tum.de/~richter/Papers/HTML/ ComplexityIssues_dt/S_50_Continuitaet.html

Schubert, H. (1879): Kalkül der abzählenden Geo-metrie. Leipzig: Teubner

von Staudt, G. C. C. (1856): Beiträge zur Geome-trie der Lage. Nürnberg: Bauer & Raspe

Warneke, Klaus (2001): Mit dynamischer Geome-trie-Software zu algebraischen Kurven. In: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 54, 81–83

Zeuthen, H. G. (1903–1915): Abzählende Metho-den. In: Encyclopädie der mathematischen Wissenschaften, Band III,2,1. Leipzig: Teubner

112

1 Einleitung

Schlägt man ein beliebiges Algebra-Buch auf, stößt man nahezu zwangsläufig auf so-genannte "Aufgaben-Plantagen". Das Durch-arbeiten im herkömmlichen Stil (ein Schüler rechnet vor, die anderen schreiben von der Tafel ab — oder noch schlimmer: der Lehrer rechnet vor, um "Zeit zu sparen") führt bei unserer medien-verwöhnten Schülerschaft schnell zu Langeweile. Der Spruch "Wenn al-les schläft und einer spricht, das Ganze nennt man Unterricht", ist schon alt. Manche Kollegen lockern den Unterricht mit Grup-penarbeit auf, oder sie verpacken die Alge-bra-Aufgaben in Spielchen und verkaufen das Ganze als "Freiarbeit". Zu Recht wird ei-ne neue Schwerpunktsetzung in der Aufgabenkultur gefordert. Wie dem auch sei, auf Übungsphasen als Anwendung der Theorie wird man bei keinem Unterrichtsstil verzichten können. Es genügt nicht, den Schülern die Vorzeichen-Rechen-regeln bei der Multiplikation nur mitzuteilen (oder herzuleiten) — man muss sie einüben — mit mehr als zwei Faktoren, mit Variablen, mit Abgrenzung von den Rechenregeln für die Addition, mit Wiederholung des Bruch-rechnens usw. Bei solchen Übungsphasen ist es wünschenswert, den Großteil der Schüler aus der Passivität des bloßen Ab-schreibens von der Tafel herauszuholen. Möglichst viele Schüler sollten den Aufga-ben-Fundus gleichzeitig unabhängig vonein-ander bearbeiten können und unmittelbar ei-ne Rückmeldung in der Form "richtig/falsch" erhalten. Diesem Ziel kommen die Freiar-beits-Aufgaben der ALP Dillingen (Lippert et al. 1999) sehr nahe. Sie bieten Aufgaben auf der Vorderseite und Lösungen zur Selbstkon-trolle auf der Rückseite. Eine Umsetzung

dieses Konzeptes auf HTML-Basis ist mit den unten beschriebenen Java-Applets mög-lich. An unserer Schule müssten die Schüler noch in den (inzwischen gut ausgebuchten) Infor-matikraum umziehen, und es stünde nur ca. ein Rechner für zwei Schüler zur Verfügung. Wenn sich die Entwicklung der letzten Jahre auf dem Computer-Markt wie bisher fortsetzt, kann man vorausahnen, dass in einigen Jah-ren die Schüler mit dem (eigenen) Notebook im Unterricht ebenso umgehen wie heute mit dem Taschenrechner, noch dazu über Funk miteinander und mit dem Internet vernetzt. Man mag dieser Entwicklung durchaus kri-tisch gegenüberstehen, wie Clifford Stoll in seinem lesenswerten Buch "LogOut" (Stoll 2001); — aufhalten wird man sie nicht. Wir müssen uns für das Zeitalter des Computer Aided Learning (CAL) rüsten.

2 Das Trio der Formel-Applets

2.1 Das Formelausgabe-Applet Es gibt viele Möglichkeiten, mathematische Formeln auf Seiten im WWW darzustellen. Zum Beispiel existiert mit MathML [2] ein HTML-Abkömmling speziell für die Darstel-lung mathematischer Inhalte im Internet. Lei-der verstehen nur einige spezielle Browser, z.B. Amaya [3] MathML. Hier wären die Browser-Hersteller — allen voran Microsoft — aufgefordert, endlich MathML-Unterstüt-zung in ihre Browser zu integrieren. Mit "Hot Equation" [4] der Ruhr-Universität Bochum gibt es ein sehr leistungsfähiges

Ein Java-Applet zur Eingabe und Überprüfung mathematischer Terme

Rudolf Großmann, Stein

Das hier vorgestellte Java-Applet erlaubt einerseits die Darstellung (Ausgabe) von Ter-men mit Brüchen, Wurzeln und Funktionen auf HTML-Seiten, andererseits die Eingabe eines Terms und die Überprüfung auf Übereinstimmung mit einem vorgegebenen Lö-sungsterm. Dabei werden auch äquivalente Terme als Lösung akzeptiert. Als Anwen-dung können Übungsaufgaben auf Datenträger oder im Internet bereitgestellt werden, bei denen der Schüler sofort eigenständig die Richtigkeit seines Ergebnisses überprüfen kann. Zur Erstellung solcher Übungsaufgaben sind nur grundliegende HTML-Kenntnisse notwendig. Das Applet wird laufend fortentwickelt und kann zu Testzwecken über die Homepage des Autors [1] bezogen werden.

Ein Java-Applet zur Eingabe und Überprüfung mathematischer Terme

113

Applet, das TEX-Input in Formeln umsetzen kann. Schließlich kann man Formeln innerhalb ei-nes Dokuments von MS Word mit dem For-mel-Generator erstellen und das Dokument als HTML-Datei speichern. Die Formeln wer-den dann in Bitmap-Grafiken umgewandelt und an den entsprechenden Stellen im Text eingebunden. Word erzeugt allerdings einen HTML-Code, der nur schwer von Hand nach-zubearbeiten ist. Daher empfehle ich die letz-te Methode nicht. Bei so vielen schon existierenden Möglich-keiten bräuchte man das Formelausgabe-Applet gar nicht. Es bietet jedoch den Vorzug eines einheitlichen Designs für die Eingabe und Ausgabe. Durch Anpassung der Hinter-grundfarbe an den Hintergrund der umge-benden HTML-Seite wird die rechteckige Applet-Begrenzung gleichsam unsichtbar.

2.2 Das Formeleingabe-Applet Das Eingabe-Applet erlaubt neben der Ver-wendung der vier Grundrechenarten die Ein-gabe von Klammern, Brüchen, Quadratwur-zeln und der Funktionen sin, cos, tan, ln, lg und Betrag. So lange die Eingabe nicht ab-geschlossen ist, ist der Hintergrund des Applets hellblau. Die Eingabe wird mit der Enter-Taste oder dem Drücken des optiona-len OK-Knopfes abgeschlossen. Gleichun-gen können (noch) nicht eingegeben werden. Das Applet reagiert vorläufig mit Grünfärbung des Hintergrundes auf richtige Eingaben und

mit Orangefärbung auf falsche Eingaben. Al-le Farben können mit in der HTML-Seite ein-gebettetem JavaScript-Code dem persönli-chen Geschmack angepasst werden. Die Reaktionsfähigkeit soll in zukünftigen Versio-nen stark erweitert werden, so dass eine dif-ferenzierte Reaktion auf verschiedene Arten von Falscheingaben möglich ist, beispiels-weise der Sprung zu anderen HTML-Seiten je nach Fehler-Art. Abbildung 1 zeigt ein Beispiel einer Übungs-seite mit Ein- und Ausgabe-Applet. Das Eingabe-Applet kennt folgende Sonde-tasten:

Taste Funktion Strg-W Wurzel Strg-B Bruchstrich Cursor hoch Exponent

5½ wird wie folgt eingegeben: "5, Strg-B, 1, Cursor runter, 2". Das Eingabe-Applet erlaubt auch eine Ansteuerung mit beschrifteten Knöpfen als Eingabehilfe, so dass man sich die Sondertasten nicht merken muss.

2.3 Das Editor-Applet Das Editor-Applet benötigt nur, wer selbst Übungsseiten mit Ein- und Ausgabe-Applets erstellen will, also z.B. der Lehrer als Autor von Übungsaufgaben, nicht der Schüler als Leser von Übungsaufgaben. Das Eingabe-Applet erscheint im HTML-Quellcode z.B. wie in Abb. 2. Der Term, den das Ausgabe-Applet darstel-

len soll, bzw. der Term, den das Einga-be-Applet als Lösung akzeptieren soll, wird dem Applet in Form eines Textes als Pa-rameter übergeben (in Abb. 2 kursiv). Dieser Parameter stellt, he-xadezimal codiert, den Term dar. Das Editor-Applet erzeugt als Output genau die-sen Code-Text, der dann im HTML-Code der Übungsaufgabe eingebettet wird. Das klingt komplizierter, als es ist. Abb. 1: Das Formelausgabe- und Eingabe-Applet

Rudolf Großmann

114

<APPLET CODEBASE="classes" ARCHIVE="gf02.jar" CODE="gutformel/gutfa_in.class" HEIGHT="80" WIDTH="200" NAME="rechts01" ALIGN="middle"> <PARAM NAME="FORMEL" VALUE="aced00057372001... ...071007e0010"> <PARAM NAME="OKBUTTON" VALUE="false"> </APPLET>

Abb. 2: HTML-Code des Eingabe-Applets

Das Editor-Applet muss diesen Code-Text auf Festplatte speichern oder über die Zwi-schenablage exportieren können. Damit es das darf, wurde das Applet von mir digital signiert. Wird es geladen, muss der Benut-zer, d.h. der Autor von Übungsseiten, ihm erst die Erlaubnis dazu erteilen (s. Abb. 3).

Das ist eigentlich nichts Besonderes im Ver-gleich dazu, dass z.B. jedes Installationspro-gramm unter Windows in der Regel beliebige Dateien anlegen und ausführen darf. Wer Vertrauen in Shareware unbekannten Ursprungs hat, kann auch dem Editor-Applet erlauben, seinen Formel-Code-Text in die Zwischenablage zu exportieren.

3 Wieso gerade Java?

3.1 Vorteile von Java 3.1.1 Betriebssystem-Unabhängigkeit

Java ist eine betriebssystem-unabhängige Programmiersprache, d.h. das gleiche Java-

Applet läuft unter Windows ebenso wie unter Linux oder auf einem Macintosh, vorausge-setzt, es steht, wie momentan üblich, ein Browser zur Verfügung, der Java unterstützt.

3.1.2 Einbindung in HTML

Durch die Einbindung des Applets in HTML stehen die vielfältigen Möglichkeiten der Sei-tengestaltung zur Verfügung, die HTML bie-tet. Die "Auslieferung" der Seiten kann über das Internet erfolgen.

3.1.3 Erweiterbarkeit mit JavaScript

Die Funktionalität (z.B. differenzierte Reakti-on auf Falsch-Eingaben) kann durch die Be-reitstellung geeigneter Schnittstellen mittels

der Sprache JavaScript durch den Benutzer (Autor von Übungsseiten) erweitert werden, ohne dass dieser in Java programmieren muss. Verwechseln Sie JavaScript [5] nicht mit Java.

3.2 Nachteile von Java 3.2.1 Zeit- und Speicherprobleme

Java hat den Ruf, langsam und speicher-hungrig zu sein. Tatsächlich zeigt das Einga-be-Applet auf Rechnern älterer Bauart merk-liche Reaktionszeiten auf Eingaben. Es läuft gut auf Rechnern ab ca. 500 MHz Taktfre-quenz. Wenn die Entwicklung immer schnel-lerer Prozessoren und der Preisverfall bei Arbeitsspeichern so weitergeht wie bisher,

Abb. 3: Das Editor-Applet bekommt Schreibrechte

Ein Java-Applet zur Eingabe und Überprüfung mathematischer Terme

115

dürfte diese Thematik kein Problem darstel-len.

3.2.2 Die falsche Java-Version?

Bei der Verwendung von Java taucht manch-mal folgendes Problem auf: Das Applet ist mit Version Y programmiert und kompiliert worden, der Browser des Benutzers, d.h. des Schülers, verwendet aber die ältere Java-Version X und findet ein paar Java-"Classes" nicht. An der Stelle des Applets bleibt der Bildschirm leer. Um diese Situation zu ver-meiden, habe ich bei dem Aus- und Eingabe-Applet das "alte" Java 1.1.8 verwendet. Nur das Editor-Applet setzt eine neuere Java-Version (ab 1.3) voraus.

3.2.3 Microsoft boykottiert Java

Mit Windows XP wird als Standard-Browser ein Internet Explorer ausgeliefert, der kein Java unterstützt — passend zur Firmenpolitik Microsofts — ärgerlich für die Benutzer. Wer als Autor von Übungsaufgaben das Editor-Applet verwenden will, muss seinen Browser mit einer Java-Version 1.3 oder neuer aus-statten. Man kann sich hierzu die neueste Java-Version von SUN herunterladen [6]. Für unsere Zwecke genügt die "Java Runtime Engine" (JRE). Sie ist für Windows ca. 8 Megabyte groß. Nur wer selbst in Java pro-grammieren will, braucht das "Java Deve-lopment Kit" (JDK). Man kann alternativ auch auf den Begleit-CDs der aktuellen Computer-Fachzeitschriften nach den Browsern "Ope-ra" oder "Mozilla" (Netscape-Nachfolger) su-chen. Die Installationsprogramme dieser Browser installieren in der Regel Java mit und versorgen auch den Microsoft Internet Explorer mit dem Java-Plugin von SUN.

3.2.4 Speichern verboten?

Das Sicherheits-Konzept von Java verhindert zunächst, dass Applets lesend oder schrei-bend auf die lokale Festplatte oder die Zwi-schenablage zugreifen. So wird verhindert, dass Java-Applets dazu missbraucht werden, bösartigen Code (Viren, Würmer, ...) beim Surfen im Internet einzuschleusen. Wie in 2.3 beschrieben, muss der Benutzer des Editor-Applets erst zustimmen, dass das von mir di-gital signierte Applet diese Rechte erhält. Da-mit die Rechte-Verwaltung klappt, ist, wie oben erwähnt, eine neuere Java-Version (ab 1.3) nötig. Meine digitale Signatur könnte ich wiederum von einer Firma wie z.B. VeriSign signieren lassen, die dann dafür garantiert, dass die Signatur wirklich von mir stammt.

Das kostet allerdings nicht unerhebliche Ge-bühren, die nicht einmalig, sondern jährlich erhoben werden. Sie haben sicherlich Ver-ständnis, dass ich eine Signatur verwende, die nicht von einer „Certification Authority“ si-gniert wurde.

3.3 Pro und contra Java Resümee: Die Nachteile von Java lassen sich mit vertretbarem Aufwand alle überwin-den. Die Vorteile überwiegen. Daher fiel mei-ne Entscheidung zugunsten von Java als zu verwendender Programmiersprache für mei-ne Zwecke.

4 Zielgruppen für die Formel-Applets

4.1 Der engagierte Mathelehrer Jeder interessierte Kollege kann sich bereits jetzt (September 2003) von meiner Homepa-ge [1] eine Vorab-Version der drei Formel-Applets mit Beispielen herunterladen. Das Editor-Applet (nicht das Eingabe-Applet) hat einen eingeschränkten Funktionsumfang: Es erlaubt nicht die Eingabe von Quadrat-wurzeln und Funktionen. Man kann damit Übungsseiten erstellen, die einen Großteil der gymnasialen Applets Algebra bis zur 8. Jahrgangsstufe abdecken.

4.2 Der Schulbuch-Verlag So manches Übungsprogramm aus dem Edutainment-Sektor entspricht dem Schema "viel Verpackung, wenig Inhalt". Die Lernsoft-ware ist oft multimedial mit Animationen und Sprachausgabe aufgepeppt. Die eigentlichen Übungen sind dann bessere Multiple-Choice-Tests, decken nur Arithmetik ab oder akzep-tieren nur sture Lösungen in Texteingabe-Fenstern, sagen z.B. bei "a+b" "richtig", aber bei "b+a" "falsch". Bisher kenne ich nur zwei Titel mathemati-scher Lernsoftware, die einigermaßen flexi-bel auf die Eingaben der Schüler reagieren. Erstens: "Ali, der Mathemaster" (Heureka-Klett, 1998). "Ali" ist zwar schon alt; ihn gab es schon für den legendären Commodore C 64. Das Programm erlaubt aber sogar die Eingabe eigener Aufgaben, die es dann auf Wunsch vorrechnet!

Rudolf Großmann

116

Zweitens: Das "Telekolleg Algebra" aus dem Lernpaket "Mathe und Physik" des Franzis-Verlags teilt Ergebnisse nicht nur in "richtig" oder "falsch" ein, sondern kommentiert eine Eingabe auch mal mit "Das ist zwar richtig. Du kannst aber weiter vereinfachen". Eine Weiterentwicklung des Eingabe-Applets könnte in Verbindung mit JavaScript eine ähnliche Funktionalität bieten. Genau auf ein Schulbuch abgestimmte Be-gleitsoftware gibt es bereits im Fremdspra-chenbereich (z.B. "Green Line" von Klett). Mit den Formel-Applets lassen sich Übungssei-ten erstellen, die dementsprechend auf ein Algebra-Buch abgestimmt sind. Ähnlich wie bei einem Vokabel-Trainer könn-te der Lernerfolg in einer Datenbank mitno-tiert und grafisch aufbereitet dargestellt wer-den. Aufgabentypen mit vielen Fehlern wer-den häufiger, gut beherrschte Aufgaben sel-tener abgefragt.

4.3 Die Fachdidaktik Mathematik An der Universität Bayreuth wurde ein Java-Applet namens "GeoNeXt" entwickelt [7], mit dem man dynamische Geometrie betreiben kann, ähnlich wie mit "Euklid", "Cinderella", "Cabri Geometre" usw. Was "GeoNeXt" für die Geometrie leistet, könnte das Formel-Applet bei entsprechen-der Weiterentwicklung für die Algebra leisten. Denkbar wäre ein im Team entwickeltes ma-thematisches Lehrwerk, das auf CD oder über das Internet bereitgestellt wird.

4.4 Last but not least — die Schüler

Die Schüler benutzen nur Ein- und Ausgabe-Applets, basierend auf Java 1.1.8, so dass die Übungsseiten auch auf älteren Browsern dargestellt werden können.

5 Die Zukunft der Formel-Applets

5.1 Die endlose Geschichte Wann ist ein Programm fertig? Eigentlich nie. Wie lange gibt es "Word"? Und immer noch erscheint beinahe jährlich eine neue Version. Und immer noch stolpert es manchmal bei den Fußnoten.

Auch Hobby-Programmier-Projekte sind in der Gefahr, nie fertig zu werden. Zu oft ha-ben Außenstehende Wünsche nach neuen "Features", die man dann aus Ehrgeiz ver-sucht zu verwirklichen. Dabei vergisst man allzu oft, dass der Zeitaufwand für das Pro-grammieren zu ca. 90 Prozent aus Fehlersu-che besteht.

5.2 Was noch verwirklicht wird Im Formeleingabe-Applet lassen sich mit der Backspace-Taste einzelne Variablen und Zif-fern von Zahlen löschen, jedoch z.B. keine Rechenzeichen. Hat man sich so vertippt, dass die Struktur des Terms nicht stimmt, sollte man die ganze Formel mit der Entfer-nen-Taste löschen und neu mit der Eingabe beginnen. Das Eingabe-Applet ist in der ge-genwärtigen Version noch zu wenig fehlerto-lerant gegen Fehleingaben, als dass es be-reits für den Einsatz im harten Unterrichtsall-tag taugen würde. (Stand: September 2003) Für die 10. Jahrgangsstufe fehlen noch Lo-garithmen zur allgemeinen Basis b und höhe-re Wurzeln. Der Definitionsbereich von Termen darf bis-her nicht eingeschränkt sein.

5.3 Was das Formel-Applet nie werden wird

Das Formel-Applet wird nicht zu einem Com-puter-Algebra-System (CAS) wie "Mathema-tica", "Derive", "MuPAD" usw. ausgebaut werden. Es gibt schon genug CAS. Die Ver-wendung eines CAS in der Unter- und Mittel-stufe ist auch didaktisch wenig sinnvoll, da die Einstiegshürden durch die spezielle Um-gebung, Syntax usw. viel zu hoch sind. Au-ßerdem wird zwar der Output in herkömmli-cher Schreibweise (Bruchstriche, Wurzeln usw.) dargestellt, aber nicht der Input. Der geschieht meist in einer Textzeile und ist da-her fremdartig im Vergleich zur Tafel-Schreibweise.

5.4 Was noch verwirklicht werden könnte

In loser Reihenfolge: Periodenstrich, Griechi-sche Buchstaben, Konstante Pi, Grad, physi-kalische Einheiten, Gleichungen und Unglei-chungen, Integralzeichen, Summenzeichen, Taste "EE" für Zehnerpotenzen, Indizes.

Ein Java-Applet zur Eingabe und Überprüfung mathematischer Terme

117

Sicher haben Sie noch ein paar Anregungen für mich. E-Mail: [email protected]

Literatur Lippert, Gerhard & Wolfram Thom (Hrsg.) (1999):

Freies Arbeiten am Gymnasium, Band 2, Aka-

demiebericht Nr. 330. Dillingen: Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung

Neidhardt, Wolfgang & Thomas Oetterer (2000): Geonet … und die Geometrie lebt! Bamberg: Buchner

Ostermann, Peter et al. (1998): Ali, der Mathe-master. Stuttgart: Heureka-Klett

Stoll, Clifford (2001): LogOut. Frankfurt: Fischer Versch. Autoren (2001): Lernpaket Mathe & Phy-

sik. Poing: Franzis

Internet [1] Testversion des Formel-Applets:

www.users.odn.de/~odn22355/formelapplet www.fuemo.de/formelapplet

[2] MathML Dokumentation (engl.): www.w3.org/Math/ Informationen zu MathML (deutsch) www.formelbaska.com/deutsch/foba_mathml.html

[3] Amaya Homepage (Browser mit MathML-Unterstützung): www.w3.org/Amaya/

[4] Hot Equation Java-Applet www.esr.ruhr-uni-bochum.de/VCLab/software/HotEqn/HotEqn.html

[5] Vergleich von JavaScript mit Java www.bluedom.de/bluedom/wissen_javascript.php

[6] Java-Plugin von SUN: java.sun.com

[7] GeoneXt Java-Applet und -Applikation: www.geonext.de

118

Es hat einerseits noch nie ein so dringender Bedarf an Fort- und Weiterbildung bestanden wie gegenwärtig, um Mathematiklehrerinnen und -lehrer in neue Technologien wie grafi-sche Taschenrechner, Taschencomputer mit einem CAS, Dynamische-Geometrie-Soft-ware und CAS für PCs einzuführen. Es liegt daher nahe, klassische Fort- und Weiterbil-dungsmaßnahmen zur Einführung in die be-schriebenen Systeme durch internetbasierte Veranstaltungen zu ergänzen. Ich habe dazu ausgenutzt, dass das IQSH in Kiel (Schles-wig-Holstein) seit einigen Jahren die Möglich-keit bietet, kostenlos Echtzeit-Online-Fortbil-dung für Lehrkräfte durchzuführen. Auf der von der Fa. Interwise angemieteten Plattform habe ich bisher ca. 40 Fortbildun-gen über den Einsatz von Taschencompu-tern mit CAS bzw. CAS auf PCs im Mathe-matikunterricht abgehalten. Die Einheiten ha-be ich als Online-Workshops zu organisieren versucht, in denen Teilnehmer ähnlich wie in einer Präsenzveranstaltung meine Vorschlä-ge auch sofort auf den eigenen PCs oder Handheld-Geräten erproben konnten. In die-sen Veranstaltungen besteht eine Audio-Ver-bindung zwischen den Teilnehmern, und au-ßerdem können Bildschirminhalte z.B. des Tutors allen sichtbar gemacht werden. Ziel ist es, Lehrkräften vorzuführen, wie neue Tech-nologien (CAS, DGS, Handheld-Geräte mit CAS) im Mathematikunterricht genutzt wer-den können. Um den Bedarf innerhalb der Lehrerschaft zu erfahren, wurde eine Online-Umfrage bei den Lehrkräften durchgeführt, die sich bereits mindestens einmal zu Präsenzfortbildungen gemeldet hatten und deren Email-Adressen deshalb bekannt waren. Der Fragebogen kann im Internet unter

http://zkl.uni-muenster.de/t3/Umfrage/ umfrag1.htm abgerufen werden. Die Umfrage ist bisher si-cherlich nicht repräsentativ wegen des klei-nen Stichprobenumfanges (ca. 200 Antwor-ten), und weil bereits 90% der Befragten neue Technologien in ihrem Unterricht gele-gentlich oder regelmäßig einsetzen. Trotz-dem besteht auch bei dieser Gruppe noch ein großer Bedarf an Fortbildungen bei allen nachgefragten Technologien. Das CAS Deri-ve ist am häufigsten angegeben worden, dar-auf folgen CAS-Taschencomputer, und am wenigsten Hilfe wurde für grafische Taschen-rechner angefordert. Nur wenige (13%) wollen nach einer Einfüh-rung in die Technologie auch noch eine um-fassende Einführung in das Unterrichten mit der neuen Technologie. Die Antworten kann man so interpretieren, dass drei Viertel der Lehrkräfte nur eine Starthilfe benötigen und dann nach Bedarf Angebote nutzen wollen. Diese sollten sich auf Literatur zu den neuen Technologien und auf überzeugende Unter-richtsbeispiele beziehen. Die meisten Lehr-kräfte sind bereit, an Fortbildungen außer-halb der regulären Schulzeit teilzunehmen und auch für die Kosten für den Internet-Zu-gang aufzukommen. Die zeitliche Belastung durch die zusätzlichen Online-Fortbildungen ist für sie offensichtlich kritischer. Eine wö-chentliche Teilnahme glauben nur 16% sich leisten zu können, während 55% eine 14-tägige oder monatliche Frequenz wünschen. 19% stimmen einer Blockbildung zu. Fast 65% der Lehrkräfte halten die Abendstunden von 18 bis 22 Uhr für Online-Fortbildungen für am besten geeignet. 11% der befragten Kolleginnen und Kollegen sind erfreulicher-weise ihrerseits bereit, ihre bisherigen Erfah-rungen mit den neuen Technologien auch in

Echtzeit-Online-Fortbildungen für Lehrkräfte zum Thema: Mathematik mit grafischen Taschenrech-nern und CAS

Karl-Heinz Keunecke, Kiel

Das IQSH in Kiel stellt seit 2000 eine Plattform zur Verfügung, auf der es möglich ist, im Internet innerhalb einer geschlossenen Gruppe gleichzeitig Sprache und Daten auszu-tauschen. Die Teilnehmer benötigen dafür lediglich ein 56k-Modem und ein Mikrofon. Diese Plattform wird seit ca. 2 Jahren genutzt, um Mathematiklehrkräfte in die Benutzung von CAS und Taschencomputer mit CAS im Unterricht einzuführen. Die Veranstaltungen finden in den Abendstunden statt und dauern etwa zwei Stunden.

Echtzeit-Online-Fortbildungen zu grafischen Taschenrechnern und CAS

119

Online-Fortbildungen an andere Lehrkräfte weiterzugeben. Als Ergebnis dieser Umfrage werden ab 2004 vier bis sechs Kolleginnen und Kolle-gen regelmäßig Online-Fortbildungen für Ma-thematiklehrkräfte in den Abendstunden an-bieten. Damit soll die Möglichkeit geboten werden, Angebote und Arbeitsunterlagen für ihren aktuellen Unterricht auszuwählen, die von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen präsentiert werden. Der Veranstaltungska-lender von "Fortbildung Online" kann bei http://www.lernnetz-sh.de/l3n/bildung1.html eingesehen werden.

Da die Teilnahme an den Online-Veranstal-tungen freiwillig ist, loggen sich die Lehrkräf-te nur ein, wenn sie sich davon einen Nutzen versprechen. Das Steigen der Teilnehmer-zahlen deutet daraufhin, dass hier ein Weg gefunden wurde, um Lehrkräfte bei der Einführung neuer Technologien in der Schule zu unterstützen.

Adresse des Autors: Dr. Karl-Heinz Keunecke Gorch Fock Str. 2 24159 Kiel [email protected]

120

1 Einleitung

Dynamische Geometrie-Software ist inzwi-schen als dritte Säule des Mathematikunter-richts mit neuen Medien etabliert; sie wird un-terstützt von CAS und Tabellenkalkulation. Die Grenzen zwischen den drei Säulen ver-schwinden zusehends, da die Ergebnisse, die mit einem Paket gewonnen wurden, auch mit den anderen weiterverwendet werden sollen. In diesem Artikel möchte ich auf Anwen-dungsszenarios von DGS und verwandter Software eingehen und sie einander gegen-überstellen. Dabei werden Lücken im derzei-tigen Softwareangebot identifiziert, die wir über technische Erweiterungen einer DGS zu schließen vermögen. Die technische Umset-zung dieser Erweiterung bietet zudem neue Möglichkeiten für die empirische Forschung zum Einsatz von DGS im Mathematikunter-richt.

2 Experimentieren

DGS stellt eigene Welten zum Experimentie-ren und Forschen zur Verfügung. Die vielfäl-tigen Möglichkeiten sind inzwischen bekannt und dokumentiert. Für den Unterrichtseinsatz existieren Sammlungen fertiger elektronische Arbeitsblätter; DGS hat einen festen Platz in vielen Lehr- und Rahmenplänen. Zu einem Zeitpunkt, wo die anfängliche Eu-phorie einer gewissen Routine gewichen ist, lohnt es sich, einen Blick zurück in die An-fänge des DGS-Einsatzes zu wagen, um fehlende Mosaiksteine aus der Vision zu i-dentifizieren.

2.1 Entwicklungsperspektive '91 Schon 1991 zeigt Schumann eine Entwick-lungsperspektive für planimetrische Werk-zeuge auf, die inzwischen durch eine Viel-zahl von Systemen zum größten Teil umge-setzt wurde. Insbesondere zählt er die in den folgenden Abschnitten aufgeführten planime-trischen Module auf:

2.1.1 Konstruktionssystem (PKS)

Dieses Modul ist das, was heutzutage den Kern einer DGS darstellt. Die meisten Sys-teme sind menü-gesteuert, es existieren aber auch kommandobasierte oder alternativ kom-mandobasierte System wie Geolog oder Z.u.L., um nur zwei frühe Vertreter zu nen-nen. Entscheidendes Merkmal dieser Systeme ist die Manipulation im Zugmodus, die das Ex-perimentieren im Sinne von "Was-wäre-wenn?" erlaubt. In (K. 1999) wird dargestellt, welche mathematischen Schwierigkeiten bei einer konsistenten Implementierung des Zug-modus auftreten (und eine mathematisch fundierte Lösung für diese Probleme angebo-ten). Diese sind speziell für die Umsetzung einer DGS in eine experimentierfähige Um-gebung zu beachten, da die stoffdidaktische Grundlage der Fachwissenschaft nicht außer Acht gelassen werden kann. Leider führt die konsequente Umsetzung der Mathematik auch zu neuen didaktischen Schwierigkeiten (u.a. dokumentiert von Gaw-lick), die bislang nicht ausreichend wissen-schaftlich untersucht wurden. Somit bleibt auch im Bereich der reinen Konstruktionssys-teme immer noch die offene Frage, wie diese zu gestalten sind, um sie im Unterricht ge-winnbringend einzusetzen. Die meisten Un-tersuchungen differenzieren zunächst zwi-schen Computereinsatz und herkömmlichen Methoden, und vergleichen nicht mehrere

Experimentieren und Publizieren

Ulrich Kortenkamp, Berlin

In diesem Artikel werden zwei Erweiterungen Dynamischer Geometrie-Software (DGS) vorgestellt, die bisher vorhandene Lücken schließen und neue didaktische Impulse ge-ben können. Zum einen wird die Unterstützung von Algorithmen in DGS und die Erweite-rung durch selbst geschriebene Module beschrieben, wie sie bereits prototypisch in Cin-derella implementiert ist. Zum anderen wird CINErella vorgestellt, eine Kombination aus Interaktion und Film, die sich zum Beispiel für die Dokumentation von Forschungsarbeit mit der DGS eignet.

Experimentieren und Publizieren

121

Programme. Angesichts der schon immen-sen organisatorischen und methodischen Schwierigkeiten für solche Untersuchungen ist das eine nicht zu unterschätzende Leis-tung. Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass die Gestaltung und Ausstattung von DGS nicht allein dem Markt überlassen wer-den kann, da sonst subjektive oder gar rein finanzielle Gründe über die eingesetzte Soft-ware entscheiden, und nicht didaktische oder fachwissenschaftliche Argumente. Aus die-sem Grund ist es dringend geboten, eine größere Vergleichsstudie durchzuführen.

2.1.2 Berechnungssystem (PBS)

Längen, Winkel und Flächen sollen gemes-sen werden können, und die gemessenen Werte sollen numerisch für weitere Berech-nungen zur Verfügung stehen. Die Berech-nungen sind dynamisch; der Zugmodus ver-ändert die gemessenen Werte und die dar-aus resultierenden Ergebnisse. Die meisten kommerziellen Programme (Cabri, Sketchpad, Euklid Dynageo) unter-stützen diese Berechnungen in der einen oder anderen Form. Zum Experimentieren ist ein solches Modul gerade dadurch geeignet, dass ein Bezug zwischen realen Daten und der Modellierung im Computer hergestellt werden kann. Die virtuellen Experimente werden im Umfeld der Schülerinnen und Schüler verankert.

2.1.3 Algebrasystem (PAS)

Hier fordert Schumann die bereits oben an-gesprochene Konvergenz: Computeralgebra-Systeme sollen so an DGS angebunden wer-den, dass Generalisierungen möglich sind und konstruierte Figuren symbolisch behan-delt werden können. Die Umsetzung dieser Forderung erfordert erhebliche konzeptionelle Arbeit. Die bisher verfügbaren Systeme, die Ansätze in dieser Richtung zeigen (Geonext und das u.a. in diesem Band von Hohenwarter vorgestellte GeoGebra) geben zwar vor, Computeralge-bra-Systeme zu enthalten, doch diese be-schränken sich auf die Definition und einfa-che symbolische Manipulation von Formeln. Damit erfüllen sie eher die Anforderungen an ein planimetrisches Berechnungssystem, nicht aber an ein planimetrisches Algebra-system. Dies soll nicht den didaktischen Wert dieser Module schmälern! Als PBS sind sie eine große Bereicherung für den Unterricht. Wie schwer die wirkliche Umsetzung eines PAS ist, kann man an dem jüngst vorgestell-

ten System Feli-X von Oldenburg (2002) se-hen; die immensen Möglichkeiten einer ech-ten CAS-Umgebung gehen teilweise zu Las-ten der einfachen, unmittelbaren Manipulati-on. Ein Einsatz in der Schule scheint derzeit noch in weiter Ferne zu liegen; zu sehr äh-nelt die Benutzung des Systems einer Grat-wanderung. Dies liegt keineswegs in der Verantwortung von Oldenburg: Die Freiheit des CAS ist eben auch die Freiheit, mit we-nigen Symbolen die Komplexität der Berech-nung zu sprengen. Schränkt man diese Frei-heit ein, so werden die Schülerinnen und Schüler wieder "an der kurzen Leine geführt"; — dann wiederum braucht man kein CAS mehr. Gerade die Arbeit von Oldenburg ist aber ein notwendiger Schritt hin zu einer konsequenten Umsetzung, und die mit Feli-X gewonnenen Erfahrungen müssen in eine weitere Konzeption einfließen.

2.1.4 Hypothesen-Prüfsystem (PHS)

Schumann bezieht sich hier auf "Mechanical Geometry Theorem Proving", also die auto-matische Generierung von Beweisen für Sät-ze der Geometrie mit Hilfe eines Computers (oder eines sonstigen technischen Hilfsmit-tels). Es existiert eine große Gemeinde von Wissenschaftlern, die sich mit diesem Gebiet der Mathematik beschäftigen, zum größten Teil wird die Arbeit dort aber nicht in der Ma-thematikdidaktik wahrgenommen. Dieses ist in den fernab der Schulmathematik liegenden Methoden für die dortigen Beweise, die meist aus der Algebra stammen, begründet. Die automatisch generierten Beweise haben für sich genommen wenig didaktischen Wert; da meist von Schülerinnen und Schülern weder die Methode noch die konkrete Beweisfüh-rung auch nur ansatzweise verstanden wer-den kann, sind sie dem "Autoritätsbeweis" ("Das ist so.") nicht überlegen. Solche "Beweise" kann man auch durch das Verifizieren im Zugmodus ersetzen, sofern nicht programminterne Details falsche Tatsa-chen vorspiegeln (siehe dazu Hölzl, 1994, der auf die Problematik halbfreier Punkte auf Strecken, die das Teilungsverhältnis gleich halten, hinweist). Es gibt aber auch durchaus viel verspre-chende Ansätze, ein PHS-Modul in eine DGS zu integrieren. Gao (2004) stellte mit dem — leider nur schwer erhältlichen — Geometry Expert (inzwischen MMP/Geometer) ein Sys-tem vor, welches mehrere verschiedene Be-weisstrategien enthält. Die automatisch ge-fundenen Beweise können in textueller Form angezeigt werden. So sehr allerdings die Beweiskompetenz (es werden für alle rele-

Ulrich Kortenkamp

122

vanten Sätze Beweise gefunden) beein-druckt, so wenig ist klar, wie diese im Unter-richt Gewinn bringend eingesetzt werden können. Die DGS Cinderella integriert ein Beweismo-dul, welches zur Gestaltung von interaktiven Arbeitsblättern mit Kontrollfunktion genutzt werden kann. Die eigentlichen Beweise sind nicht zugreifbar, stattdessen wird ausgenutzt, dass das Programm den individuellen Fort-schritt innerhalb einer Aufgabe analysieren kann. Auf dieser Grundlage entstand die Schulversion der DGS (Richter-Gebert & K. 1999). Weitere Informationen finden sich in (K. & Richter-Gebert 2004) und (K. 1999).

2.1.5 Programmiersystem (PPS)

Das letzte von Schumann gewünschte Modul ist bisher von den Herstellern1 von DGS ignoriert worden. Die gewünschte "komfor-table grafische Benutzersprache" zur "direk-ten Manipulation" existiert in dieser Form bisher in keinem mir bekannten Programm. Es ist daher nicht möglich, algorithmische Fragestellungen in DGS zufrieden stellend zu behandeln, selbst wenn diese sich ausdrück-lich mit geometrischen Sachverhalten be-schäftigen. Sollte ein vollständiges CAS (beispielsweise Mathematica oder Maple) an eine DGS an-gebunden werden können, so würde dieses natürlich eine mächtige Programmierumge-bung bieten; in Feli-X kann dies zum Beispiel zur automatisierten Herstellung von Kon-struktionen verwendet werden. Komfortabel und grafisch ist dies aber nicht, und man wird Schülerinnen und Schülern wohl kaum zumu-ten, in einem solchen System algorithmische Fragestellungen zu untersuchen.

2.2 Algorithmen im Unterricht Besteht überhaupt Bedarf für das Program-mier-Modul? Was könnte man mit dem — bislang hypothetischen — Einsatz bezwe-cken? Dies soll in den nächsten Abschnitten geklärt werden, die sich mit Algorithmen im Mathematikunterricht beschäftigen. Aus-drücklich sind damit nicht Standardalgorith-men wie das schriftliche Multiplizieren oder Dividieren gemeint, sondern weiterführende strukturierte Vorschriften, die komplexe Pro- 1 Als Hersteller bezeichnen wir hier alle diejenigen, die mit der Ent-

wicklung von DGS befasst sind. Schumann (1991) spricht hier "Teams aus Geometriedidaktikern, Informatikern, professionellen Programmierern und Geometrielehrern" an; in der Realität sind diese Teams eher vermöge Personalunion aus ein bis zwei Perso-nen zusammengesetzt.

bleme durch die Zerlegung in einfachere Ein-zelprobleme lösen.

2.2.1 Logo

Die Idee, algorithmisches Denken im Unter-richt zu schulen, ist nicht neu, und mit der Programmiersprache Logo ist auch schon seit mehr als zwei Jahrzehnten eine gute Lö-sung verfügbar, mit der die Grundkonzepte von Algorithmen vermittelt werden können. Hier handelt es sich tatsächlich um eine kom-fortable grafische Benutzersprache für die Manipulation von Grafik; lediglich das Kon-zept von geometrischen Objekten ist nur be-dingt vorhanden. Es handelt sich aber ganz klar nicht um ein Modul, welches mit den an-deren genannten Modulen kompatibel ist; diese Kompatibilität (im Sinne des einfachen Austausch von Daten und Konzepten) ist je-doch eine wichtige Forderung, die Schumann mit einem Diagramm des K5, dem vollständi-gen Graphen auf 5 Knoten, illustriert:

Abb. 1: Erwünschte Kompatibilität unter Planimetrischen Modulen nach Schumann (1991)

Gemäß den bisherigen Ausführungen existie-ren zwar alle Knoten dieses Graphen, — die Kanten, d.h. die Querverbindungen zwischen den einzelnen Modulen, jedoch nicht.

2.2.2 Diskrete Mathematik

Gerade die diskrete Mathematik, und dort insbesondere die Graphentheorie, bietet sich für algorithmische Fragestellungen an. Viele interessante Probleme lassen sich mit Hilfe von Graphen modellieren, und mit einfachen Algorithmen wie Tiefen- oder Breitensuche lösen. Optimierungsfragen können oft mit Kürzeste-Wege-Algorithmen oder minimalen aufspannenden Bäumen gelöst werden. Es ist keine neue Idee, Graphen und Algo-rithmen in den Schulunterricht zu bringen (siehe z.B. Bodendiek 1973); neu ist, dass diesen Themen in den Lehr- und Rahmen-plänen der Länder mehr Platz zugestanden wird. Die Kompetenzen, die in diesem Gebiet erworben werden können, sind Bestandteil der Bildungsstandards der KMK. So nennen

Experimentieren und Publizieren

123

beispielsweise die Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss das Reflektieren und kritische Beurteilen von "Darstellungen von Zuordnungen, Zeichnungen, strukturierte[n] Darstellungen [und] Ablaufplänen" im Anfor-derungsbereich III (Verallgemeinern und Re-flektieren).

2.3 Algorithmen in DGS Es gibt zurzeit keine Möglichkeit, Graphenal-gorithmen innerhalb einer DGS zu untersu-chen, obwohl die Darstellung von Graphen durchaus nahe legt, das es sich um ein geo-metrisches Problem handelt. Spezielle Visua-lisierungen von einzelnen Graphenalgorith-men oder auch ganze Programmpakete (z.B. CATBox/GATO von Schliep & Hochstättler 2001) wirken auf den ersten Blick wie DGS! Die Ähnlichkeit beschränkt sich aber auf die interaktive Eingabe der Graphen. Es wäre wünschenswert, wenn die durch ein weiteres Programmpaket in den Unterricht gebrachte Komplexität umgangen werden könnte, d.h., wenn ein PPS implementiert wäre, mit dem algorithmische Aspekte in Geometriesoftware aufgenommen werden können. Aus dieser Motivation heraus wurde eine Programmierschnittstelle für die Java-basier-te DGS Cinderella entwickelt, mit der es erst-mals möglich wird, selbst entwickelte (aber natürlich auch vorgefertigte) Algorithmen di-rekt auf geometrischen Konstruktionen ab-laufen zu lassen.

Abb. 2: Ein in Cinderella modellierter Graph

Die Algorithmen können schrittweise abgear-beitet werden, so dass für verschiedene Ein-gabedaten nachvollzogen werden kann, wie der Algorithmus arbeitet. Zusätzlich können

die Algorithmen aber auch interaktiv verwen-det werden: Während die Eingabe im Zug-modus manipuliert wird, wird für jede Position neu der gesamte Algorithmus durchlaufen, und die Anzeige aktualisiert. Diese algorithmische Schnittstelle ist derzeit nur experimentell; es fehlen Erfahrungen zum Unterrichtseinsatz. In Anbetracht des "Arbeitsprogramms" in (Schumann 1991) wird hier aber damit begonnen, eine Lücke zu schließen. Die sich daraus ergebenden didaktischen Konsequenzen sind noch nicht abzusehen. In Abschnitt 4 gehen wir auf die-sen Punkt noch einmal ein.

Abb. 3: Ein Phasenfoto aus der Bestimmung eines mi-nimalen spannenden Baumes mit dem Algorithmus von Boruvka. Es ist bereits ein Wald (fette Kanten) bestimmt worden, der nun durch weitere Kanten zu einem einzi-gen Baum verschmilzt.

Abb. 4: Dresden wird verschoben, der minimale auf-spannende Baum verändert sich in Echtzeit.

Ulrich Kortenkamp

124

3 Publizieren Ergebnissicherung und Reflektion sind un-verzichtbare Bestandteile des Forschens und Entdeckens. Ein Unterricht, in dem Schüle-rinnen und Schüler experimentieren, zieht ei-nen Teil seines Erfolges daraus, dass es ei-nen gewissen Zwang zur Niederschrift des Gesehenen, Gesagten, und Gedachten gibt. DGS sind prädestiniert für die Aufbereitung und Publikation von geometrischen Daten. Wir stellen nun vier Publikationsformen vor.

3.1 Herkömmlicher Druck Jede gute DGS ist in der Lage, die darge-stellte Grafik in hoher Auflösung für den Aus-druck aufzubereiten. Gerade weil im Zugmo-dus einfach Korrekturen angebracht werden können, sind mit dem Computer erzeugte Fi-guren oft besser — in vielerlei Hinsicht — als die von Hand gezeichneten Pendants. Es ist immer noch wichtig, dass die händische Ar-beit gerade in den unteren Jahrgangsstufen nicht vom Computer verdrängt wird; für fein-motorisch unbegabte Schülerinnen und Schüler ergibt sich mit dem Computer aber eine große Chance, Erfolgserlebnisse zu ha-ben, auf die sie sonst verzichten müssten. Die Ästhetik der Mathematik und insbeson-dere der Geometrie leidet nicht durch den Computer, sondern ihr wird zu einer neuen Dimension verholfen, die es zu nutzen gilt.

3.2 Interaktiv im WWW Geht es um dynamische Zusammenhänge, so ist die Darstellung auf Papier oft nicht an-gemessen. Dies wird selbst in diesem Artikel klar: Abbildung 3 ergibt nur durch einen zu-sätzlichen Erklärungstext Sinn; schöner und deutlicher wäre es, könnte man die dort be-schriebene Manipulation selbst durchführen. Moderne DGS ermöglichen es, interaktive Konstruktionen als Webseiten abzuspei-chern, wobei die Dynamik erhalten bleibt. Dabei wird entweder auf das plattform-unab-hängige Java (Cinderella, Geonext, Geo-Gebra, Cabri Java, Java Sketchpad, Z.u.L.) oder hersteller-abhängige Lösungen wie Ac-tiveX (Euklid Dynageo) zurückgegriffen. Die Funktionalität der Java-Versionen variiert stark, doch alle bieten wenigstens den Zug-modus. Bei manchen Produkten kann man auch die Konstruktion Schritt für Schritt ein-blenden lassen, oder mit Aktions-Schaltflä-chen Teile der Konstruktion zeigen oder ver-stecken.

3.3 Bildschirm-Videos Es gibt verschiedene Softwareprodukte, mit denen "Filme" vom Bildschirminhalt aufge-zeichnet werden können. Damit kann man manche Abläufe besser, als unter 3.2 be-schrieben, erfassen und wiedergeben. An Stelle von langatmigen Erklärungen ("Ziehe zuerst an A in Richtung B. Dann verschiebe M auf S und schaue, was passiert. …") kön-nen fertige Sequenzen abgespielt werden. Im Internet-Projekt MADIN wurden solche Filme eingebunden, ebenso wie die im vor-herigen Abschnitt beschriebenen interaktiven Darstellungen.

3.4 CINErella Die Darstellung über eine interaktive WWW-Seite stellt eine Erweiterung der Interakti-onsmöglichkeiten dar. Die Darstellung als Film erweitert — im Vergleich zum statischen Ausdruck — die Konstruktion um die Zeit-Dimension.

Abb. 5: Einordnung von CINErella

In Abb. 5 sind diese Beziehungen schema-tisch dargestellt. Zusätzlich ist in der Grafik die neue Cinderella-Erweiterung CINErella eingeordnet, die die Vorteile der Interaktion und des automatischen Abspielens miteinan-der verbinden soll. Mit CINErella kann die gesamte Interaktion mit der DGS "mitgeschnitten" werden. Dabei werden allerdings keine Bildschirmfotos auf-gezeichnet, sondern die abstrakt (im Koordi-natensystem der DGS) dargestellten Bewe-gungen und Aktionen der Maus. Diese kön-nen dann wieder abgespielt werden, so dass der Bewegungsablauf reproduziert wird. Als erster Vorteil gegenüber dem Mitschnitt ge-genüber der in 3.3 dargestellten Methode lässt sich festhalten, dass die Speicherung wesentlich kompakter ist als wenn für jedes

Experimentieren und Publizieren

125

Einzelbild ein aus Pixeln zusammengesetz-tes Bild gespeichert wird. In nur wenigen Ki-lobyte kann eine lange Sequenz gespeichert und — wichtiger! — übertragen werden. Da-durch ist das CINErella-Verfahren gerade für Internet-basierte Lehr-/Lernumgebungen her-vorragend geeignet. Die Speicherung als Folge von Manipulatio-nen einer Konstruktion ist aber auch aus wei-teren Gründen sinnvoll. Mit Bilddaten wäre es nicht möglich, in einen Film "einzugreifen" und die aktuell vorhandene Konstruktion ei-genhändig mit der Maus zu manipulieren. Mit CINErella kann man diese Funktionalität leicht zur Verfügung stellen. Damit sind inter-aktive Tutorials machbar, die die Lernenden mit einbeziehen und ihnen Hilfestellungen geben sowie Vorgaben machen. So kann beispielsweise die Konstruktion der Mittel-senkrechten z.T. vorgeführt werden (zwei Kreise werden eingefügt); und diese Kon-struktion soll dann durch das Einzeichnen der Mittelsenkrechten vervollständigt werden. Da sich diese Beispiele nicht in einem ge-druckten Artikel wiedergeben lassen, stehen sie unter http://cinderella.de/cinerella bereit. Zusätzlich zu den Konstruktionsdaten kann auch eine Tonspur angelegt werden, die dann synchron abgespielt wird. Wird keine Tonspur mitgeschrieben, so werden Leerlauf-zeiten automatisch gekürzt, außerdem kön-nen die Dateien auch mit höherer Geschwin-digkeit abgespielt werden (fast forward). Ein Nachteil muss allerdings auch verzeich-net werden: Mit CINErella gespeicherte Se-quenzen können nicht einfach rückwärts ge-spielt werden; diese Navigation muss auf-wändig neu gerechnet werden, denn aus ei-ner Folge von Maus-Aktionen kann zwar der Zustand einer Konstruktion nach dem Aus-führen dieser Aktionen berechnet werden, aber es ist nicht ohne weiteres möglich, aus einer Aktion den Zustand vor deren Durch-führen zu berechnen. Wenn zum Beispiel ei-ne gespeicherte Aktion "bewege Maus mit gedrückter Taste von (x0,y0) nach (x1,y1)" lau-tet, und bei (x1,y1) befindet sich nach dieser Aktion ein Punkt, so kann nicht entschieden werden, ob dieser durch diese Aktion von (x0,y0) nach (x1,y1) verschoben wurde oder ob er sich bereits vorher bei (x1,y1) befand. Es ist ebenfalls nicht möglich, nach dem Ein-griff des Benutzers einen begonnenen CINE-rella-Film weiter abzuspielen, da es dabei zu verwirrenden Inkonsistenzen kommen könn-te. Es ist nicht klar, ob an dieser Stelle das Beweissystem von Cinderella helfen könnte, um in eindeutigen Fällen doch nach einer Unterbrechung fortsetzen zu können.

3.5 Elektronische Lerntagebücher Alle in den vorigen Abschnitten vorgestellten Dokumentationsmöglichkeiten eignen sich für die Erstellung von Lerntagebüchern. Wenn es möglich ist, elektronische Lerntagebücher — also zum Beispiel WWW-Seiten — her-stellen zu lassen, dann kann die CINErella-Erweiterung neue Impulse liefern. Die Schü-lerinnen und Schüler können "vormachen", was sie meinen, und den Film in ihre Doku-mentation übernehmen. Es muss aber beachtet werden, dass diese einfache Art der Dokumentation nur dort an-gewandt wird, wo es darum geht, sonst nicht anders zu beschreibende Sachverhalte dar-zustellen. Diese Erleichterung darf nicht dazu missbraucht werden, das Denken zu vermei-den und die Formulierung in Sätzen zu er-setzen. Schülerinnen und Schülern, deren Tagebuch aus Textbrocken wie "und dann habe ich so gemacht, und dann das, und dann noch dieses" besteht, fehlt die Schu-lung ihrer Kommunikations- und damit Struk-turierungsfähigkeiten.

4 Zusammenfassung und Aussichten

In diesem Artikel wurden zwei Lücken identi-fiziert, die seit über einem Jahrzehnt von kei-ner DGS gefüllt werden konnten. Die Ent-wicklung eines planimetrischen Program-miersystem wurde bereits 1991 gefordert, erste Schritte in diese Richtung haben wir hier beschrieben. Die beschriebenen Erweiterungen waren zum Zeitpunkt der Dillinger Tagung 2003 nur in der Entwicklerversion von Cinderella imp-lementiert. Für 2005 ist die Veröffentlichung von Cinderella.2 angekündigt, in der diese Schnittstellen weiter ausgebaut und verein-heitlicht wurden. Im Projekt Visage (G6) des DFG-Forschungszentrum Matheon wurden zudem Unterrichtsmaterialien für den compu-tergestützten Unterricht zur Diskreten Ma-thematik entwickelt, die derzeit evaluiert wer-den. Diese basieren auf den Erfahrungen mit dem hier beschriebenen Prototypen. Unter anderem kann Cinderella.2 nun in der Skriptsprache Python erweitert werden; da-mit ergeben sich weitere Anwendungsmög-lichkeiten auch im Informatik-Unterricht. Auf der GDM-Tagung 2005 haben Schu-mann und Knapp vorgestellt, wie Instrukti-onsvideos für die Einführung in DGS ver-wendet werden können. Hier bietet es sich an, die Neuerungen von CINErella zu ver-

Ulrich Kortenkamp

126

wenden, um von der narrativen Präsentation zur interaktiven Rezeption zu gelangen. Die Umkehrung der Abspielrichtung von CI-NErella-Videos ist eine wünschenswerte Er-gänzung. Hier sollte erforscht werden, ob dies effizient möglich ist, und welche zusätzli-chen Daten hierfür gespeichert werden müssten. So genannte keyframes, also die Abspeicherung der Gesamtsituation in fest-gelegten (kurzen) Zeitintervallen, wären eine Möglichkeit, das Problem zu lösen. Zuguterletzt soll auf die neuen Möglichkeiten in der empirischen Unterrichtsforschung ein-gegangen werden. Die mit CINErella mitge-schnittenen Sequenzen liegen nämlich in ei-ner statistisch auswertbaren Form vor. Das kompakte Datenformat lässt es zu, die Arbeit aller Schülerinnen und Schüler einer Klasse über mehrere Schulstunden hinweg auf dem Rechner zu speichern. Diese Dateien werden mit einem Zeitcode versehen, so dass die In-teraktionen mit zusätzlichen Videoaufnah-men synchronisiert werden können. Diese elektronischen Transkripte sind nicht nur leichter handhab- und herstellbar, sondern sie sind auch statistischen Methoden zu-gänglich, so dass auffällige oder besonders interessante Verhaltensmuster schnell aufge-funden werden können. Zudem können Kon-struktionen, die im Unterricht durchgeführt wurden, sofort "benutzt" werden, z.B., um sie auf Korrektheit zu prüfen (diese ist aus einem Video allein nicht immer leicht zu erkennen). Basierend auf diesen Neuvorstellungen sol-len jetzt konkrete Unterrichtserfahrungen ge-sammelt werden.

Literatur Bodendiek, Rainer (1973): Ecken, Wege, Bäume,

Zahlen: Graphentheorie in der Schule. Frei-burg: Herder

Elschenbroich, Hans-Jürgen, Thomas Gawlick & Hans-Wolfgang Henn (2001): Mathematische und didaktische Aspekte Dynamischer Geo-metrie-Software. Hildesheim & Berlin: Franz-becker

Gao, Xiao-Shao (2004): MMP/Geometer — A Software Package for Automated Geometry Reasoning. In: F. Winkler (Hrsg.) (2004): Au-tomated Deduction in Geometry 2002. Berlin u.a.: Springer, 44–66

Hohenwarter, Markus (2005): Bidirektionale Ver-bindung von dynamischer Geometrie und Al-gebra in GeoGebra. In diesem Band

Hölzl, Reinhard (1994): Im Zugmodus der Cabri-Geometrie. Weinheim: DSV

Kortenkamp, Ulrich (1999): Foundations of Dyna-mic Geometry. ETH Zürich: Dissertation

Kortenkamp, Ulrich (2001): Decision complexity in dynamic geometry. In: Dongming Wang (Hrsg.) (2001): Proceedings of ADG 2000, Lecture Notes in Artificial Intelligence 2061. Heidelberg u.a.: Springer, 167–172

Kortenkamp, Ulrich (2004): Experimental Mathe-matics and Proofs — What is Secure Mathe-matical Knowledge? In: Zentralblatt für Didak-tik der Mathematik 36, 61–66

Kortenkamp, Ulrich & Jürgen Richter-Gebert (1998): In: Association for the Advancement of Computing in Education (Hrsg.) (1998): Ge-ometry and Education in the Internet Age. Pro-ceedings of ED-MEDIA 98. Charlottesville, VA: AACE, 790–799

Kortenkamp, Ulrich & Jürgen Richter-Gebert (2004): Using Automatic Theorem Proving for Enhancing the User Interface of Geometry Software. In: Paul Libbrecht (Hrsg.) (2004): Proceedings of MathUI 2004, Bialowiecza, Po-len: MKM. http://www.activemath.org/~paul/ MathUI/proceedings/ATP_UI_Cinderella.html

Kultusministerkonferenz (2004): Bildungsstan-dards im Fach Mathematik für den Haupt-schulabschluss (Jahrgangsstufe 9). Beschluss vom 15.10.2004. Bonn. Online unter http://www.kmk.org/schul/Bildungsstandards/ Hauptschule_Mathematik_BS_307KMK.pdf

Oldenburg, Reinhard (2002): Feli-X: Ein Prototyp zur Integration von CAS und DGS. In: Peter Bender et al. (Hrsg.) (2002): Lehr- und Lern-programme für den Mathematikunterricht. Hil-desheim: Franzbecker, 123–132

Oldenburg, Reinhard (2004): Feli-X — ein Compu-teralgebra-gestütztes dynamisches Geometrie-programm. In: Computeralgebra-Rundbrief 34

Oldenburg, Reinhard (2005): GeoGebra: Dynami-sche Geometrie mit etwas Algebra. In: Compu-teralgebra-Rundbrief 36

Richter-Gebert, Jürgen & Ulrich Kortenkamp (2000): Die interaktive Geometrie-Software Cinderella, Schulversion. Stuttgart: Klett Soft-ware-Verlag

Schliep, Alexander & Winfried Hochstättler (2001): Developing Gato and CATBox with Python. Teaching graph algorithms through visualiza-tion and experimentation. In: Jon Borwein, Ma-ria Haydee Morales, Konrad Polthier & Jose Francisco Rodrigues (Hrsg.) (2001): Proceed-ings of MTCM 2000. Heidelberg u.a.: Springer, 291–310

Schumann, Heinz (1991): Schulgeometrisches Konstruieren mit dem Computer. Stuttgart: Metzler & Stuttgart: Teubner (besonders 219f.)

Schumann, Heinz & Olaf Knapp (2005): Instrukti-onsvideos für das Arbeiten mit Computerwerk-zeugen. Erscheint in: Beiträge zum Mathema-tikunterricht 2005. Hildesheim: Franzbecker

Stein, Martin, Uwe-Peter Tietze, Hans-Georg Wie-gand & Thomas Weth (2004): MADIN — eine internetgestützte Lehr-Lernumgebung für das Lehramtsstudium Mathematik http://www.madin.net

127

Überraschende oder unerwartete Ergebnisse stimulieren den Fortgang mathematischen Experimentierens ebenso wie auftretende Widersprüche. Diese Widersprüche können dabei auch nur scheinbare sein.

Abb. 1

Die oben gestellte Aufgabe ist alt, "uralt"; — dennoch hält sie noch immer einige Überra-schungen parat. Dabei nehmen wir der Ein-fachheit halber an, die Erde sei eine (voll-kommene) Kugel und der Äquator sei exakt 40 000 km lang. Die Aufgabe werden wir im Folgenden variieren und dabei auf zum Teil völlig unerwartete Resultate stoßen.

1 Das "konzentrische" Seil

1.1 "Urfassung" der Aufgabe Aufgabe 1: Um den Äquator wird konzentrisch ein Seil gespannt, das 1 m länger ist als der Äquator.

Welchen Abstand a hat das Seil von der Erdoberfläche? (vgl. Abb. 1, 2)

u

u+1

r

a

r

Abb. 2

Zunächst wird man die Schüler schätzen las-sen! Auch Fragen wie "Könnte man ein Blatt Papier, das etwa ein Zehntel Millimeter dick ist, zwischen Seil und Erdoberfläche hin-durchschieben?"oder "Könnte eine Fliege, ei-ne Maus darunter hindurchkriechen?" sollten die Schüler veranlassen, die Aufgabe mit In-teresse in Angriff zu nehmen.

Lösung: Die Schüler müssen lediglich den Zusam-menhang zwischen Radius und Umfang ei-nes Kreises kennen (u = 2πr) sowie einfachs-te Termumformungen beherrschen. lSeil = uÄquator+1 = 2πr+1 Da das Seil selbst auch einen Kreis be-schreibt, nämlich mit dem Radius r+a, gilt ferner lSeil = 2π(r+a),

Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen)

Ingmar Lehmann, Berlin

Wir legen um den Äquator (in Gedanken) ein Seil, das 1 m länger ist als der Äquator.Welchen Abstand hat das Seil von der Erdoberfläche, wenn das Seil konzentrisch ge-spannt wird? — So etwa lautet die "übliche" Fassung dieser Aufgabe.

Mit dieser Aufgabe gelingt es noch immer, Interesse und Aktivität der Schüler zu wecken. Diese Aufgabe werden wir im Folgenden variieren und dabei auf zum Teil unerwartete Resultate stoßen. Obwohl die Ergebnisse nachvollziehbar sind, bleibt ein Unbehagen: "Ich verstehe es, aber glaube es nicht." Mit Hilfe dynamischer Geometriesoftware werden die Resultate erlebbar!

Ingmar Lehmann

128

sodass sich die Gleichung 2πr+1 = 2π(r+a) ergibt. Mit 2πr+1 = 2π(r+a) = 2πr+2πa folgt

unmittelbar 1 = 2πa, also a =π21 .

Da alle Längen in Meter angegeben worden sind, erhalten wir a = 0,1591549430 ... m ≈ 16 cm. Das ist für die Schüler paradox. Das Ergeb-nis ist vom Radius r (der Erde) unabhängig; — und gerade dieser Sachverhalt wider-spricht der Erwartung. Man kann dieses für die Schüler paradoxe Resultat auch folgendermaßen formulieren: Für die Differenz der Umfänge zweier kon-zentrischer Kreise mit den Radien r1 und r2 sowie dem Abstand a gilt u1–u2 = 2πr1–2πr2 = 2π(r2+a)–2πr2 = 2πa, d.h., diese Differenz der Umfänge ist kon-stant, wenn die beiden konzentrischen Kreise nur denselben Abstand voneinander haben.

Das Ergebnis veranlasst Schüler sogar, die ganze Rechnung zu wiederholen, — um den vermeintlichen Fehler zu entdecken! Das ist ein guter Grund, mit dieser Aufgabe in die Thematik "Umfang von Kreisen" zu starten. Walsch (2000) schreibt dazu: "Die Aufgabe ist zwar nicht auf vordergründi-ge Art 'realitätsnah'. Sie trägt aber dazu bei, geometrisches Vorstellungsvermögen zu för-dern, zu kritischer Distanz gegenüber intuiti-ven Urteilen zu erziehen, Einsichten in theo-retische Zusammenhänge zu gewinnen (hier insbesondere die Unabhängigkeit des Ab-standes vom Radius der Kugel zu erkennen), das Arbeiten mit dem 'mathematischen Handwerkszeug' zu üben." Mit dieser Aufgabe gelingt es in jedem Fall, Interesse und Aktivität der Schüler zu we-cken.

1.2 Vier "natürliche" Variationen von Aufgabe 1

Aufgabe 2: Der Abstand des Seils zum Äquator ist gegeben

Um den Äquator wird konzentrisch ein Seil gespannt, das einen Abstand von 1 m von der Erdoberfläche hat. Wie lang ist das Seil?

Lösung: Für die Differenz der Umfänge gilt lSeil–uÄquator = 2π(r+a) – 2πr = 2πa = 2π.

Das Seil wäre dann nur etwas mehr als 6 m länger als der Äquator. Es hätte also die Län-ge lSeil = 2π(r+a) ≈ 40 000 006,28 [m]. Ein Flugzeug umrundet bei konstanter Flug-höhe von 10 000 m einmal die Erde (den Äquator). Wie lang ist die Flugstrecke?

Aufgabe 3: Ein Mensch unterquert am Äquator das Seil

Um den Äquator wird konzentrisch ein Seil gespannt. Um wie viel Meter/Kilometer müss-te man dieses Seil verlängern, damit jeder Mensch aufrecht das (konzentrisch um den Äquator gespannte) Seil unterqueren könn-te?

Lösung: Das ist Aufgabe 2 in anderem Gewand:

lSeil–uÄquator = 2πa bzw. a =π2

ÄquatorSeil ul −.

Das Seil müsste höchstens 16 m länger als der Äquator sein (a ≈ 2,55 m).

Aufgabe 4: Ein Apfel statt der Erde Um einen Apfel (oder eine Münze) wird kon-zentrisch ein Faden gespannt, der um 1 m länger ist als der Apfelumfang (Münzumfang) selbst. Welchen Abstand a hat der Faden vom Apfelrand (vom Münzrand)?

Lösung: (vgl. Abb. 3) Das Ergebnis, dass der Abstand a vom Ra-dius (der Erde, eines Apfels oder eines Tischtennisballs) unabhängig ist, wird auf diese Weise besonders anschaulich bestä-tigt. Der Abstand a hängt lediglich von der gewählten Verlängerung (1 m) des Umfangs

ab: π21

=a ≈ 16 [cm].

Abb. 3

Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen)

129

Verkleinern wir den (Ausgangs-) Kreis weiter, schrumpft der Äquator schließlich zu einem Punkt zusammen; d.h., in diesem Extremfall haben Äquator und Radius die Länge Null. Das Ergebnis bleibt dennoch dasselbe. Jetzt wird die "Verlängerung" (um 1 m) selbst zum (Kreis-) Umfang und dessen Radius der ge-suchte Abstand a.

Aufgabe 5: Zwei Münzen bilden eine "8": 1 € und 1 c

Eine 1-Euro-Münze und eine 1-Cent-Münze werden nebeneinander auf einen Tisch ge-legt. Um beide Münzen wird ein Faden in Form zweier Kreise — wie eine Acht ("8") — gespannt, wobei der Faden um 1 m [zum Ausprobieren evtl. besser 10 cm] länger ist als beide Münzumfänge zusammen. (Durchmesser: 1€: d€ = 25,75 mm; 1c: dc = 16,25 mm) Welchen Abstand hat der Faden vom jeweili-gen Münzrand? (vgl. Abb. 4)

Cent

Euro

k2 Faden

k1 Faden

b

a

rE

rC

MC

ME

Abb. 4

Lösung: Viele Schüler argumentieren richtig, dass jetzt zwei Kreise "mitspielen", also die Ver-längerung um 1 m nicht durch 2π sondern durch 2.2π zu teilen sei, also für den Abstand

gelten muss: a =21 .

π21 =

π41 [m] (≈ 8 cm).

Das ist allerdings nur dann richtig, wenn zu-sätzlich gefordert wird, dass der Faden zu beiden Münzen denselben Abstand haben soll.

Mit 2πr€+2πrc+1 = 2πr€+2πrc+2πa+2πb folgt

unmittelbar a+b =π21 .

Es gibt also unendlich viele Lösungen. Für

a = b erhalten wir a ( = b ) =π41 [m] ≈ 8 [cm].

1.3 Vier "künstliche", aber wir-kungsvolle Variationen von Aufgabe 1

Statt des Äquators (bzw. eines Kreises) wird ein Quadrat gewählt. Dieser Vorschlag geht auf Winter (1991) zurück: "Eine produktive anschauliche Aufklärung besteht darin, die Kreissituation auf eine ana-loge Quadratsituation zu übertragen (Analo-gie des Heurismus!) ..."

Aufgabe 6: Ein Seil um ein Quadrat Um ein Quadrat wird ein Fadenquadrat ge-spannt, das um 1 m länger ist als der gege-bene Quadratumfang. Der Faden wird dabei so gespannt, dass die jeweiligen Quadratsei-ten zueinander parallel sind (vgl. Abb. 5).

s

ss

s

a

a

a

a

Abb. 5

Welchen Abstand a hat der Faden vom Quadratrand? Genauer: Welchen Abstand a haben die jeweiligen zueinander parallelen Quadratseiten?

Lösung: Die Abbildung zeigt deutlich, wie sich die Überhänge des Fadenquadrates, also die Zugabe von 1 m, auf 8 gleich lange Stücke an den 4 Ecken verteilen. Mit 4s+1 = 4s+8a folgt unmittelbar 1 = 8a; al-so muss der Abstand a = 12,5 cm betragen.

Ingmar Lehmann

130

Auch dieser Abstand a zwischen beiden Quadraten ist somit unabhängig von der Sei-tenlänge des Ausgangsquadrates. Das gilt damit auch für ein Quadrat mit der Seiten-länge von 10 000 km. Die Verlängerung um 1 m erzeugt daher auch in diesem — dem Äquator nachemp-fundenen — Beispiel einen Abstand von 12,5 cm. Hier erscheint das Ergebnis "glaub-hafter" als die 16 cm (für das Seil um den Äquator), da man ja "sieht", wo die Verlänge-rung um 1 m bleibt!

Anstelle eines Quadrates kann man auch ein gleichseitiges Dreieck, allgemein ein regel-mäßiges Vieleck, betrachten und nach dem Abstand des Fadens vom Vielecksrand fra-gen.

Aufgabe 7: Ein Seil um ein regelmäßiges n-Eck

Um ein regelmäßiges n-Eck wird ein Faden-n-Eck gespannt, das um 1 m länger ist als der Umfang des gegebenen n-Ecks. Der Faden wird dabei so gespannt, dass die jeweiligen n-Eckseiten zueinander parallel sind (vgl. Abb. 6, 7, 8). Welchen Abstand a hat der Faden vom Rand des Ausgangs-n-Ecks? Genauer: Welchen Abstand a haben die jeweiligen zueinander parallelen n-Eck-Seiten?

Lösung: (im Überblick) Auch für die drei regelmäßigen Vielecke in Abb. 6, 7, 8 ist also der Abstand a zwischen den jeweiligen zueinander parallelen Viel-eckseiten unabhängig von der Seitenlänge des Ausgangsvielecks. Für ein beliebiges regelmäßiges n-Eck gilt mit n·s+1 = n·s+2·n·b dann 1 = 2·n·b; mit

tannπ =

ab folgt damit a =

nn πtan2

1 =nn

2

πcot.

Je größer die Eckenzahl n ist, umso größer wird der Abstand a. Wächst a beliebig? Natürlich kann dieser Abstand a niemals größer werden als der im Falle des Kreises! Der Abstand a liegt im Falle des regelmäßi-gen Sechsecks (14,4 cm) schon relativ nahe an dem Grenzwert, den wir in Aufgabe 1 gewonnen haben (≈16 cm):

a = lim∞→nn

n πtan2

1 =π21

≈16 [cm].

s a

a

s + 2b

b

b

Abb. 6: a ≈ 9,6 cm

s

b

s + 2b

a

a

b

Abb. 7: a ≈ 13,8 cm

s

bs + 2b

aa

b

Abb. 8: a ≈ 14,4 cm

Aufgabe 8: Ein Seil um ein Kreisbogen-dreieck

Um ein Reuleauxsches Dreieck (mit Kreisbö-gen vom Radius r) wird ein Faden gespannt, der um 1 m länger ist als der Umfang des Reuleauxschen Dreiecks selbst. Der Faden wird dabei so gespannt, dass er wieder ein Reuleauxsches Dreieck bildet. Beide Reu-leauxschen Dreiecke sollen "konzentrisch" liegen, d.h., die Schwerpunkte der beiden Trägerdreiecke fallen zusammen und die

Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen)

131

Eckpunkte des zweiten Trägerdreiecks liegen auf den Winkelhalbierenden des ersten Trä-gerdreiecks. (vgl. Abb. 9)

br '

r

r

au + 1

u

Abb. 9

Welchen Abstand a haben die Mittelpunkte der jeweiligen (zueinander ähnlichen) Kreis-bögen der beiden Reuleauxschen Dreiecke? Welchen Abstand b haben die auf einer Win-kelhalbierenden liegenden Eckpunkte der beiden Reuleauxschen Dreiecke?

Lösung: Überraschender Weise ist zunächst der Um-fang eines Reuleauxschen Dreiecks der Di-cke r gerade gleich dem Umfang des Kreises mit dem Durchmesser dieser Dicke des Reu-leauxschen Dreiecks. Das ist der Satz von Emile Barbier (1839–1889): u = πr. Mit πr+1 = π(r+a+b) = πr+π(a+b) folgt unmit-

telbar 1 = π(a +b), also a+b =π1

≈ 32 [cm].

Man kann dann zeigen, dass sich so

a =π3

33 −≈13,5 [cm]; b =

π33

≈ 18,4 [cm] er-

geben. Diese beiden Abstände sind von der "Dicke" r des gegebenen Reuleauxschen Dreiecks unabhängig.

Aufgabe 9: Ein Seil um ein Kreisbogen-viereck

Um ein Quadrat der Seitenlänge s werden vom Mittelpunkt jeder Seite Kreisbögen durch die gegenüber liegenden Eckpunkte geschlagen. Um dieses Kreisbogenviereck wird ein Faden gespannt, der um 1 m länger ist als der Umfang des Kreisbogenvierecks selbst. Der Faden wird dabei so gespannt, dass er wieder ein Kreisbogenviereck bildet. Beide Kreisbogenvierecke sollen so liegen, dass die Mittelpunkte der beiden Trägerquadrate zusammenfallen und die Eckpunkte des zweiten Trägerquadrates auf den Winkelhal-

bierenden des ersten Trägerquadrates lie-gen. (vgl. Abb. 10)

u + 1 u

sb

a r

s '

r 'M

Abb. 10

Welchen Abstand a haben die Mittelpunkte der jeweiligen (zueinander ähnlichen) Kreis-bögen der beiden Kreisbogenquadrate? Wel-chen Abstand b haben die auf einer Winkel-halbierenden liegenden Eckpunkte der bei-den Kreisbogenquadrate?

Lösung: Mit etwas Geduld erhält man auch hier, dass die beiden Abstände a und b von der Seiten-länge s des gegebenen Quadrates unabhän-gig sind: a ≈ 14,9 cm; b ≈ 17,1 cm. Ihre Summe a+b ist damit ebenfalls etwa 32 cm.

1.4 Eine sportliche und fünf physikalische Variationen von Aufgabe 1

Statt des Seils, das im Abstand von 1 m von der Erdoberfläche um den Äquator gespannt wird, findet man in der Literatur auch die Ver-sion, ein Eisenbahngleis um den Äquator zu verlegen. Dass es sich hierbei erst recht um ein Gedankenexperiment handelt, sei noch einmal hervorgehoben.

Aufgabe 10: Per D-Zug um den Äquator — ein "fragwürdiges" Eisen-bahngleis

Ein Eisenbahngleis, das rund um den Äqua-tor führt und komplett in der Äquatorebene liegen möge, verlaufe mit der inneren Schie-ne direkt auf dem Äquator, die äußere Schiene liege in der Luft. Um wie viel Meter wäre die äußere Schiene länger als die innere Schiene? (vgl. Abb. 11) (a = Gleisbreite = Spurweite = 1,46 m)

Ingmar Lehmann

132

Abb. 11

Lösung: Die Lösung folgt dem Muster in Aufgabe 2. Statt der Länge von etwa 6,30 m, die sich dort als Differenz bei 1 m Abstand ergab, er-halten wir in diesem Fall läußereSch–linnereSch = 2πa ≈ 9,17 [m]. Dagegen erhalten wir ein ganz anderes Re-sultat, wenn das ganze Gleis auf der Erde verlegt wird, d.h. die eine Schiene auf dem Äquator, die andere auf einem (parallelen) Breitenkreis zum Äquator liegt (Aufgabe 15). Aufgabe 10 lässt sich auch so formulieren, dass überhaupt kein Seil mehr (oder Gleis) in Erscheinung tritt:

Aufgabe 11: Einmal zu Fuß um den Äqua-tor

Ein Mensch, der (a =) 1,80 m groß ist, laufe (in Gedanken) einmal längs des Äquators um die Erde. Dabei ist der Weg des Kopfes län-ger als der der Füße. Um wie viel ist der "Kopfweg" länger?

Lösung: lKopfweg–lFußweg = 2πa ≈ 11,31 [m]. Alternativ bietet sich auch an, den größten und kleinsten Schüler auszuwählen, und zu fragen, wessen Differenz zwischen Kopf- und Fußweg größer (kleiner) ist. Der Extremfall, dass die Füße an einer Ach-se (z. B. einer Reckstange) "drehbar befes-tigt" sind und der gestreckte Körper eine voll-ständige Drehung um diese Achse vollführt, liefert diesen Wert für die Wegdifferenz zwi-schen Kopf und Füßen unmittelbar; der "Äquator", d.h. der Weg der Füße, schrumpft auf Null. Der Felgumschwung wäre besser geeignet, allerdings würden dann die Hände die Rolle der Füße übernehmen, während diese die Rolle des Kopfes spielen würden. (vgl. Abb. 12)

Abb. 12

Aufgabe 12: Ein "kaltes" Drahtseil um den Äquator

Diesmal legen wir einen Draht, ein Stahlseil, straff um den Äquator. Wie tief schneidet sich der Draht (konzen-trisch) in die Erde hinein, wenn der Draht um 1°C (oder 1°K) abgekühlt wird und wir an-nehmen, dass der Draht dabei nicht reißt und auch nicht mechanisch beeinflusst wird?

Lösung: Die Längenänderung ∆l hängt von der ur-sprünglichen Länge l, der Temperaturdiffe-renz ∆t und dem linearen Ausdehnungskoef-

fizienten α ab (αStahl = 0,000013 [K1

°]):

∆l = α·l·∆t. Damit erhalten wir bei Abkühlung um ∆t (°C) die neue Länge l–∆l = l–α·l·∆t = l(1–α·∆t). In unserem Fall ergibt sich dann ∆l = lÄquator–lDraht = α·lÄquator·∆t ≈ 520 m. Für die Differenz aus ursprünglicher und ab-gekühlter Drahtlänge erhalten wir ferner ∆l = 2πr–2π(r–a) = 2πa. Der Draht schneidet sich mit einer Tiefe von knapp 83 m in die Erdoberfläche hinein.

Aufgabe 13: Ein "heißes" Drahtseil um den Äquator

Wir legen wieder einen Draht (Stahlseil) straff um den Äquator. Um wie viel Grad müsste dieser Draht erwärmt werden, damit er genau 1 m länger als der Äquator wird? Oder anders gefragt: Um wie viel Grad müsste ein solcher konzen-trisch gespannter Draht erwärmt werden, damit er überall denselben Abstand vom Äquator hätte wie das Seil aus der "Urfas-sung" der Aufgabe (a ≈ 16 cm)?

Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen)

133

Lösung: Mit lÄquator+1 = lÄquator+lÄquator·α·∆t erhalten wir ∆t ≈ 0,002°C. Es genügt also eine winzige Temperatur-erhöhung von etwa 0,002°C, um diesen Ab-stand von etwa 16 cm herzustellen.

Aufgabe 14: Per D-Zug um den Äquator — ein "gewagtes" Eisenbahn-gleis

Ein Eisenbahngleis wird entlang des Äqua-tors verlegt. Eine Schiene folgt exakt dem Äquator ("Äquatorschiene"), die dazu paralle-le Schiene soll ganz auf der Erde verlegt werden, also auf einem (parallelen) Breiten-kreis zum Äquator ("Parallelschiene"). Die Äquatorschiene sei genau 1 m länger als die Parallelschiene. (vgl. Abb. 13) Wie groß ist der Gleisabstand a? Oder anders gefragt: Auf welchem Breiten-kreis verläuft die Parallelschiene?

α/2α

b

r

r

a/2

h

r '

a

C

M'

A

B

M

Abb. 13

Lösung:

a =πr

≈ 1423,5 [m]. Die Spurweite wäre al-

so "gigantisch", nämlich fast 1½ km.

Aufgabe 15: Per D-Zug um den Äquator – ein normales Eisenbahngleis

Ein Eisenbahngleis wird entlang des Äqua-tors verlegt. Eine Schiene folgt exakt dem Äquator ("Äquatorschiene"), die dazu paralle-le Schiene soll ganz auf der Erde verlegt werden, also auf einem (parallelen) Breiten-kreis zum Äquator ("Parallelschiene"). Um wie viel Meter wäre die Äquatorschiene eines solchen Gleises, das rund um den Äquator führt, länger als die zugehörige Pa-rallelschiene, wenn angenommen wird, dass die Parallelschiene ganz auf der Erde verlegt

wird, also auf einem Parallelkreis zum Äqua-tor? (a = Gleisbreite = Spurweite = 1,46 m)

Lösung: Die Spurweite a können wir wegen des sehr kleinen Winkels α mit dem Bogen b identifi-zieren. Ein erwartetes — oder wohl eher unerwarte-tes Resultat: die Schienen unterscheiden sich in ihrer Länge nicht! Der Taschenrech-ner zeigt ∆l = 0 an; die Grenze der Genauig-keit ist hier erreicht. Selbst per Computer-Algebra-System wird erst bei 25- bzw. 30-stelliger Anzeige ein von Null verschiedener Wert ermittelt. Der TI-92 liefert ∆l = 1,2 µm.

2 Das hochgezogene Seil

2.1 Die "aufgehängte" Erdkugel Aufgabe 16: Das Seil wird – wie in Aufgabe 1 – um 1 m verlängert. Aber jetzt soll es nicht konzen-trisch liegen, sondern so gezogen werden, dass es an einer Stelle maximalen Abstand von der Erdoberfläche besitzt. (vgl. Abb. 14) Wie weit lässt sich das Seil hochziehen?

b

α

xy

r

SQ

T

R

M

Abb. 14

Das Ergebnis ist scheinbar (wieder) paradox! Hatten die Schüler in Aufgabe 1 zunächst wohl eher erwartet, das Seil lasse bei 1 m Verlängerung und konzentrischer Spannung kaum Spielraum für eine Maus zum Hin-durchkriechen, so liefert dieselbe Verlänge-rung um 1 m, jetzt aber tangentialer "Aufhän-gung" der Erde im Seil, ein wieder ganz un-erwartetes Resultat: fast 122 m (Meter!).

Ingmar Lehmann

134

Lösung:

Die Gleichung b =°⋅⋅

3602 απ r = r·tanα–0,5 lässt

sich nicht geschlossen lösen. Man kann sie aber numerisch lösen. Mit einem Computer-Algebra-System ist das kein Problem (DERIVE: α = 0,3538811189°). Der TI-92 lie-fert α = 0,353881176881° als Lösung. Auch sinnvolles Probieren (mittels TR) führt uns zur Lösung dieser Gleichung (mit r = 6 366 198 m als Erdradius). Für α = 0,354°

stimmen die Terme °⋅⋅

3602 απ r und r·tanα– 0,5

dann bereits in 8 Ziffern überein. Das Seil liegt somit knappe (y =) 40 km nach jeder Seite in der Luft, ehe es sich an den Äquator anschmiegt. Für die gesuchte Höhe

x = r·( α21 tan+ –1) = r·(αcos

1 –1) finden wir

so die bereits angebene Weite (121,5 m). Jetzt ist das Ergebnis also vom Radius r (und vom Winkel α) abhängig! Dieses Resultat ist vielleicht auch deshalb erstaunlich, weil man intuitiv annimmt, dass bei einem solchen Erdumfang (von 40 000 km) ein zusätzlicher Meter quasi "verschwin-den" müsste. Aber das ist der Irrtum! Je grö-ßer nämlich die Kugel ist, desto weiter kann das Seil weggezogen werden. Gawlick (2001) hebt hervor, dass sich die Aufgabe als exemplarisches Beispiel zum re-flektierten Umgang mit einem Computer-Algebra-System eignet. Kirsch (2002) betont, dass der Fehler des zur Seilverlängerung 1 m gefundenen Abstandes von 121,50 m

weniger als 641 von 0,041% beträgt, und das

ist jedenfalls weniger als 1 mm!

2.2 Sieben Variationen des hochgezogenen Seils

Wie in Aufgabe 4 wird statt der Erde ein Ap-fel, ein Tischtennisball oder sogar nur eine Scheibe, etwa eine Euro-Cent-Münze, ge-wählt.

Aufgabe 17: Die "aufgehängte" Cent-Mün-ze

Ein Faden wird um eine Euro-Cent-Münze gelegt (Durchmesser 16,25 mm), um 1 m verlängert und so gezogen, dass er an einer Stelle maximalen Abstand vom Münzrand besitzt. Wie weit lässt sich der Faden hochziehen?

Lösung: Das Ergebnis ist diesmal nicht unerwartet: Mit α ≈ 89,092° ergibt sich x ≈ 504,6 mm. Das ist fast das Ergebnis des Extremfalles, in dem der Radius des Kreises auf Null schrumpft (x = 0,5 m).

Anschauung und Erfahrung helfen im Falle der Aufgabe 16 (der "aufgehängten" Erdku-gel) i.Allg. gar nicht weiter; sie stehen einer Lösung eher im Wege. Im täglichen Leben abstrahieren wir von der Erdkrümmung; wir sehen die Umgebung als eben an. Schwier (1997) hat gezeigt, wie man sich dennoch dieser unerwarteten Lösung (x ≈ 122 m) nähern kann, indem zuvor eine ent-sprechende Betrachtung in der Ebene ange-stellt wird: (vgl. Abb. 15)

x

l2

+ 0,5l2

+ 0,5

l2

l2

C

MA B

Abb. 15

Das Seil der Länge l liege straff gespannt zwischen den Punkten A und B. Wird das Seil jetzt um 1 m verlängert und in der Mitte maximal nach oben gezogen, lässt sich die-ser Abstand x leicht berechnen. Ein fast 20 km langes Seil lässt sich bereits fast 100 m in der Mitte anheben! (Dabei wird natürlich vernachlässigt, dass sich das Seil bei zu großer Länge kaum noch geradlinig spannen ließe.)

Aufgabe 18: Das "aufgehängte" Quadrat

y y x

s = u 4

s2

=u8

s = u4

T

RQ S

A B

Abb. 16

Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen)

135

Um ein Quadrat (Umfang u = 40 000 km) wird ein Seil gespannt, das um 1 m länger ist als der Quadratumfang selbst. Das Seil wird dabei so gespannt, dass es über der Mitte einer Quadratseite maximal weggezogen wird. (vgl. Abb. 16) Welchen Abstand x hat das Seil in diesem Punkt vom Quadratrand?

Lösung: Mit lSeil = uQuadrat+1 = 4s+1 = 3s+2y folgt

y =2

1+s und x =2

12 +s (Pythagoras).

Mit s = 10 000 km (u = 40 000 km) erhebt sich damit das Seil in die "schwindelerregen-de" Höhe von x ≈ 2 236 m.

Aufgabe 19: Das "aufgehängte", aber ge-kippte Quadrat

Um ein Quadrat (Umfang u = 40 000 km) wird ein Seil gespannt, das um 1 m länger ist als der Quadratumfang selbst. Das Seil wird dabei so gespannt, dass es entlang einer Di-agonalenrichtung (des Quadrates) maximal weggezogen wird. Wie weit lässt sich das Seil hochziehen? M.a.W.: Welchen Abstand x hat das Seil in diesem Punkt vom nächstgelegenen Eck-punkt des Quadrates? (vgl. Abb. 17)

α

ββ

α

s s

x

y y

E

CAM

B

D

Abb. 17

Lösung: Im Unterschied zu Aufgabe 18 "hängt" in die-sem Fall das Quadrat in einer stabilen Lage:

x = –22 s+

21 142 2 ++ ss ≈ 71 cm. Wieder

eine Überraschung! Nachdem wir jetzt, d.h. nach den vorangehenden Varianten, eher wieder mit einer langen Strecke "gerechnet" hätten, ist sie in Wirklichkeit sehr kurz.

Aufgabe 20: Das "aufgehängte" Gleich-dick — Spitze nach unten

Um ein Reuleauxsches Dreieck (mit Kreisbö-gen vom Radius r) wird ein Seil gespannt, das um 1 m länger ist als der Umfang des Reuleauxschen Dreiecks selbst. Das Seil wird dabei so nach oben gezogen, dass das Reuleauxsche Dreieck mit einer Ecke nach unten im Seil "aufgehängt" wird. (vgl. Abb. 18, 19)

b b

yxy

Nc

A B

C

D

Abb. 18

b

c

b

y x y

r

cTB

D

Nc

A B

C

TA

Abb. 19

Ingmar Lehmann

136

Wie weit lässt sich das Seil hochziehen?

Lösung: Wenn das Reuleauxsche Dreieck einen Um-fang von 40 000 km hat, ist x ≈ 153 m (Fall 2 in Abb. 19). Fall 1 in Abb. 18 kann dann nicht eintreten.

Aufgabe 21: Das "aufgehängte" Gleich-dick — Spitze nach oben

Diesmal wird das Seil so nach oben gezo-gen, dass das Reuleauxsche Dreieck mit ei-nem Kreisbogen nach unten im Seil "aufge-hängt" wird. (vgl. Abb. 20) Wie weit lässt sich das Seil hochziehen?

b'

zz

b

y y

x

Ta

D

C

A B

Tb

Abb. 20

Lösung: Wenn das Reuleauxsche Dreieck einen Um-fang von 40 000 km hat, ist x ≈ 89 cm.

Aufgabe 22: Das "aufgehängte" Kreisbo-genquadrat

Um ein Kreisbogenquadrat (Quadrat der Sei-tenlänge s) wird ein Seil gespannt, das um 1 m länger ist als der Umfang des Kreisbo-genvierecks selbst. Das Seil wird dabei über dem Mittelpunkt eines Kreisbogens nach oben gezogen, sodass das Kreisbogenquad-rat im Seil "aufgehängt" wird. (vgl. Abb. 21, 22) Wie weit lässt sich das Seil hochziehen?

Lösung: Wenn das Kreisbogenquadrat einen Umfang von 40 000 km hat, ist x ≈ 145 m (Fall 2 in Abb. 22). Fall 1 in Abb. 21 kann dann nicht eintreten.

x

F

D C

A B

E

Abb. 21

xTC

E

F

Ms

D C

A B

TD

Abb. 22

Aufgabe 23: Das "aufgehängte", aber ge-kippte Kreisbogenquadrat

Diesmal wird das Seil so nach oben gezo-gen, dass das Kreisbogenquadrat mit einer Ecke nach unten im Seil "aufgehängt" wird. (vgl. Abb. 23, 24) Wie weit lässt sich das Seil hochziehen?

Lösung: Der Fall 1 (EA, EC sind keine Tangenten) be-reitet keine Probleme (Abb. 23). Wenn das Kreisbogenquadrat jedoch einen Umfang von 40 000 km haben soll, kommt nur Fall 2 (Abb. 24) in Frage. Dieses Problem ist offen!

Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen)

137

cc

s s

y

x

y

E

B

C

D

A

Abb. 23

d

cc

s s

r

y

x

r

y

d

TB

E

B

C

D

A

GF

TA

Abb. 24

3 Dynamische Geometrie-software und die Äquator-Seil-Aufgabe

Wir setzen im Folgenden den Zugmodus ein, über den jede dynamische Geometriesoft-ware (DGS) verfügt. Der Zugmodus gestattet

es, an einem (unabhängigen) Punkt in einer Konstruktion beliebig ziehen zu können, oh-ne dadurch die geometrischen Beziehungen zwischen den konstruierten Objekten zu ver-ändern. So bleibt also die Mittelsenkrechte einer Strecke AB stets ihre Mittelsenkrechte, auch wenn diese Strecke durch Ziehen an einem der beiden Endpunkte vergrößert, verkleinert bzw. verlagert wird. Die Schüler können un-mittelbar beobachten, verfolgen, was mit der konstruierten Figur passiert, wenn sie an die-sem oder jenem Punkt ziehen. Was ändert sich, was bleibt erhalten? Es ist gerade der Zugmodus, der die Schüler reizt, etwas selbst auszuprobieren. Wie lässt sich nun diese Dynamik solcher Geometriesoftware für unsere Zwecke nut-zen?

3.1 Ein Seil um einen Kreis Wie lässt sich die Situation, die Abb. 2 wie-dergibt, dynamisch visualisieren? Vorab aber eine Anmerkung: Die Größenverhältnisse 40 000 km auf der einen Seite und 1 m auf der anderen Seite lassen sich natürlich am Bildschirm nicht nachvollziehen. Für eine aussagekräftige Zeichnung verlän-gern wir deshalb den Umfang u besser um eine Länge v, die im Größenbereich von r liegt. Jetzt können wir zeigen, wie die Konstanz des Abstandes zwischen den beiden Kreisen erlebbar wird. (vgl. Abb. 25 — "in Aktion") Durch Ziehen am ("oberen") Punkt A vergrö-ßern oder verkleinern wir den Radius r. Die Änderungen werden unmittelbar ange-zeigt (per Messbefehl). Der Abstand a bleibt konstant. Dass es sich hierbei aber nicht um eine fest eingegebene Länge handelt, wird deutlich, wenn nun auch die Verlängerung v verändert wird (Ziehen am Punkt Q). Der entscheidende Punkt ist die Konstruktion des (Seil-) Kreises mit dem Umfang u+v. Mit Hilfe des in die DGS integrierten Rechners

ermitteln wir den zugehörigen Radius π2

vu +

(= r+a) und nutzen den Befehl "Kreis aus Mit-telpunkt und Radius". Die Schüler können hier die Konstruktion be-liebig verändern; das "paradoxe" Resultat wird immer wieder aufs Neue bestätigt.

Ingmar Lehmann

138

u + v

u

r

v

a

r + a

r

a = 1,43 cm

u+v = 40,42 cmu+v2⋅π

= 6,43 cm

u = 31,42 cm

v = 9,00 cm

Fadenkreis: Umfang:

Radius: Abstand:

Ausgangskreis: Radius:

Umfang:

Verlängerung:

r = 5,00 cm

C

A

M A

M

P Q

D

B

Abb. 25

Für den Fall r = 0 versagt das Programm, da der äußere Kreis in Abhängigkeit vom inne-ren Kreis konstruiert worden ist.

sv

a a

a

a

s

s

s

s

a = 1,25 cm

u+v( )4

= 11,25 cm

u+v = 45,01 cm

u = 40,00 cm

v = 5,00 cm

s = 10,00 cmAusgangsquadrat: Seite:

Umfang:

Verlängerung:

Fadenquadrat: Umfang:

Seite: Abstand:

Abb. 26

3.2 Ein Seil um ein Quadrat Analog zeigen wir die Konstanz des Abstan-des zwischen den beiden Quadraten. (vgl. Abb. 5, 26)

Hier muss zunächst die Seite 4

vu + (= s+2a)

des Fadenquadrates konstruiert werden. Wenn wir dann die gegebene Seitenlänge s des Ausgangsquadrates verändern, bleibt der Abstand a zwischen beiden Quadraten unverändert; anschließend variieren wir die Verlängerung v (des Umfangs u).

3.3 Das hochgezogene Seil Um diese Aufgabe "dynamisieren" zu können (vgl. Abb. 14), stützen wir uns auf die Nähe-rungsberechnung des Winkels α.

Mit α ≈ 323r

können wir (allerdings nur für

kleine α – hier ist der "Haken") dann die Hö-

he x [= r · (αcos

1 – 1)] berechnen. Damit

sind wir in der Lage, die Punkte T und S (Thales) zu konstruieren. (vgl. Abb. 27) Eine andere Möglichkeit der Konstruktion bietet sich über die Sehne RS. Das Dilemma, für den am Bildschirm benötigten Winkel α (zwischen 20° und 70°) keine einfache Nähe-rungslösung zu besitzen, lässt sich aber auch damit nicht beheben. Immerhin lassen sich aber bestimmte Zu-sammenhänge zwischen den gegebenen Größen r und v sowie den abhängigen Grö-ßen α, b, y und schließlich x demonstrieren. Insbesondere lässt sich auch die "Grenzlage" mit α ≈ 90° simulieren: Ausgangskreis: Radius r = 5,90 cm

Umfang u = 37,07 cm Verlängerung v = 15,24 cm

Faden: Länge: u+v = 52,31 cm Winkel: α = 89,99°

Abstand: x = 32 459,15 cm ≈ 325 m (!) Vielleicht "glauben" wir jetzt auch an die fast 122 m im Falle des Äquatorseils?!

Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen)

139

Nachtrag Das in Aufgabe 23 (das "aufgehängte", aber gekippte Kreisbogenquadrat) gestellte Pro-blem (Fall 2) konnte inzwischen von Herrn Dr. Thomas Gawlick mit Methoden der analy-tischen Geometrie gelöst werden: Der Punkt G in Abb. 24 wird in den Koordinaten-ursprung gelegt. (s. Abb. 28) Dabei wird insbesondere deutlich, wie die heuristische Lösungsfunktion eines DGS da-zu verwendet werden kann, einen plausiblen algebraischen Schluss streng abzusichern.

10

8

6

4

2

-2

-5

d

bs

s

r

x

y

r

s/2

F C

TB

TA

A

B

E

D

G

Abb. 28

Literatur Gawlick, Thomas (2001): Die aufgehäng-

te Erdkugel als Aufhänger. In: Praxis der Mathematik 43, 241–243

Kirsch, Arnold (2002): Die aufgehängte Erdkugel — mehr Durchblick mit Nä-herungsrechnung? In: Praxis der Ma-thematik 44, 82–83

Schwier, Manfred (1997): Paradoxien und ihre didaktische Funktion. In: Ma-thematik in der Schule 35, Heft 1, 30–40

Walsch, Werner (2000): Die aufgehängte Erdkugel und andere praxisferne An-wendungsaufgaben. In: Mathe-matische Unterrichtspraxis 21, Heft 1, 31–35

Winter, Heinrich (1991): Entdeckendes Lernen. Wiesbaden & Braunschweig: Vieweg

b

α

r

v

r

xy

r

2,40 cm

43,62°

u+v = 41,42 cm

u = 39,57 cm

v = 1,85 cm

Faden: Länge:

Winkel: α ≈ ( 3v2r

)

13 =

(für kleine α ; hier schon verletzt!)

Tang.Absch.: y = b + v2

Abstand: x = r ⋅ (1

cos α - 1) =

Ausgangskreis: Radius:

Umfang:

Verlängerung:

r = 6,30 cm

SQ

T

R

A

M A

M

P Q

Abb. 27

140

1 Vorbemerkung

Die meisten beruflichen Gymnasien in Ba-den-Württemberg verwenden seit einigen Jahren Computeralgebrasysteme im Unter-richt und im Abitur, an meiner Schule wird nach dem TI-89, 92 und 92+ nun der TI-

Voyage 200 eingesetzt. Unterricht in Compu-tertechnik spielt ebenfalls eine größere Rolle als am allgemeinbildenden Gymnasium in BW. Meine Schule ist deshalb recht gut mit Computerräumen ausgestattet. Das hier vor-gestellte Projekt ist erst durch diese Umstän-de möglich geworden.

Von Primzahlen zur Verschlüsselung mit RSA — Eine Unterrichtseinheit im WWW für eine 11. Klasse

Carsten Münchenbach, Emmendingen

In den letzten Jahren wurden zahlreiche Lehr- und Lernportale im Internet erstellt, in de-nen Wissen und Informationen aufbereitet werden. Ich habe im Rahmen meiner zweiten Staatsexamensarbeit 1999 versucht, eine komplette Unterrichtseinheit zum Thema Kryp-tographie für die interaktive Verwendung im WWW umzusetzen. Das Ergebnis ist seit damals online und wird von Lehrern, Schülern, Studenten und mathematisch interessier-ten Menschen genutzt.

Abb. 1: Der Zeitplan der Unterrichtseinheit mit Themenübersicht

Von Primzahlen zur Verschlüsselung mit RSA — Eine Unterrichtseinheit im WWW

141

2 Die Staatsexamensarbeit

Die über 2000 Jahre alte Kunst der Krypto-graphie (Geheimschrift) und Kryptoanalyse (Analyse von Geheimschriften) faszinierte die Menschen schon immer, die Bedeutung der Geheimhaltung ist aber heute so groß wie nie in der Menschheitsgeschichte zuvor. Wa-ren früher nur Feldherren und Kaiser auf si-chere Kommunikation angewiesen, wird "Ot-to Normalverbraucher" heute von PIN, TAN, Passwörtern beim E-Mailen oder allgemein am Computer, abhörsicheren verschlüsselten Handy-Telefonaten, Pay-TV-Karten, usw. auf Schritt und Tritt von Verschlüsselungsverfah-ren verfolgt, oft ohne dass er es merkt. Das Ziel meiner Staatsexamensarbeit war, den Schülern mit einem public-key-Verfah-ren, dem RSA-Verfahren, eine Anwendung der reinen Mathematik zu vermitteln. Das RSA-Verfahren ist ein Verschlüsselungsver-fahren, das bei sorgsamer Wahl der Schlüs-selgröße auch heute mit genügend leis-

tungsstarken Rechnern nicht geknackt wer-den kann. Das Verfahren beruht auf wenigen Sätzen der Zahlentheorie (Satz von Euler, Kleiner Satz von Fermat), die relativ einfach zu verstehen sind, der Tatsache, dass die Faktorisierung von Zahlen mit zunehmender Größe immer schwieriger wird, und auf dem Rechnen mit Restklassen. Eingebettet wurde das Ganze in Historisches zur Zahlentheorie, Betrachtungen zu Prim-zahlen, Kongruenzrechnung und Faktorisie-rung (s.a. Abb. 1). So entstand eine Unter-richtseinheit über sechs Doppelstunden. Die gesamte Unterrichtseinheit wurde als Lernprogramm in Form einer Webseite zu-sammengefasst, die den Schülern im Unter-richt zum Arbeiten, Wiederholen, Stöbern und Suchen von Hintergrundinformationen zur Verfügung stand. Die Arbeitsaufträge zum selbständigen Arbei-ten mit dem CAS wurden den Schülern in Form von MuPAD-Worksheets übergeben, in einer überarbeiteten Version habe ich diese

Abb. 2: Das Sieb des Eratosthenes, interaktiv mit Hilfe von JavaScript

Carsten Münchenbach

142

auch als .9xp-Dateien für den TI-Voyage oder 92+ gespeichert.

3 Das Lernprogramm

Es handelt sich bei dem Lernprogramm nicht um ein eigenständig lauffähiges Programm, sondern um ein Lernprogramm auf HTML-JavaScript-Basis, also eine Webseite. Es ist also lediglich ein Webbrowser nötig, um mit dem Lernprogramm zu arbeiten, wodurch der Einsatz auch auf älteren Computern und un-ter fast jedem Betriebsystem möglich ist. Das Design wurde für damals übliche Hard- und Softwarekonfigurationen optimiert. Für die optimale Darstellung wird eine Bildschirmauf-lösung von 800*600 (besser 1074*768) Pi-xeln benötigt, was die meisten Computer, die heute in Schulen oder bei den Schülern zu Hause zu finden sind, darzustellen in der La-ge sind. Zur korrekten Wiedergabe ist ledig-lich ein Browser von Netscape/Mozilla oder Microsoft ab Version 4 nötig. Das Lernpro-gramm, das die komplette Unterrichtseinheit umfasst, ist über das Internet verfügbar. Zu-sätzlich wurde das Lernprogramm Schülern ohne eigenen Internetzugang zu Beginn der Unterrichtseinheit auf Diskette zur Verfügung gestellt. Der Anzeigebereich des Webbrowsers wurde in vier verschiedene, frei definierbare Seg-mente aufgeteilt, sogenannte "frames” oder Rahmen (s. Abb. 2). Rahmen bieten die Möglichkeit, einen (linearen) Text aufzubre-chen und in nicht-linearer Weise aufzuberei-ten. Hierdurch ist eine bessere Gliederung und größere Übersichtlichkeit möglich. Der größte Rahmen (Rahmen 1, etwas heller, in der Mitte) ist der zentrale Anzeigebereich des Lernprogramms. Hier werden alle Inhalte dargestellt. Die Rahmen 2 (links) und 3 (oben) sind statisch und verändern sich nicht. Im Rahmen 2 befindet sich die Hauptnaviga-tion des Lernprogramms mit Verweisen zu dem "Zeitplan", einer Einführung in "MuPAD", der "Literaturliste", der "Linkliste", den "Lö-sungen" zu den Aufgaben, einer "Bildergale-rie" und einer "Kommentarseite". Die Inhalte zu den Menüpunkten werden dann im Rah-men 1 dargestellt. Im Rahmen 3 befindet sich eine Nebennavigationsleiste. Die Reiter ("D(oppel)stunde 1", ..., "DStunde 6") in die-sem Rahmen verweisen auf die entsprechen-den Abschnitte des Lernprogramms. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird im Rah-men 1 nur soviel Text dargestellt, wie bei normaler Bildschirmauflösung gerade wieder-gegeben werden kann. Der Benutzer kann

mit einer weiteren Navigationsleiste, die sich unter dem Text im Rahmen 1 befindet, zur nächsten oder vorherigen Seite springen. Der Text und das Layout im gesamten Lern-programm wurde einheitlich gestaltet. Als Schrift wurde Arial, eine serifenlose Stan-dardschriftart, gewählt. Das Seitenlayout und die Farbgestaltung im Lernprogramm bleiben durchgängig gleich. Hyperlinks im Text sind an dunkelblauem fettgesetzten Text von nor-malem Text zu unterscheiden.

4 Lernen im und mit dem WWW

Über das Lernen mit Medien (Mittlern) wurde in den letzten Jahren auf den AK-Tagungen wie auch 2003 vielfach referiert, die Vor- und Nachteile diskutiert und erörtert. Diese Bei-träge sollen an dieser Stelle nicht aufgegrif-fen, sondern mit den Erfahrungen und Mei-nungen im Bezug auf dieses Projekt ergänzt werden. Was kann das Lernen im WWW bzw. mit diesem Lernprogramm leisten, was von her-kömmlichen Medien nicht oder nur schwer erreicht werden kann? Im Folgenden habe ich zunächst einige The-sen mit Kommentaren und zugehörigen Zita-ten von Schülern zusammengefasst und dann einige Kritikpunkte zum Lernen im WWW aufgeführt.

Thesen zum Lernen im WWW: Lernen im WWW ...

... macht mehr Spaß • Arbeiten am Rechner macht den meisten Schülern Spaß. • Das Medium "Internet/Computer" faszi-niert. • "Meistens macht Lernen keinen Spaß. Lernen bedeutet Arbeit und Disziplin." (Stoll, 2002) ... macht den Unterricht spannender und anschaulicher • "Anschauung wird durch Interaktivität ge-steigert." • "Ohne Computer zu trocken." • Alles andere als der übliche Unterricht ist für Schüler spannender.

Von Primzahlen zur Verschlüsselung mit RSA — Eine Unterrichtseinheit im WWW

143

... hilft, mehr Informationen zu vermitteln • "Ohne den Einsatz am Computer wäre diese Fülle an Informationen nicht vermittel-bar gewesen." • Wirklich mehr? ... hilft, Informationen übersichtlicher zu gestalten • Durch das Aufbrechen von Text in Hyper-text kann Text besser strukturiert werden, aber auch der gegenteilige Effekt ist möglich. ... erleichtert das Wiederholen ... ermöglicht weltweite Verfügbarkeit bzw. Verfügbarkeit von zuhause • "Ich würde gerne das, was wir in der Schule gelernt haben, zuhause wiederholen." • Selbstbestimmtes Lernen und Wiederho-len von zuhause ist möglich. ... erleichtert das Behalten von Lerninhal-ten • Intrinsische Motivation zu lernen nimmt zu. • Oberflächliches Stöbern (browsen) nimmt ebenfalls zu. ... ermöglicht eigenes Lerntempo • Ganz sicher. ... ermöglicht Vernetzen von Informatio-nen mit Hilfe von Hypertext • Vernetzung erleichtert Darstellung kom-plexer Zusammenhänge. • Vernetzung führt u.U. aber auch zu Des-orientierung im Dokument (Lost-in-Hyper-space-Syndrom). ... ermöglicht effektive Recherche in glo-balen Datenbeständen • Externe Quellen im WWW können mitein-bezogen werden und ermöglichen interes-sierten Schülern den Zugang zu zusätzli-chem Hintergrundwissen. • Aber: Im WWW gibt es viele zweifelhafte oder falsche Informationen und Halbwahrhei-ten. ... ermöglich interaktive Anwendungen und Multimedia • Java-Applets, JavaScript-Programme er-möglichen Interaktivität statt nur passives Lernen (s. Abb. 2).

Kritik am Lernen mit Computern in der Schule: Lernen im WWW ...

... erfordert Computer • Für die Durchführung ist Hard- und Soft-ware wie Computer, Beamer, CAS in ausrei-chender Menge nötig. ... erfordert geeignete Räume • Ein Raum ist notwendig, der sowohl als Computerraum, als auch als Klassenzimmer zum Schreiben und Lesen genutzt werden kann. ... erfordert eine geeignete Lernumgebung • Infrastrukturelle Voraussetzungen im Netzwerk, — d.h. ein zu restriktives geführtes Netzwerk behindert die Vorbereitung und Durchführung, z.B durch strenge Rechtever-gabe. ... erfordert Disziplin • Disziplinprobleme: Surfen im Unterricht. • Unsere Gesellschaft ist oft hektisch und oberflächlich, die Informationsdichte, der man ausgesetzt ist, ist sehr hoch. Die Pro-gramme zu Darstellung von Webseiten, die Browser haben ihren Namen von "to browse", was so viel heißt wie blättern oder schmökern. Tatsächlich beobachtet man, dass Webseiten, oder ganz allgemein Text-seiten am Computer, oft nur überflogen und nicht konzentriert durchgearbeitet werden. Dies gilt natürlich auch für Lernprogramme und senkt die Effektivität des Lernprogramms drastisch. ... ermüdet • Die meisten Menschen empfinden es sehr schwierig und ermüdend, am Bildschirm kon-zentriert einen längeren Text zu lesen. Ein Schüler hat sich aus diesem Grund eines der MuPAD-Notebooks ausgedruckt. ... erfordert Lernprogramme • Lernprogramme kosten Geld in der An-schaffung. • Das Herstellen von eigenen Lernpro-grammen ist sehr zeitintensiv (siehe nächster Absatz).

Carsten Münchenbach

144

5 Kosten-Nutzen-Verhältnis

"Da haben Sie sich aber 'sau-viel' Arbeit ge-macht!" war der Kommentar eines Schülers. In der Tat war das Programmieren und Zu-sammensuchen von Materialien sehr viel Ar-beit. Ballin et al. bewerten den Aufwand so: "Die Entwicklung multimedialer Lernsysteme stellt komplexe Anforderungen an die inhaltli-che, methodische, didaktische, organisatori-sche, künstlerische, innovative und kreative Gestaltungsfähigkeit und setzt Management-fähigkeiten im selben Maß wie neue Lern-technologien und entsprechende Lernarran-gements voraus. Der einzelne ist dabei in der Regel überfordert ... Die Zusammenarbeit zwischen Autor, Drehbuchschreiber, Multi-media-Entwickler, Medienpädagoge und Pro-jektmanager zur Koordination der Arbeiten eines Projekts sind unverzichtbar. Entwick-lungskosten von 1000 DM/min [Kommentar: wohl eher 1000 DM/(Mann*Tag)] und mehr sind keine Seltenheit ... und lohnen sich nur, wenn die entwickelte Lernsoftware von mög-lichst vielen Adressaten nachgefragt wird." (Ballin et al. 1996) Der Entwicklungsaufwand für Lernsoftware wird zwischen 1:20 über 1:70 bis zu 1:200 geschätzt, für "normale" Stunden nur bei 1:4 bis 1:10. Für Unterneh-men lohnt sich der Aufwand dennoch ab cir-ca 100 Teilnehmern (Riehm & Wingert 1996). Ich habe während der Entwicklung des Lern-programms etwa 150 Stunden programmiert, die Materialsuche und sonstige Vorbereitung dauerte ca. 50 Stunden. Für sechs mal 90 Minuten Unterricht ergab sich also ein Faktor von 1:22. Hinzu kommen noch die Kosten bzw. der Zeitaufwand für die dauerhafte Pflege der Webseiten. Dieser Aufwand ist für eine reguläre Unter-richtsvorbereitung unüblich. Ich denke den-noch, dass er sich gelohnt hat. Allein die po-sitive Resonanz von den Schülern und die Reaktionen, die ich im Internet auf das Lern-programm bekommen habe, zeigen, dass der Weg, Lernprogramme einzusetzen, rich-tig ist. Bei entsprechender Modifikation des Lernprogramms und Überarbeitung des Pro-jekts unter Berücksichtigung der erkannten Schwachpunkte lässt sich das Projekt ohne

übermäßig große Vorbereitung leicht erneut durchführen.

6 Fazit

Clifford Stoll meint sinngemäß, dass Lernen keine Spaß machen kann, weil Lernen Arbeit und Disziplin bedeutet (Stoll 2002). Was ha-ben die Schüler dann bei mir gelernt? Kann man mit so einem Lernprogramm etwas ler-nen? Ein Ziel war, dass Mathematik den Schülern Spaß machen soll. Die Rückmeldung zeigt, dass dieses Ziel größtenteils erreicht wurde. Lernen bedeutet aber immer auch Arbeit, das ist unbestritten. Mit Interesse und Spaß am Thema steigt jedoch auch die Freude am Lernen und Arbeiten. Davon kann jeder Leh-rer berichten, der mit den Schülern einen Blick über den Tellerrand der Schulmathema-tik wirft oder aktivere Lern- und Arbeitsfor-men für seinen Unterricht wählt. Lernpro-gramme können nicht gebraucht und dürfen nicht dazu missbraucht werden, einen Lehrer zu ersetzen und als einziges Medium Unter-richt zu gestalten. Sie sind ein weiteres Me-dium, das Lehrern helfen kann, einen guten und für die Schüler interessanten sowie lehr-reichen Unterricht zu gestalten. Und dabei können die Schüler sicherlich etwas lernen, so wie auch mit anderen Medien, vielleicht auch ein wenig besser.

Literatur Stoll, Clifford (2002): LogOut — Warum Computer

nichts im Klassenzimmer zu suchen haben. Frankfurt: Fischer

Ballin, D., M. Brater & D. Blume (Hrsg.) (1996): Handlungsorientiert Lernen mit Multimedia. Nürnberg: BW Bildung und Wissen

Riehm, U. & B. Wingert (1996): Multimedia: My-then, Chancen und Herausforderungen. Mann-heim: Bollmann

Das Lernprogramm ist im WWW unter http://www.hydrargyrum.de/kryptographie er-reichbar.

145

Vorbemerkung

Aus technischen Gründen musste die Schrift-fassung des Beitrags im Mai 2005 neu er-stellt werden.

Hinführung In der "guten alten Zeit" gab es weder Com-puter noch Massenmedien, nicht einmal Bü-cher. Wissen wurde von Weisen im mündli-chen Vortrag weitergegeben und von Schü-lern aufgenommen. Seither hat sich die Welt verändert. Information kann in vielfältiger Weise gespeichert und interaktiv wieder ab-gerufen werden. Auf die Organisation von Lernen hat sich diese Veränderung bisher nur in verschwindend geringem Umfang aus-gewirkt. Im Vordergrund steht immer noch die klassische Schule, in der in altershomo-genen, kleinen Gruppen vieltausendfache Parallelarbeit ohne nennenswerte gruppen-übergreifende Kontrolle als "Unterricht" in-szeniert wird. Im Abstract wurde die Auseinandersetzung mit drei Fragen angekündigt: 1 Muss Mathematik gelehrt werden? (Gibt

es da eine Frage??) 2 Kann das Internet das Lernen von Ma-

thematik fördern? 3 Wie kann festgestellt werden, ob Mathe-

matik gelernt worden ist?

1 Die unten folgenden Axiome zum derzeitigen Lernen von Mathematik werden bis heute überwiegend nicht in Frage gestellt — wie

von Seiten der Mathematiker die Axiome der euklidischen Geometrie, bis der Außenseiter Lobatschewski den Mut hatte, ein(en) Traktat über eine nichteuklidische Geometrie zu schreiben. Sein Vorgehen: Er ersetzte ein Axiom durch ein Gegenteil. Der princeps ma-thematicorum Gauß war wohl in der gleichen Zeit zu ähnlichen Erkenntnissen gekommen, fürchtete sich jedoch vor dem Spott der Fachkollegen ("Ich fürchtete das Geschrei der Böoter"). Erst nachdem Lobatschewskis Arbeiten Interesse gefunden hatten, hätte er gern die Priorität für sich in Anspruch ge-nommen. Beispiele für Axiome des Mathematiklernens: - Mathematik lernt man in der Schule. - Zum Lernen braucht man einen Mathema-

tiklehrer. - Der Mathelehrer wird an der Hochschule

für seinen Beruf ausgebildet. - Jedes Kind kann Mathematik lernen. - Der Mathematikunterricht beginnt in der

Grundschule. - Das Internet ist für den normalen Mathe-

lehrer bedeutungslos. - Das Internet spielt für den normalen

Schüler beim Mathelernen keine Rolle. - Außerhalb der Schule erworbene Qualifi-

kationen sind bedeutungslos. - Aus den früheren Lehrplänen sind — fast

nur durch Umbenennung — Bildungsplä-ne, Lernzielkataloge und jetzt Bildungs-standards geworden.

Im vorliegenden Beitrag sollen nur die ersten beiden und die letzten beiden Aussagen hin-terfragt werden. Zuerst ein Beispiel zum "neuen" Lernen:

Vom 19. ins 21. Jahrhundert — Ändert das Internet die Chancen für den Zugang zur Mathematik?

Fritz Nestle, Ulm

In den vergangenen zwei Jahrhunderten haben sich die landwirtschaftliche und die in-dustrielle Produktion grundsätzlich geändert. Grundlage dafür sind lokal verfügbareEnergiequellen sowie neue Organisationsformen und Besitzverhältnisse. Im Bildungswesen steht die angemessene Nutzung der Informationsverarbeitung noch aus. Durch Schaffung eines Angebots von ubiquitär zugänglichen, überprüfbaren Bil-dungsstandards, deren Anwendung schulischen Leistungsnachweisen gleichgestellt wird, kann der Lernende von bisherigen Zwängen befreit werden. Zugleich ändert sich die Leh-rerolle in ähnlicher Weise, wie dies mit der Handarbeit im produzierenden Gewerbe ge-schehen ist.

Fritz Nestle

146

Es gibt nicht wenige Kids, die den Umgang mit dem Computer besser beherrschen als ihre Lehrer. Wo haben diese Kids den Um-gang mit dem Computer gelernt? Doch nicht in der Schule, sondern zuhause oder bei Freunden. Weil der Computer personenu-nabhängig Rückmeldungen gibt, ist selbstor-ganisiertes Lernen möglich. Rückmeldungen aus der sozialen Gruppe erhöhen die Effekti-vität des Lernens. Ein Beispiel dafür, dass über "neues" Lernen schon früher nachgedacht wurde, finden wir in der Literatur des 19. Jahrhunderts: Theo-dor Storm lässt schon 1888 im Schimmelrei-ter seinen Hauke Haien Geometrie aus ei-nem Euklid lernen:

Abb. 1

(Hatten Sie schon einmal einen in der Hand?)

Abb. 2

Euklid ist als Lehrmaterial nicht besonders gut aufbereitet. Bei Hauke Haien kam noch eine Erschwernis hinzu: Hauke Haien ist Deutscher, sein Euklid liegt in Holländisch vor. Außer dem holländischen Euklid hatte er Zugriff auf eine holländische Grammatik. Bei Storm hatte Haien erfolgreich Mathematik

gelernt mit zwei nur mäßig geeigneten Lehr-medien. Was heute für selbstorganisiertes Lernen angeboten wird und angeboten wer-den könnte, ist Größenordnungen besser ge-eignet und erleichtert den Einstieg. Storm zeigt, dass man auch ohne Schule Mathematik lernen kann. Das Beispiel Com-puter beweist, dass Lernen außerhalb der Schule — ohne Lehrer — mit Hilfe von Me-dien auch heute möglich ist. Wie für nicht-euklidische Geometrien liegt damit für außer-schulisches Lernen ohne Lehrer der Exis-tenzbeweis vor. Die Geometrie zeigt zu-gleich, dass es Jahrzehnte dauert, bis ein neuer Gedanke Allgemeingut wird. Hier nochmals die Entwicklung der Lernmög-lichkeiten: In der Vorzeit gibt es nur die mündliche Überlieferung durch Weise, singu-lär und gebunden an Ort und Person. Die Er-findung des Buchdrucks hebt die Bindung an die Person oder teure Handschriften auf; der Weg zur preiswerten Vervielfältigung von In-formation ist frei. Nicht zuletzt dadurch kann Adam Riese eine neue Rechenmethode — ohne Abakus auf Papier — rasch verbreiten.

Abb. 3

Vom 19. ins 21. Jahrhundert — Ändert das Internet die Chancen?

147

Die Abhängigkeit von den alten Rechenmeis-tern hat aufgehört. Jedermann (jedefrau) kann mit der neuen Methode selbst rechnen. Bald freilich erhält die Schule das Monopol, Zertifikate über die individuellen Rechenfä-higkeiten auszustellen. Nicht viel mehr dauert es, bis der Missbrauch dieses Monopols zum Regelfall wird und die Lehrerschaft ihre Miss-erfolge beim Lehren durch gute Noten zuzu-decken beginnt, das heißt, Lehrerfolge wer-den nicht an externen Kriterien gemessen. Vielmehr kann jeder einzelne Lehrer (oder Hochschullehrer trotz ETCS) seine eigenen Maßstäbe verwenden. Der Manipulation sind Tür und Tor geöffnet. Zusammenfassend kann Frage 1 jetzt be-antwortet werden: Mathematik muß nicht ge-lehrt, sie muss vielmehr gelernt, erfunden und entdeckt werden. Manchmal kann ein Lehrer dabei helfen, manchmal ist der Erfolg ohne Lehrer größer und vor allem interindivi-duell vergleichbar. Die "soft skills" werden bei selbstorganisiertem Lernen besser entwi-ckelt. Ergänzung 1 Je besser und vielfältiger die Rückmeldun-gen durch das Lernmaterial, desto "ange-nehmer" das Lernen. Ergänzung 2 Nur solange Berechtigungen an Schulnoten geknüpft sind und solange Schulnoten nur von Lehrern vergeben werden dürfen, sind Lehrer unverzichtbar, aber ohne externe Kontrolle unterliegen sie (durch Schulverwal-tung, Kollegen, Eltern, Politik!) einem korrum-pierenden Druck, Noten zu schönen. Ich habe dazu einen Traum: Die Ziele des Lernens sind so formuliert, dass das Lernsubjekt selbst seinen Abstand von den Zielen feststellen kann. Aus

"Wer lehrt, prüft!" wird

"Wer lehrt, darf nicht prüfen!" Man kann diesen Traum auch den Traum von Chancengleichheit und Chancengerech-tigkeit nennen. Das Internet macht diesen Traum technisch möglich.

2

Der Traum ist die Antwort auf Frage 2: Kann das Internet das Lernen von Mathema-tik fördern? — Ja, wenn man will!

3

Wie kann festgestellt werden, ob Mathematik gelernt worden ist? Zunächst: Wer stellt das fest? - Der Lehrer — in der derzeitigen Schule.

Das ist der status quo. - Dritte — TIMSS, PISA, zentrale Ver-

gleichsarbeiten; das Beurteilungsmonopol der Institutionen wird dabei nicht in Frage gestellt.

- Das lernende Subjekt selbst; — der Traum vom selbstorganisierten Lernen; technische Schwierigkeiten wären dazu nicht mehr zu überwinden.

Zur Thematik wird auf einschlägige Abschnit-te der Sites [1] – [4] verwiesen: Die Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (online seit 8.9.03; kein Ort innerhalb des Sites zi-tierbar) akzeptiert im Wesentlichen die aufge-führten Ausarbeitungen, das heißt, die offi-ziellen Äußerungen des BMBF [2], das das Sagen haben möchte, und der KMK [3], die das Sagen hat. Die Ausarbeitung des BMBF ignoriert die heutigen Möglichkeiten der Infor-mationsverarbeitung vollständig; es beschäf-tigt sich deskriptiv mit der Schule und sozio-logischen Fragen der Vergangenheit vor-nehmlich der letzten 50 Jahre. In den ersten KMK-"Standards" verweisen zwar die Eng-lischdidaktiker auf ausländische Internetver-öffentlichungen, stellen jedoch herkömmliche Modelle der Lernorganisation nicht in Frage. Was die KMK als "Standards" bezeichnet, hat indessen mit einem Standard wenig zu tun. Worin besteht zum Beispiel die Standar-disierung bei der Formulierung "Die Schüle-rinnen und Schüler entwickeln sinntragende Vorstellungen von natürlichen, ganzen, ge-brochenen und rationalen Zahlen und nutzen diese entsprechend der Verwendungsnot-wendigkeit." Verbindlichkeit ist keine zu er-kennen; die Interpretationsspielraum ist rie-sig. Die Interpretation wird Tausenden von Ma-thematiklehrern aufgebürdet, weil sich die Behörde um die Formulierung konkreter An-forderungen drückt. Gegebenenfalls kann sie den Schwarzen Peter immer an die Lehrer weitergeben. Man muss sich auch einmal klar machen, welche Verschwendung von Ressourcen damit verbunden ist, dass jeder einzelne Lehrer gezwungen wird, aus einem solchen Wortgeklingel ein tragbares Unter-richtskonzept zu entwickeln. Jede Lehrkraft muss selbst entscheiden, was sie für Anfor-

Fritz Nestle

148

derungen stellen will und wie sie konkrete Lernergebnisse der Schüler bewerten will. In der industriellen Produktion von Wirt-schaftsgütern ist man von diesem Verfahren schon vor mehr als hundert Jahren abge-kommen mit dem Ergebnis, dass heute jeder Bürger unseres Landes nach eigenen Wün-schen aus einem Riesenangebot hochwerti-ger Waren auswählen kann; die Konkurrenz sorgt dabei mit für Qualität. Maßarbeit, zum Beispiel bei Schuhen, wird nur noch von Krüppeln, Wirtschaftsbossen und arrivierten Politikern in Auftrag gegeben. Im Bildungswesen werden dagegen klassen-individuelle Produkte zusammengeschustert, deren Qualität, wie TIMSS und PISA gezeigt haben, viele Wünsche offen läßt. Den Kin-dern lässt man keine Wahl! Wenn es keine anderen Möglichkeiten geben würde, müsste man das hinnehmen. Wenn die Ursache in-dessen im Fehlen von Visionen bei Kultus-verwaltung und Lehrerbildung, im Ignorieren konkreter, praktikabler Vorschläge und man-gelnder IT-Kompetenz der Verantwortlichen zu suchen ist, ist das eine Katastrophe für unser Land. Im Site www.bildungsstandards.de sind sol-che konkreten und praktikablen Vorschläge in den Kernaussagen (www.bildungsoptionen.de/manifest.htm) lang vor den Veröffentlichungen der KMK pu-bliziert und der KMK als Stellungnahme un-mittelbar übersandt worden. Der Eingang wurde nicht bestätigt, der Inhalt von den ano-nymen Experten der KMK — und der Fach-didaktik? — ignoriert. Liegt es daran, dass der Autor des Sites von der Sache nicht ge-nug versteht und seine Vorschläge nicht praktikabel sind, oder liegen die Gründe bei den anonymen Experten, die ökonomisch mit ihrer Zeit umgehen und sich deshalb auf ei-nen neuen Aufguss von "Bewährtem" be-schränken? Das kann nur entscheiden, wer neben den Papieren der KMK auch die For-derungen und Vorschläge des Sites www.bildungsstandards.de kennt. Hier ist ei-ne Zusammenfassung der Letzteren: - Ein Bildungsstandard wird definiert als

Klasse von Aufgaben, die den Standard repräsentieren, das heißt, durch konkrete, eindeutig überprüfbare Anforderungen. Unter www.bildungsstandards.de/praxis.htm fin-den Sie Beispiele.

- Bildungsstandards sind öffentlich, das heißt, der Aufgabenpool ist der freien Dis-kussion, nicht der einseitigen Vorgabe durch die Schulverwaltung unterworfen.

Das Internet ist eine fast ideale Plattform für diese Diskussion.

- Lernergebnisse, die an Internetangeboten nachgewiesen werden, erhalten bei zerti-fizierter Bearbeitung den Rang von Schul-zeugnissen. Im Gegensatz zu den Schul-zeugnissen kann bei "Zeugnissen" aus dem Internet nachvollzogen werden, wel-che Anforderungen nachgewiesen worden sind.

Wenn die letzte dieser drei Forderungen er-füllt wird, beginnt die größte "Schul"reform dieses Jahrtausends. Der Erwerb von Bil-dung verändert sich dadurch so, wie sich die Herstellung von industriellen und landwirt-schaftlichen Produkten (Stahl, Nägel, Schu-he, ..., Grundnahrungsmittel) in den vergan-genen zwei Jahrhunderten geändert hat. Ler-nen wird zu einem teilweise rationalen Pro-zess. An die Stelle der Anpassung an die Lehrkraft tritt die Auseinandersetzung mit der Sache. Der Lehrer wird von der gehassten Autorität zum Lernberater und -helfer. Welche Veränderung sich dadurch für den Beruf des Lehrers ergibt, mag das Beispiel der Milcherzeugung verdeutlichen: Noch in meiner Kindheit gab es in den größeren Milchbetrieben die "Schweizer". Jeder Schweizer musste täglich zwei Mal die glei-chen 20 bis 30 Kühe melken; so wurden im Jahr 1000 bis 2000 Liter Milch pro Kuh ge-wonnen. Nach einer Zwischenlösung mit Melkmaschinen, deren Sauger von Hand an-gelegt werden mussten, gehen heute in mo-dernen Betrieben die Kühe zum Melkstand, wenn sie gerade das Bedürfnis haben, identi-fizieren sich mit einem Transponder und ge-ben ihre Milch ab — bis zu 8000 Liter im Jahr. Die Milchproduktion wird damit der ein-zelnen Kuh mit einem objektiven Maß zuge-ordnet. Ich möchte die Parallele nicht im Ein-zelnen ausführen. Interessant sind sowohl die positiven als auch die negativen Seiten des Vergleichs. Landwirtschaft und Industrie haben sich im 21. Jahrhundert etabliert; die Grundstruktur des Bildungswesens hat den Stand des 19. Jahrhunderts noch nicht überwunden. Das Internet könnte der automatische Melk-stand der Bildung werden. Während die Milch einseitig von der Kuh in den Milchtank strömt, kann die Information auf interaktiven Internetseiten in beiden Richtungen fließen. Die Eingaben der Lernenden können vom System nach transparenten, für alle Schüler gleichen Kriterien bewertet und unverzüglich zurückgemeldet werden. (Auch die Kühe er-halten an modernen Melkständen motivie-

Vom 19. ins 21. Jahrhundert — Ändert das Internet die Chancen?

149

rende Rückmeldungen.) Im Gegensatz zur Schule kann im Internet eine weitaus größere Themenvielfalt angeboten werden. Die Aus-wahl der Themen durch die Lernenden kann durch einschlägige Beratung gesteuert wer-den. Dadurch wird das System wesentlich flexibler als der konventionelle Klassenunter-richt. Ist die Umgestaltung des Bildungswesens ein utopischer Traum — oder die dringlichste Aufgabe der Gegenwart auch für die Lehrer-bildung? Neuerdings wird von einzelnen Didaktikern (Elschenbroich, Profke, ...) die Frage erörtert, ob es überhaupt genügend Menschen gibt, die mit Erfolg als Lehrer ausgebildet werden können. Man muss die Augen schon voll-kommen vor der Wirklichkeit verschließen, wenn man diese Frage übergehen will. Wir sind uns sicher darin einig, dass nur die Bes-ten den Lehrberuf ergreifen sollen. Leider finden wir diese Einigkeit auch für den Arzt-, Ingenieur-, Politikerberuf und für Positionen in der Wirtschaft, so dass hier mit Konkur-renz zu rechnen ist. Das stellt uns vor die Aufgabe, wie wir die Zweitbesten auch für den Lehrberuf qualifizieren können – oder vor die Frage, auf welche Teilqualifikationen des Allroundspezialisten Lehrer man getrost verzichten kann, wenn man die heutige In-formationstechnik auch für das Lernen ein-setzt. Vorab sollten wir vielleicht nicht mehr von Lehrern sondern von Lernbetreuern re-den, denn die meisten anderen, derzeitig von Lehrern erwarteten Tätigkeiten lassen sich leicht unter Steigerung der durchschnittlichen Qualität wegrationalisieren. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass damit eine Ver-

änderung des Berufsbilds verbunden ist, wie sie vergleichbar der Übergang vom Schuh-macher zum Arbeiter in der Schuhfabrik zeigt. Ist die Umstellung des Lernens wirklich so einfach? Spiele im Internet haben eine große Klientel. Schon einige Zufallsproben zeigen, wie hart um vordere Plätze auf der jeweiligen Scoreliste gekämpft wird. Warum machen wir nicht einen Teil dieser Motivation für das Ler-nen fruchtbar? Auf einer Verbraucherausstel-lung vor einigen Jahren konnten die Besu-cher, gesponsert von der Commerzbank, an einem Wettbewerb "2 Minuten Wirtschafts-wissen" teilnehmen. Der erste Preis: Ein Ta-gesausflug in die Zentrale der Commerzbank in Frankfurt. Die drei Computer waren umla-gert von Wartenden. Die Zahl der Teilnehmer am Mathe-Känguru nimmt jedes Jahr zu, — und die Teilnehmer bezahlen dafür, dass sie 20 Matheaufgaben lösen dürfen. Wenn wir warten, bis KMK und IQB am grü-nen Tisch überprüfbare Bildungsstandards per ordre de Mufti entwickeln, verschenken wir wertvolle Zeit und die Freiheit, selbst auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen. Ein Dutzend Leute, die gemeinsam an diesem Thema arbeiten, können den Stein ins Rollen bringen. Vorbild für eine unserer Zeit ange-messenen Art und Weise, konkrete Bildungs-standards zu entwickeln, ist die open-source-Bewegung. Sie kanalisiert die Intelligenz von Tausenden und lässt überzeugende Lösun-gen entstehen. LINUX und OpenOfficeorg sind Beispiele. Warum sollte es bei Bildungs-standards nicht gelingen? Wer hilft mit, dass aus dem Traum Wirklich-keit wird? Kontakt: [email protected]

Sites

[1] http://www.bildungsstandards.de (online seit 21.10.2002; Kernbeitrag http://www.bildungsstandards.de/manifest.htm)

[2] http://www.dipf.de/aktuelles/expertise_bildungsstandards.pdf (online seit 18.2.2003; eine Ausarbeitung im Auftrag des BMBF)

[3] http://www.kmk.org/aktuell/Bildungsstandards/Mathematik04072003.pdf (online seit 3.12.2003; inzwi-schen durch Bildungs-"Standards" für weitere Altersstufen ergänzt; der Ort der Seiten hat sich mehr-fach geändert; Link deshalb vermutlich falsch)

[4] http://www.bildungsstandards-bw.de (online seit 19.5.2003; Beispiel für regional-föderalistische Um-setzung)

150

1 Einleitung

Mathematik ist eine Schlüsseldisziplin der modernen technisierten Welt, ihr Wirken bleibt aber meist im Verborgenen. In der Form von dynamischen Geometrieprogram-men (DGS) folgen selbst Lernprogramme diesem Trend. Ihr ursprünglicher Ansatz ent-sprang dem Geist der synthetischen Geo-metrie. Für die Realisierung im Computer musste diese freilich algebraisch gefasst werden. Diese Mathematisierung bleibt aber weitgehend verborgen (auch wenn ihre Fol-gen, z.B. bei der Auswahl von Lösungen, immer mal wieder an der Oberfläche krat-zen). Innerhalb der Mathematik wiederum ist die Algebra die Disziplin, die dem Computer mathematische Inhalte erschließt, ihre Be-deutung wächst daher ständig, obwohl ihre Sichtbarkeit geringer wird. Folgerichtig redu-zieren beispielsweise die neuen niedersäch-sischen Rahmenrichtlinien den Anteil der Al-gebra am Curriculum. Es ist meine Überzeu-gung, dass die Erneuerung der Schulalgebra eine der wichtigsten didaktischen Herausfor-derungen darstellt. Ein wesentlicher Bestand-teil sollte das Aufzeigen der vielfältigen Ver-netzung der Algebra mit anderen Gebieten sein. In der Geschichte der Mathematik sind Geo-metrie und Algebra eine erfolgreiche Wech-selbeziehung eingegangen. Diese ist heute zwar schlecht beleumundet (so wird etwa von einem "nur rechnerischen Beweis" einer geometrischen Aussage im Gegensatz zu ei-nem "richtigen Beweis" gesprochen; — m.E. sind beide Aspekte wichtig, die Reduktion auf einen der beiden Aspekte bringt die Schüler um Vernetzungsmöglichkeiten), aber aus der Sicht der Anwendungsorientierung ist sie fundamental. Leider bewirkt die Verwendung aktueller Lernsoftware für den Mathematikun-terricht eine deutliche Divergenz beider Be-reiche. Die Behandlung von Parabeln mit DGS und mit CAS ist so unterschiedlich,

dass es Schülern schwer fällt, das Gemein-same in den Blick zu kriegen. In dieser Situation soll der Prototyp Feli-X ei-nes CAS-basierten DGS aufzeigen, dass es technische Optionen gibt, die den Brücken-schlag schaffen und so ein integrierendes Arbeiten ermöglichen.

2 Der Ansatz von Feli-X

Die Grundidee von Feli-X wurde bereits im Tagungsband 2002 dargestellt (Oldenburg 2002), so dass hier nur eine Kurzcharakteri-sierung vorgenommen werden soll. Die Arbeit mit Feli-X geschieht in zwei Fens-tern, zum einen einem Mathematica-Note-book für algebraische Rechnungen (kurz Al-gebrafenster) und einem Geometriefenster, das ähnliche Möglichkeiten bietet wie andere DGS auch. Beide Fenster werden bidirektio-nal synchron gehalten. Die Änderung von Koordinaten im Zugmodus oder die Erstel-lung neuer Objekte im Geometriefenster wirkt sich unmittelbar im Algebrafenster aus. Dort stehen u.a. folgende Variablen zur Verfü-gung: Objects: Die aktuell vorhandenen geometri-schen Objekte Vars: Die Variablen der Objekte Co: Die aktuellen Koordinaten der Objekte DGAncestors: Der gerichtete Graph der Kon-struktion Equations: Die Gleichungen, die zwischen den Variablen gelten. An diesen Variablen darf der Benutzer rum-fummeln. Wenn er den Graphen in DGAn-cestors ändert, werden einige der wählbaren Zug-Strategien ihr Verhalten ändern. Wenn die Koordinaten geändert werden, bewegt sich das Bild im Geometriefenster. Wenn ei-ne weitere Gleichung hinzu gefügt wird, ist

Das CAS-basierte DGS Feli-X zur Vernetzung von Algebra und Geometrie

Reinhard Oldenburg, Göttingen

Viele Probleme lassen sich sowohl mit Computeralgebrasystemen als auch mit dynami-schen Geometrieprogrammen behandeln. Die enge Wechselwirkung von Geometrie und Algebra wird aber am deutlichsten, wenn das verwendete Werkzeug algebraische und geometrische Zugänge integriert, wie dies bei Feli-X der Fall ist.

Das CAS-basierte DGS Feli-X zur Vernetzung von Algebra und Geometrie

151

die Bewegungsfreiheit der Konstrukti-on eingeschränkt. Gerade dieses Feature ist auch für jüngere Schüler interessant, da es erlaubt, die Bedeu-tung einer Gleichung mit der Maus er-fahren zu können. Im Gegensatz zum (auch sehr wichtigen) impliziten Plot-ten ermöglicht das einen operativen Zugang zur Exploration von Glei-chungen.

3 Ein Beispiel

Ein etwas ausführlicheres Beispiel (siehe Abb. 1 für das zugehörige Geo-metriefenster und Abb. 2 für das Al-gebrafenster) soll die Arbeit mit Feli-X erläutern. Man frage sich nach dem Radius des Krümmungskreises, der sich an eine Parabel (jede andere Kurve könnte genau so behandelt werden) anschmiegt. Es ist schnell klar, dass der Kreismittelpunkt auf der Normalen durch den Berührpunkt liegt, — aber wo da? Die Analogie zur Sekantensteigung kann einen auf die Idee bringen, gleich zwei Normalen auf die Kurve zu setzen. Und in der Tat, wenn man den einen Punkt längs der Kurve durch den anderen bewegt, gewinnt man den Eindruck, dass der Schnittpunkt der beiden Normalen ein vernünftiges Grenzwertverhalten zeigt. Also konstruiert man den Schnittpunkt der Normalen. Aus den Equations kann man den Abstand dieses Schnittpunktes zu einem der Punkte auf der Kurve mit Mathemati-cas Solve-Befehl ausrechnen lassen. Der Grenzprozess muss noch durch-geführt werden: Man lässt mit Limit die Koordinaten der beiden Kurven-gleiter gegeneinander laufen und er-hält einen Term für den Krümmungs-radius.

4 Lösungsmengen

Neben das Konzept der Ortslinie, das es in herkömmlichen DGS gibt, tritt in Feli-X zu-sätzlich das Konzept der Lösungsmenge. Ei-ne Konstruktion in der Form der erzeugten oder vom Nutzer explizit eingegebenen Glei-chungen, kann die Bewegungsfreiheit eines Punktes einengen. Immer wenn man fest-stellt, dass sich ein Punkt nur noch auf einer

Kurve verschieben lässt, ist das passiert — und dann kann man sich den möglichen Orbit komplett als "Lösungsmenge" anzeigen las-sen (siehe Bild). Die herkömmlichen Ortslinien sind ein funkti-onales Konzept: Man fragt sich nach der Wertemenge eines abhängigen Punktes un-ter der durch die Konstruktion gegebenen Abbildung, wenn ein Ausgangspunkt auf ei-ner bestimmten Menge (z.B. Gerade oder Kreis) variiert. Bei Feli-X braucht es einen

Abb. 1

Abb. 2

Reinhard Oldenburg

152

solchen "Steuerpunkt" nicht unbedingt zu ge-ben: Es ist nur ein Punkt involviert, der ir-gendwie eingeschränkt ist. Die Lösungsmen-ge ist ein relationales Konzept, die zeigt die Menge der Koordinatenpaare, die der Rela-tion genügen. Operativ wird der Unterschied besonders deutlich: Bei Ortslinien zieht man am Argu-mentpunkt (der bis auf eine Bindung frei ist); bei der Lösungsmenge zieht man (gedanklich) an dem einen Punkt.

Es ist keineswegs meine Absicht, ei-ne Überlegenheit des Konzepts der Lösungsmengen gegenüber dem der herkömmlichen Ortslinien zu be-haupten; — ganz im Gegenteil. Im Sinne einer genetischen Begriffsbil-dung ist es sinnvoll, mit den Ortsli-nien anzufangen. Für einen voll ent-wickelten Begriff des geometrischen Ortes sind aber auch die relationalen Aspekte wichtig. Ein leistungsfähiges CAS im Hinter-grund ermöglicht, eine Gleichung der Kurve in symbolischer Form (inklusi-ve Abhängigkeit von eventuellen Pa-rametern) ausgegeben zu bekom-men. In Abbildung 3 wurde eine Strecke der Länge 5 konstruiert, de-ren Endpunkte auf den Koordinaten-achsen liegen. Der Lotfußpunkt vom Koordinatenursprung aus lässt sich dann nur noch eingeschränkt mit der Maus bewegen (in herkömmlichen DGS ließe er sich allerdings gar nicht direkt bewegen). Es wurde dann die Lösungsmenge für diesen Punkt ge-zeichnet, und in Abbildung 4 sieht man auch die von Feli-X bestimmte Gleichung.

5 Schlussbetrachtung

Feli-X ist ein innovativer Zugang zum explorativen Arbeiten mit Mathema-tik. Die Stärke des Systems, seine Flexibilität und Offenheit, kann, so wird immer wieder gefürchtet, auch seine Schwäche sein: Bleibt das System vernünftig bedienbar, wenn ein unerfahrener Nutzer damit arbei-tet? Dies wird sich zeigen, wenn die Weiterentwicklung soweit gediehen ist, dass erstmals Schüler mit dem System arbeiten können. Neben ei-ner Reifung der Software müssen dazu auch tragfähige didaktische

Konzepte erarbeitet werden.

Literatur Oldenburg, Reinhard (2002): Feli-X: Ein Prototyp

zur Integration von CAS und DGS. In: Peter Bender et al. (Hrsg.) (2002): Lehr- und Lern-programme für den Mathematikunterricht. Hil-desheim: Franzbecker, 123–132

Abb. 3

Abb. 4

153

1 Einleitung

Im Sinne intellektueller Redlichkeit sollte ein Autor die Motive seiner Arbeit offen legen. Im vorliegenden Falle liegt das Motiv in der Be-obachtung des mittlerweile intensiven Ein-satzes des Internet quer durch das Fächer-spektrum des Schulunterrichts. Nach meiner subjektiven Einschätzung bleibt der dauer-hafte Lernertrag dabei aber oft hinter den Hoffnungen zurück. Dies deckt sich mit mei-ner Selbstbeobachtung bei Lernprozessen. Ich nutze das Internet intensiv für Literaturre-cherchen, als Nachschlagequelle und zum Download von Dokumenten, Programmen etc. Trotz mehrerer Versuche ist es mir aber bisher noch nicht gelungen, mir substantielle mathematische Inhalte aus dem Internet on-line neu anzueignen. Da ich aber auch ein in-tensiver Computernutzer bin und vieles mit neuen Medien (vor allem CAS) gelernt habe, unternimmt dieser Aufsatz den gewagten Versuch, von philosophischen Betrachtungen zu einer Erklärung dieses Sachverhaltes zu kommen. Gleichzeitig sollen Kriterien be-stimmt werden, durch die sich die Möglichkeit sinnvollen Lernens abstecken lässt. Die hier vorgestellten Theorien führen vor al-lem zu Vorbehalten gegen das Internet als Unterrichtsmedium im Schulunterricht. Nicht oder wenig von der Kritik betroffen sind: • Internet als Plattform der Veröffentlichung

von Schülerprodukten, • Internet als — kritisch zu sehende — Fak-

tenquelle, • Internet als Quelle von Anregungen (z.B.

Applets), • Universitärer Einsatz.

2 Evolution

Evolutionäres Denken ist m.E. für Didaktiker essentiell, da es klar macht, dass alles Wis-sen hypothetischer Natur ist. Dies führt zu einer pragmatischen Sicht, die sowohl einer praxis-orientierten Wissenschaft als auch der praktischen Lehre ein tolerantes Gesicht ver-leiht. Es gibt in der Literatur verschiedene Auffas-sungen über die Mechanismen der Evolution, insbesondere im Hinblick auf die kognitive Entwicklung. Diese lassen sich schlagwortar-tig verkürzen zu: A) Die evolutionäre Anpassung ermöglicht

dem kognitiven Apparat, die Außenwelt im Individuum wider zu spiegeln.

B) Die Wahrnehmung liefert Information, aus der eine individuelle Repräsentation der realen Außenwelt konstruiert wird, die ei-nen Überlebensvorteil liefert.

C) Das Individuum gewinnt keine Information über seine Umwelt, es überlebt nicht der Angepasstere, sondern der Überlebende.

Im Vortrag habe ich die Zuhörer gebeten, die Position zu benennen, die ihrer Vorstellung von Evolution entspricht. Die Zahlen waren A: 6, B: 9, C: 2, bei einigen Enthaltungen. Die kodierten Positionen sind die von Konrad Lo-renz (A), der modernen evolutionären Er-kenntnistheorie (B) und des radikalen Kon-struktivismus (von Glasersfeld) (C). Es er-staunt, dass die Gemeinde der Mathematik-didaktiker ihre eigene Mainstream-Ansicht so wenig schätzt.

Mathematik lernen im Internet — eine philosophische Betrachtung vom Standpunkt moderner Erkenntnistheorie

Reinhard Oldenburg, Göttingen

Das Internet als Lernumgebung kann mit philosophischen Theorien analysiert werden, die zwar ursprünglich zur Beschreibung von Erkenntnisleistungen in herkömmlichen Um-gebungen entwickelt wurden, aber in ihren fundamentalen Aussagen universell sind. Be-sonders die evolutionäre Erkenntnistheorien und die naturalisierte Erkenntnistheorie nach W.v.O. Quine sind geeignet Kriterien zu entwickeln, mit denen Internet-Lernumgebungen kritisch bewertet werden können.

Reinhard Oldenburg

154

3 Evolutionäre Erkenntnis-theorie

Immanuel Kant ist ein Klassiker der Erkennt-nistheorie. Ein wesentlicher Beitrag ist die klar ausgedrückte Erkenntnis, dass nicht al-les Wissen in einem simpel-empiristischen Bild einfach aus der Welt aufgenommen wer-den kann, da jede Wahrnehmung Vorausset-zungen hat (die Apriori der Erkenntnis), z.B. die Anschauungsformen Raum und Zeit, die eben nicht aus der Beobachtung entnommen sein können. Konard Lorenz hat vorgeschlagen, dass die Kantschen Apriori als Aposteriori der Evoluti-on aufgefasst werden können. Dieses Pro-gramm einer evolutionären Erkenntnistheorie wurde von Riedl, Vollmer, Wuketits u.a. in unterschiedlichen Variationen ausgearbeitet. Aus dem Spektrum dieser, teilweise auch un-tereinander nicht kompatibler Ausprägungen, wähle ich im folgenden eklektisch nach per-sönlicher Vorliebe aus. Die Aussagen wer-den der Kürze wegen auch nicht belegt (sie-he (Oldenburg 2003) für ein ambitionierteres Herangehen). Kernthesen der so verstan-denen evolutionären Erkenntnistheorie sind: Hypothetischer Realismus: Obwohl Wahr-nehmungen keinen Zugang zur Welt an sich ermöglichen, kann man aufgrund des Anpas-sungsprozesses hypothetisch davon ausge-hen, dass es eine Realität hinter den Er-scheinungen gibt. Die Welt besitzt Struktu-ren, die unserer Sinnesorgane affizieren (wenn diese sie auch nicht treu abbilden). Intelligenz ist eine Anpassungsleistung an die Umwelt. Sie ermöglicht eine aktivere Rol-le des Individuums. Der Vorgang der Wahrnehmung ist konstruk-tiv interpretierend. Lernen ist ein individueller Vorgang, ermög-licht durch evolutionär ausgebildete Struktu-ren des Gehirns. In der Ausarbeitung dieses Programms wur-de eine Reihe von Prinzipien formuliert, die dem Erkenntnisprozess eigen sind. Zwei da-von (aus Riedls Werk) sollen jetzt mit Blick auf das Internet angewendet werden: Hypothese vom Vergleichbaren: Dies be-zeichnet die Tendenz des Erkenntnisappara-tes, ähnlichen Wahrnehmungen auch ähnli-che Ursachen und ähnlichen Handlungen auch ähnliche Folgen zu unterstellen. Diese Strategie kommt im Internet offensichtlich an ihre Grenzen, da das Medium einem extrem schnellen Wandel der Inhalte unterliegt. Auch gibt es kaum eine Korrelation von Form und

Inhalt, so dass die Wahrnehmung von Ähn-lichkeiten kaum ein Hinweis auf z.B. ähnlich verlässliche Inhalte sind. Konstanzleistungen: Dies bezeichnet die Tendenz des Erkenntnisapparates, Invarian-ten teilweise sogar bei variierenden Reizla-gen zu konstruieren. Verwandt damit ist die Erwartung, sich wiederholende Strukturen zu finden. Hier stellt die extreme Inhomogenität des Internets ein Problem dar.

4 Quines naturalisierte Er-kenntnistheorie

Willard van Orman Quine gilt allgemein als der einflussreichste amerikanische Philosoph des 20. Jahrhunderts. Sein umfangreiches Werk soll hier auf einige Aspekte reduziert werden, die in Hinblick auf das Lernen im In-ternet relevant sind. Web of belief: Quine hält alles Wissen für hypothetisch, auch die Mathematik. Die ko-gnitiven Inhalte sind in einem Netz verknüpft, das an den Rändern von Erfahrungen be-stimmt wird, ansonsten aber durch innere Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist. Semantischer Holismus: Diese Position wird gelegentlich zu "alles hängt mit allem zu-sammen" verkürzt. Um eine bessere Vorstel-lung zu bekommen, versetze man sich z.B. in die Lage eines Physikers. Nach naiver Auf-fassung kann er mit seinen Experimenten Theorien verifizieren oder falsifizieren. Pop-per hat dagegen schon eingewendet, dass eine Verifikation unmöglich ist. Quine geht weiter und bezweifelt auch die eindeutige Falsifikation. Falls nämlich Beobachtungen zu einem Widerspruch führen, ist zwar klar, dass etwas falsch sein muss, aber es ist nicht klar, wo im Theoriegefüge Änderungen vorgenommen werden müssen. Zwar hat man es meist mit einer fraglichen Theorie ge-genüber einem akzeptierten Theoriefundus zu tun, aber diese Einteilung ist nur pragma-tisch. Wie lernen wir Sprache? Im Grunde unterscheidet sich die Position des Kleinkin-des bei seinen Sprechversuchen nicht von der des Physikers. Eine Konsequenz ist die "Unbestimmtheit der Übersetzung": Es ist un-möglich, überindividuelle Bedeutungsgleich-heit exakt zu bestimmen, dies geht nur in ei-nem Approximationsprozess. Eine weitere Konsequenz der Unbestimmtheit: Einzelne Wörter bzw. Sätze sind in der Regel zu klein als bedeutungstragende Einheiten. Ontologische Relativität: Ontologische Aus-sagen sind nach Quine sehr wichtig, da sie

Mathematik lernen im Internet — eine philosophische Betrachtung

155

die Bedeutung vieler sprachlicher Konstrukte bestimmen, sie sind aber nur relativ zu einem Bezugsrahmen sinnvoll. Eine absolute Onto-logie ist uns nicht zugänglich. Er weist z.B. darauf hin, dass Atome nicht weniger als Homers Götter menschliche Setzungen sind. Innerhalb eines Bezugsrahmens allerdings kann mit Wörtern referenziert werden. In einigen Aspekten ist Quines Werk wenig attraktiv, z.B. in seiner Neigung zu einer be-havioristischen Sicht des Spracherwerbs. In-terpretiert vor dem Hintergrund seines Ge-samtwerks erscheint diese aber in einem gänzlich anderen Licht als der schlichte An-satz von Skinner.

5 Folgerungen = Forderungen

Nun soll die eben ausgebreitete Theorie auf das Lernen im Internet angewendet werden. Die Bedeutung von Theorien (im weitesten Sinne) wird durch ihre Vernetzung im web-of-belief gegeben. Um Bedeutung zu fixieren, braucht man darin viele Fäden. Die Verlin-kung im Internet ist etwas anderes als die hier angesprochene Vernetzung. Um Bedeu-tungen fest zu ziehen, braucht man, was man eine Big-Footprint-Vernetzung nennen könnte, es müssen möglichst viele Fäden ein Selektionsfeld herstellen, in dem sich die Se-lektion im Reich der individuellen Hypothe-sen effektiv abspielen kann. Hypothesen können nicht eindeutig falsifiziert werden. Sie können deshalb Auferstehung feiern, und dann ist es wichtig, im eigenen Lernweg zu-rückgehen zu können. Das ist dann beson-ders gut möglich, wenn die ursprüngliche Se-lektionsumgebung z.B. in Form bedruckten Papiers noch vorliegt. Die Flüchtigkeit des In-ternets und die schnelle Veränderung seiner Inhalte ist deshalb ein kritischer Punkt, der es signifikant von anderen, z.B. CD-ROM-ge-stützten Lernumgebungen unterscheidet. Beim Projekt MaDiN wurde die Beobachtung gemacht (s. Wittmann 2003), dass Studen-ten, die mit einer virtuellen Lernplattform ar-beiten, dazu neigen, die Seiten komplett aus-zudrucken. Dies ist nach unserer bisherigen Diskussion eine äußerst vernünftige Strate-gie. Die Studenten stellen Dauerhaftigkeit her, sie können auf dem Material ihren Lern-weg dokumentieren und so aus den fremden Produkten eigene machen, sie sich einverlei-ben. Nehmen wir noch einmal die Problematik der Bezugsrahmen auf: Deren Leistung, als onto-

logischer Rahmen bedeutungsstiftend wirken zu können, hängt an ihrer Vernetzung, an der Verwirkung der involvierten Hypothesen. Um einen Begriffsabgleich z.B. zwischen einem Nutzer und einem Computerprogramm her-zustellen, muss es ausreichend Interaktions-möglichkeit geben, das ist das Prinzip der Bereitstellung von Operationsmöglichkeiten. Diese Operationen selbst sollten möglichst klar sein, so dass sie nicht zu einem aufwän-digen Forschungsgegenstand werden müs-sen. Dies ist das Prinzip der Transparenz. Es begrenzt zum einen den Einsatz von Black-Boxes, und zum anderen erlaubt es, konkre-te Forderungen an das Softwaredesign von Lernprogrammen zu stellen. Als relativ unspektukaläres Beispiel sei die Zugstrategie von dynamischen Geometrieprogrammen diskutiert. Es wurde erhebliche Energie in-vestiert in den Versuch, eine gute Entschei-dungsstrategie für mehrdeutige Situationen zu finden. Es gibt auch viele mathematische Gründe, diese Diskussion zu führen. Aus di-daktischer Sicht dagegen bedeuten Ent-scheidungssituationen, dass unterschiedliche Erwartungen im Bewusstsein des Nutzers konkurrieren können, und die Synchronisati-on wird erschwert, wenn das System nach in-ternen Gesetzmäßigkeiten seine Wahl trifft, ohne diesen Vorgang transparent zu ma-chen. Es wäre viel besser, wenn das Pro-gramm den Nutzer informieren würde, dass es eine Entscheidung für ihn getroffen hat, und ihm die Option anbieten würde, sich auch die anderen Möglichkeiten anzusehen. In dem prototypischen DGS Feli-X gibt es in einigen Zugmodi einen (noch recht rudimen-tären) "next"-Button, mit dem man zur nächs-ten möglichen Konfiguration wechseln kann. Das Prinzip der Transparenz fordert ferner, die Fäden des web-of-belief aufzeigen. Der Holismus ist nämlich nicht total: Die Vernet-zung hat ihre eigenen Strukturen, und es ist eine Aufgabe der Wissenschaft, diese so weit wie möglich zu klären (auch wenn es dabei prinzipielle Hürden gibt). Die Mathema-tik besitzt ein Standardverfahren zur Netz-Forschung: Die systematische Beschrän-kung. Sie zeigt sich in den Bemühungen, Sätze mit möglichst wenig Voraussetzungen — oder bereits bewiesene Sätze mit gänzlich anderen Mitteln erneut zu beweisen. Dieser Wesenszug wird m.E. in den üblichen Kata-logen fundamentaler Ideen der Mathematik nicht ausreichend deutlich, ich nenne ihn deshalb eine vergessene fundamentale Idee (Peter Bender hat mich allerdings dankens-werter Weise darauf hingewiesen, dass es eine Nähe zur fundamentalen Idee der Re-duktion gibt).

Reinhard Oldenburg

156

Mittlerweile, so könnte es scheinen, haben wir uns im Hinblick auf das Software-Design in eine ausweglose Konkurrenzsituation hin-einargumentiert. Auf der einen Seite steht die Forderung nach einer Big-Footprint-Vernet-zung, auf der anderen Seite die nach der systematischen Beschränkung. Die bisheri-gen Ausführungen enthalten aber auch be-reits die Lösung des Dilemmas: Ersteres ist unverzichtbar zur Etablierung ontologischer Referenzrahmen (also zur Verankerung neu-er bedeutungstragender Teile), das Zweite ist sinnvoll, nachdem dieser etabliert wurde. Ein gutes Beispiel dafür, wie dese Kriterien erfüllt sein können, bietet Cinderella mit seinen Möglichkeiten, die Schüler Probleme mit ei-ner Auswahl von Werkzeugen bearbeiten zu lassen. Dieser reduktionistische Weg ist sinn-voll, weil es sich um Werkzeuge handelt, die vorher semantisch transparent gemacht wer-den konnten.

Umgekehrt gibt es natürlich auch viele Bei-spiele von Lernumgebungen, die mit einem zu kleinen Fußabdruck den Lerner im Stich lassen. Vor allem die Formular-Interaktivität von simplen Java-Applets oder webMathe-matica-Seiten engt den Benutzer zu sehr ein. Auf der MaDiN-Seite (MadiN 2003) in Abb. 1 kann der Benutzer zwei Funktionen in zwei Variablen eingeben, deren Funktionsgraphen dann in ein gemeinsames Koordinatensys-tem gezeichnet werden. Es ist unbestritten, dass Nutzer damit etwas Sinnvolles machen können (weniger klar ist, warum sie dazu das teure webMathematica online statt eines Freeware-Computeralgebrasystems offline nutzen sollen). Der vorgegebene, vorgedach-te Rahmen ist mit Bedacht gewählt, und trotzdem ist er zu eng: Kann man die Schnitt-kurve hervorheben? Ist meine Überlegung, wie ich sie ausrechnen kann, richtig? Kann man beide Graphen durch eine Ebene tren-

Abb. 1

Mathematik lernen im Internet — eine philosophische Betrachtung

157

nen? Wie ist die Darstellung (Projektion) zu verstehen; — vielleicht sollte ich eine senk-rechte Hilfsebene mitzeichnen lassen? Bei all diesen Fragen lässt das Formular den Nutzer im Stich, es taugt nicht als evolutionäres Feld der Hypothesenselektion. Die Verwendung von Formularen wie in der beschriebenen Seite wird zum einen durch die technischen Möglichkeiten nahegelegt, ist zum anderen aber auch Ausdruck einer er-staunlichen didaktischen Grundhaltung. Während der Mainstream der Mathematikdi-daktik für Schüler ein stärker selbstgesteuer-tes Lernen in offenen Lernumgebungen for-dert, wird in der universitären Lehrerausbil-dung die Notwendigkeit einer durch das Formular geleisteten Engführung betont. Ei-ne evolutionäre Sichtweise führt dagegen zur Forderung, universelle Werkzeuge zu erler-nen und zu nutzen (mit denen eigene Hypo-thesen effektiv untersucht und selektiert wer-den können) und die Hypothesenbildung durch (elektronische) Arbeitsblätter und durch ausgearbeitete Beispiele anzuregen; — die notwendige Lenkung erfolgt dann also nicht durch das Werkzeug, sondern durch zusätzliche Lernmaterialien. Die Wichtigkeit solcher ausgearbeiteter Beispiele erkennt man, indem man die evolutionäre Sichtweise als Leitlinie für den eigenen Erkenntnisge-winn anwendet: Im Informatikbereich gibt es viele Schüler, die sich komplexe Inhalte auto-didaktisch aneignen (man denke z.B. an die von vielen Schüler beherrschte Programmie-rung von OpenGL, die u.a. das Verständnis homogener Koordinaten voraussetzt). Solche Schüler suchen sich ihre Lernumgebungen selbst, und der didaktisch interessierte Leh-rer kann aus der Beobachtung dieses Pro-zesses lernen. Suchen Schüler etwa nach möglichst klaren Erklärungstexten, sind die Anhänger der Erklärungsideologie? Suchen Sie nach Seiten mit möglichst offenen Anre-gungen? Weder noch. Die mit Abstand be-liebteste Lernform ist das Lernen am Bei-spiel, das Nachmachen und langsam Verän-dern hin zu den eigenen Vorstellungen. Ich habe oben eine MaDiN-Seite kritisiert. Diese Wahl ist durchaus mit Bedacht getrof-fen: MaDiN ist insgesamt von ausgezeichne-ter Qualität. Wenn aber ein mit so viel Über-legung gemachtes Angebot suboptimal ist, dann zeigt das m.E. ein Grundproblem des "Lernort Internet" auf. Ebenfalls am Beispiel MaDiN lässt sich zeigen, dass die unüber-sichtliche Struktur eines Hypertextes dazu führen kann, dass trotz etablierter Qualitäts-kontrolle fachlicher Unsinn ins Netz gelangen kann. Vermutlich sind die von mir gefunde-nen Dinge längst korrigiert. Es bleibt der

Nachteil, dass der Lerner keine Dokumenta-tion der Änderung hat. Wenn er nach ein paar Monaten zurückkommt und das Gefühl hat, das Gegenteil dessen zu lesen, was vor ein paar Monaten da stand, bleibt er damit al-leine. Bei einem Buch könnte er, wenn ihn die Frage denn ernsthaft bedrückt, die Ge-schichte der verschiedenen Auflagen studie-ren. In seiner Schnelllebigkeit ist das Internet ge-schichtslos und, was bisher noch gar nicht angesprochen wurde, es ist extrem unper-sönlich. Dies führt zu Konflikten mit der Er-wartung vom Vergleichbaren. Wenn man ein Buch oder einen Aufsatz liest, erwartet man eine gewisse Gleichartigkeit der Argumenta-tionen und versucht diese herzustellen (Kon-stanzerwartung). Dies ist auch vernünftig, denn wenn all diese Gedanken von einem Menschen stammen, sollten sie sich halb-wegs passend ordnen lassen. Diese Sicht-weise wird problematisch, wenn man analo-ge Vergleichbarkeit an anderer Stelle erwar-tet (wenn etwa von "der Meinung des Spie-gel" gesprochen wird). Diese Erwartung wird aber selbst von seriösen Internetangeboten tiefgreifend enttäuscht. Mit der generellen Seriosität eines Angebots steigt die Zahl der involvierten Autoren. Der Leser hat also nicht mehr die Spur einer Chance, Bedeutungs-nuancen zwischen verschiedenen Autoren zu detektieren. Physikalisch interessierte Leser können sich durch eine einfache Metapher die bisher aus-gearbeitete Kritik verdichten in der Form, dass die Korrelationslänge des Internets zu klein ist.

6 Konstruktivismus?

Der Leser mag sich fragen, warum bisher nicht die konstruktivistische Erkenntnistheo-rie thematisiert wurde. Die vollständige Ant-wort wird in einer Analyse des Konstruktivis-mus enthalten sein, die gegenwärtig in Vor-bereitung ist (Oldenburg 2003). Hier nur eini-ge Bemerkungen dazu: Die Didaktik profitiert enorm vom Konstruktivismus, z.B. beim Ver-ständnis von Fehlvorstellungen. Zentral für die Leistungen des Konstruktivismus ist da-bei das Verständnis des Wissenserwerbs als individuelle Konstruktion. Diese Position ist aber Gemeingut unter vielen moderneren Ansätzen, z.B. den hier vorgestellten. Die weitergehenden Positionen des Konstrukti-vismus sind für die Didaktik unzureichend oder irrelevant. Für die hier geführte Diskus-sion leidet der Konstruktivismus an einer we-

Reinhard Oldenburg

158

niger detaillierten Vorstellung zur Wechsel-wirkung Medium und Individuum. Außerdem führt der Konstruktivismus zu einer systema-tischen Unterschätzung der Bedeutung der Eigenaktivität des Lerners (die ausführliche Begründung dieser möglicherweise als er-staunlich empfunden Aussage erfolgt in der oben zitierten Arbeit).

7 Das Internet als Anre-gung

Hier sollen exemplarisch einige Nutzungs-möglichkeiten des Internets im Mathematik-unterricht aufgezeigt werden, die in keiner Weise von der zuvor geäußerten Kritik ge-troffen sind. Als Bestandteile der Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen eignet sich das Internet als Quelle von Anregungen und als Thema des Mathematikunterrichts, gerade auch in Hinblick auf fächerübergreifende Pro-jekte.

Terme kommunizieren In den Anfangszeiten des Internet wurden Formeln oft als gif-Bilder in Seiten eingebun-den. Man kann mit den Schülern Vor- und Nachteile eines solchen Vorgehens diskutie-ren und sich die Repräsentation von Termen in verschiedenen Systemen anschauen:

• "Standard"-Formeleingabe im PC: a*x^2/3 • Lisp (Maxima). (* a (^ x (/ 2 3) ) ) • TeX: $a*x^{3/2}$ • Mathematica:

Times[a,Power[x,Rational[2,3]]] Man kann hier Anforderungen diskutieren, neue Repräsentationsformen erfinden und z.B. mit den ausufernd langen Kodierungen in MathML vergleichen.

Spam-Filter Die gegenwärtige Entwicklung zur Stärkung der Bayes-Statistik in der Schule (z.B. neue niedersächsische Rahmenrichtlinien) erfor-dert sinnvolle Projekte, die dies unterstützen.

Was ist Spam? Die Antwort darauf erfordert eine Individualisierung. Menschen unter-scheiden sich nun einmal in der Art der Mail, die sie lesen wollen. Lernfähige Spamfilter kann man z.B. folgendermaßen bauen: Der Nutzer klassifiziert in einer Trainingsphase eingehende Mail als Spam oder Ham (das ist die erwünschte Mail). Auf diese Art findet man die bedingten Wahrscheinlichkeiten ei-ner Klasse von Wörtern in Spam und in Ham. Auf der Grundlage dieses Wissens kann die Bayes-Formel angewendet werden: P(Spam|"Viagra") =

)Ham"Viagra("P)Spam"Viagra("P

)Spam"Viagra("P

+

Verallgemeinert auf viele Bewertungswörter kann man so eine gute Erkennungsrate er-reichen. Eine reale Anwendung findet man z.B. im Mozilla-Junk-Mail-Filter.

8 Zum Schluss

Dieser Aufsatz spannt einen weiten Bogen, der Leser entscheide, ob es gar ein zu weiter Bogen ist. Unbestreitbar dürfte sein, dass sich die Strukturen des Gehirns und damit die Prinzipien seiner kognitiven Leistungen in einer Umgebung evolutionär herausgebildet haben, die von den heutigen gesellschaftli-chen Realitäten und erst recht von der virtu-ellen Realität des Internets weit entfernt ist.

Literatur MaDiN — Mathematikdidaktik im Netz (2003),

www.madin.net, gelesen 24.9.2003. Die Seiten sind mittlerweile deutlich geändert.

Oldenburg, Reinhard (2003): Realistischer Kon-struktivismus. Göttingen: Preprint

Quine, Willard van Orman (1975): Ontologische Relativität und andere Schriften. Stuttgart: Reclam

Riedl, Rupert (1988): Biologie der Erkenntnis. München: dtv

Wittmann, Gerald (2003): Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehrveranstaltungen? In diesem Band

Weitere Literatur zu den philosophischen Themen findet sich in Oldenburg (2003)

159

1 Einleitung

"Bei gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Fragen wird heute zu-nehmend mit statistischen Daten ar-gumentiert. Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehen verwenden Tabellen, graphische Darstellungen, Mittelwerte und Anteilsangaben, um Informationen zu übermitteln. Auch im Mathematik-unterricht und in anderen Unterrichts-fächern treten immer wieder statis-tische Daten in Form von Tabellen und Graphiken auf, die der Schüler richtig lesen und interpretieren soll. Dazu sind Sachkenntnisse erforderlich." (Kütting 1994, 9)

Die zunehmende Informationsflut und das Wachstum des verfügbaren Wissens zwingt uns Methoden zu entwickeln, die es erlau-ben, schnell Überblick über große Daten-mengen zu gewinnen. Schülern einige dieser Methoden an die Hand zu geben, ist ein zentrales Ziel der schulischen Beschreiben-den Statistik. Im Schuljahr 1999/2000 wurde diese im Lehrplan der gymnasialen Oberstu-fe Nordrhein–Westfalens fest verankert. Of-fensichtlich gibt es im Bereich dieses The-menkomplexes viele Möglichkeiten, hand-lungsorientierte Ansätze umzusetzen. "Die Beschreibende Statistik eignet sich in besonderer Weise für die Durchführung klei-nerer Projekte aus dem Umfeld Schule. Im Experiment können Antworten auf wirklich-keitsnahe Fragen gegeben werden." (NRW MSWWF 1999, 15) Schüler können für sie relevante oder inter-essante Problemstellungen nicht nur bearbei-ten, sondern sogar von Grund auf erarbeiten. Sie können aktiv Daten erheben und sie

quantitativ und qualitativ auswerten. Die ma-thematisch notwendigen Begriffe können sich dabei aus dem Wunsch ergeben, den Daten spezielle Informationen zu entnehmen. Ziel dieses Beitrags ist es, eine Lernumge-bung1 zu Begriffen der Beschreibenden Sta-tistik, speziell Korrelation und Regression, vorzustellen und über deren Umsetzung kurz zu berichten (ausführlicher in Pallack 2003). Die Entscheidungen, welche schließlich zur konkreten Planung und Durchführung der Unterrichtsreihe führten, sollen im Folgenden systematisch dargelegt werden. Ausgehend von schulischen Rahmenbedingungen, wer-den in einem ersten Schritt das Konzept der Handlungsorientierung vorgestellt und Vor-schläge zur Realisierung handlungsorientier-ten Mathematikunterrichts angeführt. Im zweiten Schritt wird die Problematik der Beziehung von Schule und Computer in aller Kürze umrissen. In der betreffenden Unter-richtsreihe erfüllten Rechner zwei zentrale Aufgaben: • Sie dienten im Unterricht als Werkzeug

(CAS-System) für die Schüler. • Sie dienten der Präsentation der Ergeb-

nisse und Meinungen von Schülern. Da die erste Funktion mittlerweile in vielen Lehrplänen berücksichtigt und der Einsatz von Rechnern bzw. grafischen Taschenrech-nern mit CAS in vielen Ländern erlaubt oder gar vorgeschrieben wird (Weigand & Weth 2002, XI), verzichte ich auf die Darstellung

1 Zur Begriffsklärung: Eine Lernumgebung umfasst das Gesamtar-

rangement, das zur Unterstützung von Lernprozessen planvoll ge-staltet werden kann; zu den Komponenten einer Lernumgebung zählen neben adäquaten Räumlichkeiten die Lehrenden, Lehr- und Lernmaterialien und natürlich auch Medien in unterschiedlichen Funktionen (entnommen aus Möller, 1999, 142)

Integration des Internets im Mathematikunterricht unter Berücksichtigung von Aspekten der Handlungs-orientierung am Beispiel der Behandlung von Korrelation und Regression in der Jahrgangsstufe 11

Andreas Pallack, Soest

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einer Lernumgebung zur schulischen Beschreibenden Statistik unter Berücksichtigung der neuen Medien. Grundlage ist eine Unterrichtsreihe in der Jahrgangsstufe 11. Der Kurs wurde unter Nutzung des Mediums Internet und eines CAS-Werkzeugs unterrichtet. Der Unterricht wurde methodisch so angelegt, dass selbst-regulierende Prozesse zur Konstruktion tragfähiger Begriffe durch eine den Schülern vorgegebene Organisationsstruktur angeregt und z.T. auch durchlaufen wurden.

Andreas Pallack

160

der Möglichkeiten von CAS. Einen Überblick hierzu bieten sie in ihrem Buch zu Compu-tern im Mathematikunterricht (ebd., Kap. IV). Die Nutzung des Internets als Publikations-organ ist im schulischen Rahmen weitaus weniger etabliert als der Einsatz von CAS. Da sie jedoch eine wesentliche Komponente des vorgestellten Konzeptes ist, habe ich ihr das 5. Kapitel des vorliegenden Beitrags ge-widmet. Einen Überblick zu Konzepten der Einfüh-rung von Korrelation und Regression im Un-terricht erspare ich dem Leser ebenso wie Details zur Lerngruppe und Stundenverläufe. Ich beschränke mich auf einen kleinen Über-blick und einige wenige exemplarische Sze-nen des unterrichtlichen Geschehens.

2 Handlungsorientierung als Konzept für den (all-) täglichen Mathematik-unterricht?

Der Unterricht der Oberstufe ist an Rahmen-bedingungen gebunden. Hierzu gehören u.a. der 45-Minuten-Takt, die Notwendigkeit der Notengebung, die beschränkte Möglichkeit, Schüler außerschulisch mit Arbeiten zu be-auftragen, z.T. große Kurs- und Klassenfre-quenzen oder auch die Lehrpläne, welche Rahmen für jedes Schulfach festlegen. Ver-änderungen, wie sie mittlerweile gefordert werden, sind jedoch eine Sache von Men-schen und nicht von Papier, wie auch Wei-gand (1997, 325) in einer Arbeit zum compu-tergestützten Lernen herausstellt. Wenig aussichtsreich scheint es, nicht zuletzt aus diesem Grund, Konzepte unter Missachtung oder Beschönigung der genannten Rahmen-bedingungen zu entwickeln. Vielmehr muss es Ziel sein, auf der Basis des Ist-Zustands schüleraktive Unterrichtseinheiten zu planen und so sukzessive Veränderungen "von in-nen" herbeizuführen. Schüleraktivität wird häufig mit Handeln, also dem sinnvollen Tun des Lernenden, assozi-iert. Im nächsten Kapitel stelle ich deswegen Beiträge der allgemeinen Didaktik zur Hand-lungsorientierung vor und verdichte die In-formationen zur begrifflichen Klärung. Diese Ausführungen eher allgemeiner Natur wer-den dann auf den Mathematikunterricht an-gewendet und konkretisiert. Auf der so ge-schaffenen Basis werden schließlich einige Kriterien zur Planung eines handlungsorien-tierten Statistikunterrichts entwickelt.

2.1 Handlungsorientierung und Mathematikunterricht

Kann Handlungsorientierung überhaupt ein akzeptables Konzept für den Mathematikun-terricht sein? Die Vorstellung von dem, was Handeln ist, steht doch in einem eher ambi-valenten Verhältnis zum primär kognitiv aus-gerichteten Lernen von Mathematik. Obwohl die folgenden Zahlen bereits recht abgegrif-fen sind und die zugrunde gelegte Studie wohl noch niemand der zahlreichen Zitieren-den gelesen hat (auch Klimsa, 2002, 9, konn-te die Quelle trotz umfangreicher Nachfor-schungen nicht ausfindig machen), wage ich es trotzdem und führe (Gudjons 1997, 55) an. Die von ihm zitierte empirische Untersu-chung ergab: Wir behalten 20% von dem, was wir hören, 30% von dem, was wir sehen, 80% von dem, was wir selber formulieren können, 90% von dem, was wir selber tun. Ziel müsste es demnach sein, Schüler zum stetigen sinnvollem Tun zu bewegen. Dies ist ein Ziel handlungsorientierten Unterrichts. Handlungen sind direkt gekoppelt mit dem Aufbau günstiger kognitiver Strukturen. Nä-here Ausführungen hierzu finden sich u.a. bei (Gudjons 1997). Gegenüber der derzeitigen Schulrealität, in welcher Schüler häufig dem Lehrer folgen und jeder Schritt durch eine starke Abhängigkeit von ihm geprägt ist, soll handlungsorientierter Unterricht die gesell-schaftlich notwendige Selbstverantwortung der Schüler fördern und fordern (Gudjons 1998, 108). Der Unterricht wandelt sich vom linearen zum iterativen Prozess. Umwege und auch Irrtümer können in ihm als Lern-chancen begriffen werden. (Handlungsorientierter) Unterricht muss den Schüler zum Handeln provozieren. Selbsttä-tigkeit und die damit verbundene Handlung führt Schüler zur erwünschten Selbstständig-keit. Aufgabe des Lehrers ist es, für seine Ziele geeignete Provokationen zu entwickeln (im Sinne von Gudjons 1997, 8, kann auch von Dissonanzen gesprochen werden) und diese in geeignete Lernumgebungen einzu-binden. Die unterrichtliche Umsetzung von Lernumgebungen ist unter anderem durch Sozialformen des Unterrichts geprägt. Pas-send erscheint Gruppen- oder Partnerarbeit (Jank & Meyer 1994, 356, Hole 1998, 11). Auch Sozialformen eines möglichen Projekt-unterrichts sind denkbar (s. hierzu vor allem Frey 1998).

Integration des Internets im Mathematikunterricht

161

Handlungsorientierung erhebt nicht den An-spruch, eine neue Didaktik zu repräsentieren. Handlungsorientierter Unterricht soll Schü-lern den handelnden und aktiven Umgang mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit erlau-ben (Gudjons 1998, 103, Beckmann 1999, 79). Verschiedene Autoren setzen dabei un-terschiedliche Akzente bei ihrer Um- und Be-schreibung von Handlungsorientierung (z.B. Beckmann 1999, 79f). Nicht zuletzt dies zeigt, dass es sich bei Handlungsorientierung nicht um ein vollständig ausformuliertes (star-res) didaktisches Konzept handelt (Gudjons 1998, Gudjons 1997, Jank & Meyer 1994, Meyer 1987). Auch ist das Konzept nicht vol-lends revolutionär. Es gibt durchaus Berühr-punkte mit dem exemplarischen, genetischen Lernen (v.a. Wagenschein 1968) und dem entdeckenden Lernen (Bruner 1974). Eine weit verbreitete Merkmalsliste zur Cha-rakterisierung handlungsorientierten Unter-richts stammt von Jank & Meyer (1994). Sie führen sieben Merkmale handlungsorientier-ten Unterrichts an, die im Folgenden umris-sen werden. Hervorgehoben wird, dass Handlungsorien-tierter Unterricht ganzheitlich und schülerak-tiv ist. Hierzu gehört sowohl, dass Schüler Gelegenheit haben, mit allen Sinnen zu ler-nen, als auch, dass nicht die Fachsystematik den Unterricht dominiert (Horstmann, Meyer-Lerch et al. 1987, 8). Das schließt, was gera-de für den Mathematikunterricht von immen-ser Bedeutung ist, nicht aus, dass der Unter-richt systematische Abschnitte enthält. Im Wesentlichen sollte sich jedoch aus nur we-nigen vom Lehrer entwickelten Vorgaben ein selbstständiger und von Selbsttätigkeit ge-prägter Lernprozess entfalten. Die Notwen-digkeit der Aktivität der Schüler beschreibt auch Freudenthal (1970, 107ff). Akzentuiert wird hier der Wandel vom Tun des Lehrers auf das des Schülers. Ein weiteres Merkmal ist, dass im Mittelpunkt des handlungsorientierten Unterrichts die Entwicklung von Handlungsprodukten steht, mit denen weitergearbeitet, gespielt und ge-lernt werden kann. Handlungsprodukte kön-nen dabei veröffentlichungsfähige materielle und geistige Ergebnisse der Unterrichtsarbeit sein. Zu Beginn des handlungsorientierten Unterrichts steht ein relevantes, unter Be-rücksichtigung der Schülerinteressen ausge-wähltes Problem eher kognitiver Natur. Zum Ende entsteht ein Handlungsprodukt, mit dem sich Schüler identifizieren können. Ge-rade solche Handlungsprodukte sind zur Zeit im Mathematikunterricht eher selten vorzu-finden. Dabei gibt es auch in diesem Fach

Teilgebiete, die hierzu prädestiniert wären. Als Beispiel sei die Stochastik angeführt. Da es nicht Ziel eines adäquaten handlungsori-entierten Unterrichts sein kann, primär Hand-lungsprodukte zu schaffen, deren Erstellung nicht mit den Zielen des jeweiligen Faches in Einklang zu bringen ist, muss das Spektrum möglicher Produkte hinreichend einge-schränkt werden. Handlungsprodukte müs-sen in den Rahmen des Unterrichts und der häuslichen Nacharbeit, also in den derzeiti-gen organisatorischen Rahmen, einbettbar sein, um als Alternative zu üblichen Vorge-hensweisen akzeptiert werden zu können (Breuer, Hermann-Wyrwa et al. 2000, 30). Für den Mathematikunterricht bieten sich Wandzeitungen, Schülerbücher, Flugschrif-ten, ein Experiment oder auch das Veröffent-lichen im Internet an. Eine spezielle Form von letzterem ist das in einem der nächsten Abschnitte vorgestellte WWP, das gerade unter Berücksichtigung des gegebenen schu-lischen Rahmens entwickelt wurde. Handlungsorientierter Unterricht bemüht sich, die subjektiven Schülerinteressen zum Aus-gang der Unterrichtsarbeit zu machen. Er bietet den Schülern aber auch Möglichkeiten, die eigenen Interessen weiter zu entwickeln. Die umspannenden Kontexte werden durch den Lehrer unter Berücksichtigung der Schü-lerinteressen gewählt. Handlungsorientierter Unterricht schmiegt sich an dies an und be-rücksichtigt die Umwelt der Schüler. Damit ist nicht gemeint, dass die Lehrkraft keine oder nur wenige Möglichkeiten bezüglich der The-menauswahl hat. Dies würde auch der ange-strebten Adaptivität widersprechen und mög-liche Konflikte zu Richtlinien aufwerfen. Ziel sollte es vielmehr sein, aus den Rahmen-bedingungen heraus Lernsituationen zu pla-nen, die nicht die Schüler bloß berücksichti-gen, sondern sie zum Ausgangspunkt der Überlegungen macht. Hierzu muss der Leh-rer seine Schüler kennen und deren Umfeld und soziale Lage stetig analysieren (Meyer 1987, 413). Soziale Verknüpfungen und die persönlichen Beziehung von Schülern und Lehrer stellen nicht vernachlässigbare Aspekte der Planung und Durchführung von Unterricht dar. Subjektive Schülerinteressen sind dabei situationsspezifische, persönliche Bedürfnisse, Vorstellungen und Phantasien zum Unterricht (ebd.). Diese sind Schülern oft nur unbewusst bekannt, wirken jedoch trotzdem handlungsleitend. Des Weiteren sollten Schüler von Anfang an bei der Planung, Durchführung und Auswer-tung des Unterrichts beteiligt werden. Jeder Schritt ist Anregungen, Kritiken oder auch Handlungen von Schülern ausgesetzt. Unbe-

Andreas Pallack

162

gründete Schritte müssen plakativ als solche präsentiert und entweder begründet oder ver-worfen werden. Der Lehrer sucht in der eige-nen persönlichen Vorplanung Elemente, wel-che Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Der Planungsprozess selbst erfolgt und vollzieht sich handlungsorientiert im Unterricht (Gud-jons 1997, 106). Durch die Produktbezogenheit sollte Hand-lungsorientierter Unterricht zu einer Öffnung von Schule führen. Zum einen wird Unterricht und die Beziehung von Lernenden und Leh-renden offener, zum anderen sollten Schüler Gelegenheit erhalten, ihre Erfahrungen oder Vermutungen nach außen zu tragen und hier zu überprüfen. Umgekehrt sollte auch das schulische Umfeld (z.B. Eltern oder Freunde) Gelegenheit erhalten, auf die Handlungspro-dukte zuzugreifen, und ggf. an ihnen Kritik zu äußern. Auch hierzu möchte ich auf das spä-ter vorgestellte WWP verweisen. Produktbezogenheit eröffnet auch die Chan-ce, Kopf- und Handarbeit in ein ausgewoge-nes Verhältnis zu bringen. Kopfarbeit sind dabei immaterielle, Handarbeit materielle Handlungen. Diese stehen in einer dynami-schen Wechselwirkung zueinander. Das Ver-hältnis von Kopf- und Handarbeit sollte vor Durchführung einer Unterrichtseinheit weder festgelegt noch vorgeplant werden, da es stark schülerabhängig sein kann. Die Energie der Lehrer sollte primär in die Vorbereitung des Unterrichts eingehen. Unter Vorbereitung darf dabei nicht die exakte und haarkleine Planung verstanden werden. Vielmehr sollte der Lehrer vorab formulieren, in welcher Zeit welche kognitiven, affektiven und auch psy-chomotorischen Ziele und Fertigkeiten er-reicht werden sollen. Hierauf können dann geeignete Provokationen aufbauen. Propagiert wird hier eine Form der Hand-lungsorientierung, die nahezu unmittelbar umsetzbar ist, also ein hinreichend adaptives Konzept. Die gegebenen Rahmenbedingun-gen werden ebenso berücksichtigt und ak-zeptiert wie das Umfeld und die am Unter-richtsprozess beteiligten Personen. Dies spiegelt sich auch in den folgenden Vor-schlägen für einen handlungsorientierten Ma-thematikunterricht wieder, die zu den vorher-gehenden Ausführungen kohärent sind.

2.2 Vorschläge für einen hand-lungsorientierten Mathema-tikunterricht

Mathematik nimmt, wie es oft der Fall ist, ei-ne Sonderrolle ein. So gibt es nur wenige Au-

toren, welche sich mit Handlungsorientierung auseinandersetzen und konkrete Beispiele zu deren Umsetzung im Mathematikunter-richt angeben. Auch Gudjons (1998, 120) be-tont, dass es naiv wäre anzunehmen, dass sich alle Fächer bruchlos handlungsorientiert lehren und lernen ließen. Als Beispiel führt er die Prozentrechnung an. Die folgenden Vorschläge dienen als Anre-gung und wurden unter Beachtung der im vo-rigen Abschnitt formulierten Merkmale hand-lungsorientierten Unterrichts entwickelt. Sie leiten auf konkrete Entscheidungen zur Pla-nung des Unterrichts. Ich nehme dabei be-wusst davon Abstand, mich vorab auf eine Jahrgangsstufe festzulegen. Ziel ist es viel-mehr, Kriterien herauszuarbeiten, die bei der Planung von konkretem Statistikunterricht hilfreich sind und dann als Grundlage für die noch folgende Darlegung der konkreten Ent-scheidungen dienen können. Realitätsbezug: Aufgaben und Probleme sollten im Statistikunterricht zum einen ge-sellschaftliche Relevanz, zum anderen hin-reichenden Realitätsbezug bieten. Hierzu ge-hört, dass sich Schüler mit realen Daten aus-einandersetzen. Der Umgang mit diesen ist meist unbequem und für Lehrer und Schüler mit Aufwand verbunden. Eine Möglichkeit, derartige Aufgaben und Probleme in den Un-terricht zu integrieren, ist der früh einsetzen-de und stetig verfolgte Rechnereinsatz. Vor allem wünschenswert ist das Erlernen der Bedienung möglicher Werkzeuge. Das kann Derive, Maple, aber auch Excel oder ein an-deres Programm sein. Schüler erlangen hier-mit Fähig- und Fertigkeiten, welche sie erst in die Lage versetzen, in einem zeitlich ange-messenen Rahmen Probleme mit Lebensbe-zug selbsttätig zu lösen. Betont sei an dieser Stelle, dass nicht gemeint ist, dass Statistik-unterricht stets reale Probleme mit konkreten Messwerten zu Grunde liegen müssen. Viel-mehr sollte im Falle des Rückgriffs auf reale Messungen keine Beschönigungen oder nicht unbedingt notwendige Elementarisie-rungen durch die Lehrkraft vorgenommen werden. Es könnte sonst der Eindruck ent-stehen, dass statistische Daten für den Ma-thematikunterricht erfunden wurden und nichts mit realen Problemen gemein haben. Fazit: Unbequeme Zahlen und Rechnungen nicht umgehen, sondern provozieren. Unter-richtsergänzende Werkzeuge berücksichti-gen und ggf. direkt zu Beginn in den Unter-richt integrieren. Schülerorientierung: Mathematikbücher ge-ben häufig enge Lernwege vor. Im Rahmen eines schülerorientierten Unterrichts kann

Integration des Internets im Mathematikunterricht

163

somit ein Lehrbuch nicht einzige Grundlage des Unterrichts sein. Es kann sehr wohl als Nachschlagewerk und Aufgabensammlung dienen. Des Weiteren bieten Schulbücher nur sporadisch Gelegenheit und Anregung, Handlungsprodukte zu erstellen. Das Haupt-nachschlagewerk und die Grundlage für Wie-derholungen sollten für Schüler primär die ei-genen im Unterricht und im Rahmen der Hausaufgaben angefertigten Unterlagen sein (Barzel 2001, 6). Zu Beginn dieses Ab-schnitts habe ich angeführt, wie hoch die Be-haltquoten bei verschiedenen Methoden der Wissensaufnahme ist. Können Schüler den mathematischen Inhalt in eigenen Worten wiedergeben, erreichen sie eine höhere Be-haltquote als lediglich beim Lesen desselben (zumindest wenn man die gezeigten Zahlen ernst nimmt). Aus dieser Perspektive ist es sinnvoll, das eigene Formulieren und Ver-schriftlichen zu fördern. Schüler sollen häufig Ergebnisse eigenständig formulieren und mit anderen Schülern abgleichen. Der Unterricht schmiegt sich so an die Schüler, deren Defi-zite, Fertigkeiten etc. an. Fazit: Nicht an Schulbücher klammern. Schüler so oft wie möglich Zusammenhänge selbstständig schriftlich und mündlich formu-lieren lassen. Bei Wiederholungen primär auf die schülereigenen Aufzeichnungen zurück-greifen. Erfahrungsbezug: Wenn Schüler etwas be-obachten, sehen, hören, lesen oder auch er-fahren, setzen sie dies in Verbindung zu frü-heren Erlebnissen. Sie verarbeiten so das neu Aufgenommene, das dann wieder Grundlage für neue sinnliche Erfahrungen und deren Verarbeitung wird (Jank & Meyer 1994, 313). Im Prozess der Verarbeitung werden Erfahrungen zu Haltungen verdichtet. Diese steuern das reale körperliche Handeln von Lernenden. Unterricht kann das nutzen. Durch Provokation werden Schüler motiviert, ihre eigenen Erfahrungen zu veröffentlichen. Auch hier ist es wieder Aufgabe des Lehrers, geeignete Provokationen zu finden. Im Ma-thematikunterricht könnte auf recht einfache Erfahrungen wie z.B. die schnelle Kurven-fahrt oder auch den bekannten Papierstapel auf dem heimischen Schreibtisch zurückge-griffen werden. Bei solchen Erlebnissen ha-ben Schüler keine Erfahrungen aus zweiter Hand übernommen. Sie haben sie mit meh-reren Sinnen gleichzeitig erlebt. Unterricht, der Erfahrungsbezug fördert, schafft eine gu-te Grundlage zur Generierung von Hand-lungsprodukten. Schüler bringen verstärkt ei-gene Empfindungen ein, veröffentlichen die-se im Handlungsprozess und erhalten so ver-stärkt Gelegenheit etwas zu schaffen, mit

dem sie sich identifizieren können. Kurz: Un-terricht wird intensiver erlebt, und nur so können sich die Schüler als ganze Person einbringen, was letztendlich auch ein Indika-tor für handlungsorientierten Unterricht ist (Bönsch 2000, 46). Fazit: Erfahrungen der Schüler bei der Mo-dellierung von Provokationen berücksichti-gen. Schüler dabei fördern, ihre eigenen (subjektiven) Erfahrungen in den Unterricht einzubringen. Diese Vorschläge stellen Richtlinien der Unterrichtsplanung dar.

3 Zur Entwicklung der Be-ziehung von Schule und Rechner, Chancen des Rechnereinsatzes

Der Computer mit seinen Möglichkeiten drängt unaufhaltsam in die Schule, das Be-rufs- und Familienleben, also in fast alle ge-sellschaftlichen Bereiche. Dabei finden sich zwischen diesen immer mehr Überschnei-dungen, welche deren einst disjunkte Natur schwinden lässt. Der Computer hat viele Le-bensbereiche im Sturm durchdrungen und kann nur von wenigen Wirtschafts- und Wis-senschaftszweigen unserer westlichen Ge-sellschaft ignoriert werden. Die Lebensreali-tät unserer Schüler ist an diese Entwicklung gekoppelt. Sie leben in einer Welt, in der die von den neuen Medien ausgehende Informa-tionsflut nicht mehr überschaubar ist. Viele integrieren neue Vokabeln wie Virtual-Reali-ty, Cyberspace oder MP-3 fest in ihren Wort-schatz. Die rasante technische Entwicklung schuf auch neue Anforderungen. Viele Schü-ler werden von den Existenzstrategien ihrer Eltern Abstand nehmen müssen und ge-zwungen sein, vielschichtige Flexibilität zu erlangen, welche die Anpassung an das ste-tig wandelnde Umfeld erst ermöglicht (Hole 1998, 7). Das Gelernte veraltet so schnell wie nie zuvor. Starre Strukturen, ohne hinrei-chende Dynamik scheinen nicht mehr geeig-net, um im Berufsleben bestehen zu können. Vielmehr sind es flexible Fähigkeiten wie schnelles Umlernen oder schnelles Einarbei-ten in Neuerungen, die mögliche Garanten für den Erfolg im Beruf repräsentieren (Hey-mann 1996, 56f, Papert 1994, 21). Immer wichtiger werden dabei Qualifikationen wie selbstständiges Arbeiten, Organisationsfähig-keit, Kreativität beim Umgang mit Problemen, Team- und Kooperationsfähigkeit, aber auch das Ergreifen von Initiativen und das Über-nehmen von Verantwortung (Gudjons 1998,

Andreas Pallack

164

108). Nicht zuletzt wird künftig erwartet, dass Schulabsolventen Informationsnetze und vernetzte Computer kompetent nutzen und Daten effektiv selektieren können (Schul-meister 1997, 8). Das Aussparen eines möglichen Rechner-einsatzes ignoriert Teile des Lebensumfelds von Kindern und Jugendlichen. Schüler wer-den darin bestätigt, dass die schulische Aus-bildung nichts oder nur wenig mit ihrer jetzi-gen und zukünftigen Lebenswelt gemein hat (Maier 1998, 165, aber auch Frey 1998, 71). Die neuen Technologien scheinen somit den schulischen Bereich von der Lebenswelt der Schüler zu trennen. Papert (1994, 59–78) hat diese Entwicklung beobachtet und beschrie-ben. Er spricht von einer Immunreaktion des Systems Schule. Nachdem die ersten Rech-ner Einzug in die Schule hielten, wurde ver-sucht, alte Methoden und Inhalte mit Hilfe des Rechners umzusetzen. Er sollte in das traditionelle Bild eingebaut werden. Da dies langfristig nicht sinnvoll erschien, versuchte das System Schule, ihn abzusondern. Es wurde sogar ein eigenes Fach für ihn ge-schaffen. Nach und nach erfolgt nun eine sinnvolle Integration, die immer noch von heftigen Abwehrreaktionen begleitet wird. Aus dieser Sicht kann die Beziehung von Schule und Rechner zur Zeit noch als patho-logisch bezeichnet werden. Wie kann jedoch Schule und vor allem der Mathematikunterricht von diesem Wandel und der damit verbundenen Innovation profi-tieren? Kayser schrieb in Bezug auf den Ein-satz von Derive im Rahmen des schulischen Mathematikunterrichts: "Arbeitsaufträge an die Lernenden — in Part-ner- oder Gruppenarbeit auszuführen — kön-nen nun offener formuliert werden, unsere Schülerinnen und Schüler lernen, im Team zu arbeiten und Verantwortung für eine ge-meinsame Aufgabe zu übernehmen, fach-übergreifende Themen werden zugänglich, Mathematikunterricht wird effizienter, span-nender, und zwar für Lernende und Lehren-de." (Kayser 1995, 8) Aufgrund der breiten Praxiserfahrung des angeführten Autors unterstelle ich, dass die angerissenen positiven Assoziationen (offe-ner, Team, Verantwortung, gemeinsame Auf-gabe, fächerübergreifend, effizienter, span-nender) nicht Spekulation, sondern authenti-sche Erfahrungen sind. Der Rechner erwei-tert das Spektrum der unterrichtlichen Mög-lichkeiten immens. Trotzdem ist es immer noch von der Lehrkraft und deren Konzeption abhängig, ob der Rechner-Einsatz fruchtbar ist.

"Wer im Unterricht keinen Computer einsetzt ist noch lange kein pädagogischer Neander-taler!"; "Wer einen Computer in sein Klas-senzimmer stellt, ist deshalb noch lange kein moderner Pestalozzi." (Huber 1998, 37) Dieses Zitat unterstreicht, dass die durch den Rechner ermöglichte Innovation, nicht von den Geräten selbst ausgeht. Vielmehr müs-sen Schüler die Notwendigkeit entdecken, dass der Einsatz nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig, sinnvoll oder zumindest immens arbeitserleichternd ist (Hole 1998, 43). Des Weiteren muss die Lehrkraft geeig-nete Provokationen entwickeln, welche den Unterricht fundieren und dessen Inhalte mo-tivieren. Die Integration des Rechners in tra-ditionelle Unterrichtsstrukturen, also meist Frontalunterricht (Meyer 1987, 61), scheint nicht oder nur bedingt sinnvoll. Hier kann der Rechner zwar geschickt substituieren, jedoch keine, bzw. nur beschränkt Neuerungen in-duzieren. In günstigen Fällen werden affekti-ve Lernziele des Unterrichts stimuliert.

4 Integration von Aspekten der Handlungsorientie-rung im Statistikunterricht

"Die Fähigkeit, vorgelegte Statistiken zu verstehen, zu interpretieren, sich von ihnen nicht manipulieren zu lassen und auch Statistiken selber zu erzeu-gen, hat im Hinblick auf die Lebens-vorbereitung, auf die Weltorientierung und auf den kritischen Vernunft-gebrauch einen hohen allgemeinbil-denden Wert." (Hole 1998, 138)

Handlungsorientierter Unterricht erfordert ei-ne Provokation. Nachdem mir die Interessen-felder der Schüler einigermaßen bekannt und auch ihre Pausengewohnheiten kein Ge-heimnis mehr waren, schien es lohnenswert, die gesundheitsschädigende Wirkung von Tabak auf die Tagesordnung zu bringen. In einer frühen Phase des Unterrichts wurden die Schüler mit folgenden fiktiven Daten kon-frontiert: In zwei Städten wurden jeweils sechs Todes-fälle mit der Ursache Lungenkrebs dahinge-hend analysiert, ob und wie viele Zigaretten die Personen im Zeitraum der letzten zehn Jahre pro Tag konsumierten, mit folgenden Ergebnissen:

Integration des Internets im Mathematikunterricht

165

Stadt 1:

Zigaretten pro Tag 40 5 20 0 20 10 Lungenkrebs im Alter von 40 71 63 60 68 69

Stadt 2:

Zigaretten pro Tag 20 3 22 4 40 15 Lungenkrebs im Alter von 50 71 68 75 36 62

Es wurde zur Diskussion gestellt, ob man aufgrund der gegebenen Daten von einem Zusammenhang zwischen Zigarettenkonsum der Lungenkrebssterblichkeit sprechen kann. Was ein Zusammenhang ist und wie man ihn quantifizieren kann, war zu diesem Zeitpunkt offen und Gegenstand der Diskussion. Die Schüler entwickelten Ideen, wie man mit den Daten verfahren könnte. Es zeigte sich da-bei, dass primär univariate Strategien wie Auszählen im Vordergrund standen. Schnell wurde klar, dass die bisher bekannten Me-thoden keine befriedigende Antworten liefer-ten. Es entwickelte sich ein guter Nährboden zur Vorstellung des Korrelationskoeffizienten und der Methode der linearen Regression zur Beschreibung linearer Zusammenhänge von intervallskalierten Daten. Die Schüler bekamen die Aufgabe, selbst ei-ne Untersuchung durchzuführen und auszu-werten. Festgelegt wurden lediglich die Rah-menbedingungen: "Mindestens 40 Proban-den"; "mindestens 6 Testitems, wobei min-destens zwei nominalskaliert zu wählen sind"; "es müssen begründet Zusammen-hänge zwischen den Items vermutet wer-den". Inhaltlich waren die Schüler in ihrer Wahl völlig frei. Da sich der übliche Korrelationskoeffizient zum Vergleich nominalskalierter Daten nicht eignet, waren die Schüler gezwungen, die vorgestellte Methode hinreichend zu reflek-tieren und ihren Einsatz abzuwägen. Ein weiteres zentrales Ziel der geplanten Einheit war, dass die Schüler sich mit einer von ihnen gewählten Aufgabenstellung iden-tifizieren können und so den direkten Bezug des Mathematikunterrichts zu sich und ihrer Umwelt herstellen konnten. In Kap. 2 wurden bereits Kriterien für einen Handlungsorien-tierten Unterricht erarbeitet. Für die Behand-lung von Korrelation und Regression kann man die Kriterien wie folgt konkretisieren: Realitätsbezug: Um Realitätsbezug zu ge-währleisten, sollen die Schüler authentische Daten messen und auswerten. Das Problem wurde selbst gewählt und Fragestellungen hierzu selbst entwickelt. Bei der Unterrichts-reihe wurde ein Rechner (TI92) direkt zu Be-ginn der Einheit in den Unterricht integriert,

um die Auswertung selbst gemessener Da-ten zu ermöglichen. Schülerorientierung: Die Schüler wurden durch einen Terminplan angehalten, ihre Ideen und Vorschläge in regelmäßigen Ab-ständen zu formulieren und darzulegen. Ebenfalls eingebunden waren Kurzvortrags-phasen, in welchen die Schüler ihre Ideen anderen Schülern vorstellten. Ein Schulbuch (Cöster, Griesel et al. 1999) lag den Schülern als Nachschlagewerk vor und wurde nicht explizit eingebunden. Weitere Literatur wurde für die Zeit des Projekts zur Verfügung ge-stellt. Erfahrungsbezug: Die im Unterricht vorge-stellten Provokationen boten den Schülern lediglich Impulse für eigene Ideen. Sie waren nicht so angelegt, dass den Schülern ein konkretes Problem nahegelegt wurde. Diese wurden vielmehr dazu motiviert, ihre eigene Erfahrungswelt in Kleingruppen einzubringen und auf dieser Grundlage Hypothesen zu entwickeln und zu formulieren.

5 WWP — World Wide Publishing

"Durch die Präsentation im Internet wird der enge Klassenrahmen aufge-hoben und eine starke Motivation ge-schaffen, da die ganze Welt zuschaut." (Gierhardt 2000)

Handlungsorientierung und auch die Projekt-methode sehen meist die Publikation der Er-gebnisse vor. Neben den traditionellen Me-dien stehen nunmehr auch elektronische, wie z.B. das Internet, zur Verfügung. In der zu Grunde gelegten Arbeit wurde das Internet zur Publikation von Schülerergebnissen ge-nutzt. Das WWP soll kein neues Schlagwort für das ''Ins-Netz-Stellen'' sein, sondern nachhaltig Eigenschaften des elektronischen Publizierens im Rahmen einer Lernumge-bung unterstreichen. Den Beteiligten wird unmittelbar bewusst (gemacht), dass die Informationen und Aus-arbeitungen, welche im Netz bereit gestellt werden, weltweit verfügbar sind. Ebenfalls wird betont, dass die Ergebnisse publiziert, d.h. der Öffentlichkeit zugänglich sind. Schu-le öffnet sich nach außen. Eltern, Bekannte, Freunde oder andere Interessierte haben die Möglichkeit, rund um die Uhr auf unterrichts-bezogene Seiten zuzugreifen. Im Gegensatz zum einseitigen "Ins-Netz-Stellen'' soll der Begriff des WWP auch implizieren, dass Re-

Andreas Pallack

166

sonanz auf die Publikation nicht nur erlaubt, sondern sogar gefordert wird. Beim WWP stellen Schüler eigenverantwort-lich und selbstständig angefertigte Hand-lungsprodukte im WWW aus. Die Handlungs-produkte sind unmittelbar mit Namen ver-knüpft. Es ist somit für Außenstehende oder Interessierte unmittelbar einsehbar, wer wel-ches Produkt mitgestaltet hat. Per E-Mail oder in etwaiger anderer Schriftform kann Lob oder Kritik an den Produkten geäußert werden.

5.1 Inhalt und Struktur einer WWP

In der Präsentation stellen Schüler ihre Aus-arbeitungen vor. Diese sollen folgende As-pekte berücksichtigen: Die Ausgangssituation: Schüler sollen das Problem nochmals in eigenen Worten formu-lieren. Die Texte sollen so gestaltet werden, dass Unbeteiligte schnell einen Überblick über Ziel und Inhalt der Untersuchungen er-halten können. Die Lösungsansätze: Den Aufzeichnungen der Schüler werden meist Lösungs- bzw. Be-arbeitungsansätze zu entnehmen sein. Diese müssen dem Problem angepasst sein und die Anwendung adäquater Methoden impli-zieren. Der Lösungsprozess: Wie wurde der Lö-sungsansatz umgesetzt, welche Hilfsmittel wurden benötigt, welche Experten befragt? Sowohl vorzeitig abgebrochene als auch ge-lungene Ansätze sollten hier Platz finden, um den Prozess hinreichend genau darstellen zu können. Die Ergebnisse: Schließlich sollten die ge-wonnenen Ergebnisse umfassend auf den Webseiten präsentiert werden. Sie sind das zentrale Element des WWP. Hier sollten die Schüler auch eine Abschätzung der Tragfä-higkeit und der Reichweite ihrer Resultate vornehmen. Ergebnisse können dabei auch neue Erkenntnisse sein. Diese Elemente prägen die inhaltliche Di-mension von WWP. Ihre strukturelle Dimen-sion wird durch die Navigationsmöglichkeit im Internet charakterisiert. Internetseiten sind meist durch Hyperlinks miteinander verbun-den (Papert 1998, 14). So verknüpfte Texte heißen Hypertexte. Werden auch graphische und multimediale Elemente eingebunden, spricht man von Hypermedia (Mikelskis 1999, 64, Schulmeister 1997, 247). WWP soll diese Möglichkeit nutzen. Schüler kön-

nen so auf Beziehungen zwischen einzelnen Elementen des WWP verweisen. Zwischen Problem, Lösungsansatz, Lösungsprozess und Ergebnis kann sich eine dynamische in-dividuelle Struktur entwickeln, welche durch die Arbeit der Schüler geprägt wird. Diese haben so die Möglichkeit, den Weg vom Problem zu dessen Lösung relativ weit nach-zuvollziehen. Um den Prozess authentisch darstellen zu können, müssten die einzelnen Elemente des WWP begleitend erstellt wer-den.

5.2 Schüler beim WWP, Phasen der Erarbeitung

Die Schüler sind vor und nach der Veröffent-lichung der Seiten verantwortlich für ihr Pro-dukt. Der Lernprozess ist aus diesem Grund mit der Veröffentlichung nicht abgeschlos-sen. Die Beteiligten haben stetig Zugriff auf alle Handlungsprodukte der eigenen oder auch fremder Gruppen und können diese durch unmittelbare Kontaktaufnahme mit dem jeweiligen Verfasser hinterfragen, kriti-sieren oder auch loben. Im Konzept des WWP ist es vorgesehen, dass mindestens die teilnehmenden Schüler nach der Publika-tion zu jedem Handlungsprodukt in Form ei-nes Kurzgutachtens Stellung nehmen. Der Kurs soll so intern mögliche Schwachstellen in den Webseiten aufspüren und diese selbstregulierend beseitigen. Die Schüler sind bereits während des Unter-richtsprozesses gehalten, jeden ihrer Schritte zu dokumentieren. Auch während der Doku-mentation werden die Ergebnisse erneut dis-kutiert und evtl. auch revidiert. Um ihre Prä-sentation vorab im kleinen Rahmen zu tes-ten, kann einzelnen Gruppen Gelegenheit gegeben werden, ihre Seiten anderen Grup-pen in Form eines Referats oder durch die Präsentation ihrer Seiten im Intranet der Schule vorzustellen. Anschließend besteht wiederum die Möglichkeit, die Präsentation zu verbessern oder ggf. zu erneuern. Schließlich folgen die Veröffentlichung im Netz und die Kurzgutachten der anderen Gruppen. Nach der Korrektur aufgrund der Kurzgutachten wird eine vorläufig endgülti-gen Version veröffentlicht. Abbildung 1 fasst die verschiedenen Phasen der Gruppenarbeit zusammen und stellt eine mögliche Verknüpfung derselben dar. Natür-lich kann auch jederzeit aus einer der späte-ren Phasen in eine frühere gewechselt wer-den. Die Darstellung aller möglichen Kombi-nationen unterbleibt jedoch aus Gründen der Übersichtlichkeit. Kanten, die vom WWP-

Integration des Internets im Mathematikunterricht

167

Abb. 1

ten wegzeigen, bedeuten, dass hier Informa-tionen aus dem WWP entnommen werden. Weisen die Kanten auf den WWP-Knoten, so wird es mit Informationen gefüllt, bzw. bear-beitet. Das Diagramm repräsentiert die dy-namische Struktur der hier modellierten Lern-umgebung. Abbildung 2 zeigt die Einbettung des WWP in das Gesamtkonzept. Sowohl schulische als auch außerschulische Aktivitäten führen zu den Produkten des Un-terrichts. Bindende Glieder zwischen den bei-den Bereichen waren der TI92, die Aufzeich-nungen der Schüler, aber auch das Schul-buch oder das den Schülern zur Verfügung gestellte Beispiel. Andere Elemente der Lern-umgebung sind hingegen streng schulischen oder außerschulischen Bereichen zugeord-net. Die Dynamik wird durch das WWP-Kon-zept bestimmt und durch den festgesetzten Terminplan geleitet. Klar wird an dieser Stelle nochmals die Rolle des Lehrers. Auf viele Bereiche der Lernumgebung hat er keinen oder nur wenig Einfluss. Vielmehr steht er beratend im Unterricht oder als Experte per Mail zur Verfügung. Die Initiative hierzu muss jedoch von den Schülern ausgehen. Auch vi-sualisiert wurde, dass die Schüler ausgehend von einem Problem kognitiver Natur zu ei-nem Handlungsprodukt geleitet werden. Das Schema genügt, nicht zuletzt aus diesem Grund, dem Planungsraster Handlungsorien-tierten Unterrichts (Meyer 1987, 405ff).

Abb. 2

Problem, Provokation

Referate, Intranet

Kurzgutachten

WWW-Publikation Stufe 1

WWW-Publikation Stufe 2

Testen der Ideen, Lösungsprozess

Ideen, Lösungsansätze

Ergebnis, Fertigstellung Webseiten

WWP

Andreas Pallack

168

6 Erfahrungen mit dem Konzept

Insgesamt wurden vier Untersuchungen von den Schülern durchgeführt und ausgewertet. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf die Schilderung einer einzigen Arbeit. Zur Zeit (28.10.2003) können die Präsentationen und die Schülergutachten unter der URL http://www.uni-essen.de/mathematik-online/ stat_schu.html eingesehen werden. Ich wer-de mich bemühen, die Seiten zu erhalten. Sollten die Seiten nicht mehr abrufbar sein, stelle ich Ihnen selbige gerne nach kurzer Mail an [email protected] zur Verfügung.

6.1 Beispiel für eine Schülerprä-sentation: Qualm&Co

Die Webseite zeigt drei Versionen der Prä-sentation zu Fragen des Tabakkonsums. Speziell wurde den Fragen nachgegangen, ob das Rauchen einer Person im Zusam-menhang steht zu körperlichen Daten (z.B. Schuhgröße), dem Essverhalten, dem famili-ären Umfeld oder auch der Freizeitgestaltung (Aktivitäten im Sportverein). In einer frühen Version sind sowohl fachliche als auch me-thodische Mängel zu finden. Die Qualität der Arbeit verbesserte sich jedoch mit jeder Ak-tualisierung. Die Gruppe nutzte auch fremde Informationsquellen zur Stützung ihrer Hypo-thesen. Die Daten werden dem Leser zur Verfügung gestellt und so entsprechende Transparenz geschaffen. Die letzte Version der Arbeit wurde in HTML geschrieben. Das zeigt, dass sich einzelne Gruppenmitglieder Fähigkeiten aneigneten, die im Unterricht nicht systematisch behandelt wurden. Die Gruppe ging konstruktiv mit Skalierungs-problemen um und reagierte flexibel bei der Auswertung der Daten. Auf die Darstellung von Regressionsgeraden wurde begründet verzichtet. Dem Leser werden keine fertigen Ergebnisse vorgelegt, sondern schrittweise deren Entwicklung dargeboten. Auch der Rückgriff auf Kreuztabellen ist gelungen. Me-thodisch fehlten den Schülern natürlich die Möglichkeiten, diese systematisch auszuwer-ten (z.B. Test von Mc. Nemar). Die Darstel-lung des Hauptergebnisses (wenn Eltern Raucher sind, so auch die Kinder) wird strin-gent verfolgt und kann durchaus als gelun-gen bezeichnet werden.

6.2 Erfahrungen mit dem Publika-tionsorgan Internet

Das Internet als Publikationsfläche wurde akzeptiert. Auf der Seite konnten während der Unterrichtsreihe überdurchschnittlich vie-le Hits verzeichnet werden. Der Preis, der für die Attraktivität der Seite gezahlt werden musste, war jedoch relativ hoch. Weder der sichere Umgang aller Schüler mit Textverar-beitungssystemen, noch die unterstellte Fer-tigkeit, mit Leichtigkeit HTML-Dateien zu er-stellen, war gegeben. Teilweise arbeiteten die Schüler aus diesem Grund handschriftlich oder benutzten den Rechner als eine Art Schreibmaschine. Ständig mussten Texte eingescannt, eingelesen und im Netz bereit-stellt werden. Dies bedeutete, vor allem bei den Gutachten, einen immensen Zeitauf-wand. Im konkreten Fall der betrachteten Un-terrichtsreihe war ein systematisches Trai-ning der Fertigkeiten aus verschiedenen or-ganisatorischen Gründen nicht möglich. Trotzdem lernten einige Schüler bis zum En-de der Reihe den Umgang mit entsprechen-den Werkzeugen. Die Struktur von WWP hal-te ich jedoch generell für geeignet, selbstre-gulierende Prozesse anzuregen. Rückbli-ckend würde ich jedoch zusätzlich die Mög-lichkeit geben, Wandzeitungen o.ä. zu erstel-len, um auch diejenigen Schüler intensiver anzusprechen, die noch keine derart enge Beziehung zu den neuen Medien haben.

6.3 Schlussbemerkungen Die Durchführung der Unterrichtsreihe war geprägt von vielen organisatorischen Pro-blemen (wie zum Beispiel der Tatsache, dass die Schüler in der Schule nicht am PC arbei-ten konnten). Mittlerweile haben sich die Rahmenbedingungen erheblich verbessert (man darf nicht vergessen, dass die Unter-richtsreihe im Jahr 2000 durchgeführt wur-de!). Dass ein mobiles Werkzeug wie der TI92 für die Dauer der Reihe zur Verfügung stand, war in vielerlei Hinsicht positiv: Die Schüler spielten mit den Daten und probier-ten auch ungewöhnliche Ideen aus. Zusätz-lich nutzten viele im Heimbereich das Tabel-lenkalkulationsprogramm EXCEL. Die eigent-liche Verknüpfung von der Arbeit im Heim- und im Schulbereich leistete jedoch die Prä-senz des Taschencomputers. Welche Wechselwirkungen Schule und WWP oder das Internet im Allgemeinen langfristig auszeichnen wird, ist sicher noch nicht ab-sehbar. Die Einsatzgebiete sind vielfältig (s. Weigand & Weth 2002, 245–255, und natür-

Integration des Internets im Mathematikunterricht

169

lich die Beiträge in diesem Tagungsband) und auf den ersten Blick meist äußerst at-traktiv und vielversprechend. Trotzdem kann nicht verhindert werden, dass sich viele Kon-zepte in der Praxis langfristig nicht bewähren oder recht schnell dem Zeitgeist zum Opfer fallen. Inwiefern das auch für unterrichtsbe-zogene Online-Publikationen von Schülern gilt, bleibt abzuwarten.

Literatur Barzel, Bärbel (2001): Anders unterrichten — aber

wie? In: mathematik lehren 104, 4–6 Beckmann, Astrid (1999): Formen der Handlungs-

orientierung als Ansatz für eine unterrichtliche Umsetzung, Beispiel: Einführung ganzrationa-ler Funktionen. In: mathematica didacta 22, 78–96

Bönsch, M. (2000): Unterrichtsmethoden konstru-ieren Lernwege. In: Norbert Seibert (2000): Unterrichtsmethoden kontrovers ... Bad Heil-brunn: Klinkhardt, 23–69

Breuer, B., B. Hermann-Wyrwa et al. (2000): Leis-tungsbeurteilung in offenen Unterrichtsphasen, Essen: Neue Deutsche Verlagsgesellschaft

Bruner, Jerome (1974): Entwurf einer Unterrichts-theorie. Berlin: Berlin Verlag

Cöster, G., Heinz Griesel et al. (1999): Elemente der Mathematik 11. Hannover: Schroedel

Freudenthal, Hans (1970): Mathematik als päda-gogische Aufgabe. Band 1. Stuttgart: Klett

Frey, K. (1998): Die Projektmethode. Weinheim: Beltz

Gierhardt, H. (2000): Lernen mit Multimedia. www.gierhardt.de und Methodenhandbuch DFU. Bonn: Varus

Gudjons, H. (1997): Handlungsorientiert lehren und lernen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt

Gudjons, H. (1998): Didaktik zum Anfassen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt

Heymann, Hans-Werner (1996): Allgemeinbildung und Mathematik. Weinheim: Beltz

Hole, Volker (1998): Erfolgreicher Mathematikun-terricht mit dem Computer. Donauwörth: Auer

Horstmann, K., J. Meyer-Lerch et al. (1987): Handlungsorientierung im Mathematikunter-richt. In: mathematik lehren 25, 6–9

Huber, P. (1998): Handreichung zum Einsatz des Computers in der Grundschule. München: Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bil-dungsforschung

Jank, W. & H. Meyer (1994): Didaktische Modelle. Berlin: Cornelsen Scriptor

Kayser, H.-J. (1995): Neue Medien im Mathema-tikunterricht — Derive mehr als nur ein Assis-tent. Soest: Landesinstitut für Schule und Wei-terbildung

Klimsa, Paul (2002): Multimedianutzung aus psy-chologischer und didaktischer Sicht. Informa-tion und Lernen mit Multimedia und Internet. In: Ludwig J. Issing & Paul Klimsa (Hrsg.) (2002): Information und Lernen mit Multimedia und Internet. Weinheim: Beltz PVU, 3. Auflage, 5–17

Kütting, Herbert (1994): Beschreibende Statistik im Schulunterricht. Mannheim u.a.: BI Wissen-schaftsverlag

Maier, W. (1998): Grundkurs Medienpädagogik, Mediendidaktik. Weinheim: Beltz

Meyer, H. (1987): Unterrichtsmethoden II. Berlin: Cornelsen Scriptor

Mikelskis, H. (1999): Physik lernen mit interaktiver Hypermedia: Eine empirische Pilotstudie. Zeit-schrift für Didaktik der Naturwissenschaften 1, 63–74

Möller, R. (1999). Lernumgebungen und selbstge-steuertes Lernen. Multimedia, Chancen für die Schule. In: Dorothee Meister & U. Sander (1999): Multimedia, Chancen für die Schule. Kriftel: Luchterhand, 140–154

NRW MSWWF (1999): Sekundarstufe II Gymna-sium/Gesamtschule Richtlinien und Lehrpläne Mathematik. Frechen: Ritterbach

Pallack, Andreas (2003): Erprobung einer rech-nergestützten Lernumgebung unter Berück-sichtigung von Aspekten der Handlungsorien-tierung am Beispiel der Behandlung von Korre-lation und Regression in der Jahrgangsstufe 11. Münster: Zentrale Koordination Lehreraus-bildung

Papert, Seymour. (1994): Revolution des Lernens. Hannover: Heise

Papert, Seymour. (1998): Die vernetzte Familie. Stuttgart: Kreuz

Schulmeister, Rolf (1997): Grundlagen hyperme-dialer Lernsysteme. München: Oldenbourg

Wagenschein, Martin (1968): Verstehen lehren. Weinheim: Beltz

Weigand, Hans-Georg (1997): Was können wir aus der Vergangenheit für den zukünftigen computerunterstützten Unterricht lernen? In: Mathematik in der Schule 35, 322–334

Weigand, Hans-Georg & Thomas Weth (2002): Computer im Mathematikunterricht. Heidelberg u.a.: Spektrum

170

1 Eigene Suche

1.1 Orientierung Bei vielen Inhalten, mit denen ich mich be-schäftigen will, schaue ich oft erst einmal nach. So vor zwei Jahren, als ich einen Ma-thematikwettbewerb für Kollegiaten an der Universität durchführen wollte. An vielen Hochschulen gab es interessante Angebote, die mir erst einmal die Möglichkeiten aufzeig-ten. Dann in einer zweiten Phase habe ich Beteiligte angeschrieben. Oder bei der "Auf-gabe der Woche" war das auch eine Anleihe aus einem Angebot eines anderen Lehr-stuhls.

1.2 Quellenforschung Neben der nützlichem CD-ROM aus Karlsru-he (MathDI) werden Quellen oft über das In-ternet erkundet. Als es um eine Aufstockung der fachdidaktischen Bibliothek ging, habe ich zunächst in Literaturlisten anderer Institu-te nachgesehen, welche Bücher da in der Regel empfohlen werden, und dann auch bei typischen didaktischen Veranstaltungen nachgeschaut, welche Bücher da vorge-schlagen werden. Natürlich kenne ich selbst viele Bücher, aber ...

1.3 Vergleichen Bei der Vorbereitung einer Vorlesung, eines Proseminars oder eines Vortrags gehe ich gern ins Internet und suche nach vergleich-baren Inhalten. Selbst hat man schon eine Vorstellung, wie das aufgebaut werden soll, aber ein Vergleich hier und da kann ja nicht schaden. Im Herbst werde ich eine Vorle-sung halten über "Grundbegriffe der Schul-

mathematik". Das wird an vielen Hochschu-len so oder unter anderem Titel gelesen. Dann sehe ich mir den Umfang und die ver-schiedenen Inhalte an, die Gliederung und die Schwerpunkte. Und dabei kommen oft gute und neue Ideen dazu.

1.4 Material suchen Gelegentlich sucht man nach einem aussa-gefähigen Bild, einer Aufgabe oder einer Anekdote zu einem Inhalt. Bei einem Vortrag vor Preisträgern des Fümo-Wettbewerbs in Fürth über das Zahlensystem — ich hatte mich für das Siebenersystem entschieden — suchte ich die sieben Weltwunder mit pas-senden Abbildungen. Und im Internet konnte ich eine Fülle von Material finden und dann das Passende auswählen.

2 Arbeit mit Studierenden

2.1 Dokumentation der Veranstal-tungen

Eine Lehrveranstaltung lebt auch davon, dass zusätzliches Material und weitere Quel-len angegeben werden. Diese Möglichkeit bietet sich, wenn man für jede Veranstaltung eine Seite erstellt und diese fortlaufend wei-terentwickelt. Etwa ein Schema mit Terminen und Links auf die Informationen für die jewei-lige Veranstaltung. Das hat auch den Vorteil, dass man als Student diese Seiten nachle-sen kann, wenn man einmal verhindert ist. Darüber hinaus macht eine kurze Darstellung des Ablaufs für Interessierte Sinn. Denn dann weiß man in etwa, was in der Veran-staltung geboten wird. Und schließlich kann diese Gliederung für die Klausurvorbereitung

"Da schauen Sie mal ins Internet!" — Impressionen des Lehrens und Lernens

Karel Tschacher, Erlangen-Nürnberg

Die Arbeit eines Dozenten für die Fachdidaktik Mathematik lebt auch von der Vielfalt der Ergebnisse, die am einfachsten im Internet gefunden werden können. Mit diesem Vortrag sollen die verschiedenen Perspektiven eines sehr persönlichen Eindrucks über den Nut-zen des Internets beschrieben werden. Dabei werden eigene Erfahrungen und das indi-viduelle Interesse an Themen und Inhalten im Vordergrund stehen. Darüber hinaus soll beleuchtet werden, wie man mit vertretbarem Aufwand die Kommunikation zwischen Do-zent und Studenten sowie Studenten untereinander verbessern kann.

"Da schauen Sie mal ins Internet!" — Impressionen des Lehrens und Lernens

171

hilfreich sein. Die vorgeschlagenen Quellen können leicht erreicht werden, wenn es ver-linkte Internetadressen sind. Und bei voraus-schauender Gestaltung es auch denkbar, dass man sich auf eine Vorlesung vorberei-tet, indem man die Materialien zuvor an-schaut.

2.2 Präsentation der Ergebnisse der Studierenden

In Vorlesungen, Proseminaren und Semina-ren ergeben sich oft Ergebnisse, die man gern allen zur Verfügung stellen möchte. Bis-lang waren das bedruckte Seiten Papier. Nun kann man diese Ergebnisse auf der Seite der Veranstaltung ablegen, und jeder Interessier-te holt sich das, was er benötigt. Zum einen ist der Studierende damit gezwungen, selbst-tätig dort hin zu gehen und die entsprechen-den Daten zu suchen, andererseits verlangt man von den Erstellern dieser Ergebnisse brauchbare und gute Produkte. Zunehmend werden auch kleine Programme, PowerPoint-Präsentationen, Java-Applets, Fotoschnapp-schüsse oder DGS-Animationen vorgestellt, die dann zu Hause noch einmal in Ruhe be-arbeitet werden können.

2.3 Aufgabe der Woche In der Didaktik der Mathematik kommen ei-gentlich mathematische Aufgaben, Knobel-aufgaben oder Tüftelaufgaben zu kurz, eben weil man für derartige Aufgaben mehr Zeit benötigt. Allerdings ist der Wert dieser Auf-gaben hoch: Welche Strategie hat man ver-sucht, welche heuristischen Ansätze führten nicht zum Ziel, usw.? Gerade diese Form des Mathematikerlebens sollen ja unsere Schüle-rinnen und Schüler verstärkt erfahren. also sollten die Studierenden das auch in ihren Veranstaltungen erproben können. Eine Möglichkeit, solche Aufgaben einzustreuen, sind die "Aufgaben der Woche". Und diese werden auf der Internetseite der Veranstal-tung veröffentlicht; man kann dann in der fol-genden Woche eine gelungene Lösung eines Kommilitonen als einen Lösungsvorschlag veröffentlichen.

2.4 Kommunikation mit den Stu-dierenden

Gelegentlich passiert es, dass man am Ende einer Veranstaltung noch eine gute Idee hat. Oder man erinnert sich an einen guten Zeit-

schriftenartikel zum Thema. Dann wird das als Nachtrag in die Seite eingearbeitet, die guten Ideen sind nicht verloren; sondern konnten den Studierenden zugänglich ge-macht werden. Und Interessierte finden selbst zusätzliche Informationen, die dem Dozenten mitgeteilt und übersandt werden, so dass dieses Material allen Teilnehmern zugänglich gemacht werden kann.

2.5 Zulassungsarbeiten Bei der Betreuung von Zulassungsarbeiten (den schriftlichen Hausarbeiten für das Staatsexamen) ist die Einbindung des Inter-nets eine große Hilfe. Einer meiner Kandida-ten hat eine geschützte Homepage einge-richtet, auf der ich bei Bedarf den aktuellen Stand seiner Arbeit einsehen kann. Natürlich wird es immer einen Bedarf an persönlichen Gesprächen geben, aber eine Reihe von in-haltlichen und technischen Fragen kann so abgearbeitet werden.

3 Zusammenarbeit von Schule und Universität

3.1 Informationsbörse Viele Lehrstühle und Lehreinheiten für Didak-tik der Mathematik unterhalten vielfältige Kontakte zu Schulen und Lehrern. Bislang erlebe ich, dass es immer noch nötig ist, Briefe mit Einladungen und Informationen an die Fachbetreuer der Schulen zu senden. Und dann weiß man immer noch nicht, ob die Informationen an die Betroffenen gegangen sind. Daher hat man in Mittelfranken ein Netzwerk gestartet, dass für Lehrkräfte alle Informationen über Mathematik im weitesten Sinne bietet. Dabei werden sowohl Lehrer-fortbildungen als auch Schülerangebote ein-bezogen. Langfristig ist sicher auch an Newsletters in regelmäßigen Abständen ge-dacht, aber die Arbeit steht erst am Anfang.

3.2 Email Schnellen und angenehmen Kontakt zu Schulen und Lehrern kann man bei gegen-seitigem Interesse mit der Email entwickeln. Sehr viele sind inzwischen mit dem Internet-anschluss ausgestattet und werden diese Kontaktaufnahme schätzen, weil sie nicht so nervig und teuer ist wie das Telefon und man

Karel Tschacher

172

damit zugleich Nachrichten dauerhaft spei-chern und weiterbearbeiten kann.

3.3 Datenaustausch Oft erhalte ich eine Anfrage einer Lehrerin oder eines Lehrers zu einer Aufgabenart oder zu einer didaktischen Überlegung. Dann kann man nun leicht eine Antwort mit den notwendigen Unterlagen schnell und bequem weitergeben, und der Kollege kann das so-gleich in seine Unterrichtsvorbereitung ein-bauen. Oder nach einem Besuch von Schü-lern im Institut werden Rückfragen nach Ma-terial gestellt. Oder die digitalen Fotos der Veranstaltung werden an die Schulen ge-sandt, damit sie im Jahresbericht erscheinen können.

4 Lehren und Lernen

Viele Inhalte werden interaktiv aufbereitet. Lernen wird da zur Freude. Gern erprobt man eine Aufgabe, mit Vergnügen verfolgt man einen Gedankengang, der mit medialem Aufwand illustriert wird. Viele Begriffsbildun-gen werden so besser zugänglich. Viele Auf-gaben werden sogleich korrigiert ausgege-ben und bieten eine direkte Rückkopplung des Lernerfolgs. Die komplexen Naviga-tionsmöglichkeiten machen es Anfängern und Fortgeschrittenen in gleicher Weise möglich, sinnvoll zu lernen.

4.1 Interaktive Seiten Als letzten Punkt möchte ich auf eine weitere zentrale Rolle des Internets kommen, näm-lich der Möglichkeit, mathematische und di-daktische Fragen auf den Seiten von Schü-lern, Studenten, Lehrern und Instituten zu genießen. Ich sage "genießen", weil es so schöne und so reizende Inhalte gibt, die so richtig Freude bereiten. Sicher findet man auch viele Fehler und so manches Überflüs-sige, dennoch für mich überwiegt der Reiz.

4.2 Referate und Hausarbeiten In Proseminaren, Seminaren und bei der Zu-lassungsarbeit werden Themen bearbeitet, die sicher schon oft zuvor von anderen be-handelt wurden. Das Internet kann eine Fülle von Referaten und Ausarbeitungen bieten, die zur Orientierung und zur Quellensamm-lung dienen. Es ist überraschend, wie viele Arbeiten schon vorliegen. Auch viele Stu-dienseminare legen seit einiger Zeit Arbeiten offen. So kann man viele Lehrproben in allen Details ansehen und als Beispiele für gelun-gene Unterrichtsplanung verwenden. Die Li-teraturangaben bei Arbeiten verlagern sich zusehends auf Links im Internet, die Bücher treten oft zurück. Dabei ist selbstredend die Gefahr des Plagiats verführerischer als zu-vor. Denn eine Passage zu markieren, zu kopieren und dann in seine Arbeit einzufü-gen, ist blitzschnell geschehen. Aber ich denke, man sollte nicht zu misstrauisch mit dem neuen Medium Internet umgehen.

4.3 Arbeitsblätter Als letzte sinnvolle Verwendung des Inter-nets stelle ich kurz die Arbeitsblätter vor. Ei-ne kritische Bemerkung sei vorangestellt: "copio, ergo sum" "Ich kopiere, also bin ich" Viele Lehrerinnen und Lehrer werden zu wahren Kopierweltmeistern, in dem sie die Schülerin mit Arbeitsblätter überhäufen. 20 Arbeitsblätter pro Woche sind keine Selten-heit. Die gut gemeinte Idee, die Schüler soll-ten nicht alles von der Tafel abschreiben, führt dann aber oft zu solchen Arbeitsblät-tern, auf denen nur noch Kreuze oder Lü-ckentexte ergänzt werden müssen. Sinnvoll eingesetzte Arbeitsblätter haben ih-ren Platz im Unterricht, und die Beschaffung guter Arbeitsblätter im Internet ist kein Pro-blem. Denn die Vorgaben des Kollegen kön-nen auf die eigenen Bedürfnisse angepasst werden. Aber die Arbeitserleichterung ist enorm, wenn man schon eine Grundidee ei-nes Kollegen nutzen kann.

173

(zugleich Bericht von der Herbsttagung 2003 des Arbeitskreises "Frauen und Mathematik" in der GDM)

1 Einführung

Thema und Ziel der Herbsttagung 2003 des Arbeitskreises "Frauen und Mathematik" war es, den Einsatz der neuen Medien und deren Potenziale für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen aus der Geschlechterper-spektive genauer auszuleuchten. Diese the-matische Ausrichtung war dann auch der An-lass dafür, die Herbsttagungen der beiden Arbeitskreise "Mathematikunterricht und In-formatik" sowie "Frauen und Mathematik" zeit- und ortsgleich stattfinden zu lassen. Damit bestand die Möglichkeit, sich vor Ort auszutauschen und in einen gemeinsamen Dialog zu treten. Ein bewusst inszenierter Schnittbereich stellte der Hauptvortrag von Cornelia Niederdrenk-Felgner (2005) dar. Ausgangspunkt für die gemeinsame Arbeit war die Präsentation von ausgewählten Bei-spielen, die unterschiedliche Möglichkeiten aufzeigen, wie computerbasierte Medien für den Mathematikunterricht genutzt werden können. Vor dem Hintergrund der geschilder-ten Lehr-Lern-Arrangements ging es dann darum, die Potenziale des Computereinsat-zes für den Mathematikunterricht auszuloten. Dieser gemeinsame Auseinandersetzungs-prozess mündete in die Frage, wie der Mehrwert der neuen Medien genutzt werden kann, das Bild von Mathematik zu verändern und damit das Mathematiklernen von Mäd-chen und Jungen gleichermaßen zu unter-stützen und zu fördern.

2 Mögliche Einsatzbereiche computerbasierter Medien im Mathematikunterricht

Die von Barbara Abel und Rose Vogel aus-gewählten Beispiele zeigen Produkte oder Szenarien aus Lehr-Lern-Arrangements, in denen sowohl mathematiknahe, als auch ma-thematikferne Programme genutzt werden, um das Lehren und Lernen von Mathematik zu unterstützen, anzuregen und zu begleiten. Auf die Präsentation konkreter einzelner Bei-spiele wird an dieser Stelle verzichtet. Es wird stattdessen der Versuch unternommen, die Lehr-Lern-Aktivitäten zu charakterisieren, die in den Konkretisierungen im Vordergrund stehen (vgl. Tab. 1). Die Internet-Adressen [1] und [2] geben ebenfalls nur einen Ein-druck von der Vielfalt und ließen sich durch entsprechende Angaben aus anderen Bun-desländern weiter ausbauen. Die in Tab. 1 eingenommene Perspektive rückt nicht die mathematischen Inhalte in den Vordergrund, sondern die Art und Weise, wie mathematische Fragestellungen bearbeitet werden. Analysieren, Experimentieren, Ver-anschaulichen, Strukturieren und Präsentie-ren sind typische Tätigkeiten in der Mathe-matik, die lange Zeit von den Schülerinnen und Schülern im Mathematikunterricht nicht erlebbar waren. Sie wurden von der Lehrper-son vorweggenommen, und Mathematik wurde dadurch als "poliertes Fertigprodukt" (vgl. Müller, Steinbring & Wittmann 2004, 12) präsentiert. Im Vordergrund stand das Auto-matisieren mathematischer Verfahrenswei-

Computereinsatz im Mathematikunterricht unter Geschlechterperspektive — oder Mädchen, Jungen, Mathematik und Computer

Rose Vogel, Ludwigsburg

Die Diskussion um den Mehrwert neuer Medien für die Gestaltung von Lehr- und Lern-prozessen wird derzeit vielerorts geführt. Dies nahm der Arbeitskreis "Frauen und Ma-thematik" in der GDM zum Anlass, die Herbsttagung 2003 dem Thema "Computereinsatz im Mathematikunterricht unter Geschlechterperspektive" zu widmen. Vor allem die unter-schiedlichen Einsatzmöglichkeiten computerbasierter Medien und deren Potenziale für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen im Mathematikunterricht standen im Zent-rum der gemeinsamen Arbeit. Die Arbeitsergebnisse bieten Ansatzpunkte, das traditio-nelle Bild von Mathematik in der Schule aufzubrechen und damit das Mathematiklernen von Mädchen und Jungen gleichermaßen anzuregen und weiterzuentwickeln.

Rose Vogel

174

sen und nicht die aktive, individuelle Ausei-nandersetzung mit Mathematik. Das Einbeziehen der Aktivitäten Kooperieren und Kommunizieren erweitert zusätzlich den Blick auf den Umgang mit Mathematik. Ein weit verbreitetes Bild beschreibt Mathematik als eine Wissenschaft, in der die Mathemati-kerin, doch meist der Mathematiker im stillen Kämmerchen einsam über Formeln brütet und zu neuen Erkenntnissen gelangt. Dies hat zur Konsequenz, dass Mathematik als eine Wissenschaftsdisziplin wahrgenommen wird, in der Tätigkeiten wie Kooperieren und Kommunizieren nicht im Vordergrund stehen. Dies steht im Gegensatz zu Beschreibungen von mathematischen Erkenntnisprozessen. Diese sind einerseits geprägt durch den Dia-log mit anderen und andererseits durch den Zeitgeist, der u.a. dadurch bestimmt wird, dass sich Menschen und ihre Ideen in der Öffentlichkeit darstellen, sich mit ihrer Mei-nung exponieren, Anhänger und Widersa-cher finden und damit ein Auseinanderset-zungsprozess mit oder ohne Wirkung ent-steht. Diese Vorgänge prägen und verändern in beschreibbaren Wellenbewegungen das Zeiterleben und bilden den Nährboden für Theorieentwicklungen. In der gemeinsamen Arbeit wurde außerdem deutlich, dass die Auseinandersetzung mit

computerbasierten Medien im Mathematikun-terricht immer wieder neu die Chance bietet, über die Gestaltung von Lehr- und Lernpro-zessen im Mathematikunterricht nachzuden-ken (vgl. Bescherer & Vogel 2002). Die in Tab. 1 zusammengefassten Lehr-Lern-Aktivi-täten finden sich in den (in den Bildungs-standards beschriebenen; KMK 2003, 11f) allgemeinen mathematischen Kompetenzen wieder und bilden einen integrativen Be-standteil der dort geforderten mathemati-schen Grundbildung.

3 Potenziale des Compu-tereinsatzes im Mathema-tikunterricht

Auf der Grundlage der in Tab. 1 vorgenom-menen Analyse der Beispiele und vor dem Hintergrund des Vortrags von Cornelia Nie-derdrenk-Felgner wurden Potenziale compu-terbasierter Medien für den Bereich des Ma-thematiklernens zusammengestellt und dis-kutiert. Folgende Potenziale erschienen uns unter Geschlechterperspektive von besonde-rer Bedeutung:

Lehr-Lern-Aktivitäten Software Präsentieren von mathematischen Inhalten auf der Grundlage eines ausgewählten Textes (Schülerarbeiten), Präsentieren von Bearbeitungswegen ausgewählter Auf-gaben

Präsentationsprogramme, z.B. Power Point

Strukturieren von mathematischen Inhaltstexten Mind-Map-Programme Gemeinsames Erstellen eines mathematischen Glossars zur Nutzung im Unterricht

HTML Textverarbeitungsprogramme

Experimentelles Arbeiten: eigenständig durch die Ler-nenden oder in einer Demonstration durch die Lehrperson

z.B. DGS, CAS, Tabellenkalku-lationssysteme, Java-Applets

WebQuest — Arbeiten an einem Projekt unter Ausnut-zung von Internetquellen

WWW

Kooperatives Arbeiten mit Unterstützung einer internet-basierten Groupware

z.B. BSCW oder andere Lern-plattformen

Veranschaulichen mathematischer Konstrukte, entwi-ckeln von Vorstellungen

Algebra Graph, CAS, Java-Applets

Daten analysieren und modellieren — Zusammenhänge zwischen der Mathematik und der uns umgebenden Welt herstellen und die Mathematik für die Welterschließung aktiv nutzen

Tabellenkalkulationssysteme Statistik-Programme

Kommunizieren über eine mathematische Fragestellung im "Mathe-Chat"

Chat-Programme

Automatisieren mathematischen Wissens Mathe-Lernprogramme

Tab. 1: Übersicht über Lehr-Lern-Aktivitäten, die durch die Nutzung computerbasierten Medien in besonderer Weise unterstützt werden.

Computereinsatz im Mathematikunterricht unter Geschlechterperspektive

175

Anlass für neue Lehr-Lernformen

Viele der in den Beispielen verwendeten Computerprogramme geben die Möglichkeit, Ergebnisse, die am Ende der Beschäftigung mit mathematischen Fragestellung stehen, aber auch den Bearbeitungsprozess selbst zu dokumentieren (z.B. die Ortslinienfunktion in den Dynamischen Geometriesystemen). Diese Dokumentationen können dann als An-lass genutzt werden, über mathematische Erkenntnisse ins Gespräch zu kommen. Na-türlich steckt dieses Potenzial auch in den Bleistiftnotizen, die während des Bearbei-tungsprozesses entstehen. Mögliche Zwi-schenschritte und auch gefundene Ender-gebnisse unterliegen hier in einem viel höhe-ren Maße der Flüchtigkeit. Sie werden über-schrieben, ausradiert und bleiben als bald nicht mehr auffindbare Zettel zurück. Natür-lich wird die Art der möglichen Dokumentati-onsformen von Seiten der Programmentwick-lung vorgedacht und bestimmt. Insgesamt machen die Beispiele deutlich, dass über die Integration von Dokumenten in den Mathe-matikunterricht, die während der individuellen oder kooperativen Auseinandersetzung mit mathematischen Fragestellungen entstehen, nachgedacht werden sollte. In besonderer Weise werden durch die Nut-zung computerbasierter Medien kooperative Unterrichtsformen unterstützt. Neben der or-ganisatorischen Unterstützung des koopera-tiven Arbeitens, z.B. indem Arbeits- und Zeit-pläne wie auch Zwischenprodukte mit Hilfe geeigneter Programme verwaltet werden, lie-fern computerbasierte Medien die Möglich-keit, zeit- und ortsunabhängig gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten. Außerdem erlauben Mathematikprogramme wie z.B. DGS und speziell erstellte Java-Applets, auf vielfältige Weise experimentelle Lehr-Lern-Kontexte zu inszenieren, die den Schülerinnen und Schülern Raum geben, Ideen zu mathematischen Fragestellungen zu entwickeln, umzusetzen und zu überprü-fen.

Betonung des Sprachaspekts von Ma-thematik bei Präsentation und Dokumen-tation

Die Integration mathematikferner Program-me, z.B. von Präsentationsprogrammen, in den Mathematikunterricht gestatten es, ne-ben den bereits erwähnten Dokumentations-formen, methodische Elemente in das Ler-nen von Mathematik einzubauen, die die Sprache für die Mathematik wichtig werden lassen. Es entstehen Lernanlässe, die das

Reden über Mathematik in der Sprache der Mathematik ermöglichen.

Prozess des Modellierens

Der Prozess des Modellierens kann durch den Einsatz geeigneter Computerprogramme in dem Sinne weiter entwickelt werden, dass einerseits realistische Daten und damit die Bearbeitung realistischer Fragestellungen in den Mathematikunterricht Eingang finden können. Andererseits erlaubt der Einsatz neuer Technologien, mathematische Pro-bleme, die Schülerinnen und Schüler auf-grund ihrer mathematischen Fähigkeiten in der Sekundarstufe I noch nicht lösen könn-ten, auf sehr anschauliche Weise im Sinne eines dynamischen Visualisierens zu bear-beiten (vgl. Weigand & Weth 2002, 133ff).

Aufbau von Reflexionskompetenz

Dokumentationen sind in besonderer Weise geeignet, den Aufbau metakognitiver Kompe-tenzen anzuregen und zu unterstützen; — metakognitive Kompetenzen im Sinne eines Wissens über die eigenen Fähigkeiten und über die Qualität von Aufgaben sowie im Sinne eines Wissens über Prozesse der Kon-trolle kognitiver Vorgänge wie Planung, Über-wachung und Regulation (vgl. Brown 1984). Das flüchtige Bearbeiten und Durchdenken von mathematischen Fragestellungen wird durch die unterschiedlichen Dokumentations-formen konkret und kann im Rückblick ge-nutzt und im Sinne eines "Metawissens" ka-tegorisiert werden.

Neue Möglichkeiten inhaltlicher Zugänge

Die bisher herausgearbeiteten Potenziale be-schäftigen sich in erster Linie mit der Art und Weise, wie das Lehren und Lernen von Ma-thematik gestaltet werden kann. So bleibt ab-schließend zu fragen, ob die Veränderungen der Lehr-Lern-Arrangements ein Nachden-ken über inhaltliche Zugänge nicht sogar er-zwingen. Hat die zunehmende Fokussierung auf die aktive Auseinandersetzung der Ler-nenden mit mathematischen Fragestellungen nicht u.a. zur Folge, dass die Orientierung der Schulmathematik an der Fachsystematik verlassen und verstärkt Inhalte ins Zentrum des Unterrichts gerückt werden, die das Inte-resse der Lernenden aufgreifen? Natürlich ist die Frage nach den Potenzialen computerbasierter Medien sowohl eng an die Freiheitsgrade bzw. an die Gestaltungsspiel-räume gekoppelt, die eine Software zulässt,

Rose Vogel

176

als auch an die Medien- und Methodenkom-petenzen der Lehrperson. Damit einher geht auch die Frage: Wem nutzt welches Angebot im WWW bzw. im Be-reich der Computersoftware?

4 Chancen für das Mathe-matiklernen von Mädchen und Jungen durch den Einsatz des Computers

Welche Folgerungen lassen sich aus der Zu-sammenstellung der Potenziale des Compu-tereinsatzes im Mathematikunterricht für das Mathematiklernen von Mädchen und Jungen ziehen? Deutlich wird, dass der Einsatz com-puterbasierter Medien wieder ein Schritt wei-ter führt in dem Bestreben, die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler in den Mathe-matikunterricht stärker aufzunehmen. So er-öffnet die Erweiterung möglicher Veran-schaulichungen die Chance, dass immer we-niger die mathematischen Rechenfertigkeiten die Auswahl der Kontexte bestimmen, son-dern das Interesse und die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler. Die beschriebe-nen Ansätze, Sprache und damit Kommuni-kation mehr und mehr in den Mathematikun-terricht hereinzuholen, lassen das traditionel-le Bild von Mathematik, das sehr technisch und unnahbar auf viele Schülerinnen und Schüler wirkte, allmählich bröckeln. Es wer-den Identifikationsmöglichkeiten geschaffen, die bisher im Fach Mathematik nicht möglich waren.

Literatur Bescherer, Christine & Rose Vogel (2002): Inno-

vation durch computerbasierte Medien. In: Wil-fried Herget, Rolf Sommer, Hans-Georg Wei-gand & Thomas Weth (Hrsg.) (2002): Medien verbreiten Mathematik. Bericht über die 19. Ar-beitstagung des Arbeitskreises "Mathematik-unterricht und Informatik" 2001 in Dillingen. Hildesheim: Franzbecker, 9–17

Brown, Ann L. (1984): Metakognition, Handlungs-kontrolle, Selbststeuerung und andere, noch geheimnisvollere Mechanismen. In: Franz E. Weinert & Rainer H. Kluwe (Hrsg.) (1984): Me-takognition, Motivation und Lernen. Stuttgart: Kohlhammer, 60–109

Kultusministerkonferenz (KMK) (2003): Bildungs-standards im Fach Mathematik für den Mittle-ren Schulabschluss. http://www.kmk.org/schul/Bildungsstandards/ Mathematik_MSA_BS_04-12-2003.pdf

Müller, Gerhard N., Heinz Steinbring & Erich C. Wittmann (Hrsg.) (2004): Arithmetik als Pro-zess. Seelze: Kallmeyer

Niederdrenk-Felgner, Cornelia (2005): Jungen, Mädchen, Mathematik und Computer. In die-sem Band

Weigand, Hans-Georg & Thomas Weth (2002): Computer im Mathematikunterricht. Heidel-berg: Spektrum

Internet-Adressen

[1] http://lehrerfortbildung-bw.de/faecher/ mathematik

[2] http://webquest.ph-bw.de/

177

1 Einleitung

Das Internet nimmt mittlerweile eine zentrale Rolle in unserem täglichen Leben ein. Eine stetig wachsende Anzahl von Personen aus allen Bildungsschichten hat Zugang zum WWW und nutzt es auf vielfältige Weise (Ridder 2002). Mit dem Medium Internet ver-bunden sind neue Möglichkeiten der Wis-sensaufbereitung (z.B. durch Videos) und der Lernmethodik (Bruns & Gajewski 2002). Aus diesen Gründen fördert das Bundesministeri-um für Bildung und Forschung (BMBF) eine Vielzahl von Projekten im Bereich der Leh-rerbildung mit Schwerpunkt Mathematik, die das Internet als Medium zur Wissensvermitt-lung nutzen (hierzu [1]). Auch die Länder nehmen an dieser Entwicklung teil und eröff-nen virtuelle Hochschulen (z.B. [2] oder [3]). In diesem Kontext wird von der Universität Nürnberg-Erlangen und der Universität Würz-burg gemeinsam der Kurs mit dem Titel Ma-thematik und Computer für den Bereich Leh-reraus- und -weiterbildung im Rahmen der Virtuellen Hochschule Bayern (VHB) entwi-ckelt. Inhaltlich werden Themen der Geome-trie (Erlangen-Nürnberg) und der Algebra (Würzburg) bearbeitet. Hierbei handelt es sich um einen rein virtuellen, internet-ge-stützten Kurs. Ziele des Lehrgangs sind u.a., Studenten an neue Technologien (wie Com-puter Algebra Systeme (CAS) oder Dynami-sche Geometrie Software (DGS)) heranzu-führen und angehende Lehrer zu einem kri-tisch reflektierten Einsatz dieser Medien im Mathematikunterricht anzuregen. Dabei ist es ein wesentliches Anliegen, keine reinen "Ge-brauchsanweisungen" zum Umgang der vor-gestellten Software zu geben, sondern viel-mehr deren themengebundenen Einsatz und Grenzen aufzuzeigen. Im vorliegenden Aufsatz wird eine Möglich-keit beschrieben, Inhalte aus dem Themen-bereich Funktionen so aufzubereiten und

darzustellen, dass das Potential des Inter-nets genutzt wird und es wird über erste Er-fahrungen (ermittelt im Rahmen einer Akzep-tanzstudie) zum Kurs berichtet.

2 Medieneinsatz

Sobald man sich mit dem WWW und dem In-ternet als Lehr-/Lernmedium beschäftigt, bie-ten sich dem Autor und dem Nutzer eine Vielzahl von alternativen Arten der Inhalts-darbietung an. Hierbei treten sofort die zent-ralen Begriffe Multimedia (MM) und Interakti-vität in den Mittelpunkt des Interesses. Setzt man in WWW-Inhalten mehrere Mittler (also Medien) parallel nebeneinander ein, so spricht man von MM. Kann der Nutzer aktiv Manipulationen an Multimediaelementen vor-nehmen, entsteht also ein Handeln zwischen Akteur und MM-Komponente, so spricht man von Interaktion. Hierbei ist besonders darauf zu achten, dass keine Interaktion mit Naviga-tionselementen gemeint ist, sondern Interak-tion am Lernobjekt (Schulmeister 2002). Als Beispiel für ein interaktives Handeln am Lernobjekt wird in Abb. 1 eine Benutzerober-fläche gezeigt, mit deren Hilfe Graphen von Scharfunktionen in dreidimensionaler Dar-stellung erzeugt werden. Der Lernende kann sowohl den Funktions-term und den dazugehörigen Darstellungsbe-reich als auch die resultierende 3D-Darstel-lung (durch Drehen oder Zoomen) bestim-men und verändern. Das Arbeiten mit diesem Hilfsmittel ermöglicht es, Eigenschaften der dargestellten Funktion und deren räumliche Gestalt zu untersuchen.

Gestaltungsprinzipien und Erfahrungen zum virtuel-len Selbstlernkurs: Mathematik und Computer

Wolfgang Weigel, Würzburg

Im Rahmen des Bereichs Lehrerbildung der Virtuellen Hochschule Bayern (VHB) wird an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Würzburg der virtuelle Selbstlernkurs Mathe-matik und Computer entwickelt. Im Text wird aufgezeigt, welcher Weg zur internet-gerechten inhaltlichen Umsetzung gewählt wurde, und es werden Ergebnisse einer ers-ten Akzeptanzstudie präsentiert.

Wolfgang Weigel

178

2.1 Kategorisierungen von Multi-mediaelementen

Wie von Weidenmann (2002) festgestellt, ist der Begriff "Multimedia" weit verbreitet, aller-dings zu undifferenziert und daher für die wissenschaftliche Diskussion wenig geeig-net. Ähnliches gilt für den Fachausdruck der Interaktivität. Multimedia und Interaktivität müssen genauer beschrieben und differen-ziert betrachtet werden (Haack 2002), damit man wissenschaftlich damit arbeiten kann. Um über den Erfolg des zielorientierten Ein-satzes von Multimedia und Interaktivität dis-kutieren zu können, ist eine genauere Ein-grenzung der Begriffe notwendig. Im Folgen-den werden zwei mögliche Kategorisierun-gen vorgestellt.

2.1.1 Passive und interaktive Multimedia-elemente

Abb. 2: Interaktiv bedienbarer Abakus

Eine einfache Art der Unterteilung von MM-Elementen ist die Unterscheidung in passive und interaktive Bestandteile (Weigel 2003a).

Zu den passiven Elementen zählen bei-spielsweise Text, Bild und Video. Interaktive Komponenten sind Java-Applets oder Web-Mathematica-Anwendungen. Beispiel für ein interaktives Java-Applet ist ein online benutz-barer Abakus, der in eine Lernsequenz ein-gebunden werden kann (vgl. Abb. 2). Die Lernenden können mit dem virtuellen Re-chengerät die gleichen Rechnungen, Gedan-kengänge und Lernprozesse konstruieren wie mit einem realen Abakus. Das Applet ist aber im Gegensatz zu einem realen Abakus stets für den Lerner verfügbar. Die beiden unterschiedlichen Beispiele las-sen bereits erkennen, dass verschieden star-ke Ausprägungen von Interaktivität auftreten können, was eine weitere Differenzierung von MM-Elementen sinnvoll macht. Mit WebMathematica (vgl. hierzu [4]) hat man die Chance, typische CAS-Anwendun-gen (wie Berechnungen, Ableitungen oder Visualisierungen durchzuführen) dem Lerner zur sofortigen Verwendung innerhalb einer Online-Lehr-/Lernumgebung bereit zu stellen. Abbildung 1 zeigt, wie mithilfe von WebMa-thematica eine sofortige Darstellung und Veränderung von Funktionen zweier Verän-derlicher aussehen kann. Weitere Beispiele und Hintergrundinformation zu diesem The-ma findet man in Weigel (2003b).

2.1.2 Taxonomie nach Schulmeister

Rolf Schulmeister (2002) hat folgende sechs-stufige Kategorisierung von MM-Elementen vorgeschlagen: 1. Objekte betrachten und rezipieren. 2. Multiple Darstellungen betrachten und re-

zipieren. 3. Die Repräsentationsform variieren. 4. Den Inhalt der Komponente modifizieren.

Abb. 1: Manipulation am Lernobjekt

Gestaltungsprinzipien und Erfahrungen zum virtuellen Selbstlernkurs: Mathematik und Computer

179

5. Das Objekt bzw. den Inhalt der Re-prä-sentation konstruieren.

6. Den Gegenstand bzw. den Inhalt der Re-präsentation konstruieren und durch ma-nipulierende Handlungen intelligente Rückmeldung vom System erhalten.

Stufe 1 beinhaltet das Lesen von Texten oder das Betrachten von Bildern. Der Lerner kann nicht selbst Inhalte gestalten. Es han-delt sich hierbei um keine echte Interaktivität. Zur zweiten Stufe zählt man animierte Bild-folgen (sogenannte Animated-Gif) oder auch bei Bedarf verfügbare Zusatzinformationen in auditiver oder visueller Form zu beliebigen Elementen. Beispielsweise ein typisches Mu-sikstück, das bei Klick auf das Bild eines Komponisten von selbst startet. In Stufe 3 kann der Student selbst bestimmen, welche Veränderung der Repräsentationsform vor-genommen wird. Abbildung 3 zeigt als Bei-spiel hierfür die interaktive Drehung eines in der x-z-Ebene halbierten Paraboloids.

Abb. 3: Variation der Repräsentationsform

Bestimmt und modifiziert der Nutzer neben der Darstellung auch die zu betrachtende Komponente, dann handelt es sich um Inter-aktivität auf Stufe 4. Ein Beispiel hierfür ist in Abb. 1 dargestellt. Neben der aktiven Mani-pulation des 3D-Objektes kann der betrach-tete Funktionsterm selbst eingegeben und verändert werden. Konstruiert man als Lerner selbstständig (z.B. ein Lot zu einer vorgege-benen Geraden in einem bestimmten Punkt), dann handelt es sich um ein Beispiel für Stu-fe 5. Stufe 6 baut auf den vorherigen Stufen auf und wird um kontextabhängige Rückmel-dungen für den Anwender erweitert, in denen er Informationen und Tipps passend zur mo-mentan bearbeiteten Aufgabe oder Tätigkeit erhält. Lerninhalte in virtuellen Seminaren kann man mit verschiedenartigen Visualisierungen an-schaulicher Gestalten. Mit interaktiven Ele-menten ermöglicht man dem Lerner, seinen persönlichen Lernweg zu gestalten. Die vor-gestellte Kategorisierung von MM-Elementen kann helfen, wissenschaftlich zu überprüfen und zu reflektieren, ob die eingesetzten Kom-ponenten in einer Online-Umgebung den mit ihnen in Verbindung gebrachten Nutzen er-füllen und ob dieser Nutzen damit auch er-reicht wird. Der Kurs Mathematik und Computer beschäf-tigt sich inhaltlich mit Einsatzmöglichkeiten

von CAS. Ein Ansatz, wie man CAS und in-teraktive Elemente unterschiedlicher Art sinn-voll und zielorientiert in einer Internet-Umge-bung verwenden kann, wird im folgenden Ab-schnitt anhand des Teilmoduls Funktionen vorgestellt.

2.2 Verwendete Multimedia-elemente

Grundlage eines jeden virtuellen Online-Kur-ses sind Internetseiten, die in Hypertextmar-kierungssprache (HTML) realisiert sind und somit von beliebigen Browsern (z.B. Net-scape oder Opera) dargestellt werden kön-nen. In Verbindung mit HTML kommen im Algebra-Bereich noch 8 weitere MM-Kompo-nenten zum Einsatz (s. Abb. 4), die im Fol-genden näher beschrieben werden.

Abb. 4: Eingesetzte MM-Elemente im Kurs Mathematik

und Computer

Um den Studierenden bereits zu Beginn ei-ner Lerneinheit einen Überblick über anste-hende Inhalte zu ermöglichen und dem Effekt "lost in hyperspace" (beschrieben z.B. in Haack 2002) entgegenzuwirken, werden Übersichten angeboten. Sie sind als mehr-stufige Flash-Applikation umgesetzt. Zu-nächst erhält der Student Information über Themenschwerpunkt (z.B. Funktionen) und darin enthaltene Unterabschnitte (z.B. Grundlagen oder Graph-Tabelle-Gleichung-Darstellungen (GTG)). Zusätzlich zum schrift-lich gestalteten Überblick wird jeweils ein für den Abschnitt typisches und im eigentlichen Kapitel wiederkehrendes Bild angeboten (vgl. in Abb. 5 Unterpunkt Grundlagen). Werden von den Lernenden weitere Informationen gewünscht, erscheinen zu jedem Teilaspekt bei "Mouse-Over" stichpunktartige Inhaltsan-gaben (in Abb. 5 Unterpunkt Erkunden). In einer dritten Stufe (bei "Mouse-Klick") wer-den zwei charakteristische, inhaltsbeschrei-bende Bilder angeboten (vgl. Abb. 5 Unter-punkt GTG). Alle drei Informationsstufen sind für jeden Unterpunkt verfügbar.

Wolfgang Weigel

180

Abb. 5: Mehrstufige Übersicht realisiert in Flash

Die zunächst knapp bemessene Schautafel und die weitergehende, dreistufige Informati-onsvermittlung, kombiniert mit zusätzlich ein-gebauten Filmsequenzen, kann als eine al-ternative Form der Überblicksgewinnung an-gesehen werden. Ziel des Kurses Mathematik und Computer ist es, Lernenden Kenntnisse über neue Technologien wie CAS zu vermitteln und sie zu einem didaktisch sinnvollen Einsatz dieser Hilfsmittel im Mathematikunterricht anzure-gen. Hierzu ist es zunächst notwendig, dass Studierende mit diesen Technologien umge-hen lernen. Für den Gebrauch in der Schule bietet sich aufgrund der einfachen und me-nügesteuerten Führung z.B. das CAS Derive an. Da Derive preiswert zu erwerben ist, werden Teile der Inhalte und Aufgaben so gestellt, dass man zuhause offline eigene Er-fahrungen damit sammeln kann.

Alle CAS-Erfahrungen können natürlich auch online erworben werden. Zu diesem Zweck sind viele Inhalte so gestaltet, dass z.B. Ex-perimentieren oder Visualisieren mit dem Computer auch innerhalb des virtuellen Kur-ses stattfinden kann. Mithilfe von Web-Mathematica-Seiten (WebM) gelingt es, typi-sche CAS-Aufgaben im WWW zugänglich und bearbeitbar zu gestalten. Thematische Schwerpunkte, theoretisches Hintergrundwissen und Aufgaben werden durch erklärenden Text präsentiert. Wenn möglich werden diese Elemente zusätzlich durch ein Bild erläutert (vgl. Abb. 6). Die In-halte liegen nun doppelt codiert vor, wodurch positive Veränderungen in der Lernleistung nachgewiesen werden können (vgl. Mayer 2001). Komplexe und dynamische Vorgehenswei-sen, wie die Bedienung eines CAS, machen die schriftliche Erläuterung schwierig und umfangreich. Für diese Zwecke ist eine au-thentische Erklärung via Video sinnvoll. Dies geht auch aus bereits genauer untersuchten Online-Kursen hervor. Studierende äußerten explizit den Wunsch nach Videos (Mandl 2001). Wichtig ist, dass die Lerner die Mög-lichkeit haben, innerhalb des Videos zu springen, es zu stoppen und auch wiederholt anzusehen (Chambel 2001, Schnotz 2001). Wie in Abb. 6 gezeigt, werden aus jedem Vi-deo bis zu drei markante Szenen herausge-

Abb. 6: Beispiel für eine Website

Gestaltungsprinzipien und Erfahrungen zum virtuellen Selbstlernkurs: Mathematik und Computer

181

nommen und als Bild parallel zum erklären-den Text angeboten. Diese Bilderfolgen die-nen dazu, dem Lerner schnell einen Über-blick zu verschaffen, was im Video beschrie-ben wurde bzw. wird. Er erhält so bereits vor dem Start des eigentlichen Films die Chance zu entscheiden, ob die Inhalte für ihn wichtig sind. Hat er das Video bereits gesehen, kann er sich beim Lesen des dazugehörigen Tex-tes anhand der Bilderfolgen erinnern. Alle Bilder der Bilderfolge werden zur besseren Erkennbarkeit von Details auch als Großbild angeboten. Die Kombination aus Video und Bilderfolgen ist als ein Teilaspekt der aktuel-len Forschung im Bereich "Neue Medien" un-ter dem Schlagwort Hypervideo zu finden (Chambel 2001). Neben der Abwechslung im Lernszenario durch einen breiten Einsatz von Medien auf verschiedenen Stufen sind weitere Schritte zur Unterbindung psychischer Ermüdung ge-fragt. Aus diesem Grund wird innerhalb des Lernkurses aufgefordert, Texte in einem Di-daktik-Lehrbuch zu lesen, darüber zu reflek-tieren bzw. im Forum dazu Stellung zu neh-men. Der Lernende führt hier eine Tätigkeit abseits des Rechners durch. Den gleichen Effekt bewirken auch vereinzelt eingestreute "Paper & Pencil"-Aufgaben.

3 WWW-Gestaltungsprin-zipien

Die einzelnen MM-Elemente erzielen nur dann den gewünschten Lernerfolg, wenn der Gestaltung der zugehörigen HTML-Seiten angemessene Prinzipien zugrunde gelegt werden. Es wurde beispielsweise auf allen Seiten des Kurses ein weitgehend einheitli-ches optisches Layout und eine konsequente inhaltliche Darstellung durchgeführt. Dabei wird auf Ergebnisse der aktuellen Forschung zurückgegriffen, die z.B. von Blömeke (2003) umfassend beschrieben wurden.

3.1 Optische Ebene Der Lernprozess in Online-Umgebungen wird bei den Studierenden als aktive und kon-struktive Handlung vermutet. Daher ist es notwendig, dass der Lerner "Prozesse der Auswahl, der Organisation und der Verarbei-tung von Information" (Schnotz 2001, 293) durchführt. Um ihn dabei zu unterstützen, wurden die Webseiten nach zwei wesentli-chen Merkmalen gestaltet (vgl. Abb. 6):

• 3-Spalten-Layout (Weigand et al. 2002), • Verwendung von Buttons. Mithilfe funktionsgebundenener Buttons er-kennt der Benutzer, ob im nebenstehenden Text eine Inhaltsübersicht gegeben wird, der Lehrstoff theoretisch dargestellt wird oder ei-ne Aufgabe vorliegt. Die Buttons sind am lin-ken Rand angeordnet. In der mittleren Spalte findet man passend zum jeweiligen Inhalt er-klärende und beschreibende Texte. In der rechten Spalte sind ergänzend zum Text Bil-der aufgeführt. Ebenso findet man hier But-tons, die auf Videos, WebMathematica-Akti-vitäten oder Lösungstipps zu schwierigen Aufgaben hinweisen. Zusätzlich zu Text und Video gibt es in dieser Spalte auch Bilderfol-gen (wie oben beschrieben). Mayer (2001) hat in einer empirischen Studie festgestellt, dass durch Doppelcodierung bessere Lernergebnisse zu erwarten sind. Er bezeichnet dieses Ergebnis als Multimedia-prinzip. Dementsprechend werden soweit möglich zu den Texten auch illustrierende Bilder präsentiert. Alle Bilder sind in räumli-cher Nähe zum zugehörigen Text angeord-net. Es gibt Hinweise, dass die Anwendung dieses so genannten Kontiguitätsprinzips den Lernprozess erleichtert (Mayer 2001). Neben diesen optischen Prinzipien der Ge-staltung wurden auch die Inhalte nach be-stimmten Regeln angeordnet.

3.2 Inhaltliche Ebene Die Inhalte des Kurses werden grundsätzlich in drei Schritten an die Studierenden heran-getragen (Experimentieren-Vormachen-An-wenden — EVA): 1. Experimentieren: Zu Beginn jedes Unter-

abschnittes (z.B. Funktionen erkunden; s. Abb. 5) wird versucht, mit Experimentier-aufgaben (s. hierzu [5]) an den mathema-tischen Sachverhalt und die themenbezo-gene Arbeitsweise mit einem CAS heran-zuführen. Dabei ist "Explorierendes Arbei-ten mit dem Computer" eine zentrale und wichtige Tätigkeit auch im Mathematikun-terricht (vom Hofe 2001) und sollte daher von den Studierenden am eigenen Leib erlebt werden.

2. Vormachen: Nach der Phase des Entde-ckens wird mithilfe von Text und Videos erklärt bzw. vorgemacht, wie man in Deri-ve eine Problemlösung erreichen würde.

3. Anwenden: Abschließend müssen die Lernenden die Lerninhalte anhand von Aufgaben selbst einüben.

Wolfgang Weigel

182

Neben dem Erwerb technischer Kompeten-zen wird ein weiterer Schwerpunkt auf die kritische Reflektion des Mediums gesetzt. Wann, wie und in welchem Umfang nutzt man diese Medien? Oder auch: Welche Pro-bleme können beim Einsatz auftreten?

4 Akzeptanzstudie

Es stellt sich die Frage, wie das gestalteri-sche und multimediale Konzept des Kurses von den Studierenden angenommen wird. Zur Akzeptanz und zum Lernerfolg von Onli-ne-Kursen im Bereich der Mathematik gibt es bislang wenige Erkenntnisse. Der folgende Abschnitt liefert erste Einblicke in die Ergeb-nisse einer Akzeptanzstudie zum Kurs Ma-thematik und Computer. Es wird im Detail auf Ziele und den inhaltlichen Untersuchungsge-genstand eingegangen. Auch auf die dabei eingesetzten Methoden wird ein besonderes Augenmerk gelegt. Abschließend werden die gewonnenen Erfahrungen diskutiert.

4.1 Ziele Im Rahmen der Akzeptanzstudie ging es darum, Erkenntnisse zur Qualität, zu Gestal-tung und Nutzbarkeit der Inhalte bzw. der Lehr-/Lernumgebung zu sammeln. Deshalb wurden die didaktische Angemessenheit des Kurses, die Nutzbarkeit der Plattform bzw. der Webseiten sowie der Lernerfolg der Teil-nehmer des WWW-Kurses genauer unter-sucht (nach Schaumburg & Rittmann 2001).

4.1.1 Didaktische Angemessenheit

Es galt herauszufinden, ob der Kurs an das Vorwissen der Teilnehmer anknüpfte, ob es Lücken gab oder ob die Studierenden unter-fordert waren. Eine weitere wichtige Frage dieses Bereichs lautete: Waren die Lernziele für die Beteiligten deutlich erkennbar?

4.1.2 Usability

Mit der Nutzbarkeit oder Usability (vgl. hierzu [6]) verbindet man Fragen nach der Erlern-barkeit im Umgang mit der Plattform oder auch danach, wie die Nutzer mit der Anord-nung der Inhalte zurechtgekommen sind.

4.1.3 Lernerfolg

Die sicherlich schwierigste Frage, die es zu beantworten galt, zielte auf den erhofften Wissenszuwachs der Studierenden ab. Da

die Inhalte multimedial aufbereitet waren und die Lerner aktiv mit Lernobjekten umgehen konnten, stellte sich zunächst die bekannte Frage: "Was ist unter Lernerfolg zu verste-hen?" (vgl. Baumgartner 1999) Diese Frage wurde für die Akzeptanzstudie in zwei Teile unterteilt: • Fragen zur CAS-Nutzung, • Fragen zum Ziel des Kurses. Im Zentrum des Interesses standen dabei: • Welche Medienangebote wurden von den

Teilnehmern als nützlich eingestuft und warum?

• Wurden neue Möglichkeiten zum Compu-tereinsatz im Mathematikunterricht wahr-genommen?

• Ist dieser Selbstlernkurs als Vorbereitung auf den Lehrberuf geeignet?

4.2 Mathematische Inhalte Die Ziele der Akzeptanzstudie wurden am achtteiligen Abschnitt Funktionen aus dem Bereich der Algebra überprüft. Zu Beginn wurden die Probanden anhand einer mehr-stufigen Übersicht über die anstehenden In-halte informiert. Im ersten Teilabschnitt wur-den Grundlagen zur Funktionsdarstellung mithilfe eines CAS vorgestellt. Experimentel-les Arbeiten mit Rechnerunterstützung, Glei-chung-Tabelle-Graph-Darstellungen und Vi-sualisierungen von Kurven waren weitere Themen. Der Umgang mit zusammengesetz-ten Funktionen und der Übergang zu Funk-tionen zweier Veränderlicher (z.B. anhand von Funktionsscharen) wurde ebenfalls the-matisiert. Die Inhalte orientieren sich an den didaktischen Ideen von Vollrath (1999) sowie Weigand & Weth (2002). Abgerundet wurde das Themenpaket mit Aufgaben zu allen vor-her behandelten Bereichen.

4.3 Methoden Durch den Einsatz von MM-Elementen er-hofft man sich, dass die Lerner konstruktiv ihr Wissen erweitern und der Lernprozess ge-fördert wird. Will man eine Untersuchung da-hingehend führen, stellt sich die Frage nach passenden Werkzeugen zur Evaluation. Baumgartner (1999) schlägt vor, dass auf-grund der Interaktivität andere Arten der Eva-luation gewählt werden müssen. Dement-sprechend wurden zur Überprüfung der oben vorgestellten Ziele drei Instrumente einge-setzt und kombiniert:

Gestaltungsprinzipien und Erfahrungen zum virtuellen Selbstlernkurs: Mathematik und Computer

183

1. Online-Fragebögen, 2. Videoaufzeichnungen, 3. Interviews. Zu 1: Vor Beginn der Testphase wurden von allen Beteiligten in einer zweiteiligen Befra-gung allgemeine Daten (Geschlecht, Semes-terzahl, …), Medienkompetenz und Grund-wissen über Funktionen in Erfahrung ge-bracht. Am Ende des Tests wurde noch ein-mal dieses Grundwissen und im Kurs vermit-teltes Fachwissen abgefragt. Zusätzlich wur-den Daten zur Lernform (Selbstlernen), Übersichtlichkeit, Verständlichkeit, zu per-sönlichen Erfahrungen und zur Nützlichkeit der MM-Komponenten erhoben. Anhand dieser Daten war ein Vergleich "Vor-her-Nachher" möglich. Eventuell aufgetrete-ne Probleme im Umgang mit Computern o-der den CAS-Anwendungen konnten in Be-zug zur vorher analysierten Medienkompe-tenz der Gruppe gestellt werden. Weiterhin war ein Einblick in Bereiche der Usability und des persönlichen Lernerfolgs möglich. Zu 2: Das Gesichtsfeld ausgewählter Perso-nen wurde zusammen mit deren Tätigkeit am Rechner als Video aufgezeichnet (s. Abb. 7).

Hierdurch konnte die Arbeitsweise am Rech-ner mit WebMathematica, Derive und der Lernplattform genauer untersucht werden. Es gelang so, anhand der vielfältigen Mimik (Le-onard 1968) der Probanden tendenzielle Aussagen über die Wirkung der bearbeiteten Aufgaben, Texte und MM-Elemente zu ma-chen. Zu 3: Alle gefilmten Probanden wurden auch zu einem problembezogenen und konfrontie-renden Interview eingeladen. Hierbei wurde auf Lernplattform, Lernmethode, Verständ-

lichkeit, MM-Elemente, Computereinsatz und Selbsteinschätzung des Lernerfolgs einge-gangen. In einem zweiten Teil wurden die Personen mit vorher ausgewählten (aus der Sicht des Interviewers interessanten) Szenen aus dem Video konfrontiert und dazu befragt. Mithilfe der Interviews war es möglich, Er-gebnisse der Fragebögen zu hinterfragen und dadurch ein genaueres Bild der Sachla-ge zu erhalten (z.B. "Warum haben Sie das Medium Film als hilfreich empfunden?"). Aus den Videoprotokollen war ersichtlich, wie die Studierenden mit dem System umgehen und an welchen Stellen bzw. Inhalten Probleme aufgetreten sind. Im Interview konnte direkt Bezug darauf genommen werden, und da-durch eröffnete sich die Chance, mehr und genaue Informationen zu erhalten, warum und wieso diese Probleme auftraten.

4.4 Ergebnisse Alle 32 Probanden arbeiteten in mehreren Gruppen in einem Computer-Pool für min-destens zweimal 90 Minuten im Online-Kurs. Dabei handelte es sich um 17 Studierende mit durchschnittlich sechs Semestern Uni-versitätserfahrung und um 15 Schüler der

Oberstufe mit Leistungskurs Mathematik. Den beteiligten Personen konnte ein durch-schnittlich gutes Wissen im Umgang mit dem Computer zugeschrieben werden. Dies zeigt sich daran, dass 31 von 32 Befragten einen Privatrechner besitzen und deutlich über 80% den Computer für Office-Anwendungen bzw. Email nutzen. Dabei war von besonde-rem Interesse, dass fast 80% bereits Erfah-rungen mit CAS hatten. Mit Video aufge-zeichnet und interviewt wurden drei Stu-dierende und ein Schüler.

Abb. 7: Rechts erkennt man die Mimik des Probanden und links seine momentane Aktivität im Online-Kurs

Wolfgang Weigel

184

Ausgehend von den Zielen der Akzeptanz-studie, werden nun erste Erfahrungen und Tendenzen berichtet.

4.4.1 Didaktische Angemessenheit

Angehende Mathematikstudenten wird man vor allem unter der Gruppe der mathematik-interessierten Abiturienten finden. Diese Per-sonengruppe wird sich im Studium mit den zu untersuchenden Materialien beschäftigen. Für Studierende und Schüler bietet der Kurs inhaltlich, auf der "technischen" Werkzeug-ebene, als auch auf Darstellungs- und Ob-jektebene, neue Aspekte. Die Schüler bemängelten das sehr breite Schwierigkeitsspektrum des Kurses. Einige Inhalte (wie Funktionen zweier Veränderli-cher oder Kurven) waren Ihnen nahezu un-bekannt. Im Gegensatz dazu wurden Theorie und Aufgaben von den Studierenden als an-gemessen empfunden, woraus man folgern kann, dass die inhaltlichen Anforderungen des Kurses für das Zielklientel (Studenten) geeignet sind. Die Studierenden vermuteten als Ziel des Kurses, vor allem den Umgang mit CAS (z.B. Derive) zu erlernen. Dieses zunächst enttäu-schende Ergebnis relativierte sich bei ge-nauerer Nachfrage. Großteile der ersten Sit-zung wurden damit verbraucht, den Umgang mit dem Lernsystem kennen zu lernen. An-fängliche Schwierigkeiten mit der korrekten Syntax in Derive bzw. WebMathematica lenk-ten die Aufmerksamkeit von didaktischen Fragestellungen ab. Als weiteres Problem wurde die "geringe" Zeit genannt. Die Befrag-ten würden als reale Online-Studierende zu-hause vermutlich mehr Zeit (als in einer La-borsituation) investieren. Um die Transparenz der Lernziele des Kur-ses zu überprüfen, hat sich der zeitliche Rah-men der Studie als zu eng erwiesen.

4.4.2 Usability

Wie bereits im vorherigen Punkt angedeutet, wurde die Nutzbarkeit der Lernplattform zu Beginn als gewöhnungsbedürftig eingestuft. Diese Schwierigkeit bestand allerdings in der zweiten Sitzung kaum mehr. Die gestalterische Aufbereitung der Inhalte entsprach den Vorstellungen der Probanden. Ein Teilnehmer bemerkte: "Die Inhalte sind sehr gut geordnet und ergeben auch einzeln Sinn." Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Teilnehmer des WWW-Kurses eine

Einarbeitungszeit benötigten, dann aber effi-zient mit dem System arbeiten konnten.

4.4.3 Lernerfolg

Die Studierenden wurden konkret gefragt, ob sie durch den Kurs neue Möglichkeiten zum Computereinsatz im Mathematikunterricht kennengelernt hätten. Diese Aussage wurde als durchschnittlich zutreffend (mit geringer positiver Tendenz) empfunden (5-teilige Li-kert-Skala gemäß Bortz & Döring (1995): Mit-telwert 3, Ergebnis: 3.44± 1.46). Weiterhin wurde gefragt, ob das Selbstlernmodul als eine gute Vorbereitung auf den Lehrberuf angesehen werden kann. Die Probanden stuften diese Aussage ebenfalls als durch-schnittlich zutreffend ein mit geringer negati-ver Tendenz: Mittelwert 3, Ergebnis: 2.69± 1.04). Aus Videoprotokollen konnte in Erfahrung gebracht werden, dass wenig Reflektions- und Diskussionsaufgaben bearbeitet wurden. Als Grund hierfür wurde im Interview erneut die geringe Zeit und der Schwerpunkt auf Problemen im Umgang mit dem CAS geäu-ßert. Daher stand der Erwerb einer (notwen-digen) Werkzeugkompetenz im Mittelpunkt der Probanden. Einigen waren aus früher besuchten Seminaren Möglichkeiten zum Computereinsatz im Mathematikunterricht bereits bekannt. Über drei Viertel der beteiligten Personen waren dennoch der Überzeugung, etwas ge-lernt zu haben. Aufgrund der vorher be-schriebenen Dominanz von CAS-Anwendun-gen (aus der Sicht der Teilnehmer) und den anfänglich damit verbunden Problemen, könnte man vermuten, dass der Kurs als CAS-Training verstanden wurde. Diese Aus-sage trifft erneut nur durchschnittlich zu (mit geringer Tendenz zur Ablehnung: 2.88± 0.99). Die beteiligten Studenten waren der Mei-nung, dass die im Kurs eingesetzten MM-Elemente ihnen das Lernen erleichtert haben (4.38± 0.99). Besonders nützlich wurden hierbei die Videos eingestuft (4.82± 0.38). Der Einsatz von Derive wurde tendenziell nützlicher (4.19± 0.73) als der von Web-Mathematica empfunden (3.44± 1.27).

4.5 Fazit der Befragung Die Ergebnisse lassen auf ein stimmiges MM-Konzept schließen. Vor allem Videos wurden positiv bewertet, da man hier nach Aussage der Probanden bei Problemen

Gestaltungsprinzipien und Erfahrungen zum virtuellen Selbstlernkurs: Mathematik und Computer

185

schneller und einfacher nachschauen konnte als im Text. Es hat sich auch gezeigt, dass Videos wirklich mehrmals aufgerufen wur-den. WebMathematica-Seiten sind einfach zu bedienen und befassen sich mit einem kon-kreten Problem. Derive erwartet vom Nutzer mehr Kompetenz, dafür hat er aber die volle Freiheit in der Anwendung. Man erkennt deutlich zwei unterschiedliche Philosophien, die sich auch ansatzweise in der Befragung der Probanden zeigten. Einige bevorzugten Bedienungskomfort und nahmen wissentlich Einschränkungen kreativer Möglichkeiten in Kauf. Andere bevorzugten das offene Sys-tem, um alle mathematischen Ideen sofort verfolgen zu können. Es hat sich auch ange-deutet, dass von leistungsstärkeren Teilneh-mern das offene Derive bevorzugt wird. Leis-tungsschwächere neigen eher zum einfachen und geleiteten System. Allerdings basieren diese Vermutungen auf persönlichen Erfah-rungen mit den Probanden.

5 Zusammenfassung und Diskussion

Dieser Aufsatz hat eine Möglichkeit zur Um-setzung eines Online-Kurses im Bereich der Algebra beschrieben. Schwerpunkte waren dabei Regeln zur sinnvollen Inhaltsaufberei-tung und Ansätze zum reflektierbaren Ein-satz von MM-Elementen. Die Untersuchungsergebnisse der Akzep-tanzstudie zeigen in den Punkten Angemes-senheit und Verwendbarkeit der Lernplatt-form bzw. Lerninhalte ein positives Feed-back. Die Studierenden stuften die mathema-tischen Inhalte als angemessen ein. Es hat sich deutlich gezeigt, dass der Umgang mit der Lernplattform zunächst erlernt werden muss, bevor ein inhaltliches Arbeiten möglich ist. Auch das MM-Konzept scheint nach subjek-tiven Einschätzungen der Teilnehmer geeig-net zu sein, um den Lernerfolg zu fördern. Besonders Videos wurden zur Lösung von aufgetretenen Problemen herangezogen. Al-le bereitgestellten MM-Ressourcen (z.B. WebMathematica, Derive, Text) wurden als nützlich empfunden. Allerdings fehlen noch genauere Erkenntnisse, was diese MM-Ele-mente für die Teilnehmer so hilfreich macht. Ob sich bestimmte Medien auch wirklich sti-mulierend auf leistungsstarke bzw. leistungs-schwächere Lernende auswirken, kann auf-grund der geringen Teilnehmerzahl nur ver-mutet werden, obwohl sich erste Tendenzen

abzeichnen. Weitere Forschungen sind un-umgänglich um diese offene Frage genauer zu untersuchen. Inwieweit alle gewonnenen Ergebnisse in ei-ner realen Lernsituation (alleine und zuhau-se) reproduzierbar sind, gilt es ebenfalls zu überprüfen. In diesem Fall ist damit zu rech-nen, dass der bemängelte knappe zeitliche Rahmen des Tests und die daraus resultie-renden Folgen in den Hintergrund treten.

Literatur Baumgartner, P. (1999): Evaluation medienge-

stützten Lernens. In: Michael Kindt (Hrsg.) (1999): Projektevaluation in der Lehre. Multi-media an Hochschulen zeigt Profil(e). Münster: Waxmann, 63–99

Bortz, J. & Nicola Döring (1995): Forschungsme-thoden und Evaluation für Sozialwissenschaft-ler. Berlin: Springer, 2. Auflage, Kapitel 4

Blömeke, Sigrid (2003): Lehren und Lernen mit Neuen Medien — Forschungsstand und Per-spektiven. In: Unterrichtswissenschaft 31, 57–82

Bruns, B. & P. Gajewski (2002): Multimediales Lernen im Netz. Berlin: Springer

Chambel, T. & N. Guimareaes (2000): Communi-cating and Learning Mathematics with Hyper-video. In: J. Borwein et al. (Hrsg.) (2000): Mul-timedia Tools for communicating mathematics. Berlin: Springer, Kapitel 6

Haack, Johannes (2002): Interaktivität als Kenn-zeichen von Multimedia und Hypermedia. In: Issing & Klimsa (2002), 151–166

Hofe, Rudolf vom (2001): Funktionen erkunden-mit dem Computer. In: mathematik lehren 105, 54–58

Issing, Ludwig J. & Paul Klimsa (Hrsg.) (2002): In-formation und Lernen mit Multimedia und In-ternet. Weinheim: Beltz, 3. Auflage

Leonard, K. (1968): Der menschliche Ausdruck. Leipzig: Barth

Mandl, Heinz & A. Weinberger (2001): Wandel des Lernens durch Neue Medien — das virtu-elle Seminar "Empirische Erhebungs- und Auswertungsverfahren". In: F. Hesse & H. Friedrich (Hrsg.) (2001): Partizipation und In-teraktion im virtuellen Seminar. Münster: Waxmann, 243–268

Mayer, R. (2001): Multimedia Learning. Cam-bridge: Cambridge University Press

Ridder, C.-M. (2002): Onlinenutzung in Deutsch-land. In: Media Perspektiven 3, 121–131

Schaumburg, H. & S. Rittmann (2001): Evaluation des Web-basierten Lernens — Ein Überblick über Werkzeuge und Methoden. In: Unter-richtswissenschaft 29, 342–356

Schnotz, W. (2001): Wissenserwerb mit Multime-dia. In: Unterrichtswissenschaft 29, 293–318

Wolfgang Weigel

186

Schulmeister, Rolf (2002): Taxonomie der Interak-tivität von Multimedia — Ein Beitrag zu aktuel-len Metadaten-Diskussion. In: it+ti 4, 193–199

Vollrath, Hans-Joachim (1999): Algebra in der Se-kundarstufe. Mannheim: BI Wissenschaftsver-lag

Weidenmann, B. (2002): Multicodierung und Mul-timodalität im Lernprozess. In: Issing & Klimsa (2002), 45–64

Weigand, Hans-Georg (2000): Internet-gestützte Kommunikation in der Lehramtsausbildung. In: Journal für Mathematik-Didaktik 22, 99–123

Weigand, Hans-Georg & Thomas Weth (2002): Computer im Mathematikunterricht. Heidelberg u.a.: Spektrum

Weigand, Hans-Georg et al. (2002): New Ways of Communication via the Internet — New Ways of Learning. In: Josef Böhm (Hrsg.) (2002): Visit-Me-2002. Proceedings of the Vienna In-ternational Symposium on Integrating Tech-nology in Mathematics Education. Vienna, Austria, CD, bk teachware Series "Support in Learning" no. SR-31

Weigel, Wolfgang (2003a): Employment of Media in an Internet Supported Learning Platform with Madin Serving as an Example. In: P. Isaas (Hrsg.) (2003): Proceedings of the IADIS International Conference WWW/Internet 2003, IADIS Press, 1195–1198

Weigel, Wolfgang (2003b): WebMathematica On-line — Ein Beispiel aus der Sekundarstufe II. In: Der Mathematikunterricht 49, Heft 4, 44–51

Internetseiten [1] http://www.medien-bildung.net/projekte/projekte_uebersicht_db.php/alle/projekte/0/4/ [2] http://www.virtuelle-hochschule.de [3] http://www.vhb.org [4] http://www.wolfram.com/products/webmathematica/examples/ [5] http://www.sembs.rv.bw.schule.de/forum/_disc/00000029.htm [6] http://www.usability.at/

187

* Teilnehmende der AG "Der ClassPad 300 von Casio" unter der Leitung von Jens Weitendorf: Norbert Christmann, Olaf Fergen, Reinhold Tho-

de, Karel Tschacher

Beispiele aus dem Unterricht Im Rahmen dieses Artikels ist es nicht mög-lich, die Fähigkeiten des Rechners auch nur ansatzweise darzustellen. Um trotzdem ei-nen Eindruck zu bekommen, werden im Fol-genden drei Beispiele für den Einsatz exem-plarisch beschrieben.

Das Einkommenssteuergesetz Das aktuelle Gesetz findet man im Internet unter der folgenden Adresse: http://bundesre cht.juris.de/bundesrecht/estg/index.html (Stand September 2003). Ich denke, dass es für unterrichtliche Zwecke günstiger ist, vom direkten Text auszugehen, als Tabellen zu benutzen, die leichter zu finden sind. Zum Zwecke der besseren Lesbarkeit wurde das "x" aus dem Originaltext durch "*" ersetzt. Beide Zeichen sind als Multiplikation zu in-terpretieren. Das Gesetz für das Jahr 2002 lautet folgen-dermaßen: Der Einkommensteuertarif: "(1) 1Die tarifliche Einkommensteuer bemisst sich nach dem zu versteuernden Einkom-men. 2Sie beträgt vorbehaltlich der §§ 32b, 34, 34b und 34c jeweils in Euro für zu ver-steuernde Einkommen 1. bis 7.235 Euro (Grundfreibe-

trag): 0; 2. von 7.236 Euro bis 9.251 Euro:

(768,85 * y + 1.990) * y; 3. von 9.252 Euro bis 55.007 Euro:

(278,65 * z + 2.300) * z + 432; 4. von 55.008 Euro an:

0,485 * x - 9.872. 3"y" ist ein Zehntausendstel des 7.200 Euro übersteigenden Teils des nach Absatz 2 er-mittelten zu versteuernden Einkommens. 4"z" ist ein Zehntausendstel des 9.216 Euro über-

steigenden Teils des nach Absatz 2 ermittel-ten zu versteuernden Einkommens. 5"x" ist das nach Absatz 2 ermittelte zu versteuernde Einkommen. (2) Das zu versteuernde Einkommen ist auf den nächsten durch 36 ohne Rest teilbaren vollen Euro-Betrag abzurunden, wenn es nicht bereits durch 36 ohne Rest teilbar ist, und um 18 Euro zu erhöhen. (3) 1Die zur Berechnung der tariflichen Ein-kommensteuer erforderlichen Rechenschritte sind in der Reihenfolge auszuführen, die sich nach dem Horner-Schema ergibt. 2Dabei sind die sich aus den Multiplikationen ergebenden Zwischenergebnisse für jeden weiteren Re-chenschritt mit drei Dezimalstellen anzuset-zen; die nachfolgenden Dezimalstellen sind fortzulassen. 3Der sich ergebende Steuerbe-trag ist auf den nächsten vollen Euro-Betrag abzurunden. (4) (weggefallen) (5) Bei Ehegatten, die nach den §§ 26, 26b zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, beträgt die tarifliche Einkommen-steuer vorbehaltlich der §§ 32b, 34, 34b und 34c das Zweifache des Steuerbetrags, der sich für die Hälfte ihres gemeinsam zu ver-steuernden Einkommens nach den Absätzen 1 bis 3 ergibt (Splitting-Verfahren)." Für den Unterricht wird es zunächst eine loh-nende Aufgabe sein, eine Tabelle zu erstel-len. Dieses lässt sich am einfachsten mit ei-ner Tabellenkalkulation bewerkstelligen. Hier bestehen zunächst keine Unterschiede zwi-schen Excel und dem Spreadsheet von Ca-sio, wenn man einmal von der Größe des Bildschirmes absieht, was natürlich für alle Anwendungen in Bezug auf Taschenrechner gilt. In der bisherigen Version des Spread-sheets lässt sich der "WENN"-Befehl von Ex-cel nicht übertragen. Da die Teilfunktionen für die Steuer recht kompliziert sind, ergibt sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist,

Der ClassPad 300 von Casio *

Jens Weitendorf, Norderstedt

Im Folgenden werden an Hand von einigen Beispielen einige Möglichkeiten beschrieben, die man beim Unterrichtseinsatz dieses Rechners hat. Hierzu hat es in Dillingen sowohl einen Vortrag als auch eine Arbeitsgruppe gegeben. In diesem Artikel werden sowohl der Vortrag als auch die Ergebnisse der Arbeitsgruppe wiedergegeben.

Jens Weitendorf

188

einen Ausdruck der folgenden Art einzuge-ben:

=WENN(A2<7236;0;WENN(A2<9252; (768,85*(A2-7200)/10000+1990)*(A2-7200)/ 10000;WENN(A2<55008;(278,65*(A2-9216)/ 10000+2300)*(A2-9216)/10000+432;0,485* A2-9872)))

(bzw. entsprechender Excel-Befehl) Obwohl der Befehl von der Logik her nicht kompliziert ist, kann er im Unterricht nur mit starker Unterstützung der Lehrkraft entwi-ckelt werden. Excel hätte hier den Vorteil, dass der Term wenigstens noch geschlos-sen, wenn auch in zwei Zeilen, auf dem Bild-schirm dargestellt werden kann. Der Class-Pad bietet zwar auch die Möglichkeit, den In-halt einer Zelle auf dem halben Bildschirm darzustellen; aber auch dieses wäre eher unübersichtlich. So ist es für die Schülerinnen und Schüler si-cherlich einfacher, wenn man sich zunächst eine Spalte für das zu versteuernde Ein-kommen erstellt und dann für die zweite Spalte die Teilfunktionen entsprechend ein-gibt. Vom Arbeitsaufwand her bestehen kaum Unterschiede. Das folgende Bild zeigt den Bildschirm nach Eingabe.

Abb. 1: Ausschnitt aus der Einkommenssteuertabelle

In weiteren Spalten lassen sich dann noch der durchschnittliche und der Grenzsteuer-satz berechnen. Die beiden folgenden Abbil-dungen zeigen die grafischen Darstellungen. Möchte man zum Beispiel den durchschnittli-chen Steuersatz in Abhängigkeit vom zu ver-steuernden Einkommens darstellen, ergeben sich Probleme, da man nur nebeneinander liegende Spalten in einer Grafik zeigen kann.

Man hat weder die Möglichkeit, Spalten zu vertauschen, noch kann man mit der Funk-tion "Einfügen" nur die "Inhalte einfügen", wie das zum Beispiel mit Excel machbar ist. Es bleibt zu hoffen, dass Casio dies noch er-möglicht.

Abb. 2: Graph der Steuerfunktion

Abb. 3: Graphen des durchschnittlichen und des Grenz-steuersatzes

Des weiteren wäre es wünschenswert, dass sich Excel-Dateien auf den ClassPad über-tragen lassen. Dies soll in einer erweiterten Version, die ab Sommer 2004 erhältlich sein soll, realisiert sein.

Erzeugung von Ableitungsfunktio-nen Mit Hilfe von DERIVE lassen sich Ableitungs-funktionen auf die folgende Art erzeugen.

Der ClassPad 300 von Casio

189

F(x) := x2

M(a, h) := h

)a(f)ha(F −+

VECTOR([a, M(a, 0.000001)], a, 0, 4, 0.1) Zunächst muss eine Funktion definiert wer-den. Danach wird ein "h" bestimmt, so dass sich Sekanten- und Tangentensteigung nur noch geringfügig unterscheiden. Die letzte Zeile erzeugt eine Punktfolge von "Ablei-tungswerten", die sich grafisch darstellen und interpretieren lässt.

Entsprechendes lässt sich auch mit dem ClassPad machen. In DERIVE werden die Ableitungswerte durch den Differenzenquo-tienten erzeugt. Bei der Bearbeitung mit dem Casio-Rechner geschieht dies grafisch so, wie die folgende Schilderung des Ablaufes zeigt. Neben dem oben schon erwähnten Spread-sheet hat der Rechner noch die folgenden Anwendungsbereiche.

Abb. 5: Lehrgebiete des Rechners (Verborgen sind die Bereiche: Programm, Kommunikation, System und

Spreadsheet)

Was den Rechner gegenüber anderen aus-zeichnet ist der eActivity-Bereich, der hier be-nutzt wird, um Ableitungen grafisch zu be-stimmen und zu visualisieren. In diesem Be-reich ist es möglich, die Gebiete des Class-Pad miteinander zu verknüpfen. Auch dies

wird am Beispiel deutlich. Man geht in den eActivity-Bereich hinein und öffnet ein Geo-metrie-Fenster. Hier lassen sich auch Gra-phen von Funktionen mit Koordinatensyste-men zeichnen. Ist der Graph zum Beispiel für f(x) = x3 erzeugt, lässt sich an einem beliebi-gen Punkt die Tangente einzeichnen. Mit Hil-fe einer Animation kann man den Punkt, an dem die Tangente konstruiert wurde, auf dem Graphen wandern lassen. Neben die-sem grafischen Wandern werden gleichzeitig numerisch Werte für die Tangentensteigun-gen erzeugt. Diese lassen sich dann wieder-um so darstellen, wie die folgende Abbildung zeigt.

Abb. 6: Der Graph der Funktion f(x) = x3 und der Graph der "Ableitung"

Es fällt auf, dass der Graph der "Ableitungs-funktion" an der Stelle x=0 nicht dem von x2 entspricht. Dies zeigt, dass die "Ableitung" numerisch erzeugt worden ist. Durch Interpo-lation ergibt sich die "Gerade" um 0. Der Graph lässt sich "verbessern", wenn man bei der Animation mehr Schritte durchführt. Auf der anderen Seite erfährt man ganz im Sinne von Hischer (2002) auf diese Weise etwas über die Arbeitsweise des Gerätes. Genau wie bei DERIVE muss auch jetzt noch von den Schülerinnen und Schülern eine Funk-tionsgleichung für den Graphen gefunden werden. Der ClassPad bietet noch die Mög-lichkeit, die Ableitungswerte in den Bereich Statistik zu übertragen. Mit Hilfe einer quad-ratischen Regression lässt sich dann die Gleichung ermitteln. Für den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler ist es aber günsti-ger, wenn sie die Gleichungen von Funktio-nen, deren Graph gegeben ist, ohne Regres-sion ermitteln.

Abb. 4: Der Graph der Funktion f(x) = x2 und der "Ableitung"

Jens Weitendorf

190

Ich habe im Unterricht sowohl das Verfahren mit DERIVE als auch mit dem Casio-Rechner durchgeführt. Nach meiner Erfahrung war je-des Mal bei den Schülerinnen und Schülern die eigentliche Definition der Ableitung als Grenzwert von Differenzenquotienten nach einiger Zeit nicht mehr präsent. Das gleiche Phänomen ist aber auch zu beobachten, wenn die Ableitungsregeln auf herkömmliche Art hergeleitet werden. Dass dies so ist, hat wahrscheinlich tiefere Gründe, die damit zu tun haben, dass unser Unterricht immer noch zu sehr ergebnisorientiert ist und die Idee des Herleitungsprozesses in den Hintergrund tritt. Wenn es gelingt, die Bedeutung von Prozessen bei den Schülerinnen und Schü-lern zu verankern, werden unter Umständen die beiden oben beschriebenen rechnerge-stützten Verfahren zu anderen Ergebnissen führen. Zumindest wird die Eigenständigkeit gefördert, da bei der formalen Herleitung der Ableitung, die im Allgemeinen im Frontalun-terricht geschieht, Schülerinnen und Schüler, wenn überhaupt, nur passiv beteiligt sind. Dass sowohl DERIVE, als auch der Class-Pad in der Lage sind, Ableitungen direkt zu bestimmen, macht es natürlich noch schwie-riger, den oben beschriebenen Prozess zur Hinführung zur Ableitungsfunktion bei den Schülerinnen und Schülern zu verankern.

Verlegung eines Telefonkabels Bei dem folgenden Beispiel, das von Herrn Tschacher zur Verfügung gestellt wurde, handelt es sich um ein Optimierungsproblem. Die Darstellung im Rahmen dieses Artikels ist schwierig, da sich die Interaktionen nur beschreibend darstellen lassen. Das Beispiel soll verdeutlichen, wie sich Schüleraktivitäten beim Lösen von Problemen unterstützen las-sen. Die Aufgabe wird im eActivity-Bereich gestellt und bearbeitet. Zunächst wird das Problem im Textbereich beschrieben: "Telefonkabel Die Differentialrechnung ermöglicht es, Ant-worten auf Fragen zu geben, die anders nur mit viel Mühe zu finden sind. Ein Problem der Wirtschaft ist es, eine be-sonders billige Lösung zu suchen, um maxi-malen Gewinn zu erzielen." Dann erscheint ein Fenster, das mit Voraus-setzungen betitelt ist. Durch Anklicken der Zeile im eActivity-Bereich halbiert sich das große Fenster, und es öffnet sich das untere Fenster mit dem entsprechenden Inhalt. Auf die gleiche Art ist es möglich, den Schülerinnen und Schülern

Hilfe anzubieten. Sie können dann für sich selbst entscheiden, ob sie diese Hilfe wollen oder nicht.

Abb. 7: eActivity-Fenster mit "verborgenem" Inhalt

Als nächstes wird das Problem gemäß fol-gender Abbildung beschrieben.

Abb. 8: Allgemeine Beschreibung des Problems

Die zur Lösung notwendigen Hintergrundin-formationen findet man, wenn man das Fens-ter öffnet. Angegeben ist Folgendes: Stationen: E und C, Uferlinie AB, Übergang Land/Wasser D, E liegt im Wasser Kosten: im Wasser 255000 Euro/km; an Land 120000 Euro/km Entfernungen: C zum Ufer 10 km, E zum Ufer 8 km, AB 16 km Der folgende Bildschirm zeigt die Fragestel-lungen

Der ClassPad 300 von Casio

191

Abb. 9: Fragestellungen

In den Lösungshinweisen werden Tipps ge-geben wie, dass der Schnittpunkt von CE mit dem Ufer ermittelt werden muss und dass Strahlensätze und der Satz des Pythagoras bei der Lösung helfen könnten. Mit Hilfe einer Animation lassen sich verschiedene "Lösun-gen" darstellen.

Abb. 10: Darstellung des Problems

Der Punkt D wandert bei der Animation auf der Strecke AB, und die entsprechenden Strecken werden sichtbar. Es ist aber leider nicht möglich, wie man es von der dynami-schen Geometrie her kennt, die benötigten Strecken zu messen, wodurch eine experi-mentelle grafische Lösung möglich wäre. Auch zur Aufgabe 2 gibt es noch weitere Lö-sungshinweise, die sich darauf beziehen, dass man zunächst die Kosten für einen Weg über D allgemein findet und dann das Mini-mum der Funktion sucht. In einem weiteren

Aufgabenteil wird die Problemstellung durch die Einführung eines Sperrgebietes in der Mitte der Strecke AB variiert.

Ergebnisse der Arbeits-gemeinschaft Auf einiges, was uns verbesserungswürdig erscheint, wurde schon oben im Rahmen der Beschreibung der Beispiele hingewiesen. Als besondere Vorteile erscheinen uns die fol-genden: 1) Wie es vor allem exemplarisch im dritten

Beispiel beschrieben worden ist, bietet der Rechner durch den eActivity-Bereich die Möglichkeit des eigenverantwortlichen Arbeitens. Zu diskutieren wäre aber auch hier die Frage der Anleitungen. Durch sehr viele solcher Anleitungen wird sicher keine große Eigenständigkeit erreicht. Ein Vorteil ist, dass diese, wie oben beschrie-ben, verdeckt gegeben werden können. Die Eigenständigkeit der Schülerinnen und Schüler besteht dann auch darin zu entscheiden, ob man eine Hilfestellung haben möchte oder nicht. Eine Überprü-fung, ob Schülerinnen und Schüler die Hil-festellung nutzen, ist direkt nicht möglich.

2) Die obigen Beispiele haben gezeigt, dass sich mit dem ClassPad 300 funktionale Arbeitsblätter herstellen lassen.

3) Der ClassPad kann relativ einfach mit ei-nem Computer verbunden werden. Da-durch kann eine Bibliothek von Arbeits-blättern ins Netz gestellt werden (die In-ternetadressen sind unten angegeben). Solche Programme und Blätter können dank entsprechender Software auch di-rekt auf dem Computer verarbeitet und für die eigene Lerngruppe modifiziert werden.

Inwieweit dieser Rechner den Unterricht im Vergleich zu anderen Rechnern oder Com-putern mit ähnlicher Software anders beein-flusst, muss noch genauer untersucht und diskutiert werden.

Literatur Hischer, Horst (2002): Mathematik und Neue Me-dien. Hildesheim & Berlin: Franzbecker www.classpad.de -> Emulator classpad.net (ohne www!) -> eActivity / Beispiele

192

1 MaDiN — Eine internet-gestützte Lernumgebung

Das Verbundprojekt "Entwicklung einer de-zentralen internetbasierten Lehr-Lern-Umge-bung für das Lehramtsstudium Mathematik" wird an den Universitäten Würzburg, Münster und Erlangen-Nürnberg sowie der TU Braun-schweig durchgeführt (vgl. Weth 2003). Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Pro-gramms "Neue Medien in der Bildung" geför-dert (Laufzeit Januar 2001 bis Dezember 2003). Das zentrale Ziel des Projekts ist die Anrei-cherung von Präsenzlehre durch virtuelle Komponenten; — es handelt sich um eine hybride Form des Lernens mit dem Internet (Döring 2002, 254ff). Die hierfür zu erstellen-de internetbasierte Lehr-Lern-Umgebung um-fasst mittlerweile • eine interaktive, im WWW verfügbare

Wissensbasis für das Lehramtsstudium Mathematik,

• ein Diskussionsforum, • weitere Komponenten zur Verwaltung und

Autorentools. Die interaktive Wissensbasis mit der Be-zeichnung "Mathematik-Didaktik im Netz" (kurz: MaDiN) ist im Internet frei zugänglich (www.madin.net). Sie soll bei Projektende wichtige Standardthemen der Mathematik und ihrer Didaktik für das Lehramtsstudium abdecken. Es handelt sich dabei um ein typi-sches Hypertext-System, das mit jedem übli-chen Browser gelesen werden kann (Schul-meister 2002, 19ff, Tergan 2002) Die Wissensbasis MaDiN ist in verschiedene Module gegliedert, die sich

• einerseits mit jahrgangsstufen- und in-haltsübergreifenden Leitlinien oder Aspek-ten des Geometrieunterrichts befassen (z.B. Beweisen und Argumentieren, Kon-struieren),

• andererseits jahrgangsstufen- und inhalts-spezifisch einzelne Teilgebiete des Geo-metrieunterrichts behandeln (z.B. ebene Geometrie in Klasse 5/6, Ähnlichkeitsgeo-metrie in Klasse 9).

Die einzelnen Module können wiederum aus mehreren Teilmodulen bestehen. Jedes Mo-dul bzw. Teilmodul ist einheitlich strukturiert und enthält folgende Elemente: Eine kurze Übersicht, Theorie (zur Didaktik der Geo-metrie), Beispiele (mit Unterrichtsbezügen), Übungen und Aktivitäten für die Studieren-den sowie Materialien zum Download, Litera-turhinweise und Links. Einen besonderen Schwerpunkt bilden die Übungen und weitere Aktivitäten, die ein breites Spektrum umfas-sen: Es gibt Arbeitsaufträge, • die interaktiv direkt am Computer bearbei-

tet werden können (z.B. elektronische Ar-beitsblätter auf der Basis von Cinderella);

• die nicht unmittelbar am Computer statt-findende Aktivitäten fordern (z.B. Anferti-gen und Ausprobieren von Lernmitteln, Analysieren von Schülertexten);

• die Impulse für Diskussionsbeiträge von Studierenden entweder im Rahmen tradi-tioneller Seminare oder in Diskussionsfo-ren liefern.

Bei der Ausgestaltung von MaDiN steht eine motivierende und problemadäquate Darstel-lung im Vordergrund; — ein Themenbereich muss und kann dort nicht erschöpfend abge-handelt werden; Fachzeitschriften und Lehr-bücher sollen auch langfristig keineswegs er-

Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehr-veranstaltungen?

Gerald Wittmann, Würzburg

An der Universität Würzburg und der PH Weingarten wurde im WS 02/03 jeweils eine Lehrveranstaltung zur Didaktik der Geometrie mit der internetgestützten Wissensbasis MaDiN durchgeführt. So konnten die Studierenden neben üblichen Präsenzphasen auch eigenständig Lerninhalte online bearbeiten und Beiträge für ein Diskussionsforum schrei-ben. Die Lehrveranstaltungen wurden formativ evaluiert: Den Kern der Evaluation bilde-ten offene Interviews, in denen die Studierenden ihre Erfahrungen aus der jeweiligen Lehrveranstaltung schilderten. Daraus ergeben sich wichtige Folgerungen für die Gestal-tung vorlesungsbegleitender Lernangebote.

Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehrveranstaltungen?

193

setzt, sondern vielmehr ergänzt werden (Lud-wig & Wittmann 2001). Ein unabdingbarer Bestandteil des Projekts ist die Erprobung der neuen Lehr-Lern-Um-gebung im Regelbetrieb, der entsprechend dokumentiert und evaluiert werden soll.

2 Lehrveranstaltungen zur Didaktik der Geometrie

Im WS 02/03 wurden die Wissensbasis Ma-DiN und das zugehörige Diskussionsforum in zwei Lehrveranstaltungen zur Didaktik der Geometrie für Studierende des Lehramts an Haupt- und Realschulen eingesetzt: • an der Universität Würzburg in einer 2-

stündigen Vorlesung (Prof. Dr. H.-G. Wei-gand) mit zusätzlicher 2-stündiger Übung (StR J. Roth),

• an der PH Weingarten in einer 2-stündi-gen Vorlesung (Prof. Dr. M. Ludwig) ohne eigenständige Übung.

Die Rahmenbedingungen beider Lehrveran-staltungen waren ansonsten ähnlich: • Die Teilnehmerzahl betrug knapp 30. • Die Voraussetzungen der Studierenden

waren sehr inhomogen (unterschiedliche Semesterzahlen; das Studium für das Lehramt an Realschulen umfasst eigene fachwissenschaftliche Lehrveranstaltun-gen, das Studium für das Lehramt an Hauptschulen im Allgemeinen nicht).

• Die Studierenden konnten durch die Ab-gabe von Übungsaufgaben und die Teil-nahme an einer Klausur gegen Semester-ende einen Leistungsnachweis ("Schein") erwerben.

Die Lehrveranstaltung ist Bestandteil des "Pflichtprogramms", das an der Universität Würzburg zudem durch bayernweit zentral gestellte Staatsexamensprüfungen auch in-haltlich festgelegt ist. Die üblichen Präsenzphasen blieben im We-sentlichen erhalten und verliefen weitgehend konventionell, auch unter Verwendung von "Kreide und Tafel"; MaDiN wurde in der Vor-lesung eingesetzt, um z.B. Bilder, Filme und Animationen zu projizieren. Zusätzliche virtu-elle Phasen beinhalteten in erster Linie die individuelle Vor- und Nachbereitung von Lehrveranstaltungen sowie das selbstständi-ge Erarbeiten einzelner Lerninhalte bei Ab-wesenheit des Dozenten. Die Übungsaufga-ben, die Voraussetzung für einen Scheiner-werb waren, umfassten

• sowohl herkömmliche, in Papierform ab-zugebende Aufgaben,

• als auch das regelmäßige Schreiben ei-nes Beitrags im Diskussionsforum zu Fra-gen der Geometriedidaktik (z.B. Reflexion eigener Erfahrungen, Stellungnahme zu bestimmten Zielen des Geometrieunter-richts).

Diese Lernangebote spiegeln die Ziele der Lehrveranstaltungen zur Didaktik der Geo-metrie wider: Die fachbezogenen Ziele las-sen sich im Wesentlichen in zwei Kategorien einteilen: • Die Studierenden sollen Kenntnisse über

Ziele, Inhalte und Methoden des Geome-trieunterrichts sowie Lernprozesse im Ge-ometrieunterricht erwerben.

• Die Studierenden sollen darüber hinaus Ziele, Inhalte und Methoden des Geome-trieunterrichts sowie Lernprozesse im Ge-ometrieunterricht reflektieren und letztlich ein adäquates Bild von Geometrie und Geometrieunterricht erwerben.

Speziell hinter der zweiten Kategorie steht der Gedanke, dass das Lehramtsstudium nicht nur "statisches" Wissen anhäufen, son-dern die Basis für ein lebenslanges Lernen der zukünftigen Lehrer(innen) legen soll (DMV & GDM 2001, Krauthausen 1998). Hin-zu kommen allgemeine Ziele eines Lehr-amtsstudiums (z.B. Medienkompetenz, Dis-kussionsfähigkeit).

3 Evaluation: Methoden und Durchführung

Die im Folgenden beschriebenen Evaluati-onsmaßnahmen fanden bereits kurz nach der Hälfte der Laufzeit des Projekts statt, al-so zu einem sehr frühen Zeitpunkt; ferner wurde eine Version der Lehr-Lern-Umgebung eingesetzt, deren Entwicklung noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Die Evaluation wurde als Selbstevaluation von denselben Projektmitarbeitern durchgeführt, die auch an der Entwicklung beteiligt waren. Es handelt sich um eine formative Evaluation, die mit dem Ziel der Qualitätssicherung und der Ent-wicklung entsprechender Lehrveranstal-tungskonzepte parallel zur Weiterentwicklung von MaDiN stattfindet (für eine weiter gehen-de Einordnung s. Wittmann 2003). Die Evaluation der Lehrveranstaltung, in der mit MaDiN gearbeitet wird, muss bei den Zie-len der Veranstaltung ansetzen. Die Proble-matik liegt nun gerade darin, dass diese nur

Gerald Wittmann

194

teilweise einfach abzuprüfende "Wissenszie-le" sind. Insbesondere diejenigen Ziele, die in besonderer Weise mit dem Einsatz der mul-timedialen Wissensbasis und des Diskussi-onsforums verknüpft sind, beziehen sich auf überwiegend langfristige Prozesse; — hier kann im Rahmen der Evaluation lediglich er-fasst werden, ob diese Prozesse angestoßen werden. Für die Evaluation waren deshalb folgende Leitfragen maßgeblich: • Welche Lernangebote von MaDiN neh-

men die Studierenden an, und wie nutzen sie diese?

• Wie beschreiben Studierende ihr Lern- und Arbeitsverhalten im Rahmen einer in-ternetgestützten Lehrveranstaltung?

• Welche Veränderungen sehen sie im Un-terschied zu einer traditionellen Lehrver-anstaltung?

Wesentliches Evaluationsinstrument waren zwei Staffeln offener Einzelinterviews, • zunächst mit sechs Studierenden der Uni-

versität Würzburg im Dezember 2002 und • später mit neun Studierenden der PH

Weingarten im Februar 2003. Aufgrund des zeitlichen Abstands beider Staffeln konnten die Ergebnisse der ersten sechs Interviews in die Planung der neun fol-genden Interviews einfließen. Alle Interviews wurden als Fremdinterviews — der Intervie-wer war den Studierenden bis dato nicht be-kannt — durchgeführt und waren als Leitfa-deninterviews konzipiert (Bortz & Döring 2002, 308ff, Lamnek 1995, 35ff): Die anzu-sprechenden Themen waren durch den Leit-faden vorgegeben, die Reihenfolge und die exakte Formulierung der Fragen verblieb je-doch beim Interviewer. Da für die Beantwor-tung keine Antwortkategorien vorgegeben wurden, konnten die Studierenden auch As-pekte ansprechen, die der Interviewer nicht antizipiert hatte. Bei Bedarf hatte der Inter-viewer die Möglichkeit, gezielt nachzufragen, um einzelne Aspekte zu vertiefen oder eine dialogische Validierung herbeizuführen, d.h. mehrdeutige Äußerungen bereits im Inter-view zu klären. Der Interviewer hielt zusätzli-che Eindrücke schriftlich fest. Die Interviews wurden per Mikrofon und Soundkarte eines Notebooks digital aufgezeichnet, sie dauer-ten zwischen 11 und 27 Minuten. Ihre Tran-skription erfolgte in zwei Durchgängen ge-mäß den üblichen Regeln. Das Transkript besitzt die Struktur eines Dialogs, versehen mit Zeitangaben und zusätzlichen Anmer-kungen (beispielweise über nonverbale Kom-munikation).

Die Auswertung der Interviews geschah auf dem Wege einer qualitativen Inhaltsanalyse (Bortz & Döring 2002, 329ff; Lamnek 1995, 172ff; Mayring 2002, 82ff). Mit diesem Ar-beitsgang wurden zwei Ziele verfolgt: • Strukturierung: Die Äußerungen der Stu-

dierenden wurden nach Kategorien sor-tiert: Technik und Nutzung, Usability und Navigation, Inhalte von MaDiN, Vorle-sung, Übung, Diskussionsforum, Klausur.

• Paraphrasierung: Die Äußerungen der Studierenden wurden "bereinigt", sprach-lich "geglättet", verkürzt und verdichtet so-wie zusammenfassend paraphrasiert; es verblieben nur noch wenige Zitate, sofern diese prägnanter waren als mögliche Pa-raphrasierungen.

Als Resultat der qualitativen Inhaltsanalyse erhielt man für alle Studierenden die struktu-rierten und paraphrasierten Selbstauskünfte im Interview. Diese Texte sind deutlich kürzer als die Transkripte, ihr Umfang reduzierte sich auf 10 bis 20 %. Sie sind nach wie vor in der "Ich-Form" gehalten, um deutlich zu ma-chen, dass es sich dabei um Selbstauskünfte der Studierenden handelt. Sie sind rein per-sonenbezogen und enthalten noch keine dar-über hinaus gehenden Wertungen oder Hy-pothesen. Die Ergebnisse der qualitativen Analysen wurden abschließend nochmals mit dem Transkript verglichen und eventuell kor-rigiert. Dieser "Basistext" lässt sich in zweifacher Hinsicht auswerten: • Personenzentrierte Analyse: Die Erstel-

lung einer kleinen Fallstudie für jeden der Studierenden liefert ein "Profil" seiner indi-viduellen Lern- und Arbeitsweisen.

• Personenvergleichende Analyse: Ein In-beziehungsetzen gleicher Kategorien über verschiedene Studierende hinweg zeigt das Spektrum auftretender Lern- und Ar-beitsweisen sowie mögliche Zusammen-hänge und Wirkungsmechanismen zwi-schen verschiedenen Ausprägungen der-selben Kategorien auf.

Weitere qualitative Daten lieferten die Beiträ-ge der Studierenden im Diskussionsforum sowie ihre Klausuren: Sie wurden im Hinblick auf die Argumentationsstruktur (eindimensio-nal versus komplex) und den Reflexionsgrad der Beiträge (naiv versus reflektiert) ausge-wertet. Diese Informationen können die Er-gebnisse der Interviews ergänzen und vali-dieren.

Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehrveranstaltungen?

195

4 Evaluation: Ergebnisse

Da sich die Studierenden freiwillig für die In-terviews zur Verfügung gestellt hatten, gaben sie bereitwillig Auskunft. Einige bereiteten sich sogar auf das Interview vor — sie hatten einen Zettel mit Notizen dabei —, um über "Bugs" in MaDiN zu berichten. Nicht zuletzt hierin bestätigte sich das Konzept des Fremdinterviewers: Die Studierenden fassten die Interviews so auf, dass sie mit externen Evaluatoren zusammenarbeiten sollten, um MaDiN zu verbessern. Gemäß den Forschungsfragen beinhalten die Transkripte drei verschiedene Ebenen: • eine sachbezogene Beschreibung des

Lern- und Arbeitsverhaltens der Studie-renden im Rahmen der betreffenden Lehrveranstaltung,

• eine Schilderung von Gefühlen der Stu-dierenden während und im Umfeld der Lehrveranstaltung,

• die rückblickende Reflexion dieser Erfah-rungen.

Es handelt sich hierbei stets um Selbstaus-künfte der Studierenden, also um deren Ein-schätzungen, nicht um objektive Angaben. Im Folgenden werden diese Selbstauskünfte nach den Kategorien der qualitativen Inhalt-analyse gegliedert vorgestellt und anschlie-ßend jeweils diskutiert.

4.1 Technik und Nutzung Alle befragten Studierenden geben an, mit MaDin gearbeitet zu haben. Ob sie MaDiN zu Hause oder in den Computerräumen der Hochschule nutzten, hängt von mehreren Faktoren ab: • den Lebensumständen (Kinder, Entfer-

nung der Wohnung zur Hochschule, …), • den bei der Internetnutzung anfallenden

Kosten, • der technischen Ausstattung des eigenen

Arbeitsplatzes. Mit einer Ausnahme verfügen alle Studieren-den über einen eigenen Computer. Differen-zen ergeben sich allerdings bei den Periphe-riegeräten (manchmal fehlt ein Drucker oder ein Internetzugang). Weit verbreitet ist ein In-ternetzugang per Modem, aber auch ISDN, DSL und eine Datenleitung im Studenten-wohnheim sind zu finden. Die Ladezeiten werden generell als sehr lang empfunden, bei der Nutzung eines Modems fast immer, vereinzelt auch bei einem DSL-Anschluss.

Beklagt wird außerdem, dass Videos oder Animationen und Videos auf dem privaten Computer nicht laufen oder dieser dabei "ab-stürzt". In den Computerräumen scheint es diesbezüglich weniger Probleme zu geben. Die Computer-Ausstattung der Studierenden entspricht den Erwartungen: Auch wenn die Anzahl von fünfzehn befragten Studierenden für statistische Auswertungen zu gering ist, werden hier die Ergebnisse anderweitiger Erhebungen bestätigt (Klatt u.a. 2001, 99ff, Middendorf 2002, 12ff). Die geschilderten technischen Probleme sind auf verschiedene Ursachen zurückzuführen: Einerseits ist die Ausstattung der privaten Computer höchst unterschiedlich und streut über mehrere Generationen von Betriebssys-temen und Browsern; — dieses Handicap ist wohl kaum zu überwinden. Andererseits gibt es zahlreiche Indikatoren für unzureichende Kenntnisse und Arbeitstechniken der Studie-renden: • Viele der Studierenden können ihr System

nicht genauer spezifizieren, weder in Be-zug auf die Hard- noch auf die Software. Falsche Einstellungen könnten deshalb eine Ursache mancher Probleme sein (für die elektronischen Arbeitsblätter beispiels-weise muss im Browser Java aktiviert werden).

• Studierende, die beklagen, dass sie sich jedes Mal mühsam über die Seiten der Hochschule bis zur MaDiN-Startseite "durchklicken" mussten, verfügen offenbar nicht über wichtige Fertigkeiten im Um-gang mit dem Internet wie das Setzen von Bookmarks oder das offline-verfügbar-Machen von Seiten.

Für manche Studierenden scheint aufgrund der genannten Ursachen der Aufwand, sich sowohl die Arbeitsaufträge, als auch zugehö-rige Informationen per Internet zu beschaf-fen, sehr hoch zu sein. Für diese Gruppe kehrt sich das Versprechen einer "unbe-grenzten Verfügbarkeit" von Inhalten im Inter-net ins Gegenteil um.

4.2 Navigation und Usability

Die Navigation in MaDiN bereitete den Stu-dierenden — abgesehen von einer anfängli-chen Eingewöhnungsphase und einigen rasch behobenen "Bugs" in MaDiN — keine ernsthaften Probleme. Der gefürchtete Effekt "lost in hyperspace" (Tergan 2002) wurde nicht berichtet. Von der reinen Navigation zu unterscheiden ist allerdings die inhaltliche Orientierung, die manchen Studierenden —

Gerald Wittmann

196

z.B. bei der Klausurvorbereitung — wohl we-niger leicht fiel (vgl. 4.7). Nur wenige Studierende lasen längere Texte am Bildschirm; die meisten Studierenden druckten weite Teile von MaDiN aus. An der PH Weingarten druckten Mitglieder der Fach-schaft sogar sämtliche Seiten zur Didaktik der Geometrie von MaDiN aus und verkauf-ten sie als kopiertes und gebundenes Skript an die Studierenden. HTML-Dokumente eig-nen sich jedoch prinzipiell nicht für einen qualitativ anspruchsvollen Ausdruck; — im Wesentlichen bestehen drei Problemfelder: • Der Formelsatz in HTML ist unbefriedi-

gend und nur mit technischen Aufsätzen wie MathML zu verbessern.

• Die bildschirm-gerechte Auflösung von Abbildungen (72 dpi) ist für den Ausdruck zu grob, während höher aufgelöste Abbil-dungen (zu) lange Ladezeiten erfordern.

• Es gibt kein fest definiertes Seitenlayout, da der endgültige Umbruch von HTML-Dokumenten erst im Browser stattfindet und damit in hohem Maße vom System des Benutzers abhängt. Beim Ausdruck werden daher nicht selten Seiten "rechts abgeschnitten".

4.3 Inhalte Die Inhalte in MaDiN werden insgesamt sehr positiv beurteilt und finden eine breite Reso-nanz. Dies betrifft zunächst die Texte (Ver-ständlichkeit und Informationsgehalt), dar-über hinaus aber auch alle anderen multime-dialen Elemente (Bilder, Videos, Animatio-nen, …, Materialien zum Download). Sie übernehmen im Einzelfall verschiedene Funktionen im Lernprozess: Sie • spielen die Rolle eines "Aufhängers" —

also einer Merkhilfe — für Fachwissen, • können die Motivation zum Weiterarbeiten

fördern und das Interesse an der Mathe-matik(didaktik) wecken; — hier bleibt je-doch abzuwarten, ob dies auch über den Neuigkeitseffekt hinaus gilt ("Hawthorne-Effekt"; Schulmeister 2002, 397ff),

• liefern Veranschaulichungen und können wichtige Hilfestellungen sein,

• schaffen häufig einen Praxisbezug. Besonders das letzte Argument verdient eine genauere Betrachtung: Bilder und Videos von Lehr- und Lernmitteln, Anleitungen und Kopiervorlagen für den Unterricht (etwa zu Lernspielen), Texte und Zeichnungen von Schülerinnen und Schülern entstammen un-

mittelbar der Schulpraxis. In den Interviews erzählen Studierende mehrfach, wo und wie sie diese Elemente ausprobiert haben (mit den eigenen Kindern, im Schulpraktikum, …). Es scheint, als ob über derartige Elemente für zahlreiche Studierende ein Einstieg in die Mathematikdidaktik geschaffen werden kann. Noch deutlicher wird dies angesichts zweier weiterer Detailnennungen: • Wiederholt positiv erwähnt wird ein Artikel

über "Einstiege im Geometrieunterricht" (Vollrath 1980), zu dem die Studierenden im Diskussionsforum Stellung nehmen mussten. Dieser Text greift ein zentrales Problem der Unterrichtsplanung auf, ist leicht zu lesen und setzt keinerlei Fach-wissen voraus.

• Umgekehrt werden die MaDiN-Seiten zur Thematik "Argumentieren und Beweisen" mehrfach als sehr "fachwissenschaftlich" eingestuft: Diese Studierenden verstehen nicht, warum sie zunächst selbst Beweise führen sollen, wo ihr Interesse doch dem Beweisen im Mathematikunterricht gilt.

Insbesondere das letzte Beispiel weist darauf hin, dass ein Teil der Zielgruppe der evaluier-ten Lehrveranstaltungen — Studierende des Lehramts an Haupt- und Realschulen — of-fenbar eine sehr enge Vorstellung von "Pra-xisbezug" hat.

4.4 Vorlesung Die Vorlesung wird sowohl an der Uni Würz-burg als auch an der PH Weingarten als "gut" eingeschätzt. Der Einsatz von MaDiN scheint allerdings kein prägendes Element der Vor-lesung gewesen zu sein, viel stärker werden offenbar die Inhalte, das Engagement und die Person der beiden Dozenten gewichtet. Eine Reihe von Studierenden beider Hoch-schulen besitzt auch einschlägige Vorerfah-rungen: • mit dem Erstellen von Internetseiten im

Rahmen von Lehrveranstaltungen, • mit dem Schreiben von Beiträgen für ein

Diskussionsforum, • mit dem "Holen" von Übungsaufgaben per

Internet, • mit dem Einsatz von BSCW. Insgesamt ist der Einsatz neuer Medien in Lehrveranstaltungen für die Studierenden mittlerweile Alltag; er ist jedenfalls kein The-ma (mehr), das polarisiert.

Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehrveranstaltungen?

197

Auffallend ist, dass fast alle Studierenden in der Vorlesung wie gewohnt mitschreiben. Als Gründe hierfür nennen sie zwei Argumente: • Was man selbst mitgeschrieben hat,

bleibt besser im Gedächtnis. • Wenn man selbst mitschreibt, "hat man

etwas in der Hand". Als Gegenargument wird angeführt, dass ein Mitschreiben angesichts von MaDiN überflüs-sig ist, so dass man sich besser auf die In-halte der Vorlesung konzentrieren kann. Die Begründungen der Studierenden — egal wie sie lauten — wirken allerdings meist ober-flächlich und basieren wohl eher auf Gefüh-len als auf einer Reflexion des eigenen Ar-beitsverhaltens. Ein Problem besteht jedoch wirklich: Die Studierenden erkannten in beiden Vorlesun-gen nicht immer einen Zusammenhang zwi-schen dem Medium, mit dem ein Lerninhalt präsentiert wird, und der Bedeutung, die die-sem Inhalt für das eigene Lernen zukommt.

4.5 Übungen Während regelmäßig abzugebende Übungen den Studierenden der Uni Würzburg vertraut sind, scheint dies für Studierende der PH Weingarten weit gehend neu zu sein: Mehre-re Studierenden dort geben an, dass sie auf-grund der Übungen mehr für die Lehrveran-staltung getan und kontinuierlicher mitgear-beitet und -gelernt hätten als sonst. Sie stu-fen die evaluierte Lehrveranstaltung als auf-wändiger, aber auch deutlich effektiver als andere ein. Die wöchentlichen Arbeitsaufträ-ge und die "soziale Kontrolle" des Diskus-sionsforums scheinen sich diesbezüglich po-sitiv auszuwirken. Wenn die Studierenden die Übungsaufgaben lösen, so stützen sie sich — je nach Verfüg-barkeit und Arbeitsauftrag in unterschiedli-cher Reihenfolge und Gewichtung — im We-sentlichen auf drei Quellen: • die eigene Mitschrift aus der Vorlesung, • die entsprechenden Seiten in MaDiN und • die Suche im WWW per Suchmaschine

(meist wird Google genannt). Hinzu kommen noch vereinzelt Schulbücher oder andere Materialien. Kein einziger der Studierenden nutzte die Literaturangaben in MaDiN und besuchte aus Anlass der Lehr-veranstaltung die Hochschulbibliothek. Bei der Informationsbeschaffung im WWW offenbaren die Interviews zwei Problemfel-der:

• Das übliche Verfahren ist das Eintippen von Schlagworten in eine Suchmaschine. Die Studierenden verfügen auch hier nicht über adäquate Arbeitstechniken (vgl. 4.1): Sie nutzen weder eine gezielte Verknüp-fung von Suchbegriffen, noch andere Re-cherchemöglichkeiten wie spezielle Inter-netportale.

• Das Problem der Qualitätskontrolle haben einige der Studierenden bislang noch nicht reflektiert, andere glauben, es durch ein Vergleichen mehrerer gefundener Do-kumente bewältigen zu können.

4.6 Diskussionsforum In den evaluierten Lehrveranstaltungen wur-de noch mit einem Prototypen des Diskus-sionsforums gearbeitet: Es besaß nur eine li-neare Struktur, alle Beiträge erschienen in chronologisch Reihenfolge, was dazu führte, dass es eine einzige, lange Seite war. Da-durch war es auch nicht möglich, gezielt auf einzelne Beiträge zu antworten. Das Diskus-sionsforum hatte also eher die Funktion einer Pinnwand, an die jeder ein Statement heften kann. Kaum ein anderes Element der Lehrveran-staltung spaltet die Gemüter so sehr wie das Diskussionsforum: • Ein Teil der Studierenden wertet das

Schreiben von Beiträgen positiv: Die Ant-wort auf eine im ersten Augenblick ein-fach erscheinende Frage schriftlich aus-formulieren zu müssen, wird als eine wertvolle Erfahrung beschrieben.

• Für andere Studierende scheint das Ver-fassen von Beiträgen nur eine Pflicht-übung zu sein. Dies äußert sich in ver-schiedenen typischen Verhaltensweisen: Der eigene Beitrag wird auf der Grundla-ge der schon im Diskussionsforum ste-henden Beiträge verfasst, er wird diesen im Umfang, in der Zahl der Argumente und im Inhalt angeglichen. Das "Abschrei-ben" von Beiträgen führt letztlich dazu, dass sich zahlreiche Beiträge ähneln oder gar gleichen. Es wird ferner darauf geach-tet, dass der Beitrag die — vermutete — Meinung des Dozenten wiedergibt und nicht die eigene.

Die Analyse der Beiträge zeigt dementspre-chend ein breites Spektrum von Beiträgen, das von kurzen, naiv wirkenden und emotio-nal geprägten Äußerungen bis hin zu um-fangreicheren Beiträgen mit einer ausdiffe-renzierten und abwägenden Argumentations-struktur reicht.

Gerald Wittmann

198

Ähnlich vielfältig wie die Meinungen zum Schreiben von Beiträgen sind auch diejeni-gen zum Lesen von Beiträgen anderer Stu-dierender: • Ein Teil der Studierenden stuft es als inte-

ressant und bereichernd ein. • Andere Studierende geben an, dass sie

fremde Beiträge kaum gelesen haben. Von nahezu allen Studierenden wird jedoch negativ angemerkt, dass wiederholt Beiträge inhaltsgleich sind: Der Zwang, einen Beitrag verfassen zu müssen, wirkt sich — in Ver-bindung mit der oben geschilderten Arbeits-weise mancher Studierender — wohl dahin-gehend aus. Nicht zuletzt deshalb ist der "Schreibzwang" auch unter den Studieren-den umstritten. Gleichzeitig kommt hier auch ein wesentli-cher Aspekt des Studierverhaltens mancher Studierender zum Ausdruck: Die Impulse für die Beiträge im Diskussionsforum sind — in mehrfacher Hinsicht — offene Arbeitsaufträ-ge; die Studierenden entscheiden selbst, wie sie diese inhaltlich und in Bezug auf den Um-fang bearbeiten. Manche Studierende kom-men hiermit offenbar nicht zurecht, sie erwar-teten diesbezüglich eindeutige Vorgaben. Ähnlich verhält es sich mit dem Wunsch von Studierenden nach einer klaren Rückmel-dung zu ihren Beiträgen: Er ist einerseits ver-ständlich und sinnvoll, stößt aber auch an Grenzen; — nicht jede Meinungsäußerung lässt sich als "richtig" oder "falsch" einord-nen. Ob tatsächlich ein Bedarf nach einer Öffnung des Diskussionsforums besteht, so dass dar-in Fragen zur Vorlesung bzw. Übung gestellt und beantwortet werden können, wie von manchen Studierenden gefordert, bleibt un-klar: Denn alle Studierenden geben an, dass sie sich regelmäßig im Umfeld der Lehrver-anstaltungen treffen und kaum Kontakte per Internet hergestellt oder gepflegt wurden; —dies war nur vereinzelt der Fall (so bei einer Studentin, die Kinder hat).

4.7 Klausur Den Studierenden beider Hochschulen stand in der abschließenden Klausur nicht nur Ma-DiN, sondern darüber hinaus das gesamte Internet zur Verfügung. Aufgrund der Inter-viewtermine bezieht sich das Folgende aus-schließlich auf die Studierenden der PH Weingarten. Es steht die Frage im Mittel-punkt, was durch die Verfügbarkeit von Ma-DiN anders als gewohnt war.

Die Vorbereitung der Klausur änderte sich für die meisten Studierenden dahin, dass sie weniger in einem Auswendiglernen bestand, sondern vielmehr in einem "Sichten" von In-halten in MaDiN und im WWW, um sicherzu-stellen, wo bestimmte Inhalte zu finden ist. In diesem Kontext wurden mehrfach Verglei-che zwischen einer internetgestützten Wis-sensbasis wie MaDiN und einem herkömmli-chen, gedruckten Skript gezogen: Letzteres • gibt — anders als MaDiN — bereits eine

sinnvolle Reihenfolge und Gliederung für das Lernen vor,

• garantiert, dass bei einem vollständigen Durcharbeiten auch alle klausurrelevanten Inhalte erfasst werden,

• erlaubt es den Studierenden, eigene An-merkungen und Ergänzungen handschrift-lich anzubringen,

• ist auch ohne Computer stets verfügbar, insbesondere in "Freistunden" an der Hochschule.

Mehrere Studierende der PH Weingarten ga-ben an, dass ihre Klausurvorbereitung zu-mindest teilweise auch in Gruppen ablief und sie dabei die zahlreichen Arbeitsaufträge in MaDiN nutzten: Sie arbeiteten die Lösungen dazu aus und diskutierten diese; — ein Indi-kator dafür, dass Studierende bei entspre-chender Motivation die reichhaltigen Angebo-te in MaDiN auch wahrnehmen und selbst-ständig damit arbeiten. Fast alle Studierende berichten, dass die Möglichkeit, während der Klausur MaDiN und darüber hinaus das gesamte Internet zu nut-zen, auch Gefahren in sich birgt: Sie suchten zu lange in diesen Quellen und verließen sich zu wenig auf ihr eigenes Wissen. Hier-aus resultierte dann ein Zeitproblem gegen Ende der Klausur. Auffallend ist wiederum, dass auch hier Studierende — analog zur Schilderung ihres Verhaltens beim Bearbei-ten der Übungsaufgaben (vgl. 4.5) — ange-ben, eher im WWW zu suchen als in MaDiN.

5 Rück- und Ausblick

Die Evaluation liefert nicht nur Rückmeldun-gen über das Lern- und Arbeitsverhalten von Studierenden im Rahmen internetgestützter Lehrveranstaltungen, sie erlaubt darüber hin-aus wertvolle Erkenntnisse über die Einstel-lung von Studierenden des Lehramts an Haupt- und Realschulen zu ihrem Studium und die damit verbundenen Erwartungen an das Studium. Während ein Teil der Studie-

Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehrveranstaltungen?

199

renden — speziell der PH Weingarten —motiviert ist, besitzt ein anderer Teil eine ver-gleichsweise geringe fachspezifische Motiva-tion, verbunden mit einer sehr engen Vorstel-lung von Mathematikdidaktik, die beinahe al-les als praxisfern ablehnt, was nicht eine unmittelbare Anleitung zum Unterrichten dar-stellt. Insgesamt offenbart die Evaluation ei-ne deutliche Differenz zwischen den in der Literatur geforderten Zielen der Mathematik-lehrerausbildung (vgl. 2) und den Erwartun-gen, die ein Teil der Studierenden an das Lehramtsstudium richtet.

5.1 Chancen Vor diesem Hintergrund bestätigt die Evalua-tion, dass zahlreiche Studierende die vielfäl-tigen Möglichkeiten von MaDiN wirklich nut-zen. Es ist wichtig, dass insbesondere auch den motivierten Studierenden, die aktiv wer-den wollen, entsprechende Angebote — bei-spielsweise Aufträge zum selbstständigen Weiterarbeiten — zur Verfügung stehen. Umgekehrt kann MaDiN auch weniger moti-vierten Studierenden den Einstieg in die Di-daktik der Geometrie erleichtern. Weite Be-reiche der didaktischen Literatur, auch der Lehrbücher, werden von vielen Studierenden des Lehramts an Haupt- und Realschulen als zu schwer und zu abstrakt empfunden oder entsprechen nicht ihren Vorstellungen von Didaktik. Hier liegt eine große Bedeutung von Hypertext-Systemen mit ihren multimedialen Möglichkeiten: Angebote, die schon auf den ersten Blick einen Bezug zur Schulpraxis er-kennen lassen (z.B. Kopiervorlagen für Ar-beitsblätter, Abbildungen von Lernmitteln und Anleitungen zu deren Herstellung und Ein-satz, Schülerzeichnungen und -texte) werden von Studierenden mit einer engen Vorstel-lung von Mathematikdidaktik hingegen eher akzeptiert und können sie an die Mathema-tikdidaktik und entsprechende tiefer gehende Überlegungen heranführen. Die Verfügbar-keit einzelner Artikel per Download, die auch ohne Vorkenntnisse gut verständlich sind und deren Erschließung durch Arbeitsaufträ-ge mit gestuften Fragen angeleitet wird, kön-nen ein zusätzlicher Schritt in diese Richtung sein. Generell können internetbasierte Lehr-Lern-Umgebungen wie MaDiN übliche Präsenz-lehrveranstaltungen ergänzen und anrei-chern und damit effektiver gestalten. Insbe-sondere für Veranstaltungen zur Didaktik der Mathematik, die häufig nur 2-stündig sind, ist dies von großer Bedeutung. MaDiN bietet hier nicht nur die Möglichkeit, einzelne Lern-

inhalte in das Selbststudium "auszulagern", was Freiräume in den Lehrveranstaltungen schafft, sondern eröffnet zusätzliche neue Übungsformen. Die Aussagen der Studieren-den bestätigen, dass Übungen ein wichtiges Element für einen sinnvoll verlaufenden Lern-prozess sind und wesentlich zum Lernerfolg in einer Lehrveranstaltung beitragen. Eine solche Übungsform ist das Schreiben von Beiträgen für das Diskussionsforum: Das schriftliche Ausformulieren qualifizierter (nicht spontan-emotionaler) Äußerungen über Ma-thematikunterricht ist eine wertvolle und viel zu selten praktizierte Tätigkeit. Der Vorteil der Virtualität liegt für die Studie-renden darin, dass sie die Übungen dann er-ledigen können, wenn sie Zeit haben — das Studium kann dichter gestaltet werden, ohne den Stundenplan der Studierenden weiter aufzublähen. Dies gilt • sowohl für die Ergänzung von Präsenz-

veranstaltungen durch zusätzliche virtuel-le Phasen (wie im vorliegenden Projekt),

• als auch für die Ergänzung des Standard-programms im Lehramtsstudium durch zusätzliche freiwillige Veranstaltungen (Bruder 2003).

5.2 Zukünftige Aufgaben Wie von einer formativen Evaluation zu er-warten ist, ergibt sich eine Reihe zukünftiger Aufgaben für die Weiterentwicklung der inter-netgestützten Lehr-Lern-Umgebung. Diese sind zunächst technischer Art: • Das Problem, dass die private Computer-

ausstattung der Studierenden höchst un-terschiedlich ist und insbesondere über mehrere Generationen von Betriebssys-temen und Browsern streut, ist wohl nicht in den Griff zu bekommen. Abhilfe könn-ten zumindest teilweise klare technische Standards sowohl für die Entwickler als auch für die Studierenden schaffen.

• Die Qualität des Ausdrucks könnte durch datenbankbasierte Systeme entsprechend den XML-Standards verbessert werden; diese schränken aber möglicherweise auch den Freiraum der Entwickler bei der Gestaltung einzelner Seiten ein.

• MaDiN könnte auch offline verfügbar sein: Die Studierenden erhalten ein sehr knap-pes Skript mit zugehöriger CD-ROM oder DVD-ROM. Diese enthält die Bilder, Vide-os und Animationen sowie weiter führen-de Links sowohl zu einzelnen Elementen von MaDiN (wie Graphen mit WebMathe-

Gerald Wittmann

200

matica), als auch ins WWW. Dem Vorteil der offline-Verfügbarkeit stehen die be-kannten Argumente für ein ausschließlich auf einem Server liegendes System ge-genüber (etwa die permanente Aktuali-sierbarkeit).

Auch in Bezug auf die Entwicklung entspre-chender Lehrveranstaltungskonzepte liefert die Evaluation wichtige Anstöße: • Zu klären bleibt noch das genaue Zu-

sammenspiel der verschiedenen Medien innerhalb der Lehrveranstaltungen; — zu beantworten sind Fragen wie: Welche In-halte schreibt der Dozent an die Tafel? Finden sich diese auch in MaDiN? Lang-fristig könnte das Vorhandensein einer Wissensbasis wie MaDiN Wege eröffnen, um die Lehrveranstaltungen zumindest teilweise von der Wissensvermittlung zu entlasten und Freiräume für experimentel-le, kommunikative und reflektierende Akti-vitäten zu schaffen.

• Die Arbeitsaufträge in MaDiN sind weiter auszudifferenzieren, abhängig davon, wie sie bearbeitet werden sollen: kurze Fra-gen zur Selbstkontrolle, exakte Anweisun-gen für schriftlich abzugebende Übungen, offene Impulse für Beiträge für das Dis-kussionsforum, Anregungen für über die eigentliche Lehrveranstaltung hinaus füh-rende Projekte.

• Das Problem einer Vielzahl inhaltsgleicher Beiträge im Diskussionsforum ist zu lö-sen, damit die neue Baumstruktur des Diskussionsforums auch wirklich mit Le-ben gefüllt wird. Möglich wäre beispiels-weise eine Moderation des Diskussionsfo-rums durch den Dozenten, die den Stu-dierenden Rückmeldungen zu ihren Ant-worten gibt und damit Impulse zum Wei-terdenken — ähnlich wie dies bei der "Korrektur" eines Lerntagebuchs durch die Lehrkraft geschieht. Derartige Vorge-hensweisen sind allerdings sehr personal-intensiv (Weigand 2001).

• Es müssen Lösungen gesucht werden, um die nicht adäquaten Arbeitstechniken der Studierenden im Umgang mit dem In-ternet zu verbessern. Da alle Studierende zumindest über grundlegende Arbeits-techniken verfügen, könnte eine derartige Weiterqualifizierung auch sukzessive er-folgen.

Literatur Bortz, Jürgen & Nicola Döring (2002): For-

schungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. Berlin, Heidelberg & New York: Springer, 3. Auflage

Bruder, Regina (2003): Internetgestützte Lernum-gebungen für die Lehramtsausbildung. In: Bei-träge zum Mathematikunterricht 2003, 157–160

DMV & GDM (2001): Vorschläge zur Ausbildung von Mathematiklehrerinnen und -lehrern für das Lehramt an Gymnasien in Deutschland. DMV/GDM-Denkschrift zur Lehrerausbildung. In: Mitteilungen der GDM 72, 34–42

Döring, Nicola (2002): Online-Lernen. In: Issing & Klimsa (2002), 247–264

Issing, Ludwig J. & Paul Klimsa (Hrsg.) (2002): In-formation und Lernen mit Multimedia und In-ternet. Weinheim: Beltz PVU, 3. Auflage

Klatt, Rüdiger u.a. (Hrsg.) (2001): Elektronische Information in der Hochschulausbildung. Inno-vative Mediennutzung im Lernalltag der Hoch-schulen. Opladen: Leske + Budrich

Krauthausen, Günter (1998): Lernen – Lehren – Lehren lernen. Stuttgart: Klett

Lamnek, Siegfried (1995): Qualitative Sozialfor-schung. Band 2. Methoden und Techniken. Weinheim: Beltz PVU, 3. Auflage

Ludwig, Matthias & Gerald Wittmann (2001): Eine internetgestützte Wissensbasis zur Didaktik der Geometrie. Entwicklung und Pilotstudie. In: mathematica didactica 24, Heft 1, 82–92

Mayring, Philipp (2002): Qualitative Inhaltsanaly-se. Grundlagen und Techniken. Weinheim & Basel: Beltz, 8. Auflage

Middendorf, Elke (2002): Computernutzung und Neue Medien im Studium. Ergebnisse der 16. Sozialerhebung des Deutschen Studenten-werkes. Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung

Schulmeister, Rolf (2002): Grundlagen hyperme-dialer Lernsysteme. Theorie – Didaktik – De-sign. München: Oldenbourg,3. Auflage

Tergan, Sigmar-Olaf (2002): Hypertext und Hy-permedia: Konzeption, Lernmöglichkeiten, Lernprobleme und Perspektiven. In: Issing & Klimsa (2002), 99–112

Vollrath, Hans-Joachim (1980): Einstiege im Geo-metrieunterricht. In: mathematica didactica 3, Heft 1, 59–67

Weth, Thomas (2003): MaDiN – Mathematikdidak-tik im Netz. In diesem Band

Weigand, Hans-Georg (2001): Internet-gestützte Kommunikation in der Lehramtsausbildung. In: Journal für Mathematik-Didaktik 22, 99–122

Wittmann, Gerald (2003): Grundfragen der Evalu-ation multimedialen Lernens. In: Peter Bender u.a. (Hrsg.) (2003): Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht. Bericht über die 20. Arbeitstagung des AK "Mathematikunter-richt und Informatik" 2002. Hildesheim: Franz-becker, 155–161

201

1 Einleitung

Lernen mit neuen Medien — da schwingt die Erwartung mit, dass das Lernen mit Hilfe der modernen Technik eigentlich ein ganz be-sonderes Lernen ist. Nach einigen Jahren des euphorischen Probierens und Entwi-ckelns von Lehrmaterialien für die neuen Medien Computer und Internet lässt sich mit einigem Recht auch behaupten, dass das Lernen mit dem Medium Computer durchaus besonders und hochwertig sein kann. Es ist aber zugleich unbestritten, dass das Medium Computer in vielen Lernsituationen wenig hilfreich und gelegentlich sogar sehr hinder-lich wirkt und viele Lerninhalte besser auf "herkömmliche Weise" mit Hilfe "herkömmli-cher Medien" gelernt werden sollten. Damit stellen sich zwei Fragen: In welchem Lehr- und Lernkontext entfaltet das Medium Com-puter seine spezifischen Möglichkeiten, so-wohl Lehre als auch Lernen zu unterstützen, zu bereichern und zu neuer Qualität und In-tensität zu führen? Wie können die Lehrinhal-te als Lehrmaterial gestaltet werden, damit sich das Lehrmedium Computer als beson-ders geeignet erweist? Gerade dieser zweiten Fragestellung wird sich der Artikel zuwenden. Exemplarisch und zugleich phänotypisch mit dem inhaltlichen Schwerpunkt Gruppentheorie wird hier die Diskussion über die didaktische Gestaltung multimedialer Lehrmaterialien geführt. Dies beginnt mit der Analyse bereits existierender Computer- und Internet-Lehrmaterialien zur Gruppentheorie; anschließend wird die be-sondere Wirkungsweise des Lehrmediums Computer untersucht. Die Diskussion schließt mit der Beschreibung eines didakti-schen Konzepts und eines Konzepts zur Lernkontrolle für ein multimediales gruppen-theoretisches Lehrmaterial. Dieses Lehrma-

terial wurde vom Autor im Rahmen des BMBF-Leitprojektes "Vernetztes Studium – Chemie" (www.vs-c.de) in einem Zeitraum von 3 Jahren entwickelt und bereits mit Stu-dierenden getestet (vgl. auch Zimmer et al. 2002 und 2003).

2 Gruppentheorie mit dem Internet: Eine Bestands-aufnahme

Internet-Lehrmaterialien lassen sich nach dem Umfang ihrer inhaltlichen, medialen und didaktischen Neukonzeption beurteilen. Folgt man diesem Klassifizierungsansatz, so wer-den aus der Analyse der derzeit (September 2003) im Internet verfügbaren Lehrmateria-lien zu gruppentheoretischen Inhalten drei wesentliche Realisierungsstufen deutlich. Der ersten Realisierungsstufe lassen sich all jene Lehrmaterialien zuordnen, die sich le-diglich durch die technische Verbreitung von herkömmlichen Lehrmaterialien unterschei-den: Der Computerbildschirm ersetzt das Papier, es findet keine inhaltliche, mediale und didaktische Neukonzeption statt. Solche Lehrmaterialien sind z.B. die gebräuchlichen Vorlesungsskripte und Übungsserien in PDF-Form. Die Lehrmaterialien dieser Realisie-rungsstufe verlieren durch ein Ausdrucken nicht an Information und Funktionalität. Es handelt sich also um eigentlich herkömm-liche Lehrmaterialien, die durch das Internet eine kostengünstige Verbreitung erfahren. Im Vergleich zu den Materialien der beiden an-deren Stufen ist ihre Erstellung mit einem ge-ringeren technischen Aufwand und somit auch mit einem geringeren Aufwand für die Lehrenden verbunden. Im Allgemeinen wer-den die Lernenden diese Lehrmaterialien

Über die didaktische Gestaltung multimedialer Lehrmaterialien

Bert Xylander, Halle a.d. Saale

Der Artikel beschreibt mit der Blickrichtung auf die Gruppentheorie ein Konzept, beste-hend aus didaktischen Prinzipien und Ideen, nach dem multimediale Lehrmaterialien be-reits gestaltet wurden. Von großer Bedeutung ist dabei eine durchdachte didaktische Gestaltung der Lehrmaterialien. Multimediale Lehrmaterialien lassen sich oftmals nur eingeschränkt mit herkömmlichen vergleichen. Begründet liegt dies darin, dass sie inhalt-lich, medial und didaktisch hauptsächlich auf das Lernen mit dem Medium Computer ausgerichtet und dafür konzipiert werden.

Bert Xylander

202

ausdrucken und in der herkömmlichen Form im Lernprozess einsetzen. Der zweiten Realisierungsstufe werden die Lehrmaterialien in Hypertext-Form zugeord-net. Diese Lehrmaterialien entstehen zumeist dadurch, dass herkömmliche Lehrmaterialien in weniger umfängliche und geringere Lade-zeit beanspruchende HTML-Formate umge-setzt und mit einer Hypertext-Funktionalität versehen werden. Die Lehrmaterialien erfah-ren dabei, im Vergleich zu herkömmlichen Lehrmaterialien, eine inhaltliche und auch di-daktische Neukonzeption; die mediale Funk-tionalitätserweiterung beschränkt sich zu-meist auf die Vernetzung der Inhalte durch Hypertext. Das Ausdrucken dieser Lehrmate-rialien führt zu dem Verlust der Verlinkungs-funktionalität, nicht jedoch zu einem Informa-tionsverlust. Dass sich der mit der Entwicklung solcher Hypertext-Materialien verbundene hohe Auf-wand sehr wohl lohnen kann, lässt sich am einfachsten mit einem Beispiel belegen. Ge-nannt sei stellvertretend die Freiberger Web-Vorlesung über Klassische Algebra (Hebisch 2002). Hier werden algebraische Inhalte zu-sammenfassend geordnet und mit Hilfe von Hyperlinks miteinander vernetzt. Es entsteht ein Gefüge übersichtlicher Wissenseinheiten, die sich im Vergleich zu herkömmlichen Lehrmaterialien als besonders geeignet zei-gen für ein wiederholendes und systematisie-rendes, aber auch ergänzendes und vertie-fendes Lernen. Erfahrungen zeigen, dass der Wert der Lehr-materialien dieser zweiten Realisierungsstufe hauptsächlich in der neuartigen und zumeist systematisierenden Darstellung von Lehrin-halten liegt. Diese Erfahrungen spiegeln sich zum einen in der facettenreichen Diskussion über die Eignung des Computerbildschirms zum Textlernen (Schulmeister 2002, 279ff), aber auch in den vom Autor durchgeführten Studien über Internetlehrmaterialien (Zimmer et al. 2002). In der dritten Realisierungsstufe lassen sich all jene Lehrmaterialien ansiedeln, die auf das Lernen mit dem Computer ausgerichtet sind und die in ihrer medialen Funktionalität über Hypertexte hinausgehen. Die Lehrmate-rialien werden in ihrer inhaltlichen Struktur für das Lernen am Computer neu konzipiert, die didaktische und mediale Neuorganisation der Lehrmaterialien basiert auf dem vollen Funk-tionalitätsumfang des Lehrmediums. So wer-den zumeist Medienformen entwickelt, die die medialen Möglichkeiten des Computers nutzen (z.B. Simulationen und Animationen) und die sich durch eine bidirektionale Interak-

tion zwischen den Lernenden und den Lehr-materialien auszeichnen (z.B. Trainingsauf-gaben mit kontextabhängigem Feedback). Die inhaltliche, mediale und didaktische Ori-entierung der Materialien auf das Lehrmedi-um Computer führt dazu, dass mit dem Aus-drucken der Lehrmaterialien zumeist Infor-mationsverluste, insbesondere aber Funktio-nalitätseinschränkungen verbunden sind. Ein Beispiel für ein gruppentheoretisches Lehrmaterial der dritten Realisierungsstufe ist das Lehrmaterial "Symmetrie molekularer Strukturen", das vom Autor entwickelt und auf das in der Einleitung bereits hingewiesen wurde. Die Lehrmaterialien der dritten Realisie-rungsstufe ermöglichen den Lernenden mit ihren gegenüber herkömmlichen Lehrmedien neuartigen Darstellungsformen eine andere Sichtweise auf die Inhalte, wodurch der Lernprozess sehr bereichert werden kann. Des Weiteren kann auf der Grundlage der bidirektionalen Interaktion zwischen den Ler-nenden und dem Lehrmaterial eine gegen-über herkömmlichen Lehrmedien stärkere Einbindung und Aktivierung der Lernenden erfolgen. Kritisch ist mit Blick auf die bereits erwähnte Diskussion über die Eignung des Computers als Lehrmedium festzuhalten, dass im Unterschied zu den beiden anderen Realisierungsstufen der Lernende mit seinem Lernprozess zwangsläufig an das Medium Computer gebunden ist. Als ein weiterer Hin-derungsgrund für die Schaffung derartiger Lehrmaterialien kann der im Vergleich zu Hypertexten noch einmal höhere Entwick-lungsaufwand angesehen werden. Mit dem Blick auf die didaktische Gestaltung von multimedialen Lehrmaterialien, also ge-rade von Lehrmaterialien der dritten Realisie-rungsstufe, stellt sich gleich zu Beginn die Frage: Worin liegt eigentlich die Besonder-heit des Lehrmediums Computer im Ver-gleich zu herkömmlichen Lehrmedien be-gründet? Der folgende Abschnitt wird sich mit dieser Frage auseinandersetzen.

3 Die besondere Wirkungs-weise des Computers im Lernprozess

Das Medium Computer zeichnet sich gegen-über herkömmlichen Medien (z.B. Büchern und Realmodellen) hauptsächlich durch eine Erweiterung der technischen Funktionalität

Über die didaktische Gestaltung multimedialer Lehrmaterialien

203

aus. Der Computer wirkt als ein Moderator herkömmlicher Darstellungsformen — Schul-meister (2002, 22) spricht vom "mediieren durch den Computer" — und kann somit das Lernen auf eine Art und Weise bereichern, die den herkömmlichen Medien fremd ist. Andererseits lassen sich mit dem Computer nicht alle wesentliche Bestandteile des Lehr- und Lernprozesses abdecken; — so ist das haptische Begreifen von mathematischen Zusammenhängen durch die Arbeit mit rea-len Modellen zumindest derzeit mit dem Me-dium Computer nicht realisierbar. Begründet nun aber der Computer eine quali-tativ neue Darstellungsform? Natürlich nicht! Das Medium Computer ist hauptsächlich durch eine vernetzende Organisation her-kömmlicher Darstellungsformen gekenn-zeichnet, wobei die Vernetzung nicht nur auf die Präsentation beschränkt bleibt, sondern auch die Lernenden (in Bezug auf die Lern-medien) integriert. Diese vernetzende Orga-nisation herkömmlicher Medien unter Einbe-ziehung des menschlichen Individuums führt zu der erweiterten Wirkungsweise des Lehr-mediums Computer (eine Wirkungsweise, die häufig als Multicodalität, Multimodalität und Interaktivität beschrieben wird). Die nachfol-gende Abbildung 1 charakterisiert diese er-weiterte Wirkungsweise. Der Lernprozess mit herkömmlichen Medien besitzt überwiegend monodirektionalen Cha-rakter: Die Lernenden integrieren die vorge-gebene mediale Darstellung in ihren Lern-prozess, können jedoch nur wenig auf das Medium selbst zurückwirken (ein Modell

kann von verschiedenen Seiten betrachtet, ein Bild kann ausgemalt, ein Text kann laut und leise, einmal oder mehrmals gelesen werden). Ähnliches tritt auch bei der Kombi-nation mehrerer Darstellungsformen mit her-kömmlichen Medien — Schulmeister (2002, 21) spricht diesbezüglich von der "Sequenzi-alität der verschiedenen Medien" — zu Tage: Die Lernenden können zwar verschiedene Darstellungsangebote in ihren Lernprozess integrieren (entweder ein Bild im Buch be-trachten oder den beschreibenden Text ver-innerlichen oder beides nacheinander), den-noch überwiegt die monodirektionale Wir-kung der herkömmlichen Medienkombination auf den Lernprozess (Abb. 1, links). Der Computer ermöglicht dagegen einen (i-dealerweise) wirklich bidirektionalen Charak-ter: Die Lernenden integrieren das Darstel-lungsangebot in ihren Lernprozess; zugleich aber können die Lernenden auf die Darstel-lung einwirken und sie ihren individuellen Vorstellungen entsprechend anpassen. Zu-dem ermöglicht die technische Funktionalität des Computers, mehrere verschiedene Dar-stellungsangebote den Lernenden zur Aus-wahl zu stellen. Demzufolge erstreckt sich die Rückwirkungsmöglichkeit ebenfalls auf die Auswahl eines für die Lernenden indivi-duell geeigneten Darstellungsangebots. Zu-sätzlich ermöglichen die neuen Medien eine individuelle Neuorganisation des der Darstel-lung zugrunde liegenden Mediennetzes in Abhängigkeit von der jeweiligen Lernsituation (Abb. 1, rechts).

Darstellungsangebot(vom Lehrenden vorgegeben)

Herkömmliche Medien

Lernprozess

SubjektiverAneignungsprozess

Eingeschränkte Rückwirkung

Darstellungsangebote

Computer

Lernprozess

Darstellungsangebot(individuell ausgewählt)

Individuelle Auswahl eines Angebots

Individuelle Anpassung des Angebotes

SubjektiverAneignungsprozess

Individuelle Neuorganisation des Mediennetzes

Abb. 1: Die Wirkungsweise der herkömmlichen Lehrmaterialien und des Computers im Vergleich. Mit herkömmlichen Medien findet hauptsächlich ein monodirektionaler Lernprozess statt (Abb. links), wohingegen mit dem Lehrmedium Computer der Lernprozess interaktiv (bidirektional) gestaltet werden kann (Abb. rechts).

Bert Xylander

204

Bedeutsam für einen Erfolg dieser erweiter-ten Wirkungsweise des Lehrmediums Com-puter im Lernprozess ist in jedem Fall die ak-tive Teilnahme der Lernenden und das Nut-zen der erweiterten Angebote: Wird durch die Lernenden nicht aktiv-kreativ von der Wir-kungsweise des Computers Gebrauch ge-macht, reduziert sich der Darstellungseffekt des Computers auf das Niveau der her-kömmlichen Medien. Natürlich ist es notwendig, überhaupt erst einmal solche, die erweiterte Wirkungsweise des Computers realisierende Lehrmaterialien zu entwickeln und anschließend den Lernen-den anzubieten. Derartige Lehrmaterialien zeichnen sich durch multimediale Darstel-lungsformen aus, vor allem aber auch da-durch, dass ihre inhaltliche Struktur und ihre didaktische Organisation dem Medium Com-puter angepasst werden. Im folgenden Abschnitt wird nun — fortset-zend mit der inhaltlichen Fokussierung auf die Gruppentheorie — diskutiert, wie eine solche didaktische Konzeption multimedialer Lehrmaterialien gestaltet werden kann. Aus der Betrachtung des Beispiellehrmaterials "Symmetrie molekularer Strukturen" werden didaktische Leitlinien und Ideen speziell für das Lehrmedium Computer entwickelt und formuliert. Die Leitlinien und Ideen basieren dabei auf grundlegenden Konzepten, die für die neue Situation des Lernens mit multime-dialen Lehrmaterialien präzisiert und weiter entwickelt werden. Es wird sich insbesondere zeigen, dass die didaktischen Gestaltungs-prinzipien das verbindende Grundgerüst dar-stellen, mit dem die inhaltliche und mediale Struktur eines multimedialen Lehrmaterials zu einem funktionierenden Ganzen erfolg-reich zusammengeführt werden kann.

4 Multimediale Gruppen-theorie: Ein didaktisches Konzept

Die didaktische Konzeption eines multime-dialen Lehrmaterials in Ausrichtung auf das Lehrmedium Computer muss eine andere sein als die didaktische Konzeption in Aus-richtung auf herkömmliche Lehrmedien: Al-lein schon der Anspruch, die Wirkungsweise des Computers in die inhaltliche und mediale Gestaltung zu integrieren, erfordert ein Über-denken und Anpassen herkömmlicher Dar-stellungsstrategien, womit nahezu zwangs-läufig ein Aufbrechen herkömmlicher Lehr-konzepte verbunden sein wird.

Im Folgenden werden die didaktischen Prin-zipien erörtert, die sich für die Gestaltung des multimedialen gruppentheoretischen Lehrma-terials "Symmetrie molekularer Strukturen" als grundlegend und wirkungsvoll herausge-stellt haben. Die Diskussion wird dabei zei-gen, dass auch inhaltliche und mediale Be-trachtungen mit herangezogen werden müs-sen. Es sei dazu auf die ausführliche Be-schreibung der Inhaltsstruktur des Lehrmate-rials sowie auf die Beschreibung der im Lehrmaterial verwendeten medialen Darstel-lungsformen in (Zimmer et al. 2003) verwie-sen. Ein didaktisches Konzept realisiert verschie-dene Formen didaktischer Ideen und Prinzi-pien, die nach dem Allgemeinheitsgrad ihrer Wirkung und nach dem Grad ihres inhaltli-chen und ihres medialen Bezuges charakte-risiert werden können. Es zeigt sich jedoch auch, dass die didaktischen Prinzipien ein-ander durchdringen und aufeinander einwir-ken.

4.1 Inhaltsstrukturierung und sys-tematisierende Darstellung

Eine das gesamte Lehrmaterial umfassende Leitidee offenbart sich in einer strukturierten Organisation der Lehrinhalte. Im Lehrmaterial "Symmetrie molekularer Strukturen" spiegelt sich dies z.B. in einer kapitelübergreifenden, gleichartigen Inhaltsstruktur. Alle Kapitel sind jeweils inhaltlich gegliedert in Voraussetzun-gen und Grundbegriffe, in einen Hauptteil (der eigentliche Inhaltsgegenstand), in eine Zusammenfassung und in eine Aufgaben- und Antwortsammlung. Diese strukturierte In-haltsorganisation wird unterstützt durch die physisch-technische Gliederungshierarchie der Lehrinhalte in Kapitel, Abschnitte und Lehreinheiten. Das Konzept der Inhaltsstrukturierung be-schreibt die inhaltliche Grobstruktur und ihre konkrete physisch-technische Realisierung. Wird die Betrachtung noch weiter herunter gebrochen auf die inhaltliche Strukturbe-trachtung der Lehreinheiten, so wird eine systematisierende Inhaltsdarstellung deut-lich. In der Entwicklung des Lehrmaterials stellt sich nämlich für verschiedene Lehrin-halte eine systematisierende Darstellungs-weise als überaus geeignet heraus, diese In-halte zu vermitteln. Die Systematisierung er-folgt dabei sowohl übergreifend über mehre-re Lehreinheiten als auch innerhalb einzelner Lehreinheiten. Die Lernenden können somit die Inhalte vergleichend studieren, Gemein-samkeiten und Unterschiede erkennen und

Über die didaktische Gestaltung multimedialer Lehrmaterialien

205

auf diese Weise aktiv ihr eigenes, systemati-sierendes Wissensnetz konstruieren. Diese didaktisch motivierte Form der selbst vollzo-genen Inhaltsstrukturierung wird als das Prinzip der systematisierenden Darstellung bezeichnet.

4.2 Didaktische Differenzierung und inhaltliche Ergänzungen

Eine andere didaktisch begründete Form der Inhaltsstrukturierung beschreibt das vertraute Prinzip der didaktischen Differenzierung. Dieses Prinzip findet im Lehrmaterial seinen Niederschlag dadurch, dass Inhalte als ver-tiefende Inhalte zusätzlich zu den im Regel-fall nicht-vertiefenden Inhalten organisiert werden, um somit den Studierenden ver-schiedene Schwierigkeitsgrade und Anforde-rungsniveaus zu bieten. Die didaktische Differenzierung erfolgt dabei auf zwei unterschiedlichen Wegen. Zum ei-nen werden vertiefende Lehreinheiten in das Lehrmaterial integriert, die prinzipiell ein hö-heres inhaltliches Niveau realisieren. Diese Vertiefungen stellen eigenständige inhaltliche Komplexe dar, in denen umfangreiche In-haltsbezüge behandelt werden. Eine zweite Form der didaktischen Differen-zierung drückt sich mit dem Konzept der in-haltlichen Ergänzungen aus. Das Konzept realisiert innerhalb der Lehreinheiten (sowohl innerhalb der nicht-vertiefenden, als auch in-nerhalb der vertiefenden Lehreinheiten) zu-sätzliche Wissensangebote in Form von Fußnoten, Vertiefungen oder Aufgaben. Die Studierenden können diese kontextabhängi-gen Angebote nutzen, sind dazu jedoch nicht verpflichtet. Die zusätzlichen Angebote er-gänzen das Lehrmaterial in der Form von Popup-Fenstern.

4.3 Inhaltliche Konsistenz und inhaltliche Vorwegnahme

Mit dem Prinzip der inhaltlichen Konsistenz wird ein spezielles, ebenfalls inhaltsorientier-tes didaktisches Prinzip vorgestellt. Die Wir-kung dieses Prinzips geht mit der Realisie-rung von inhaltlichen Leitlinien im Lehrmate-rial einher. Solche Leitlinien bestehen darin, dass z. B. verschiedene Inhalte immer wie-der am gleichen Beispiel exemplarisch erklärt und veranschaulicht werden oder dass die Lehrinhalte pyramidal aufeinander aufbauen. Ausdruck des Prinzips der inhaltlichen Kon-sistenz ist neben den inhaltlichen Leitlinien

aber auch der Aspekt der inhaltlichen Vor-wegnahme. Diese erfasst Begriffsinhalte und inhaltliche Zusammenhänge anschaulich und intuitiv; erst zu einem viel späteren Zeitpunkt — nach entsprechend ausgebildeter theore-tischer Grundlegung — werden die Begriffe und Zusammenhänge in einer mathemati-schen Terminologie exakt erfasst.

4.4 Abgeschlossene Lehreinheiten Ein weiteres didaktisches Prinzip, das haupt-sächlich inhaltsorientiert wirksam wird, findet sich in dem Prinzip der abgeschlossenen Lehreinheiten. Nach diesem Prinzip werden inhaltliche Zusammenhänge derart organi-siert, dass sie innerhalb einer Lehreinheit zu-sammenhängend darstellbar sind. Erforder-lich ist also die Konzentration auf das We-sentliche, auf kurze und überschaubare ele-mentare Lehreinheiten. In herkömmlichen Lehrmedien können sich zusammenhängen-de Inhalte über mehrere physische Einheiten verteilen. Im Gegensatz dazu kapselt das Prinzip der abgeschlossenen Lehreinheiten zusammenhängende Lehrinhalte innerhalb einer physischen Einheit (der Lehreinheit). Die bisher beschriebenen didaktischen Prin-zipien sind durch ihre inhaltliche Orientierung geprägt. Mit dem Konzept der darstellungs-orientierten Veranschaulichung durch multi-mediale Elemente wird nun ein allgemeines mediales Konzept betrachtet.

4.5 Veranschaulichung und Anschaulichkeit

Das Konzept der darstellungsorientierten Veranschaulichung wird im Lehrmaterial "Symmetrie molekularer Strukturen" wesent-lich durch virtuell-dreidimensionale Modelle und durch dynamische Medien-Korrelationen geprägt (zu den Bezeichnungen vgl. Zimmer 2003). Mit ihrer hervorragenden Eignung, abstrakt-mathematische Begriffe und Zu-sammenhänge dynamisch veranschaulichen zu können (s. Abb. 2), besitzen diese beiden Darstellungsformen multimedialer Elemente einen besonderen Stellenwert für das Ge-samtkonzept des Lehrmaterials. Auf der Grundlage des Konzepts der darstel-lungsorientierten Veranschaulichung lassen sich spezielle didaktische Prinzipien formulie-ren, die sowohl inhaltsorientiert als auch me-dial orientiert wirken: Das Prinzip der An-schaulichkeit ergänzt das Prinzip der abge-schlossenen Lehreinheiten insofern, als zu-sätzlich zur zusammenhängenden Inhalts-

Bert Xylander

206

darstellung eine anschauliche Inhaltsorgani-sation eingefordert wird. Realisiert wird die-ses Prinzip hauptsächlich durch die Kombi-nation inhaltlicher Textdarstellung mit darstel-lungsorientierten Veranschaulichungen (z.B. in Form virtuell-dreidimensionaler Modelle oder dynamischer Medien-Korrelationen).

4.6 Aktivitätsförderung Ebenfalls als inhaltsorientiertes, aber auch medial orientiertes Prinzip wirkt das Prinzip der Aktivitätsförderung. Dieses Prinzip be-schreibt die Gestaltung der Lehreinheiten als eine ausgewogene Mischung textueller In-haltsdarstellung mit interaktiven multimedia-len Elementen, die sich wechselseitig sinnun-terstützend durchdringen. Didaktischer Hin-tergrund ist die Mischung instruktiver Texte mit aktivitätsfördernden Elementen, um ver-schiedene Lerntypen anzusprechen. Als zweiter Aspekt des Prinzips der Aktivitätsför-derung soll das Handeln der Studierenden betont werden. Nur durch ein selbst be-stimmtes, aktives Erarbeiten sind die Studie-renden in der Lage, sich die — vielfach abs-trakten — Inhalte eigenständig anzueignen. Bedeutung kommt hierbei auch dem motiva-tionalen Aspekt der Auseinandersetzung mit den Lehrinhalten bei: Aktivitätsfördernde (multimediale) Komponenten sind in der La-ge, eine — für einen Lernerfolg notwendige — intrinsische Motivationslage extrinsisch aufzuwerten.

4.7 Aktive Lernkontrolle Ein wesentlicher Bestandteil jedes multime-dialen Lehrmaterials sind die Formen der Lernkontrolle. Die Gestaltung der Lernkon-trolle wird durch fünf verschiedene didakti-sche Aspekte geprägt: durch die inhaltliche

und durch die mediale Organisation der Lernkontrolle, durch den Aspekt der Aktivi-tätsförderung, durch die individuell determi-nierten Aspekte der Eigenverantwortlichkeit und der Lernbereitschaft der Studierenden. Das damit charakterisierte Spannungsfeld begründet das didaktische Prinzip der akti-ven Lernkontrolle. Im Lehrmaterial "Symmetrie molekularer Strukturen" werden fünf Aufgabentypen zur Lernkontrolle eingesetzt: Wissensaufgaben, Lernaufgaben, Anwendungsaufgaben, For-malaufgaben und Handlungsaufgaben:

Wissensaufgaben: Nennen Sie 3 Unter-schiede zwischen Drehspiegelachsen Sn mit geradem n und ungeradem n. Lernaufgaben: Warum ist die S2-Symmetrie äquivalent zur Inversionssymmetrie? Anwendungsaufgaben: Kann es eine Sym-metrieachse geben, bei der die Symmetrie-operation mit dem kleinsten Drehwinkel eine Drehung um 35° ist? Formalaufgaben: Beurteilen Sie die folgen-den Aussagen nach ihrer Richtigkeit: • Die Menge {1, -1} bildet eine Gruppe. • Die Menge {1, -1} bildet mit der Addition

eine Gruppe. • Die Menge {1, -1} bildet mit der Multiplika-

tion eine Gruppe. Handlungsaufgaben: Ermitteln Sie aus den Drehsymmetrieoperationen der drei senk-recht aufeinander stehenden C2-Achsen des Tetraeders die zugehörige Gruppentafel (s.a. Abb. 3).

Tab. 1: Beispiele für die fünf Formen der Lernkontrolle im Lehrmaterial "Symmetrie molekularer Strukturen"

Unterscheidungskriterien sind neben dem Grad der Aktivitätsförderung die didaktische Intention, die inhaltliche Organisation und die mediale Präsentation der Lernkontrolle.

TransparenzDrehung um 45°Drehung um 90°

Drehachse

TransparenzDrehung um 45°Drehung um 90°

Drehachse

Abb. 2: Drehoperationen an einem virtuell-dreidimensionalen Würfelmodell: Mit Hilfe des miniaturisierten Vergleichmodells in Ausgangslage (in der linken oberen Ecke) ist leicht nachzuvollziehen, dass eine Drehung um einen Winkel von 90° um die dargestellte Drehachse eine Symmetrieoperation — bzw. Deckabbildung — ist (linke Seite; nach der Drehung); die Drehung um einen Winkel von 45° dagegen nicht (rechte Seite; nach der Drehung).

Über die didaktische Gestaltung multimedialer Lehrmaterialien

207

Die Einteilung der Aufgabenformen reicht dabei über die oft verwendete, nahezu klas-sische Eingruppierung in Reproduktionsauf-gaben, Anwendungsaufgaben und Transfer-aufgaben hinaus. Diese Erweiterung ist so-wohl inhaltlich (Aufgaben zur Gruppentheo-rie) als auch medial (besonders handlungs-fördernde Aufgaben) begründet. Über die mediale Organisation der Aufgaben im Lehrmaterial als eine Form der inhaltli-chen Ergänzung wurde bereits in (Zimmer et al. 2003) berichtet. Die Analyse der medialen Gestaltung der Lernkontrolle selbst führt zu einer Unterscheidung der Aufgabenformen nach dem Grad der Aktivitätsförderung. An-zutreffen sind Aufgabentypen in einer eher konventionellen Ausprägung bis hin zur Auf-gabentypen, die sich durch eine hohe Hand-lungsorientierung auszeichnen. Unter Wissensaufgaben werden solche Auf-gaben verstanden, deren Beantwortung durch das alleinige Studium zusammenhän-gender Lerneinheiten erfolgen kann. Bevorzugte mediale Gestaltungsmittel sind dabei Textelemente und einfache virtuell-dreidimensionale Modelle. Bei Lernaufgaben erfahren die Studierenden im Sinne der inhaltlichen Ergänzung neue in-haltliche Zusammenhänge, die in Beantwor-tung der Aufgabe selbstständig aus bereits vorhandenem Wissen konstruiert werden können und sollen. Diese Aufgabenform ist zum überwiegenden Teil durch Textdarstel-lungen bestimmt. Anwendungsaufgaben treten sehr häufig im

Lehrmaterial auf. Als Anwendungsaufgaben werden alle die Aufgaben verstanden, die durch das Anwenden oder auch Kombinieren der bereits erworbenen Kenntnisse beant-wortet werden können. Im Unterschied zu den Lernaufgaben handelt es sich zumeist um die konkrete (beispielhafte) Anwendung allgemeinen Wissens. Die mediale Gestal-tung kann sehr vielseitig sein, überwiegend treten Textdarstellungen in Kombination mit einfachen multimedialen Elementen auf. Formalaufgaben sind Aufgaben zu formal-mathematischen Inhalten. Hier geht es um grundlegende Formalien der Bezeichnungen und der Nomenklatur und um grundlegende Prinzipien gruppentheoretischer Methoden und Verfahren. Die mediale Darstellung ist überwiegend symbol- und textorientiert. Handlungsaufgaben als fünfte Form der Lernkontrolle sind grundsätzlich handlungs-orientiert ausgerichtet. Sie sind hauptsächlich anhand virtuell-dreidimensionaler Hand-lungsmodelle zu erarbeiten. Dabei ist der ak-tivitätsfördernde Aspekt im Vergleich zu den anderen Aufgabentypen in besonderem Ma-ße entwickelt (vgl. Abb. 3).

4.8 Das didaktische Grundgerüst multimedialer Lehrmaterialien

In Zusammenfassung der vorangehenden Abschnitte entsteht die Gesamtheit der di-daktischen Leitlinien und Prinzipien als ein didaktisches Grundgerüst für das Lehrkon-zept eines multimedialen Lehrmaterials (s.

Abb. 4). Formuliert wurden inhaltlich und medial orientier-te Konzepte, Leit-ideen und didakti-sche Prinzipien. Ei-nige der didakti-schen Prinzipien sind in ihrer Umset-zung von den her-kömmlichen Medien her bereits bekannt, so das Prinzip der didaktischen Diffe-renzierung oder das Prinzip der inhaltli-chen Konsistenz. Ei-nige Prinzipien rich-ten ihre Wirkungs-weise aber auch speziell auf das Lehrmedium Com-puter aus. Zu nen-nen sind hier das

Abb. 3: Die Entwicklung der Gruppentafel der Kleinschen Vierergruppe als eine Hand-lungsaufgabe: In dem virtuell-dreidimensionalen Handlungsmodell können in der Ein-gangszeile und in der Eingangsspalte der Gruppentafel die Symmetrieoperationen der zweizähligen Achsen des rechten Tetraedermodells ausgewählt und als (animierte) Dre-hung an der entsprechenden Achse dargestellt werden. Im Anschluss daran muss die aus den beiden gewählten Symmetrieoperationen resultierende Operation — durch die farbig markierten Eckpunkte unterstützt — bestimmt werden. Diese wird im linken Tetra-edermodell (animiert) dargestellt. Bei richtiger Bestimmung wird das Symbol in der Ver-knüpfungstafel eingetragen, oder es erfolgt ein erneuter Lösungsversuch.

Bert Xylander

208

Prinzip der abgeschlossenen Lehreinheiten, die mediale Funktionalität des Konzepts der inhaltlichen Ergänzungen, das Konzept der darstellungsorientierten Veranschau- lichung mit multimedialen Elementen, das Prinzip der Aktivitätsförderung und das Prin-zip der aktiven Lernkontrolle.

5 Zum Abschluss

Bei aller Begeisterung für das Lernen mit neuen Medien kann dem Computer keine herausragende Stellung im Hinblick auf den Einsatz als Lehrmedium zugeschrieben wer-den: Der Computer sollte vielmehr als eine wichtige Ergänzung in dem breiten Spektrum der bereits existierenden Lehrmedien ange-sehen und eingesetzt werden. Dennoch erscheint es — gerade mit Sicht auf die Darstellungs- und Vermittlungsmöglich-keiten des Lehrmediums Computer — loh-nenswert, die Entwicklung von speziellenmul-timedialen Lehrmaterialien voranzutreiben

und zu vertiefen. Mit den medialen Darstellungsformen des Computers eröffnen sich vielversprechende Ansätze zur Darstellung mathemati-scher Inhalte, die sich in die-ser Form nicht mit herkömm-lichen Lehrmaterialien reali-sieren lassen. Zudem kön-nen — basierend auf der Wirkungsweise des Compu-ters — die Lernenden die multimedialen Lehrmateriali-en sehr intensiv in ihren selbstständigen Lernprozess integrieren: Sie können auf verschiedene Weise auf das Medium einwirken und damit das Lehrmaterial ihren Be-dürfnissen und Vorstellungen individuell anpassen.

Literatur Hebisch, Udo (2002): Freiberger Web-Vorlesung

über Klassische Algebra. www.mathe.tu-freiberg.de/~hebisch/cafe/algebra/

Schulmeister, Rolf (2002): Grundlagen hyperme-dialer Lernsysteme: Theorie – Didaktik – De-sign. München, Wien: Oldenbourg, 2002

Zimmer, Bert; Clemens Bruhn & Dirk Steinborn (2002): Lernen mit dem Internet im Selbststu-dium: Symmetrie molekularer Strukturen — ei-ne Lerneinheit und Erfahrungen. In: Wilfried Herget et al. (Hrsg.) (2002): Medien verbreiten Mathematik. Hildesheim: Franzbecker, 62–71

Zimmer, Bert (2003): Veranschaulichung in der Gruppentheorie. In: Beiträge zum Mathematik-unterricht 2003. Hildesheim: Franzbecker, 673–676

Zimmer, Bert; Karin Richter & Wilfried Herget (2003): Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer. In: Peter Bender et al. (Hrsg.) (2003): Lehr- und Lernprogramme für den Ma-thematikunterricht. Hildesheim: Franzbecker, 162–173

Inhaltsstrukturierung

Systematisierende Darstellung

Didaktische Differenzierung

Inhaltliche Ergänzungen

Inhaltliche Konsistenz

Inhaltliche Vorwegnahme

Abgeschlossene Lehreinheiten

Darstellungsorientierte Veranschaulichung

Anschaulichkeit

Aktivitätsförderung

Aktive Lernkontrolle

Abb. 4: Ein didaktisches Grundgerüst für das Lehrkonzept eines multimedialen Lehrmaterials.

209

1 Einleitung

Seit Dezember vorigen Jahres gibt es an der Fachhochschule für Wirtschaft (FHW) Berlin die InitiativGruppe E-Learning, kurz IGEL genannt. Anfangs war es eine Gruppe von fünf Aktivisten, die mit dem bisherigen blo-ßen Zuschauen beim E-Learning nicht zu-frieden waren: Wäre es nicht möglich, eine Lernplattform für den ersten Auftritt zu finden, die unserer Initiative einen angemessenen Rahmen geben könnte? Die Anzahl der angebotenen Lernplattformen ist inzwischen so groß, dass man nicht ein-mal die Literatur darüber — Neuentwicklun-gen, Erfahrungsberichte, vergleichende Eva-luationen — zu überblicken vermag. Unser Beauftragter für Multimedia, Professor für Marketing, und ich hatten einige Veranstal-tungen besucht, in denen namhafte Lern-plattformen wie WebCT und Blackboard vor-gestellt wurden. Ich hatte eine zweitägige Schulung mit Clix Campus besucht. Kurzum: wir waren hinreichend verwirrt.

2 Lernplattformen

Als Lernplattform oder Learning Management System (LMS) werden nach Schulmeister (2003) — im Unterschied zu bloßen Kollek-tionen von Lehrskripten oder Hypertext-Sammlungen auf Web-Servern — Software-Systeme bezeichnet, die über folgende Funk-tionen verfügen: - Benutzerverwaltung (Anmeldung mit Ver-

schlüsselung)

- Kursverwaltung (Kurse, Verwaltung der Inhalte, Dateiverwaltung)

- Rollen- und Rechtevergabe mit differen-zierten Rechten

- Kommunikationsmethoden (Chat, Foren) und Werkzeuge für das Lernen (White-board, Notizbuch, Annotationen, Kalender etc.)

- Darstellung der Kursinhalte, Lernobjekte und Medien in einem netzwerkfähigen Browser

Häufig verwendet man hierfür auch den Be-griff "Virtual Learning Environment" (VLE). Für den ersten Auftritt eignen sich insbeson-dere Lernplattformen, bei denen sich das In-vestitionsrisiko in Grenzen hält. Hierbei sind einerseits die direkten Kosten der Plattform zu bedenken, andererseits aber auch Kosten für Einarbeitung, Schulung, Erstellung von Inhalten und die Abhängigkeit einer Instituti-on von einem Produkt. Zum Ausprobieren kann man durchaus daran denken, den freien Service eines großen An-bieters zu nutzen, z. B. "MSN Groups" oder "Yahoo! Groups". Als "Groupware" lässt sich auch "BSCW" (Basic Support for Cooperative Work) verwenden. Bei der Auswahl kam mir zugute, was ich selbst vor fünf Jahren von einem sehr enga-gierten Studenten gelernt hatte: Er hatte mich motiviert, mit dem Betriebssystem Linux zu arbeiten. Damals noch etwas für Leute, die etwas "daneben" waren (jedenfalls neben dem "mainstream"), hat es heute bereits die Server im Bundestag erobert und ist wegen seiner Stabilität als Basis für Webserver ers-te Wahl. "Open Source" bedeutet, dass die

Die Apfelsinenkiste im Hyde-Park — Lernplattformen für den ersten Auftritt

Siegfried Zseby, Berlin

Hunderte von Lernplattformen wurden bereits von Evaluationen erfasst. "Stabilität der Kiste" ist nicht nur im Hyde-Park ein wichtiges Entscheidungskriterium. Sie beeinflusst bei Webservern die Entscheidung zwischen Windows und Linux wie bei Autos zwischen A-Klasse und Ferrari. Doch Vorsicht: Michael Schumacher braucht mehr PS als Lehrer Lämpel, und ob die Lernenden als Zuschauer oder als Akteure geworben werden sollen, macht einen Unter-schied, nicht zuletzt wegen der Kosten. In diesem Beitrag geht es um das Zusammenspiel von Lernplattform, Content und E-Moderating. Dabei wird E-Moderating als "E-Motivating" eine Schlüsselfunktion erhalten und die Anforderungen an die "Lernplattform für den ersten Auftritt" etwas relativieren.

Siegfried Zseby

210

Programmierquellen offengelegt, von zahlrei-chen Experten weiterentwickelt und kosten-los zur Verfügung gestellt werden. Da ich also bereits seit 1998 Erfahrungen mit dem LAMP-System (Linux, Apache-Webser-ver, MySQL-Datenbank, PHP-Skriptsprache) hatte, war ich insbesondere an einer Open-Source-Lernplattform interessiert. Die Lernplattform "ILIAS Open Source" mit eben diesen Charakteristika hat in mehreren Vergleichsstudien recht gut abgeschnitten. Deshalb schien sie mir eine realistische Al-ternative zu international etablierten kommer-ziellen Plattformen wie WebCT und Blackbo-ard zu sein. ILIAS wurde an der Universität zu Köln ent-wickelt und steht für "Integriertes Lern-, In-formations- und ArbeitskooperationsSystem". Für die Installation auf einem Testserver be-nötigte ein erfahrener IT-Mitarbeiter, der sich auch mit der LAMP-Architektur gut auskennt, etwa eine Woche — neben seiner laufenden Arbeit. Bereits zu diesem Zeitpunkt begegne-ten wir dieser Plattform mit einiger Sympa-thie, da der offen liegende Quellcode einen recht übersichtlichen Eindruck machte und auch der Support durch bereitwillige Unter-stützung der Entwickler und zahlreicher User in Diskussionsforen gewährleistet schien. Im Januar organisierte ich eine einwöchige Inhouse-Schulung durch zwei erfahrene E-Trainer, die aus dem Umfeld der Kölner Ent-wickler kamen. Die Schulung richtete sich an Hochschullehrer und Kollegen aus dem Be-reich "Information und Kommunikation" mit dem Ziel, Lehrveranstaltungen durch interak-tive Online-Angebote attraktiver und zeitge-mäßer aufzubereiten. Dieses Angebot wurde sehr gut aufgenommen. Insgesamt nahmen 21 Kolleginnen und Kollegen an der Schu-lung teil. Zu Beginn des Sommersemesters (April 2003) haben wir neben dem Testserver ei-nen wesentlich leistungsfähigeren Server in Betrieb genommen und darauf eine neuere ILIAS-Version installiert, die insbesondere auch die Möglichkeit des HTML-Imports bie-tet. Das System lief von Beginn an sehr sta-bil. Wir haben bisher keinerlei Probleme auf der Linux-Ebene zu beklagen. Abgesehen von der Schulung machte ich mich etwa zwei Monate lang mit den ver-schiedenen Rollen (Lerner, Autor, Admini-strator) innerhalb von ILIAS vertraut und sah mich danach in der Lage, mit Unterstützung durch einen studentischen Mitarbeiter E-Learning als Ergänzung zu meinen Präsenz-

veranstaltungen in einem bis dahin noch un-klarem Umfang anzubieten. Wie man weiß, hat ILIAS auch etwas mit "Odyssee" zu tun. Mein Igel "Odysseus", der Listenreiche, war immer mit im Boot. Einige Schwierigkeiten haben wir inzwischen ken-nen gelernt, und Widrigkeiten wird es sicher auch weiterhin geben. Bereits bei der Einfüh-rung der Schulung hatte ich darauf hingewie-sen, dass es beim E-Learning um ein Jon-glieren mit drei Bällen geht: Neben den Lern-inhalten sind die didaktische Aufbereitung und die durch Medien unterstützte Präsenta-tion immer im Auge zu behalten. ILIAS dient als Medium und als Container. Wie man den Content hineinbringt, haben wir in der Schu-lung ein wenig geübt. Die Frage, welchen Content man anbietet und wie man ihn nutzt, wird uns sehr intensiv zu beschäftigen ha-ben, wenn wir die Lernplattform ernsthaft nut-zen wollen.

3 Lerninhalte (Content)

Da mit der Installation einer Lernplattform so-fort der "horror vacui" (Schrecken der Leere) offensichtlich wird, ist es naheliegend, schnellstens Inhalte zu produzieren oder ein-zukaufen. Für Lehrende besteht eine gewisse Versu-chung darin, selbst produzierte Schriften als "Skripte" an die Studierenden zu verteilen, auch wenn sie ursprünglich nicht unmittelbar als Unterlagen für eine Lehrveranstaltung vorgesehen waren. Hat man einen eigenen Webserver oder zumindest Webspace zur Verfügung, so besteht die nächste Stufe dar-in, seine Skripten "ins Netz zu stellen". Mit einer Lernplattform wird man schließlich die-se Produkte auf die Plattform bringen und sie als "Content" bezeichnen. In allen drei Phasen sind es die technischen Möglichkeiten, die sich gegenüber den didak-tischen Gesichtspunkten behaupten: der Ko-pierer, der Webserver, die Lernplattform. Das Ergebnis sind zunächst abgeheftete Skripten, heruntergeladene Dateien und eine Samm-lung von Lesezeichen (Bookmarks). Quantität und Qualität stehen nicht selten in einem unausgewogenen Verhältnis. "Blei-wüsten" textlastiger Inhalte, unzumutbare Formatierungen, gut gemeinte Illustrationen erzielen bei den Lernenden nicht den erhoff-ten Erfolg. Frustration auf beiden Seiten setzt eine Abwärtsspirale in Gang, die sich mögli-cherweise auf einem unteren Niveau stabili-siert.

Die Apfelsinenkiste im Hydepark — Lernplattformen für den ersten Auftritt

211

Welcher Art sollten die Inhalte einer Lern-plattform sein? Als wesentliches Kriterium gilt die Interakti-vität, also die Forderung, dass das Material beim Lernenden eine Aktivität auslöst. Als Mindestforderung für einen Text wird man voraussetzen, dass er gelesen wird. Schul-meister (2002) beschreibt eine Taxonomie der Interaktivität, bei der deutlich wird, dass das Anklicken von Links noch nicht der Gipfel ist. Ich verwende gern die Unterscheidung zwi-schen Anschauungsmaterial und Rohmate-rial. Wenn die Studierenden die Leistungen des Professors bewundern und von den er-stellten Materialien begeistert sind, so heißt dies noch längst nicht, dass sie daraus etwas lernen. Provozierende Aufgabenstellungen, unvollkommene Entwürfe können durchaus für den Lernprozess wertvoller sein als voll-endete Formulierungen und multimediale Kabinettstücke. Beispiel 1: Ziel ist es, alle 25 Lichter einzuschalten. Klickt man auf ein Quadrat, wird das Licht des Feldes und aller horizontal und vertikal daneben liegenden Felder umgeschaltet (aus-ein bzw. ein-aus).

Abb. 1: Alle Lichter einschalten

Beispiel 2: Gesucht ist die schnellste Verbindung von A nach B, wobei die Geschwindigkeit über den

Acker (AD) geringer ist als die auf der Straße (DB). Im Zahlenbeispiel sind die Strecken AC = 100 m und CB = 200 m und die Geschwin-digkeiten 6 km/h bzw. 12 km/h gewählt. Auch von Studierenden selbst erzeugte und präsentierte Materialien mit "intelligenten" Fehlern, über die Produzenten und Konsu-menten diskutieren, sollten als Inhalte einer Lernplattform nicht tabu sein. Lerninhalte und Anzahl der Nutzer sind bis-her noch recht gut überschaubar. Wie in Prä-senzveranstaltungen hat dies den Vorteil, dass eine intensive Betreuung möglich ist und Erfahrungen unter Laborbedingungen gemacht werden können. Die ersten Monate haben meine Erwartungen an die Studieren-den übertroffen: Die Akzeptanz war überaus positiv, die Diskussion von Fachproblemen der Finanzmathematik und der Analysis im Forum war sehr lebhaft, dagegen wurde das Forum für technische Probleme ignoriert. Un-ter den Hochschullehrern ist die Resonanz inzwischen immerhin so groß, dass wir ILIAS als "die Lernplattform der FHW" bezeichnen können. Welchen Mehrwert können nun die Lehren-den und Lernenden erwarten? Lehrende können mit einer Lernplattform - ihre Materialien an einem zentralen Ort

zur Verfügung stellen, - Medien verschiedenster Art einsetzen, - per Mail und Diskussionsforum kommu-

nizieren, - Einzel- und Gruppenarbeiten auf der

Lernplattform erstellen lassen, - den Lernprozess mit geringem Aufwand

protokollieren, - eine neue Form der Betreuung kennen

lernen (E-Moderating). Ein noch größerer Impuls ist von Seiten der Studierenden zu erwarten. Sie können - unabhängig von Zeit und Raum (Internet-

Anschluss vorausgesetzt) Materialien zur Verfügung haben,

- Medien verschiedenster Art nutzen, - untereinander und mit dem Lehrer per

Mail und im Diskussionsforum kommuni-zieren,

- über die Plattform eine Gemeinschaft bil-den,

- die Ergebnisse ihres Lernprozesses auf der Lernplattform präsentieren.

A

C D = ?

B

Abb. 2: Schnellste Verbindung

Siegfried Zseby

212

4 Betreuung (E-Moderation)

Inhalt (Content) ist eine notwendige Voraus-setzung für die Arbeit mit einer Lernplattform. Dass die wichtigste Komponente noch fehlt, ahnt man, wenn man erfährt, dass das MIT, also eine der renommiertesten Forschungs- und Lehrstätten der Welt, sich bereits vor ei-nigen Jahren entschlossen hat, seine Inhalte frei zur Verfügung zu stellen. Das Besondere an der dortigen Ausbildung ist offenbar nicht das Material selbst, sondern die Art, wie Leh-rende und Lernende damit einen Lernpro-zess gestalten. Ich habe selbst an zwei umfangreichen On-line-Seminaren teilgenommen, die jeweils länger als drei Monate dauerten und inten-sive regelmäßige Mitarbeit erforderten. Das erste Beispiel wendete sich an Sprach-dozenten Berliner Volkshochschulen, die zu Betreuern von Online-Unterricht ausgebildet wurden. Die zehn DozentInnen hatten reich-haltige Erfahrung im Sprachunterricht ver-schiedener Fremdsprachen: Englisch, Fran-zösisch, Spanisch und Italienisch. Ich nahm mit meinen bescheidenen Fremdsprachen-kenntnissen als Gast teil. In der frei zugängli-chen Lernplattform MSN Groups arbeiteten wir in der Gruppe "Polyglott" zunächst in der Rolle der Teilnehmer, später konnten wir auch jeweils eigene Gruppen gründen, in der jeder die Rolle des Managers mit entspre-chend umfangreicheren Kompetenzen über-nehmen konnte. Die technische und didakti-sche Betreuung der Teilnehmer erfolgte ar-beitsteilig durch zwei Personen, und es gab etwa alle zwei Wochen ein halbtägiges per-sönliches Treffen. Das zweite Beispiel war ein von der Univer-sität Saarbrücken organisiertes internationa-les Online-Seminar namens "IKARUS", bei dem kein persönlicher Kontakt (face to face) vorgesehen war. Dabei wurden ebenfalls die Möglichkeiten des E-Learning behandelt. Die Arbeit wurde in wechselnden Gruppen durch-geführt, individueller Beitrag war eine Ab-schlussarbeit mit einem selbst gewählten Thema aus dem Bereich E-Learning, außer-dem mussten jede Woche nicht ganz einfa-che Quiz-Aufgaben bearbeitet werden, die Recherchen im Internet erforderten und als Multiple-Choice-Aufgabe formuliert waren. Die Gruppenaufgaben wurden in Foren dis-kutiert, und die Ergebnisse wurden den Tuto-ren zugeschickt. Termine waren klar vorge-geben. In beiden Fällen hatte ich das Glück, von her-vorragenden Betreuern angeleitet zu werden.

Dies hat mich ermutigt — und hoffentlich be-fähigt — mit unserer Lernplattform ILIAS und den selbst erstellten Lerneinheiten die ersten Lehrveranstaltungen, die selbstverständlich im Präsenzstudium durchgeführt werden, durch E-Learning zu ergänzen. Neben den erwähnten praktischen Erfahrungen als Teil-nehmer an Online-Seminaren möchte ich als theoretische Grundlage der neuen Betreu-ungsform exemplarisch das Buch von Gilly Salmon (2000) über "E-Moderating" nennen. In diesem Buch nennt Gilly Salmon fünf Stu-fen, die ein E-Moderator durchlaufen sollte: 1. Zugang und Motivation 2. Online-Sozialisation 3. Informationsaustausch 4. Wissenserwerb 5. Entwicklung Die fünf Stufen sind die Grundlage ihrer Mo-deratoren-Schulung. Jede Stufe enthält ei-nerseits die für die Teilnehmer beschriebe-nen Lernziele, andererseits die erwarteten Aktivitäten des Moderators. Stufe 1 erfordert in technischer Hinsicht von den Teilnehmern die Vorbereitung des eige-nen PC-Systems für den Zugang, auf der anderen Seite eine Begrüßung und Ermuti-gung durch den Moderator. Stufe 2 sollte etwa auf der technischen Seite das Senden und Empfangen von Mitteilun-gen, auf der persönlichen Seite das Über-brücken kultureller und sozialer Unterschiede beinhalten. Stufe 3 könnte sich mit der Suche nach und der Bereitstellung von Lernmaterial beschäf-tigen, Stufe 4 mit dem Zusammenfassen und Auf-bereiten der bearbeiteten Informationen und Stufe 5 mit der Emanzipation von der Betreu-ung zur selbständigen Arbeit. Meine eigenen Erfahrungen begannen mit der Betreuung einer Lehrveranstaltung zur Mathematik (Analysis), in der die ersten vier Wochen für Finanzmathematik reserviert sind. Da ich hierfür bereits umfangreiches Material online hatte, schien mir dies ein ver-tretbarer Einstieg zu sein. Dadurch konnte ich mich stärker auf die Betreuung innerhalb der Lernplattform konzentrieren. Etwa 50 Studierende waren registriert, ca. 35 norma-lerweise in der vierstündigen Lehrveranstal-tung anwesend. Als äußerst zweckmäßig erwies sich die Auf-teilung in 6 Gruppen, die ich einfach auf Grund der Matrikelnummern vornahm. In je-

Die Apfelsinenkiste im Hydepark — Lernplattformen für den ersten Auftritt

213

der Gruppe wurden ein Gruppenmanager und einen Stellvertreter bestimmt. Die erste Aufgabe bestand darin, drei Typen von Übungsaufgaben (einmalige, regelmäßige und gemischte Zahlungen) zu bearbeiten und in jeder Gruppe selbst eine Aufgabe von je-dem Typ mit Musterlösung zu produzieren. Meine Idee dabei war "Lernen durch eigenes Lehren" oder wenigstens durch Präsentieren, Formulieren eigener Aufgaben. Die Studie-renden mussten also selbst Lernelemente formulieren und dabei an die Adressaten denken. Diese Idee ist nicht neu: "It is well known in the teaching profession that the best way to learn something is to teach it. Just as the Web turns everyone into a pub-lisher, so online courses give everyone the opportunity to be the teacher." (Robin Mason 1998) Die Zeitvorgaben waren sehr kurz für den ersten, einfachen Aufgabentyp (4 Tage), da ich unbedingt sofort eine erste Aktivität auf der Lernplattform sehen wollte, und etwas to-leranter (11 Tage) für die weiteren Aufga-bentypen. Die Studierenden mussten die Entwürfe in ihrem Forum diskutieren, und die Gruppenmanager mussten mir die Ergeb-nisse als Mail innerhalb der Lernplattform zu-senden. Nach zögerlichem Beginn wurde das Forum sehr diszipliniert genutzt, und meine Erwartungen erfüllten sich weitgehend. Einige Aufgabenvorschläge habe ich in mei-ne Lerneinheit als "Beiträge von Studie-renden" integriert, nicht immer die besten, sondern — wie bereits im vorigen Kapitel an-gedeutet — auch solche mit "intelligenten" Fehlern, die dann in der Präsenzveranstal-tung diskutiert wurden. Ich habe auch nach den vier Wochen "Fi-nanzmathematik" im weiteren Verlauf der Mathematik-Veranstaltung die Lernplattform genutzt. Da wir inzwischen eine neuere Ver-sion von ILIAS installiert hatten, die HTML-Import gestattet, konnte ich die weiteren In-halte etwas komfortabler produzieren. Hierzu gehört auch die oben erwähnte Optimie-rungsaufgabe der schnellsten Verbindung. Sie wurde auf unterschiedlichem Niveau dis-kutiert. Das Fehlen eines Koordinatensys-tems hat für ein breiteres Spektrum von Lö-sungsansätzen gesorgt. In einer weiteren Lehrveranstaltung "Infor-mationssysteme" habe ich den Studierenden (im Hauptstudium) sogar Autorenrechte ein-geräumt, so dass sie ihre Präsentationen selbst auch als Teile der Lerneinheit auf der Lernplattform publizieren können. Dabei ist zu bedenken, ob man Studierenden die Rolle

des Autors mit einem System zumuten soll, das sie voraussichtlich danach kaum noch einmal benutzen werden. Meine wichtigste Erkenntnis bei der Betreu-ung besteht darin, dass E-Moderating in ers-ter Linie E-Motivating bedeutet. Das kann auch in der Vermeidung von Demotivation bestehen, wofür ich ein kleines Beispiel an-führen möchte: Ein Forumsbeitrag bezieht sich auf die Un-tersuchung der Funktion y = ln(3+x) – 5x + 10 Student A schrieb: Mit dem Sekantenverfahren komme ich auf die Nullstelle (2,33407|0). Student B fragt dazu: "Hi, kannst Du vielleicht den Rechenweg nochmal ausführlich hinschreiben. Wie hast du denn die Klammer mit ln(3+x) aufgelöst?" Nachdem keine Reaktion im Forum erfolgte, habe ich selbst geantwortet: "Die Klammer ln(3+x) kann man nicht auflö-sen, ebenso wie wurzel(3+x). Aber man kann sie für jedes x ( > -3) berech-nen bzw. vom Taschenrechner ablesen." In der Präsenzveranstaltung hätte Student B gesehen, wie ich mir die Haare gerauft und die Augen verdreht hätte. An meinem PC sit-zend, konnte ich diese Frage ganz nüchtern beantworten und wurde prompt dadurch be-lohnt, dass am nächsten Tag von Student B ein korrekter Beitrag zur folgenden Aufgabe im Forum stand. Ich kann mich an Situatio-nen erinnern, in denen etwas "einfältige" Fra-gen hart kommentiert wurden und daraufhin zum passiven Widerstand geführt haben.

5 Fazit

E-Learning, die Arbeit mit einer Lernplatt-form, erfordert die Aufmerksamkeit auf drei Komponenten: 1. die Lernplattform 2. die Inhalte 3. die Betreuung Erst das Zusammenspiel entscheidet über den Erfolg des Gesamtkonzeptes. Bei jeder einzelnen Komponente können Unzuläng-lichkeiten den Lernerfolg behindern: Die Auswahl der Lernplattform gilt inzwi-schen als größeres Projekt. Hunderte von

Siegfried Zseby

214

Lernplattformen wurden bereits von Evalua-tionen erfasst. Klagen hört man einerseits über die Kostenentwicklung und über die Überdimensionierung einiger kommerzieller Plattformen, andererseits über Unzulänglich-keiten bei weniger aufwändigen Investitio-nen. Die Begeisterung der Beteiligten für ei-nen zweiten Versuch ist verständlicherweise gering. Unsere Entscheidung für ILIAS Open Source hat sich bisher in den wenigen Mona-ten der Nutzung bestens bewährt. Wir hoffen, dass die Kölner Entwickler weiterhin geför-dert werden und dass wir noch viele Kollegen und Studierende vom Nutzen der Plattform überzeugen können. Als Inhalt wünscht man sich mehr als nur il-lustrierte Textdateien zum Herunterladen. In-teraktivität wird gewöhnlich als wünschens-wert angesehen. Jedoch sollte man sich da-bei nicht von effektvollen Demos blenden lassen. Auch unvollkommene Arbeitsmateria-lien, herausfordernde Aufgabenstellungen und von den Lernenden selbst erarbeitete Inhalte können den Lernprozess fördern. Au-torenwerkzeuge oder der Weg über HTML erfordern beim Lehrenden eine Investition, die viele angesichts konservativer Alternati-ven (Word) scheuen. Die Betreuung der Lernenden bei der Arbeit mit einer Lernplattform ist wohl diejenige Komponente, die bisher am stärksten unter-schätzt wurde. Ist schon die Content-Erstel-lung sehr personal-intensiv, so gilt dies in er-heblich stärkerem Maß für die Betreuung. Kann man bei der Erstellung von Inhalten noch hoffen, sie mehrmals zu verwenden, so ist die Betreuung ein Prozess, der Live-Cha-rakter hat, egal ob es sich dabei um syn-chrone (Chat) oder asynchrone Medien (Mail, Foren) handelt. Die Synergie von Präsenz-veranstaltungen und Online-Phasen wird sich nur einstellen, wenn die personellen Voraus-setzungen ernst genommen werden. Alle drei Komponenten müssen sich dem Primat der Didaktik unterordnen. Der Erfolg des Lernprozesses ist das Gesamtziel. Ob

eine Lernplattform, ein inhaltlicher Beitrag oder die Betreuung angemessen ist, muss sich an diesem Gesamtziel orientieren. Wir haben uns an unserer Hochschule bewusst für eine Open-Source-Lösung entschieden, kaufen bisher keinerlei Content ein, haben aber als erstes an die Schulung der Lehren-den gedacht. Jetzt hoffen wir auf Impulse auch von den Lernenden, ebenso wie vor fast zehn Jahren unsere Internet-Nutzung mindestens ebenso von der Begeisterung unserer Studierenden wie von den Hoch-schullehrer-Kollegen gefördert wurde. Die Technik wird die Gestaltung des Lern-prozesses nicht automatisieren. Didaktische Konzepte müssen die Richtung angeben.

Literatur ILIAS an der FHW Berlin:

http://www.fhw-berlin.de/ilias/ (26.08.2003, mit Link zum öffentlichen Bereich)

Mason, Robin (1998): Models of Online Courses. Asynchronous Learning Networks (ALN) Ma-gazine 2, Heft 2. Online (26.08. 2003): http://www.aln.org/ publications/magazine/v2n2/mason.asp

Salmon, Gilly (2000): E-Moderating, The Key to Teaching and Learning Online. London: Taylor & Francis; Kogan Page

Schulmeister, Rolf (2003): Lernplattformen für das virtuelle Lernen. Evaluation und Didaktik. Mün-chen, Wien: Oldenbourg

Wer nur mal schnuppern möchte, kann dies an der FHW oder unter folgenden Adressen:

ILIAS, Uni Köln: http://www.ilias.uni-koeln.de/ dortige Demo: http://www.ilias.uni-koeln.de/ios/demo.html

ILIAS, Uni der Bundeswehr Hamburg: http://ilias.unibw-hamburg.de/ öffentlicher Bereich: http://ilias.unibw-hamburg.de/ ilias/le_uebersicht.php

215

* Teilnehmende der Arbeitsgruppe "Internet-Übungsaufgaben erstellen mit dem Formel-Applet" unter der Leitung von Rudolf Großmann: Christi-

ne Bescherer, Eike A. Detering, Andreas Filler, Andreas Meier

1 Technische Vorausset-zungen

Der bereitgestellte Computerraum bot als Software-Grundausstattung im Wesentlichen die Standard-Office-Software von Microsoft. Wenn man von Hand Änderungen im HTML-Quellcode vornehmen muss, ist Frontpage als HTML-Editor nicht zu empfehlen. Der Au-tor stellte "Ulli Meybohm's HTML-Editor Pha-se 5" (Freeware, [1]) als leicht zu bedienen-des Werkzeug zur Verfügung. In diesem Edi-tor ist ein freies Active-X-Control von Micro-soft integriert, das es erlaubt, auf Knopfdruck

von HTML-Quelltext auf Browser-Ansicht und zurück zu wechseln. Meybohms Editor bietet die Möglichkeit, eine externe HTML-Dokumentation einzubinden. Dafür wurde die Dokumentation "Selfhtml" von Stefan Münz [2] gewählt. Sie liegt inzwi-schen auch in Buchform vor. Als Demonstrationsobjekt dienten die Aufga-ben in Abb. 1a zur Algebra der 7. Jgst. Sie stammen aus dem Freiarbeits-Material auf der Begleit-CD zum Akademiebericht 330 der ALP Dillingen (Lippert et al. 1999). Die Arbeitskarten des Freiarbeits-Materials zeigen auf der Rückseite die Lösung an

(Abb. 1b), teilweise auch mit Zwischenschritten (s. Aufgabe A405d)). Der Schüler kann so seine Auf-gabenbearbeitung, die er mit Zwischenschritten in ein Übungsheft notiert hat, so-fort überprüfen. Die gleiche Funktionalität bietet das Eingabe-Applet im gegen-wärtigen Entwicklungszu-stand. Beim Testen der Arbeits-umgebung am Vortag mussten wir leider feststel-len, dass das Editor-Formelapplet nicht funktio-nierte. Nach einer langwie-rigen Fehlersuche (Dank an den Systembetreuer und an Frau Claudia Ha-gan) wurde als "Schuldiger" die Java-VM von Microsoft identifiziert, die im Internet-Explorer integriert ist. Java

Internet-Übungsaufgaben erstellen mit dem Formel-Applet *

Rudolf Großmann, Stein

Den Mitgliedern der Arbeitsgruppe wurde an einem Beispiel demonstriert, wie einfach es ist, mit dem Editor-Applet Algebra-Übungsaufgaben für das Internet oder eine lokal instal-lierte Lernumgebung zu erstellen, falls vorher angemessene technische Voraussetzun-gen geschaffen wurden. Die AG-Mitglieder konnten danach mühelos eigene Aufgaben-beispiele entwickeln. Zum Abschluss entwickelte sich eine Diskussion über die Stärken und Schwächen des Formel-Applets, in deren Verlauf die AG-Mitglieder auch eigene Wünsche zur Fortentwicklung des Formel-Applets äußern konnten.

Abb. 1a, b: Vorder- und Rückseite der Arbeitskarte

Rudolf Großmann

216

war zwar vorhanden, aber in einer für das Editor-Applet zu alten Version. Damit be-wahrheitete sich der Punkt "Schwächen von Java" aus dem Vortrag des Autors am Vor-tag: Versions-Wirrwarr und fehlende Java-Unterstützung von Seiten Microsofts aus fir-menpolitischen Gründen. Der Fehler verschwand sofort, als das aktuel-le Java-Plugin von SUN [3] über das Internet nachinstalliert wurde.

2 Zeitlicher Ablauf der AG

2.1 Installation des Java-Plugins der Firma SUN

Das Java-Plugin von SUN wurde am Vortag mit Absicht nicht an allen Clients installiert, damit als erstes den Mitglie-dern der Arbeitsgruppe das Procedere dieses Vorgangs demonstriert werden konnte, der ja eventuell auch in einer anderen Arbeitsumgebung not-wendig ist. Bei einer schnellen Internet-Anbindung, wie im Computerraum der ALP Dillin-gen, war die Installation des Java-Plugins innerhalb von wenigen Minuten erledigt.

2.2 Überblick über jetzige und zukünftige Einsatzfähigkeiten des Formel-Applets

Da zufällig alle Mitglieder der Arbeitsgruppe keine Gelegenheit gehabt hatten, den Vor-trag des Autors zum Formelapplet an Vortag zu hören, gab der Autor einen kurzen Abriss des jetzigen Entwicklungsstands und der ge-planten Fortentwicklungen. Dabei erhielten die Mitglieder der AG die Gelegenheit, die präsentierten Beispiele selbst am eigenen Rechner nachzuvollziehen.

2.3 Realisierung eines vorgege-benen Aufgabenbeispiels

Schließlich demonstrierte der Autor, wie man die Formel, die man in das Editor-Applet ein-gibt, über die Zwischenablage als hexadezi-mal codierte Zeichenfolge (String) an die richtige Stelle in eine vorbereitete Vorlage (vorlage.html) einfügt.

Die im HTML-Editor von Meybohm eingebau-te Java-VM erwies sich allerdings auch als zu alt für das Editor-Formelapplet. Man muss zur Benutzung ein zweites Fenster mit dem Internet-Explorer öffnen, in dem vorher, wie oben dargelegt, ein Java-Plugin der Version 1.4.0 oder jünger installiert wurde. Man kann natürlich auch einen anderen Browser mit Java-Unterstützung, z.B. Mozilla oder Opera, verwenden.

2.4 Realisierung eines selbst ge-wählten Aufgabenbeispiels

Nachdem alle AG-Mitglieder keine nennens-werten Schwierigkeiten hatten, das vorgege-

bene Beispiel nachzuvollziehen, begannen sie bald, mit selbst erfundenen Aufgaben die Möglichkeiten des Formel-Applets auszupro-bieren. Besondere Aufmerksamkeit widme-ten sie dem Test, ob das Eingabe-Applet auch die vorher gegebenen Versprechungen erfüllt und, wie beabsichtigt, äquivalente Lö-sungsterme als "richtig" akzeptiert (s.a. Abb. 2, rechte Seite der Gleichung). Bald darauf entwickelte sich eine Diskussion über mögliche Einsatzgebiete, Verbesserungsvor-schläge etc. Die wesentlichen Gesichtspunk-te der Diskussion sind im folgenden Ab-schnitt zusammengefasst.

3 Stärken und Schwächen des Formel-Applets

3.1 Die Stärken • Das Formeleingabe-Applet ermöglicht ei-

ne Darstellungsweise der Terme wie an

Abb. 2: Aufgabe A405e), realisiert mit dem Formel-Applet

AG "Internet-Übungsaufgaben erstellen mit dem Formel-Applet"

217

der Tafel. Einstiegshürden, wie z.B. bei manchen Computer-Algebra-Systemen, die eine Eingabe nur in einer Textzeile er-lauben, noch dazu mit einer speziellen Syntax, fallen weg.

• Wie oben erwähnt, werden auch zum Lö-sungsterm äquivalente Terme als "richtig" erkannt.

• Die Applets sind, da auf der Java-Techno-logie basierend, betriebssystemunabhän-gig einsetzbar.

• Die Einbindung in HTML ermöglicht die Schaffung einer nicht-linearen Arbeitsum-gebung in Form eines Hypertextes mit Baum- oder Netz-Struktur.

• Die Funktionalität aller drei Formel-App-lets ist mit JavaScript erweiterbar. Z.B. sind die Hilfsknöpfe in Abb. 3 mit Java Script realisiert. Sie ermöglichen die Ein-gabe von Brüchen, Wurzeln und Expo-nenten ohne die Benutzung von (intuitiv nicht erschließbaren) Sonder-Tasten.

Abb. 3: Hilfsknöpfe mit JavaScript

3.2 Die Schwächen • Fehler bei der Eingabe sind bisher nur

bedingt korrigierbar. Manchmal ist es am einfachsten, mit der Entf-Taste den gan-zen Term zu löschen und von Neuem mit der Eingabe zu beginnen. Hier wird das Eingabe-Applet in naher Zukunft verbes-sert werden.

• Eine differenzierte Reaktion auf die Ein-gabe wäre wünschenswert. Nur "richtig" oder "falsch" ist zu wenig. Geplant sind

Reaktionen wie z.B. "richtig, aber noch zu vereinfachen".

4 Weitere Wünsche

An weiteren Wünschen wurden in der Ar-beitsgruppe, nach dem Sektionsvortrag oder in Einzelgesprächen genannt: • Generierung "zufälliger" Aufgaben eines

bestimmten Typs. • Protokollierung der Schüler-Aktivitäten,

nicht zur Überwachung oder Zensur, son-dern, um typische Fehler erkennen und besprechen zu können.

• Möglichkeit, nicht nur Terme, sondern auch Gleichungen und Ungleichungen eingeben zu können.

• Ausgabe des eingegebenen Terms in Baumform.

Am einfachsten wird der letzte Wunsch zu er-füllen sein, da der Term im Speicher bereits durch eine Baumstruktur repräsentiert wird. Der Autor wird im Internet [4] über die weite-re Entwicklung des Formel-Applets informie-ren. Bereits jetzt steht ein Archiv mit allen Beispielen des Sektionsvortrags und den drei Applets zur Verfügung. Ausgabe- und Einga-be-Applet sind mit "jedem" Java (getestet mit der alten Version 1.1.8) lauffähig, das Editor-Applet benötigt ein "neues" Java (ab Version 1.4.0). Das Editor-Applet besitzt allerdings eingeschränkte Funktionalität, da eine kom-merzielle Nutzung in einem späteren Ent-wicklungsstadium nicht ausgeschlossen ist. [email protected]

Literatur Lippert, Gerhard & Wolfram Thom (Hrsg.) (1999):

Freies Arbeiten am Gymnasium, Band 2, Aka-demiebericht Nr. 330. Dillingen: Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung

Internet [1] Meybohm's HTML-Editor Phase 52 (FreeWare)

www.meybohm.de [2] Anleitung zur eigenen Gestaltung von HTML-Seiten: "SELFHTML" von Stefan Münz

selfhtml.teamone.de [3] Java-Plugin von SUN:

java.sun.com [4] Testversion des Formel-Applets, alle Beispiele des Sektionsvortrags, Info über Fortentwicklung:

www.fuemo.de/formelapplet

218

Notebook-Klassen am Gymnasium Veitshöchheim (Bayern)

Organisatorisches; Administra-tions- und Wartungskonzept Im Schuljahr 2001/2002 begann am Gymna-sium Veitshöchheim eine 7. Jahrgangsstufe als Notebook-Klasse. Die Entscheidung, ob ein Schüler in diese Klasse geht, wird zum Halbjahr von Klasse 6 von den Eltern (in Ab-sprache mit ihren Kindern) getroffen. Da sich der Einstieg in Klasse 7 bewährte, behalten wir diesen Modus in den folgenden Jahren bei. Wenn sich mehr als 30 Schüler für die Notebook-Klasse melden, wird eine Wartelis-te gebildet und gegebenenfalls gelost (dies war für die dritte Notebook-Klasse, die im Herbst 2003 begann, erstmals nötig). In der Entscheidungsfindung finden jedoch viele of-fizielle und inoffizielle Einzelgespräche mit Eltern und Schülern statt; so kann man bei-spielsweise sehr chaotischen oder schwa-chen Schülern abraten, die Notebook-Klasse zu wählen, da der Mehrwert zwar ohne Zwei-fel da ist, jedoch im ersten Halbjahr der 7.

Jahrgangsstufe erst einmal eine Mehrbelas-tung eintritt. Manchmal zögern Mütter von Mädchen, ob Arbeiten mit dem Computer nicht eher etwas für Jungs sei; hier gilt es diese zu ermuntern, den Mädchen eine Chance zu geben. Unsere Erfahrungen in den ersten drei Notebook-Generationen zei-gen, dass die Jungen oft ihre Kenntnisse überschätzen, zwar mehr Erfahrungen mit dem Computer als Spielzeug haben, aber im Allgemeinen im Laufe der 7. Jahrgangsstufe von den Mädchen überholt werden. In den ersten beiden Notebook-Jahren be-stand noch viel Diskussionsbedarf bezüglich Finanzierung, Maximalkosten für das Gerät, Einsparen von 50€ durch eine externe statt einer integrierten Netzkarte (was noch immer immens hohe Wartungsstunden nach sich zieht, die extern nicht bezahlbar sind und somit schulintern geschultert werden müs-sen); Kosten für Ersteinrichtung sowie War-tungs- und Administrationskonzept waren ein Tabu-Thema. Es war die Phase, die — trotz des KMS vom März 2000 zur Aufwertung der schulischen pädagogischen Systembetreu-ung zur Abgrenzung der Aufgaben von der technischen externen Administration — an fast allen Schulen Bayerns noch immer vor-

Mathematik in Notebook-Klassen der 7. und 8. Jahrgangsstufe

Claudia Hagan, Veitshöchheim

Zuerst stellte ich zusammen mit der Schülerin Theresa Herbert und dem Schüler Peter Keß (beide im Schuljahr 2003/04 in Klasse 8c) an Hand einer Powerpoint-Präsentation das Notebook-Projekt am Gymnasium Veitshöchheim vor. Es werden die Erfahrungen geschildert, die in der Organisation, Administration sowie im Fachunterricht Mathematik in den letzten Schuljahren in drei Notebook-Klassen gewonnen wurden. Auch wenn die technischen und organisatorischen Herausforderungen an das Projekt im Workshop 2002 in Soest von manchen Didaktikern als unwichtige "Nebenschauplätze" belächelt wurden, so zeigten aber bereits die diversen persönlichen Mailwechsel, Telefonate und Treffen mit Lehrern, Schulleitern, pädagogischen Systembetreuern und auch Sachauf-wandsträgern, dass genau diese oft viel stärker begrenzend wirken, als die methodisch-didaktischen Herausforderungen, an die man sich auch schrittweise und auf mehrere Schultern verteilt heran machen kann. Es sollte deshalb ein Workshop für die Leute "an der Front" werden. Als besondere Be-reicherung sahen wir es an, dass wir auch die Schülersicht bieten konnten. Spaß, Be-geisterung und Herausforderung sowie realistische Absteckung der Rahmenbedingungen als "Message" herüber zu bringen, war uns wichtig. In der Arbeitsgruppe sollte der Diskussion offener Fragen sowie die Lösung Probleme fachlicher, methodischer und didaktischer Art genug Raum geboten werden. Um unnötige Wiederholungen zu vermeiden, wird auf den Bericht (Soest 2002) einleitend verwiesen. Wo sinnvoll (z.B. beim Administrationskonzept), werden auch Erfahrungen dem Leser mitgegeben, die sich erst nach dem Workshop ergaben.

AG "Mathematik in Notebook-Klassen der 7. und 8. Jahrgangsstufe"

219

handen ist, nämlich: der pädagogische Sys-tembetreuer administriert das Netz bei zwei bis vier Entlastungsstunden nebenher in der Freizeit, in den Ferien … Hieraus resultiert die oft angetroffene Skepsis von Schulen, sich auf das Konzept der Notebook-Klassen einzulassen. In dieser Phase gab es oft ver-zagte Anfragen auf der bayerischen System-betreuerliste an mich (scherzhaft, "die unge-krönte Notebook-Klon-Königin" genannt) die ich dann so beantwortete, dass ich meine Telefonnummer durchgab; alles andere war zu heikel, das technische Außenherum galt als Tabu. Solche Aspekte zu thematisieren, hätte das Projekt nicht nur für uns, sondern auch für andere sterben lassen. In nahezu allen Vorträgen, Fortbildungen, In-terviews rund um Notebook-Klassen im Zeit-raum Herbst 2001 bis Herbst 2003 wurde ich gefragt: "Würden Sie sich nochmals auf das Notebook-Projekt einlassen, wenn Sie schon wüssten, was auf Sie zukommt?" Meine Ant-wort war immer: "Fragen Sie mich als Ma-thematiklehrerin oder als schulische System-betreuerin?" Je nach Publikum war die Inten-tion der Frage eine andere; da im Workshop beide Fragen interessierten, gehe ich hier auf beide ein. Als Mathematiklehrerin bin ich fasziniert von den Möglichkeiten, die mir das Unterrichten am Notebook bietet. Ich kann es mir nicht mehr vorstellen, ganz ohne Notebook in den Klassen 7 bis 9 zu unterrichten. Hier kann ich ergänzend anbringen — das späte Einrei-chen dieses Berichtes hat also auch positive Aspekte — dass ich im Schuljahr 2004/05 erstmals seit drei Jahren in Mathematik auch in einer einer Nicht-Notebook-Klasse (Stufe 11) eingesetzt wurde. In Klasse 11 wieder-holt man in Bayern zwei Monate lang den Stoff aus der gesamten Mittelstufe (angerei-chert um einige weitere Aspekte). Es waren keine zwei Unterrichtsstunden vorbei, als ich schon merkte: mir fehlt etwas. Schnell 'mal eine alte Datei herholen, geschwind eine Vi-sualisierung durchführen — dies alles war nicht möglich. Ein in drei Jahren als essen-tiell wahrgenommenes Werkzeug fehlte. Von einem mir sehr lieb gewonnenen Kollegen und langjährigen Freund wurde ich belächelt: "Hast du in drei Jahren verlernt, ohne Note-book Mathe zu unterrichten?". Es lässt sich schwer in Worte fassen. Verlernt ist sicher das falsche Wort, es ist wie beim Abfassen dieses Berichts gerade im Urlaub auf dem Campingplatz, wo der Fortschritt durch das Laden des Notebooks im Waschmaschinen-zimmer bestimmt wird, wenn diese Steckdo-se gerade frei ist, oder das Salz für das Ab-kochen der Nudeln fehlt; — vertraute Werk-

zeuge sind plötzlich weg, und man muss ei-nen Mehraufwand betreiben, um simpelste Aufgaben zu erledigen, oder man muss ein-fache Dinge vorneweg planen, die sonst ne-benher und spontan erfolgen können. Hier lässt sich ergänzend sagen, dass wir — ge-sponsert durch Casio — mit dem Classpad 300 eine gewisse Spontaneität in Klasse 11 zurück gewinnen konnten. Nun zur zweiten Antwort, als Systembetreu-ung: Ich habe erwartet, dass es unter den Rahmenbedingungen schwierig wird, Note-book-Klassen zu implementieren, und habe mich in der Anfangsphase massiv gegen das Projekt gewehrt; nun sind wir erfolgreich ge-nug, dass wir halbwegs adäquate Rahmen-bedingungen sowohl beim Sachaufwands-träger als auch bei den Eltern als Auflage machen können. Ich empfehle allen schuli-schen Systembetreuern, deren Schulen sich auf ein derartiges Projekt einlassen, selbst-bewusster aufzutreten sowohl bei den Eltern, als auch bei der Schulleitung, so dass von Anfang an gemeinsam an optimierten Rah-menbedingungen gearbeitet wird. In Kurzfassung unsere Notebook-Beschaf-fung sowie das Administrations- und War-tungskonzept (ergänzt um einige Punkte, die bis zum Verfassen des Artikels 2005 hinzu-kamen): Der Sachaufwandsträger finanziert bei nun zwei Computerräumen, vielen verstreuten Rechnern im Haus und vier (in der Planung ist gerade die fünfte) Notebook-Klassen 25 Stunden im Monat externe Netzadministrati-on. Die Eltern bezahlen für die Ersteinrich-tung der Geräte 80€ und monatlich 10€ für die Wartung. Bei uns ist inzwischen die posi-tive Situation eingetreten, dass beide Verträ-ge in einer Hand sind. Wichtig bei Notebook-Klassen ist die schnelle Reaktion; wenn der Drucker oder der Beamer im Notebook-Zim-mer nicht funktioniert, muss innerhalb von ein paar Tagen reagiert werden; Dasselbe gilt bei "zerschossenen" Notebooks oder Hard-ware-Defekten. Bei der Auswahl der Notebooks sollten Mar-kengeräte aus der Business-Class gewählt werden. Es ist eine ganz andere Situation, ob ein Notebook vormittags 6 Stunden und nachmittags noch einmal mindestens 2 Stun-den läuft, oder ob es ein Gerät ist, mit dem gelegentlich, wenn man unterwegs ist, gear-beitet wird. Wir lassen uns zwei bis drei Testgeräte vorab kommen und prüfen auf Stabilität, Klonbarkeit … Inzwischen können wir den Eltern optional ein teures und ein günstigeres Modell anbieten. Dies bedeutet aber administrativ keinen Mehraufwand, da

Claudia Hagan

220

nur ein Master-Notebook aufzusetzen ist. Dies wirkt sich durchwegs positiv auf das ge-samte Klima aus. Nun, wo Arbeitszeit etwas zählt, da ja die Kosten für die Ersteinrichtung und die Wartung auf die Eltern umgelegt werden, entfallen viele Diskussionen. Bei wachsender Zahl von Notebook-Klassen fällt für die pädagogische Systembetreuung wesentlich mehr Betreuungsaufwand an für die Schüler (und deren Notebooks), für El-terngespräche und für die Kollegen, die aktiv in den Notebook-Klassen arbeiten. Die For-derungen in einem jungen Kollegium an die Verfügbarkeit der Rechner und des Netzes wächst rapide an. Klassenarbeiten am Note-book bedeuten, dass das Netz stabil laufen muss, dass Protokollierungstools aktiv sind, die notfalls ausgewertet werden können. Wichtig ist es, dass die Schüler schnell einen Ansprechpartner haben, wenn ein Hardware- oder Software-Defekt auftritt; oft können sie das Problem auch nicht eingrenzen. Eine wesentliche Säule des Wartungskonzeptes ist, dass ich feste Admin-Sprechzeiten im Ad-min-Zimmer habe, jeden Tag in einer Pause oder in einer Mittagspause. Hier werden Feh-lerbeschreibungen entgegen genommen, entschieden, ob ein Pickup eingeleitet wird, die E-Mail gemeinsam verfasst, Seriennum-mer, Kontaktdaten überprüft und übermittelt (hier wäre eine aktuelle Datenbank — online verwaltet — sicher effektiver, soweit sind wir aber bis heute noch nicht). Wenn ich einen Software-Fehler vermute oder unsicher bin, wird nach Eintrag der Fehlerbeschreibung in die Datenbank entschieden, welche Priorität der Vorfall hat (z.B. steht eine Prüfung am Notebook an), sowie der Terminkalender für den externen Admin geführt und entschie-den, wann das Notebook da bleibt. Auch die Anfragen für die zweckgebundenen Admi-nistrationsrechte (im Allgemeinen haben die Schüler in unserem Netz nur Benutzerrechte — auch hier so kommunziert, dass sonst der Wartungsetat nicht ausreichen würde) um beispielsweise daheim einen Drucker oder Scanner zu installieren, laufen im Rahmen dieser Sprechzeiten. Jetzt im Jahr 2005 — rückblickend auf 5 Jah-re Systembetreuung — kann ich ergänzend sagen, dass mein Aufgabenspektrum als pä-dagogische Systembetreuung sich massiv gewandelt hat. Bei mehr Notebook-Klassen fällt immer mehr organisatorische und koor-dinierende Arbeit an. Infolge der Unterstüt-zung seitens des Sachaufwandsträgers im technischen Bereich fordert dieser bessere Dokumentation im Hardware- und im Soft-warebereich. Hier ist viel aus der "Wald-und-

Wiesen-Admin-Ära" nachzureichen und in professionelle Strukturen zu bringen. Meis-tens ist es — um mit den vorhandenen Res-sourcen für den externen Admin auszukom-men — nötig, dass ich während der Admin-Termine kleinere Arbeiten übernehme oder, wenn ein schulischer Paralleltermin vorliegt, ich diese Termine zumindest gut vorbereite, z.B. durch genauere Fehlerbeschreibung, als die Schüler oder Kollegen diese liefern … Das Notebook wird im Alltagsunterricht, nicht nur für spezielle Projektstunden verwendet; — hier liegt wohl ein wesentlicher Unter-schied zum sonst üblichen Computereinsatz in Schulen. Es darf (Pilotstatus) das Note-book in Klassenarbeiten genutzt werden, wodurch weitaus mehr Anforderungen an das Schulnetz und an die Verfügbarkeit der Geräte gestellt werden.

Mathematikunterricht am Notebook Die Begeisterung von Theresa und Peter beim Vortrag über den Mathematikunterricht in ihrem zweiten Notebook-Jahr steckte auch die Teilnehmer an. Der Mehrwert des "Pro-jektes" erklärte sich allein schon durch die Lebhaftigkeit der Schüler in ihrer Präsentati-on. Theresa ist eine engagierte Schülerin, die mit Spaß in Mathe dabei ist, der aber das Fach keineswegs leicht fällt; sie braucht viel Übung, manchmal verzweifelte sie fast, wenn sie nicht auf das angegebene Ergebnis bei Aufgaben kam. Mit Begeisterung erzählte sie, wie positiv sie in Algebra in der 7. Jahrgangstufe die Se-quenz am Ende des Schuljahres fand. Wir wiederholten Ausmultiplizieren von Summen, Binome, Faktorisieren von Termen. Parallel übten wir den Umgang mit Derive, kontrollier-ten unsere Ergebnisse, lernten Methoden kennen, wie wir bei langen Aufgaben schritt-weise mittels Derive unsere Rechenfehler lo-kalisieren können. Anschließend folgten Übungsphasen in Freiarbeit. Theresa war davon begeistert, dass sie in ihrem Tempo arbeiten konnte, dass sie, wenn sie ihren Rechenfehler nicht auf dem Papier finden konnte, mit Hilfe von Derive diesen lokalisier-te und zwar sofort, im Unterricht oder bei den Hausaufgaben. Emotional gab ihr dies plötz-lich Sicherheit, sie stand nicht mehr da "ich habe die ganze Aufgabe nicht gekonnt", son-dern sagte "ich habe einen einzigen Vorzei-chenfehler gehabt; als ich den schließlich ge-funden habe, konnte ich die Aufgabe ganz prima lösen. Schrittweise konnte ich aus meinen Fehlern lernen."

AG "Mathematik in Notebook-Klassen der 7. und 8. Jahrgangsstufe"

221

Begeistert waren sowohl Peter, als auch Theresa, als sie über die Unterrichtseinheit "Lösen von Gleichungen und Ungleichungen" mittels Derive berichteten. Hier haben wir zum einen Derive als Ergebniskontrolle im Rahmen von EVA (eigenverantwortlichem Arbeiten) genutzt, zum anderen haben wir die Äquivalenzumformungen, die auf dem Papier gemacht wurden, in Derive nachge-bildet. Wir zeigten typische Fehler von Schü-lern, die beispielsweise auf dem Papier rech-neten: 5x=49, nun ziehe ich 5 auf beiden Sei-ten ab und erhalte x=44. In Derive sah das dann so aus: #1: 5x=49 #2: #1-5 (eingegeben) liefert (5x=49)-5 #3: 5x-5=44 (nach Vereinfachung) Theresa musste beim Testlauf des Vortrags (beim Vortrag war sie leider etwas stiller) la-chen, als sie sich an die Gesichter der Mit-schüler bei der Verkomplizierung der Glei-chung erinnerte. Sie fragte sich, wie Schüler ohne diese direkte Rückmeldung durch das Notebook überhaupt ordentlich begreifen können, was Äquivalenzumformungen sind. Aus Lehrersicht kann ich bestätigen, dass diese Klasse auch in der Klassenarbeit, — in der dieser Teil völlig klassisch geprüft wurde, durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema besser abschnitt als frühere Klassen. Es wurden zwar Rechenfehler ge-macht, aber die typischen Fehler: statt zu di-vidieren zu subtrahieren, etc.; traten über-haupt nicht auf. Hier muss ich allerdings er-gänzend erwähnen, dass in der Folgeklasse eine ganz andere Haltung herrschte: die Schüler nutzten die Möglichkeit des Rech-ners fast ausschließlich, um sich die gesam-ten Hausaufgaben zu sparen und trotzdem bei der Hausaufgabenkontrolle das richtige Ergebnis vorlesen zu können. In dem Zu-sammenhang sollte auch gleich erwähnt werden, dass in Lerngruppen mit geringer in-trinsischen Motivation das Notebook die Ge-fahr erhöht, dass die Schüler noch weniger arbeiten: Man muss ja die Hausaufgaben noch nicht einmal bloß abschreiben; man kann sie sich gleich über den Austausch-Ordner kopieren. Begeistert hat die Schüler auch, dass in der Stegreifaufgabe über das Lösen von Text-aufgaben mittels Gleichungen/Ungleichun-gen (vom Typ: Vergrößert man die Breite ei-nes Rechtecks um 3 cm und verringert die Länge um 7 cm, so verringert sich der Flä-cheninhalt um 40 cm2) am Ende von Klasse 7 das Notebook fakultativ verwendet werden durfte. Im ersten Lernjahr mit dem Notebook

war immer genau vorgeschrieben gewesen, welches Programm bei welcher Aufgabe verwendet werden durfte; jetzt bestand erst-mals die Situation, dass die Schüler frei ent-scheiden konnten, ob und welches Werk-zeugs sie nutzen. Einige Schüler versuchten, das Problem empirisch mittels Excel zu lö-sen, andere kontrollierten ihren Ansatz mit-tels Derive und stellten fest, dass ihre Lö-sung nie und nimmer stimmen kann, weil sich eine negative Seitenlänge ergeben hat-te. Einige berichteten hinterher, dass sie da-durch noch schnell einen Fehler entdeckt haben und auf Knopfdruck das Ergebnis er-hielten. Eine Lösung bestand sogar in einer dynamischen Konstruktion in DynaGeo, bei der auch noch mit Termobjekten gearbeitet wurde. Da der Lösungsweg nicht vorge-schrieben war, wurden natürlich alle Lösun-gen, wenn sie richtig waren, gewertet. Es bleibt zu bemerken, dass die leistungsstärke-ren Schüler bei dieser Aufgabe sich gar nicht die Mühe machten, ihr Notebook zu nutzen, denn die Aufgabe lässt sich ja auf dem Pa-pier zügig lösen. Später habe ich derartige Aufgaben modifiziert in die Richtung "um wie viel, kann sich der Flächeninhalt maximal ändern, so dass noch eine sinnvolle Lösung möglich ist". In Geometrie ist im derzeitig gültigen Lehr-plan neben dem Entdecken vieler Gesetz-mäßigkeit ein wesentliches Lernziel das Konstruieren, d.h. das handwerkliche Umge-hen mit Zirkel und Lineal. Hier geht es so-wohl um den Konstruktionsbegriff im Sinne der alten Geometer als auch um die hand-werkliche Praxis. Hier wurde mein Unterricht natürlich stark davon beeinflusst, was ich im Workshop in Soest 2002 an Kritik aufnahm, im Laufe des Abends verarbeitete und verin-nerlichen konnte (auf den damaligen Projekt-bericht wird verwiesen). Wir thematisierten im Unterricht den Kon-struktionsbegriff und erweiterten diesen auf den dynamischen Konstruktionsbegriff. Es gab hierzu Aufgaben vom Typ "Ist dies eine Konstruktion im Sinne der alten Geometer?" D.h. ist auf dem Papier alles mit Zirkel und Lineal konstruiert? Bzw.: Handelt es sich in DynaGeo um eine Konstruktion ohne Ver-wendung von Makros? "Ist dies eine dynami-sche Konstruktion?" Dies bedeutet, dass an Hand von Dateien untersucht werden muss, ob die Konstruktion zugfest ist (dies kann in DynaGeo sowohl durch Lesen des Konstruk-tionstextes, als auch durch Ziehen an freien Punkten geschehen). Hierzu sind im Anhang eine Stegreifaufgabe zum Thema Erweiterter Konstruktionsbegriff sowie zwei Dateien, die

Claudia Hagan

222

eine richtige Schülerlösung darstellen, zu fin-den. Sobald das Thema Konstruktionsbegriff — mit dem wir uns meiner Meinung nach inten-siver als eine konventionelle Klasse ausei-nandersetzten — "durch war", orientierten wir uns dann an dem Leitspruch "es wäre den Preis für ein Notebook nicht wert, würden wir die mächtigen Methoden, die uns dieses Werkzeug bietet, nicht nutzen und stattdes-sen in einsamen, langweiligen Konstruktio-nen versumpfen." (Zitat von Peter Keß in Ab-wandlung anderer Zitate). Natürlich übten wir hin und wieder elementare Konstruktionen auf dem Papier. Theresa, die inzwischen durch die Wahl des nicht-mathematischen Zweiges in Mathema-tik in einer Nicht-Notebook-Umgebung ge-landet ist, kann jetzt (Frühling 2005) rückbli-ckend die Frage "Was passiert mit einem Schüler, der später in eine traditionelle Klas-se wechselt?", die wir uns im Workshop stell-ten, beantworten. Sie meint, dass sie bei Konstruktionen auf dem Papier keinerlei Pro-bleme hat; sie nimmt es mit jedem "Papieri" auf, — zumal ab der 9. Klasse sowieso we-niger konstruiert wird und zum anderen im-mer das Geodreieck als "Makro" benutzt werden kann. Ferner glaubt sie, dass die Be-trachtungsweise von Mathematik auf ver-schiedenen Ebenen ihr auch jetzt noch — auch wenn ohne Notebook gearbeitet wird — zum Vorteil gereicht. Die Techniken kennt sie, und sie nutzt bei Übungen auch jetzt noch DynaGeo, Derive und vertieft so ihre Kenntnisse. Einer unserer weiteren Leitsprüche ist "wir sind halt dynamisch", manches können wir besser als die "Papieris". Der gesamte Geo-metrieunterricht der 7. Klasse fand bis auf die Anfangsphase am Notebook statt. Besonders hilfreich für uns waren die Materialen von Jürgen Roth von der Uni Würzburg, der seine Dissertation über bewegliches Denken schreibt. Wir durften als Pioniere seine Mate-rialien erproben. Auf Lehrerebene gab es für die Testgruppe mehrere Treffen mit einer vertieften Erklärung seiner Materialien. Die besten dieser Materialien sind jetzt auf der Didaktikseite der Uni Würzburg erhältlich. Bis heute herrscht bei uns in der Schule die Meinung, dass das Abprüfen dynamischer Aufgaben am Notebook wesentlich einfacher ist als das Abprüfen derartiger Aufgaben oh-ne Notebook, wo die Dynamik vor dem "geis-tigen Auge" ablaufen muss. Hieraus resultiert meine hin und wieder gemachte Aussage "man kann nicht klassisch prüfen, wenn man mit modernen Medien unterrichtet". Nun im

Jahr 2005 möchte ich diese Aussage relati-vieren; — der Mehrwert durch die dynami-sche Betrachtung ist trotzdem da; nur die Art der Prüfung muss dann auf einem anderen Level als in einer Notebook-Klasse erfolgen. Peter berichtete im Workshop wie wir uns in die schiefe Achsenspiegelung "verliebten", zu der wir einiges an Materialien von Herrn Roth zur Verfügung hatten. Über Wochen waren wir vierstündig dabei, hier neue Er-kenntnisse zu gewinnen. Dazu löcherten wir Herrn Roth einige Male mit Fragen. Beson-ders faszinierte uns, dass die Dreiecke nach der schiefen Achsenspiegelung am Notebook deckungsgleich waren, sie wurden so kon-struiert, dass sie zur Deckung kamen. Auf dem Papier hingegen würden sie nie zur De-ckung kommen. Hierauf mussten wir im Lau-fe des Schuljahres mehrmals zurückkom-men, immer wieder den Begriff Kongruenz-abbildung hinterfragen, der doch im Buch von deckungsgleichen Dreiecken ausging. Die "normalen" Kongruenzabbildungen wie Achsenspiegelung, Punktspiegelung, Dre-hung und Verschiebung nahmen wir dann als besonderen Spezialfall wahr. Bei der Darstel-lung dieses Themas schwappte die Begeiste-rung auf die Teilnehmer des Workshops über, und alle waren an Notebook-Klassen interessiert. Natürlich arbeiten wir in Notebook-Klassen auch mit den dynamischen Arbeitsblättern von Elschenbroich oder aus dem Internet; da dies jedoch eine Arbeitsform ist, die auch in Nicht-Notebook-Klassen genutzt wird, sind wir im Vortrag hierauf nicht weiter eingegan-gen. Dass der Austeil- und Einsammelvor-gang; das Verteilen einzelner Musterlösun-gen in Notebook-Klassen einfacher als in konventionellen Klassen ist, liegt auf der Hand. Ein weiterer angesprochener Aspekt aus fachlicher Sicht sind Klassenarbeiten am No-tebook. Netzspezifische Aspekte sind wie oben erwähnt: Protokollierungssoftware, um eventuellem Unterschleif nachzugehen, so-wie stabiles Netz und Ersatzgeräte (letzteres inzwischen auch weitgehend ein Selbstläu-fer; die Schüler organisieren sich hier mit der darüber oder darunter liegenden Klasse ein Gerät, falls mehr als die drei verfügbaren Er-satzgeräte schon im Einsatz sind). Ein weiterer Punkt ist die rechtliche Situation. In Bayern sind CAS und DGS bis in die Oberstufe am Gymnasium tabu; unsere Schule ist eine Ausnahme, wir dürfen in der Mittelstufe (da gibt es reine Notebook-Klas-sen) am Notebook prüfen, sofern eine Gleichbehandlung mit Nicht-Notebook-Klas-

AG "Mathematik in Notebook-Klassen der 7. und 8. Jahrgangsstufe"

223

sen sicher gestellt ist. Wir versuchen dies durch die Aufgabenkultur sicherzustellen; wir wissen nicht, ob es schwerer oder leichter mit Notebook ist; — es ist einfach anders. Auch im Bereich der rechtlichen Begrenzung anzusiedeln ist der zeitliche Rahmen für Klassenarbeiten, in Bayern Schulaufgaben genannt. Laut GSO in Bayern sind für diese maximal 60 Minuten vorgesehen. Stellt man aber eine gemischte Arbeit (Papier, Note-book), so entsteht doppelter Einsammelvor-gang und mitunter doppelter Austeilvorgang. Mit einer Schulstunde und der vorangehen-den und anschließenden Pause ist es also nicht getan, es muss eine Doppelstunde or-ganisiert werden. Die Erfahrung zeigt, dass man für die Aufgaben am Notebook genug Zeit einplanen muss, da sie meist umfassen-der sind. Will man zudem noch den Repro-duktionsteil (stures Abarbeiten von Rech-nungen) adäquat auf dem Papier mit dabei haben, so kann man keine Klassenarbeit zu 30 Minuten basteln, dann wäre statt des "zeitlichen Ausreizens der GSO" die nicht gleichmäßige Verteilung auf die Lernzielebe-nen angreifbar. Als praktisch sinnvoll hat sich bewährt, nicht in einer Arbeit einen Austeil- und Einsammelvorgang digital belegbar zu haben; dies zu interpretieren ist Sache des Lesers. Für Lehrer muss erwähnt werden, dass das Korrigieren am Notebook zum einen einfa-cher ist (Konstruktionstext in DynaGeo; or-dentliche Zeichnung), zum anderen aber sich auch schwieriger gestaltet. Manchmal hält die Konzentration nicht durch, oder man ver-teilt die Korrektur einer Aufgabe auf zwei Ta-ge, und dann steht man vor der Situation "dieser Fehler ist mir doch schon einmal ge-gegnet; habe ich damals zwei oder drei Punkte gegeben?"; auf dem Papier blättere ich durch und sehe es auf einen Blick. Beim Korrigieren am Rechner kostet es Zeit, in die einzelnen Ordner zu schauen und die jewei-lige Datei zu öffnen. Als Lehrer sage ich, Kor-rigieren am Notebook ist interessanter, aber es ist zeitaufwändiger. Ein weiterer Aspekt ist — ich habe viel mit DynaGeo gearbeitet —, dass hin und wieder plötzlich eine Zeichnung, eine Konstruktion, ein Graph abhanden kommt. Manchmal liegt es am Benutzer (Zirkelbezüge, 15 Minuten lang nicht abgespeichert …), manchmal liegt es auch an irgendeiner Stelle im Programm. Hier habe ich Jürgen Elschenbroich schon öfters zu Rate gezogen und natürlich auch Rückmeldungen, wenn es DynaGeo betraf, an Roland Mechling gegeben und seinen Rat gesucht. Fast immer konnte es durch eine Begründung meinerseits (Logfiles), dass die

Aufgabe nie gespeichert wurde oder durch kulantes Verhalten (eine Aufgabe ähnlicher Art nachschreiben) gelöst werden. In dubio pro reo, der Schüler bekommt eine Chance. Abschließend bleibt zu bemerken, dass wir, wenngleich es ein harter Weg war, für uns persönlich durch das Projekt viel erreicht ha-ben (nicht nur in Mathematik sondern in allen Fächern). Wir hoffen auf die aktive Resonanz seitens KM und ISB in Bayern, so dass sich die gesamte Aufgaben- und Prüfungskultur in eine Richtung verändert, und wir im passen-den Augenblick unsere in Insellösungen er-worbenen Erfahrungen einfließen lassen können.

Anhang:

Stegreifaufgabe aus der Mathematik am 28. März 2003 Klasse 7c Vorarbeiten 1. Erstelle auf dem Desktop einen Ordner Nach-name, wobei Nachname durch deinen eigenen Nachnamen zu ersetzen ist. 2. Kopiere dir aus dem Ordner nb2_Prüfung den Ordner ex-m7-3-org und speichere diesen in Nachname. 3. Erstelle in Nachname einen Ordner ex-m7-3-lös. In diesen wirst du deine Lösungen speichern. 4. Speichere während der Arbeit regelmäßig. Für verloren gegangene Dateien bist du selbst verant-wortlich.

Aufgabe 1: a) Lade dir Datei aufgabe-1a.geo aus Nachna-me\ex-m7-3-org und speichere diese unter dem-selben Namen in Nachname\ex-m7-3-lös. Untersuche, ob die durchgeführte „Konstruktion“ dem Konstruktionsbegriff der alten Geometer standhalten würde! Begründe in einer Textbox oder auf dem Papier! b) Lade dir Datei aufgabe-1b.geo aus Nachna-me\ex-m7-3-org und speichere diese unter dem-selben Namen in Nachname\ex-m7-3-lös. Untersuche, ob die durchgeführte „Konstruktion“ dynamisch ist! Begründe in einer Textbox oder auf dem Papier!

Claudia Hagan

224

Aufgabe 2: Zeichne eine Strecke [AB] und konstruiere zu dieser die Mittelsenkrechte (in DynaGeo dyna-misch konstruiert). Speichere unter aufgabe-2.geo.

Aufgabe 3: Zeige an Hand einer Konstruktion (dabei sind Makros, Ortslinien etc erlaubt), dass bei einer „Klappung“ das Bild eines Kreises im allgemei-nen keinen Kreis ergibt. Hinweis: Wähle den Kreisradius der Originalfigur fest, z.B. 3 cm. Speichere unter aufgabe-3.geo.

Schülerlösung zu Aufg. 1a:

Schülerlösung zu Aufg. 1b:

225

* Teilnehmende der AG "DGS und Kommunikation" unter der Leitung von Reinhard Oldenburg: Astrid Beckmann, Hans-Jürgen Elschenbroich,

Thomas Gawlick, Gaby Heintz, Ingmar Lehmann, Roland Mechling, Heinz Schumann

1 Einleitung

Ausgangspunkt der Diskussionen waren die folgenden Leitfragen: • Wie können Schülerinnen DGS-Resultate

kommunizieren? • Wie kann DGS mit externen Programmen

kommunizieren? • Wie kann man Konstruktionen im Internet

publizieren und finden? • Wie kann man anhand von DGS-Resul-

taten kommunizieren?

2 Import — Export

Als Teil einer Computerumgebung, die neben einem DGS noch weitere Werkzeuge bereit hält und sich bis in die Weiten des Internet erstreckt, müssen Geometrieprogramme mit anderen Programmen kommunizieren kön-nen. Welche Arten der Kommunikation gibt es, welche sind wünschenswert und was versprechen wir uns von ihnen? Es bietet sich an, die Kommunikation nach ihrer Richtung zu klassifizieren:

Export Export nach Computeralgebrasystemen kann bedeuten, dass die Koordinaten als Listen, und die Objektrelationen in symbolischer Form übergeben werden. Dabei können die Gleichungen, die die Konstruktion bestim-men, explizit mit übergeben werden, oder man kann sie im CAS aus der symbolischen Beschreibung der Konstruktion rekonstruie-ren. In der Computeralgebra-Umgebung kön-nen dann die Hilfsmittel der algebraischen Geometrie für die weitere Untersuchung ver-

wendet werden. Unter Umständen bieten sich auch Mittel der Analysis an (Kurven). Ein Export der Konstruktion in symbolischer Form erlaubt z.B., mit Hilfe von Geometria die erstellte Konstruktion in Internetseiten oder Lernumgebungen einzubinden. Interessant wäre auch ein Export nach Ta-bellenkalkulationsprogrammen, um numeri-sche Analysen der Koordinaten z.B. von Ortslinien durchzuführen. Die klassische Exportform als Konstruktions-text wird allgemein als sehr wichtig beurteilt. Es wurde kontrovers diskutiert, ob eine alter-native Darstellung als Abhängigkeits-Baum sinnvoll ist. Beim Export ins WWW ist zu unterscheiden zwischen dem Export fertiger Konstruktionen (die aber nach Möglichkeit beweglich bleiben sollen) und dem Export von Beschreibungen eines Konstruktionsvorgangs, wie ihn die Weiterentwicklung Cinerella von Cinderella vorausichtlich bieten wird. Der Ansatz von Ci-nerella wurde als sehr interessant bewertet, da er eine DGS-Konstruktion als Prozess und nicht nur als Produkt erschließt.

Import Ein DGS sollte eine Konstruktion nicht nur nach Maus-Befehlen, sondern auch nach ei-ner sprachlichen Beschreibungsform ausfüh-ren können. Bei der Beschreibungssprache kann es sich um deutsche (Fach-)Sprache oder eine mehr computer-orientierte Mini-Programmiersprache handeln, wie dies bei Geolog der Fall ist. Der Import von Bildern ermöglicht, in diesen zu messen. Es kann die im Bild enthaltene Geometrie rekonstruiert werden. Beispiele sind die Untersuchung von Kirchenfenster oder Parabelbrücken.

DGS und Kommunikation *

Reinhard Oldenburg, Göttingen

Dynamische Geometrieprogramme sollten in vielfältiger Weise Kommunikation unterstüt-zen: Kommunikation zwischen Mensch und Mensch und Mensch, Mensch und Pro-gramm und Programm und Programm. Die Arbeitsgruppe hat einige der sich daraus er-gebenden Fragen diskutiert.

Reinhard Oldenburg

226

Eine Form des Imports stelle es auch dar, wenn ein DGS externe Algorithmen aufrufen kann. Dies ermöglich eine flexible Erweite-rung durch den Benutzer. Anwendungsgebie-te gibt es z.B. in der Simulation und der Vi-sualisierung. Die praktische Arbeit mit DGS wird durch Im-port-Funktionen für Konstruktionen anderer DGS erleichtert. Der schnelle Wechsel von einem DGS zum nächsten ist wünschens-wert, um die verschiedenen Zugstrategien und Methoden der Ortslinienberechnung ver-gleichen zu können.

3 Unterstützung menschli-cher Kommunikation

Einen gänzlich anderen Aspekt stellt die Un-terstützung der Mensch-Mensch-Kommuni-kation durch das DGS dar. Wenn Schüler mit einem DGS arbeiten, sollen sie miteinander kommunizieren, sie sollen ihre Ergebnisse und Probleme den Mitschülern und dem Leh-rer oder der Lehrerin darstellen. In der Diskussion wurde diese Arbeitssituati-on im Klassenraum intensiv diskutiert. Die Bedeutung von Vorwissen (z.B. um die mög-lichen Konfigurationen von Geraden in der Ebene) für den Lernprozess wurde beson-ders hervorgehoben. Schüler müssen lernen, Besonderheiten zu erkennen, um die Über-setzungsarbeit von der Beobachtung der Dy-namik zur Invarianz, also zum mathemati-schen Satz, leisten zu können. Um dies zu fördern, sollten schon die Ar-beitsaufträge Kommunikation anregen. Über

die genaue Form, wie dies geschehen kann, wurde keine Einigkeit erzielt. Es wurde aber als günstig beurteilt, Schülern als Startpunkt elektronische Arbeitsblätter zu geben. Aus solchen, teilweise geschlossenen Aufgaben-stellungen können nach aller Erfahrung auch offene Situationen entstehen. Dabei spielt die Kompetenz des Lehrers eine entscheidende Rolle ("farbenblinde Lehrer können nicht ent-scheiden, ob die Schülerinnen blaue oder graue Blumen gefunden haben"). Für diesen (oder diese) stellt sich aber das Problem, möglichst schnell zu erkennen, was die SchülerInnen gemacht haben. Dazu brau-chen diese gute Dokumentationswerkzeuge. Die vom System generierte Konstruktionsbe-schreibung und insbesondere die Funktion der Rückblende stellen eine wichtige Hilfe dar. Zur Dokumentation wurde vorgeschlagen, den Konstruktionstext mit eigenen Bemer-kungen erläutern zu können. Hilfreich ist auch eine Anzeige der Eltern von Objekten. Es gibt eine Parallelität zu Tabellenkalkula-tionsprogrammen, wo der Anblick des Tabel-lenblattes ebenso viele Informationen im Ver-borgenen lässt wie ein DGS. Bei Tabellen-kalkulationen gibt es aber in der Regel die Option, die Verlinkung der Zellen graphisch anzuzeigen. Ähnliches sollte es auch bei DGS geben. Die Aufzeichnung von Konstruktionen, wie sie Cinerella bietet, ist nur für die Dokumen-tation des Arbeitsergebnisses interessant. Dort allerdings öffnet sie neue Möglichkeiten. Interessant ist sie aber ohne Zweifel ebenso wie die Protokollfunktion mit Zeitfenstern (Cabri II+) für die didaktische Forschung.

227

* Teilnehmende der AG "Didaktische Konzepte von e-Learning-Plattformen" unter der Leitung von Mutfried Hartmann: Heiko Baumann, Christine

Bescherer, Wolfgang Fricke, Gerald Hoja, Karl-Heinz Keunecke, Thomas Schödel, Christina Völkl, Wolfgang Weigel, Bert Xylander, Siegfried Zseby

1 Ausgangssituation Zunächst stellt sich die Frage, welche didak-tischen Konzepte hinter e-Learning-Plattfor-men überhaupt stehen. Infolge der unter-schiedlichen Erfahrungen der Teilnehmer in der Arbeitsgruppe hinsichtlich der Einsatzfor-men von e-Learning im Alltag wurden die un-terschiedlichen Vorstellungen deutlich. Eine Klärung der Begriffe schien demnach äußerst grundlegend: Was versteht man unter e-Learning, online oder offline Lernen, Platt-formen, etc.? — Durch die Diskussion der genannten Begriffe konnte eine gemeinsame Basis geschaffen werden, die für denweite-ren Verlauf erforderlich war. Anhand der Darstellung von vier Praxis-Bei-spielen wurden die unterschiedlichen Aus-gangssituationen der Teilnehmer deutlich.

2 Vorstellen von Beispielen und Zusammentragen didaktischer Aspekte

Die große Bandbreite von e-Learning wurde zunächst durch die Darstellung der vier un-terschiedlichen Betrachtungen von e-Lear-ning-Plattformen und den dahinterstehenden didaktischen Konzepten deutlich:

2.1 MaDiN MaDiN (Mathematikdidaktik im Netz) ist eine Informationsumgebung der Universität Müns-ter und dreier weiterer Universitäten für Do-zenten, die Inhalte der Plattform zur Darstel-lung während der Vorlesung nutzen wollen. Die Navigation von MaDin besteht aus einer so genannten Baumstruktur auf der linken Seite der Benutzeroberfläche, welche die In-halte in die verschiedenen Kapitel gliedert. Wählt man hier ein Kapitel aus, erscheint in

der Mitte der Benutzeroberfläche ein weite-res Navigationstool, das grafisch einer Schreibtisch-Oberfläche gleicht und die Be-nutzer durch den Inhalt eines Kapitels führt (z.B. Theorie, Übungen, Beispiele, etc.). Beispielsweise können Skizzen, Lehrbuch-seiten, Pop-up-Ikonogramme, interaktive Cin-derella-Animationen und ähnliches in der Vorlesung eingesetzt werden. Die Kerninhalte finden sich bei MaDiN in der "Theorie-Schublade": Diese werden vor al-lem als Kurztexte mit Bildern; Applets, Flashs, etc. angeboten, die auch zum Druck für die Anwender aufbereitet werden können (vgl. auch die Beiträge von Wittmann und Weth in diesem Tagungsband). MaDiN verfügt außerdem über eine "History", zu Deutsch "Lernpfad-Verfolgung", einen Navigations-Baum, einen "Recorder" zum Aufzeichnen bestimmter Wege durch das System, und weitere Features, die hier nicht im Detail aufgezählt werden sollen. Für einige Anwendungen die in MaDiN inte-griert sind, gibt es bereits perfekte Systeme. Zum Beispiel ist das "Nachvollziehen von Vorgängen" im Recorder bereits in entspre-chenden Systemen als Lernvorschlag fest in-tegriert. (http://www.visum.ewf.uni-erlangen.de/)

2.2 Vernetztes Studium — Chemie (VSC)

Nach der Vorstellung von MaDiN durch M. Hartmann lieferte B. Xylander mit einem Selbstlernmodul aus den Materialien des BMBF-Projektes Vernetztes Studium — Che-mie (VSC) ein Beispiel für ein Web-Based-Training (WBT, online) bzw. Computer-Based-Training (CBT, offline). Beim VSC handelt es sich um Vorlesungen und Semi-nare begleitende, multimediale Lehrmateria-

Didaktische Konzepte von e-Learning-Plattformen *

Christina Völkl, Würzburg

Die Arbeitsgruppe ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht eine optimale e-Lear-ning-Plattform für ein optimales didaktisches Konzept gibt. Vielmehr muss die e-Lear-ning-Plattform in der Lage sein, unterschiedliche didaktische Konzepte, abhängig von un-terschiedlichen Zielgruppen und Lernsituationen, technisch abzubilden.

Christina Völkl

228

lien für Studierende der Fachrichtung Che-mie mit Aufgaben und Lösungen. Zentraler Gedanke bei der Erstellung der Lehrmaterialien ist die inhaltliche, mediale und didaktische Neustrukturierung bei der Umsetzung der Lehrinhalte von herkömmli-chen Medien (Tafel, Lehrbücher) auf das neue Medium Computer und Internet. Ange-strebt wird eine ausgewogene Mischung aus instruktiven und aktiven Elementen. Die Lehrmaterialien werden in einer e-Learning-Plattform präsentiert, die in ihrer Funktionali-tät eine gewohnte Arbeitsumgebung beim Lernen nachvollziehen soll. Dazu gehören Notizblock, Textmarker, Periodensystem, Suchfunktionen etc. (http://www.vs-c.de)

2.3 Interwise Ein Beispiel für synchrones e-Learning mit Hilfe der Software "Interwise” führte K.-H. Keunecke anhand des bereits aktiv einge-setzten Workshops "Mathematik mit DERI-VE 5" vor. Der Workshop ist eine Echtzeit-Online-Fort-bildung, an dem sich bis zu 15 Teilnehmer anmelden können. Dabei besteht eine Au-dioverbindung zwischen den Teilnehmern, und außerdem können Bildschirminhalte z.B. des Tutors allen sichtbar gemacht werden. Ziel ist es, Lehrkräften vorzuführen, wie neue Technologie (CAS, DGS, Handheld-Geräte mit CAS) in den Mathematikunterricht inte-griert werden können. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen erhalten Arbeitsunterlagen, die sie direkt in ihrem Unterricht einsetzen können. Die Idee zu dieser Fortbildung ist entstanden, weil einerseits der Bedarf an Fortbildungen so groß wie nie zuvor ist und andererseits die Teilnahme an Präsenzver-anstaltungen während der Schulzeit immer weniger zugelassen wird. Die bisherigen 40 Veranstaltungen in den letzten zwei Jahren sind in den Abendstunden ab 19 Uhr durch-geführt worden. Da die Teilnahme freiwillig ist, loggen sich die Lehrkräfte nur ein, wenn sie sich davon einen Nutzen versprechen. Steigende Teilnehmerzahlen zeigen, dass hier ein Weg gefunden wurde, um Lehrkräfte bei der Einführung neuer Technologie in der Schule zu unterstützen. Es zeigte sich auch, dass die Lehrkräfte dieses Forum intensiv nutzten, um sich mit anderen auszutauschen, die sich in ähnlichen Unterrichtssituationen befanden. Problematisch schien den Teil-nehmern der Arbeitsgruppe in diesem Zu-sammenhang, dass unter den Teilnehmern des Kurses weitgehend dasselbe Arbeits-

tempo vorausgesetzt werden muss, da sonst Leerlauf während der Lernphasen entsteht. Mit dem Argument, dass beim e-Learning der User selbst wählt, wann, wo und wie er lernt, begründeten einige Teilnehmer, dass der Be-griff e-Learning bei dieser Art von Workshop nicht treffend ist. Auf der anderen Seite stand der Aspekt, dass synchrones e-Learning ein Teilaspekt von e-Learning ist. Wieder wurden die unterschiedlichen Auffassungen deutlich.

2.4 weLearn Die inhaltsoffene Plattform "weLearn" der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt, vor-gestellt von C. Völkl, ist ein erweitertes Con-tent-Management-System, in das die ver-schiedenen Inhalte der Professoren und Do-zenten eingepflegt werden können. Die Errichtung dieser e-Learning-, Kommuni-kations- und Informations-Plattform für die Studiengänge Informatik, Wirtschaftsinforma-tik und des Master-Studiengangs "Organiza-tional Development with IT" der Fachhoch-schule Würzburg-Schweinfurt ist ein Projekt des gemeinsamen Programms von Bund und Ländern zur Förderung der Weiterentwick-lung von Hochschulen und Wissenschaft. Zielgruppe sind die Studierenden der ge-nannten Studiengänge. Die vorlesungsbe-gleitende Lernumgebung bietet die Möglich-keit, bereits strukturierte Lehrmaterialien in Standardformaten (doc, ppt, html, xsl, xml, etc.) und interaktive Videosequenzen einzu-binden. Überprüfungsmöglichkeiten, Tests (z.B. interaktive Fragebögen, Lernkontroll-Steps) sind integrierbar. Weiterhin stehen den Nutzern synchrone und asynchrone Kommunikationsmöglichkeiten wie Foren und Chats zur Verfügung. Innerhalb eines kolla-borativen Moduls können Arbeitsgruppen ab-gebildet werden, die eigene Foren und Datei-archive verwalten. Mit Hilfe von Terminver-waltung und e-Mail-Push-Diensten wird die Unterstützung (nicht der Ersatz!) von größe-ren, regelmäßigen Veranstaltungen (z.B. im Grundstudium) gewährleistet. (http://www.welearn.de)

3 Eingrenzung Nach der Präsentation der Praxisbeispiele und der jeweiligen Diskussion zu den unter-schiedlichen e-Learning-Möglichkeiten konn-ten wir festhalten, dass die Arbeitsgruppe nicht eine Plattform mit einem idealen didak-tischen Konzept diskutieren kann, sondern zielgruppen- und lernsituationsabhängig vor-

AG "Didaktische Konzepte von e-Learning-Plattformen"

229

gehen muss. Aus diesem Grund entschieden wir uns, einen speziellen Fall zu formulieren. Unsere konkrete Situation stellte als Ziel-gruppe einen Studenten der Didaktik der Ma-thematik im Hauptseminar dar. Hauptsächlich anhand dieses Szenarios sammelten wir mittels Brainstorming so viele Beiträge wie möglich. Die Begriffssammlung umfasste die unter-schiedlichsten Punkte: - Unterstützung von Seminarbetrieb und

Gruppenbildung - Individuell versus kooperativ - Unterstützung aller Dateitypen - Dateisammlung (Up-/Download) - Neue Unterrichtskultur führt zu neuer Auf-

gabenkultur (neue Aufgabentypen) - Betriebssystem-unabhängig - Individuelle Anpassbarkeit der Oberfläche - Leichte Einstellung der Daten - Moderation - Motivationsdarstellung - (Virtuelle) Kommunikationsforen/Chat - Gleichzeitiger Zugriff von Allen auf Alles - Bewertung - FAQ - Volle didaktische Interaktivität - Offene Problemstellung - Lernzielkontrollen - User Tracking (Benutzerverfolgung) ->

Datenschutz?? - Hilfe-Stop-Touren / gestufte Hilfe / Hilfe-

apparat / Zeigefunktion - Reduzierte Präsenz - "History" / Lernpfad

- Multilingualität - Tiefenstruktur: vorhandene Thementiefe

muss darstellbar sein - Beteiligung der Studenten in der Aufga-

benstellung - Anpassbare Rechte- und Rollenstruktur

(Gruppenleiter etc.) - Nutzerfreundlichkeit Um eine bessere Basis und einen Leitfaden für eine konstruktive Diskussion zu schaffen entschieden wir uns für die Erstellung einer Mindmap, die die wesentlichen Punkte und aufkommenden Fragen unserer Schluss-Dis-kussion widerspiegelt: Was braucht man im ersten Schritt? Ist das didaktische Konzept oder die technische Grundlage in Form einer e-Learning-Platt-form im ersten Schritt wichtig? Was liefert uns beim e-Learning den wirkli-chen Mehrwert? Wie soll der Content sinnigerweise aufgebaut sein?

4 Ergebnis Die Mindmap (Abb. 1) ist das Ergebnis unse-rer Arbeitsgruppe: Daran werden die wesent-lichen Aspekte wie etwa Berücksichtigung technischer Gegebenheiten, zugrundegeleg-tes didaktisches Konzept, Motivationsele-mente usw. deutlich, die bei der Konzeptio-nierung von Lernplattformen von Bedeutung sind. Zugleich zeigt die Mindmap die Vielfalt von Parametern, die in der Planung einer Lernplattform Einfluss nehmen und in ihre Konstruktion eingehen.

Abb. 1

230

Tagungsprogramm Freitag, 26.09.2003

bis 13.30 Anreise — Mittagessen ist nur im Ort möglich!

14.00 Wilfried Herget & Thomas Weth Eröffnung, Einführung in das Tagungsthema

Hauptvortrag 14.15 – 15.15

Leuders, Timo Soest

Mathematik Lernen und Lehren mit dem Internet – zwischen instruktivistischem und konstruktivistischem Paradigma

15.15 – 15.45 Kaffee- bzw. Teepause

Sektionsvorträge (30 Minuten Vortrag + 15 Minuten Diskussion)

Raum ... Raum ... Raum ... 15.45 – 16.30

Nestle, Fritz Vom 19. ins 21. Jahrhun-dert — Ändert das Internet Chancen für den Zugang zur Mathematik?

Elschenbroich, Hans-Jürgen Der Kosinussatz — wieder-entdeckt als Flächensatz

Lehmann, Ingmar Dynamische Visualisierung einer Aufgabe in Variatio-nen

16.35 – 17.20

Kortenkamp, Ulrich Experimentieren und Publi-zieren

Filler, Andreas (Teil 1) Einbeziehung der 3D-Com-putergrafik in das Stoffge-biet Analytische Geometrie

Fergen, Olaf & Weitendorf, Jens Der neue Rechner von Ca-sio – classpad 300

17.25 – 18.10

Ernst, Astrid & Niehaus, Engelbert Konstruktiv arbeiten mit dem Internet in Schule und Lehrerausbildung

Gawlick, Thomas Über Konstruktion und Fi-gur in der Dynamischen Geometrie

Großmann, Rudolf Ein Java-Applet zur Einga-be und Überprüfung ma-thematischer Terme

18.15 Abendessen

Sektionsvorträge (30 Minuten Vortrag + 15 Minuten Diskussion)

19.15 – 20.00

Wittmann, Gerald Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehrver-anstaltungen?

Filler, Andreas (Teil 2) Einbeziehung der 3D-Com-putergrafik in das Stoffge-biet Analytische Geometrie

20.00 –... Orientieren, Kennenlernen, Gemütlicher Ausklang im Hotel Convikt in Dillingen

231

Samstag, 27.09.2005

07.45 Frühstück

Hauptvortrag 08.30 – 09.30

Niederdrenk-Felgner, Cornelia Nürtingen

Jungen, Mädchen, Mathe und Computer

Sektionsvorträge (30 Minuten Vortrag + 15 Minuten Diskussion)

Raum … Raum … Raum … 09.45 – 10.30

Ludwig, Matthias & Schmidt-Thieme, BarbaraEin virtuelles Seminar — Konzeption, Durchführung und Auswertung

Zseby, Siegfried Die Apfelsinenkiste im Hy-de-Park — Lernplattform für den ersten Auftritt

Münchenbach, Carsten Von Primzahlen zur Ver-schlüsselung mit RSA — Eine Unterrichtseinheit für eine 11. Klasse im WWW

10.30 – 11.00 Kaffee- bzw. Teepause

11.00 – 11.45

Weigel, Wolfgang Gestaltungsprinzipien und Erfahrungen zum virtuellen Selbstlernkurs: Computer und Mathematik

Oldenburg, Reinhard Mathematik lernen im In-ternet — vom Standpunkt moderner Erkenntnistheorie

Xylander, Bert Über das Lehren von Grup-pentheorie mit dem Internet — Bestandsaufnahmen und Ausblicke

11.50 – 12.35

Löthe, Herbert & Bescherer, Christine Mathematiklernen und Or-ganisieren — Vorausset-zung für die Nutzung der neuen Medien und des In-ternets

Lambert, Anselm Was wissen wir vom Inter-net?

Pallack, Andreas Integration des Internets am Beispiel der Behand-lung von Korrelation und Regression in Jahrgangs-stufe 11

12.40 Mittagessen

15.00 Arbeitsgruppen (mit einer geeigneten Einführung) Thema Leitung

1 Der neue Rechner von Casio – classpad 300 Fergen, Olaf & Weiten-dorf, Jens

2 Mathematikunterricht in Notebook-Klassen 7 und 8 Hagan, Claudia

3 Internet-Übungsaufgaben erstellen mit dem Formel-Applet Großmann, Rudolf

4 DGS und Kommunikation Oldenburg, Reinhard

5 Didaktische Konzepte von e-Learning-Plattformen Völkl, Christina

18.00 Abendessen

19.00 – 19.45 Fortsetzung der Arbeitsgruppen

20.00 – ...

Gemeinsames Abendprogramm im Hotel Convikt; danach Ausklang im Landesinstitut

232

Sonntag, 28.09.2005

07.45 Frühstück, Zimmer räumen

Hauptvortrag 08.30 – 09.30

Weth, Thomas Nürnberg

Mathematikunterricht und Neue Medien

Sektionsvorträge (30 Minuten Vortrag + 15 Minuten Diskussion)

Raum ... Raum ... Raum ... 09.45 – 10.30

Oldenburg, Reinhard Das CAS-basierte DGS Feli-X zur Vernetzung von Algebra und Geometrie

Tschacher, Karel "Da schauen Sie mal ins In-ternet"

Keunecke, Karl-Heinz Echtzeit-Online-Fortbildun-gen für Lehrkräfte: Mathe-matik mit GTR und CAS

10.30 – 11.00 Kaffee- bzw. Teepause

11.00 – 12.00

Ergebnisse der Arbeitsgruppen, Tagungsbilanz, Abschluss-diskussion

12.15 Mittagessen, Kaffee bzw. Tee 13.30 Tagungsende

Teilnehmerinnen- und Teilnehmer-Liste (z.T. auf den Stand von Mai 2005 gebracht; ob es sich um den Privat- oder den Dienstort handelt, ergibt sich meistens aus der Mail-Adresse)

Abel, Barbara, 72072 Tübingen [email protected] Ahrends, Gerd, 66111 Saarbrücken [email protected] Baumann, Heiko, 97286 Sommerhausen [email protected] Beckmann, Astrid, 73525 Schwäbisch Gmünd [email protected] Bender, Peter, 33098 Paderborn [email protected] Bescherer, Christine, 24943 Flensburg [email protected] Christmann, Norbert, 67653 Kaiserslautern [email protected] Daubert, Kurt, 79117 Freiburg [email protected] Detering, Eike A., 14513 Teltow [email protected] Eckelt, Irmgard, 58332 Schwelm [email protected] Elschenbroich, Hans-Jürgen, 41352 Korschenbroich [email protected] Elschenbroich, Inge, 41352 Korschenbroich [email protected] Ernst, Astrid, 48149 Münster [email protected] Fergen, Olaf, 22848 Norderstedt [email protected] Fichtner, Richard, 89407 Dillingen [email protected] Filler, Andreas, 10099 Berlin [email protected] Friebe, Kristine, 55126 Mainz [email protected] Friebe, Wolfgang, 55126 Mainz [email protected] Gawlick, Thomas, 76829 Landau [email protected] Großmann, Rudolf, 90547 Stein [email protected] Haftendorn, Dörte, 21335 Lüneburg [email protected] Hagan, Claudia, 97209 Veitshöchheim [email protected] Hartmann, Mutfried, 90478 Nürnberg [email protected] Harzbecker, Ulrich, 21332 Lüneburg [email protected]

233

Heintz, Gaby, 41363 Jüchen [email protected] Helle, Eva-Maria, 91452 Wilhermsdorf [email protected] Hennecke, Martin, 31141 Hildesheim [email protected] Herget, Wilfried, 06099 Halle [email protected] Hofer, Matthias, A-1150 Wien [email protected] Hoja, Gerold, 90478 Nürnberg [email protected] Keunecke, Karl-Heinz, 24159 Kiel [email protected] Kirsche, Peter, 86135 Augsburg [email protected] König, Gerhard, 76139 Karlsruhe [email protected] Kortenkamp, Ulrich, 10623 Berlin [email protected] Kronfellner, Manfred, A-1040 Wien [email protected] Kunze, Antje, 12203 Berlin [email protected] Lambert, Anselm, 66041 Saarbrücken [email protected] Lehmann, Eberhard, 12209 Berlin [email protected] Lehmann, Ingmar, 10099 Berlin [email protected] Leuders, Timo, 79117 Freiburg [email protected] Löffler, Rainer, 97082 Würzburg [email protected] Ludwig, Matthias, 88250 Weingarten [email protected] Maaß, Katja, 79117 Freiburg [email protected] Mann, Markus, 97074 Würzburg [email protected] Manthey, Hasso B., 14163 Berlin [email protected] Martignon, Laura, 71634 Ludwigsburg [email protected] Mechling, Roland, 77654 Offenburg [email protected] Meier, Andreas, 92637 Weiden [email protected] Motzer, Renate, 86159 Augsburg [email protected] Müller, Michael, 97074 Würzburg [email protected] Münchenbach, Carsten, 79312 Emmendingen [email protected] Nestle, Fritz, 89073 Ulm [email protected] Neveling, Rolf, 42281 Wuppertal [email protected] Niederdrenk-Felgner, Cornelia, 72622 Nürtingen [email protected] Oldenburg, Reinhard, 37085 Göttingen [email protected] Pallack, Andreas, 59494 Soest [email protected] Pieper-Seier, Irene, 26111 Oldenburg [email protected] Richter, Karin, 06120 Halle [email protected] Schmid, Fortunat, CH-8006 Zürich [email protected] Schmidt, Reinhard, 02828 Görlitz [email protected] Schmidt-Thieme, Barbara, 71634 Ludwigsburg [email protected] Schödel, Thomas, 06667 Weißenfels [email protected] Schulz, Wolfgang, 10099 Berlin [email protected] Schumann, Heinz, 88250 Weingarten [email protected] Steinweg, Anna Susanne, 96047 Bamberg [email protected] Thies, Silke, 65520 Bad Camberg [email protected] Thode, Reinhold, 24768 Rendsburg [email protected] Tschacher, Karel, 91054 Erlangen [email protected] Völkl, Christina, 97070 Würzburg [email protected] Vogel, Rose, 71634 Ludwigsburg [email protected] Weigand, Hans-Georg, 97074 Würzburg [email protected] Weigel, Wolfgang, 97074 Würzburg [email protected] Weissbach, Roland [email protected] Weitendorf, Jens, 22850 Norderstedt [email protected] Weth, Thomas, 90478 Nürnberg [email protected] Winter, Kathrin, 31141 Hildesheim [email protected] Wittmann, Gerald, 73525 Schwäbisch Gmünd [email protected] Wolff, Klaus-Peter, 76744 Wörth [email protected] Xylander, Bert, 06120 Halle [email protected] Zseby, Siegfried, 10825 Berlin [email protected]