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Zehn Tage im Winter

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Rosemarie Thüminger, 1939 in Laas/Südtirol geboren, arbeitete als Erzieherin und Kinderkrankenschwester im In- und Ausland. Die Autorin lebt seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Innsbruck und hat drei erwachsene Kinder. Sie begann 1972 Erzählungen, Kurzgeschichten und Hörspiele für Erwachsene zu schreiben, später auch für Kinder und Jugendliche. Ihre Jugendbücher wurden mehrfach ausgezeichnet und übersetzt.

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Rosmarie Thüminger

Zehn Tage im Winter�Roman

Mit einem Nachwort von�Peter Malina�

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Zehn Tage im Winter wurde 1988 mit dem Kinderbuchpreis der Stadt Wienund 1989 mit dem Österreichischen Kinderbuchpreis ausgezeichnet.�

Gulliver Taschenbuch 167�© 1994 Beltz Verlag, Weinheim und Basel�

Programm Beltz 8c Gelberg, Weinheim�Lizenzausgabe�

© 1988 by Dachs-Verlag Ges.m.b.H.�© 1992 J&V Edition Wien Dachs-Verlag Ges.m.b.H.�

Anschützgasse 1, A-1150 Wien�Reihenlayout und Einband von Wolfgang Rudelius�

Gesamtherstellung Druckhaus Beltz, 69494 Hemsbach�Printed in Germany�ISBN 3 407 78167 9�

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Maria stieß die Tür zum Dachboden auf. Trotz der Sorge um Spitz fiel ihr auf, daß etwas anders war als

gewöhnlich. Etwas war anders! Aber was? Ah, sie hatte es: Die Scharniere quietschten nicht mehr. Die Scharniere hatten gequietscht, so lange Maria zurückdenken konnte. Die Tür zum Dachboden wurde nicht oft benützt, deshalb hatte das unangenehme Geräusch niemanden besonders gestört, so daß keiner in der Familie sich die Mühe gemacht hatte, ein Ölkännchen zur Hand zu nehmen und die trockenen Metallteile zu fetten. Nanu, dachte Maria, Mutti hat glatt die Tür geschmiert!

»Spitz, Spitz, bist du hier? Komm her, komm, sei mein braver Hund! Komm!« Maria blieb nahe bei der Tür stehen. Der Dachboden erschien ihr heute unheimlich. Im Sommer schaute es hier ganz anders aus, da stand die Sonne hoch und schien durch die beiden Dachluken herein. Warm war es dann und hell, und die Staubkörnchen tanzten wie Milliarden winziger Punkte in den schrägen Sonnenstrahlen auf und ab. Aber an einem Wintertag wie heute, an dem es sogar draußen nicht richtig hell wurde, blieb es auf dem Dachboden den ganzen Tag über dunkel. Es gab auch kein elektrisches Licht hier, und mit einer brennenden Kerze im Haus herumzugehen hatte Mutter streng verboten. Die Gefahr eines Brandes war in einem so alten Haus, das zur Hälfte aus Holz gebaut war, einfach zu groß.

Der Dachboden war geräumig und hatte Platz für all die vielen Dinge, die sich im Laufe der Zeit in einem Haushalt ansammeln und von denen man glaubt, sie könnten eines Tages gebraucht werden. Im vorderen Teil hatte Mutter Stricke gespannt. Da hängte sie bei Schlechtwetter die Wäsche auf. Auch heute morgen war Mutter auf dem Dachboden gewesen, um nachzusehen, ob die Leintücher und die Bettüberzüge

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bereits trocken wären. Möglich, daß Spitz Mutter nachgelaufen war und sich verkrochen hatte. Vielleicht war ihm langweilig geworden, und er hatte sich zum Spaß zwischen den alten Möbeln und dem ausrangierten Gerümpel versteckt.

Vor einem Jahr, Vater war noch nicht im Krieg, hatte er Spitz von einem Gang ins Dorf mitgebracht. Am Berg heroben gab es kein Geschäft. Auch keine Straße führte herauf. Alles, was man so zum Leben brauchte, mußte im Dorf eingekauft und am Rücken herauf geschleppt werden. Als Vater noch zu Hause gewesen war, hatte er jede Woche einmal einen großen Rucksack genommen und war einkaufen gegangen. Bis zum Geschäft brauchte man ungefähr eine Dreiviertelstunde, eineinhalb Stunden dauerte der Weg zurück. Wie immer war Maria auch damals Vater ein Stückchen entgegengelaufen. Sie war noch weit von ihm entfernt, als sie den Hund sah. Er war klein, ging Vater nicht einmal bis zum Knie. Sein Fell war weißschwarz gefleckt und kurzhaarig. Maria kannte sich in den Hunderassen nicht aus. Aber daß dieser Hund ein Mischling war, erkannte sie sofort. Vater führte ihn an der Leine. Als Maria nahe bei Vater war, breitete er die Arme aus, und Maria stürzte an seine Brust. Sie mochte Vater sehr, und das war die übliche Art ihrer Begrüßung.

»Wem gehört der Hund?« fragte Maria. »Dir«, sagte Vater. »Ich schenk ihn dir zum Geburtstag.« Es war das schönste Geburtstagsgeschenk, das schönste

Geschenk überhaupt, das Maria jemals bekommen hatte. Sie nannte den Hund Spitz und lehrte ihn alles, was ein Hund wissen muß: wo er sein Häufchen hinmachen sollte (nicht gerade in nächster Nähe der Haustür), daß er die Vorderpfoten nicht auf den Tisch stellen durfte, daß während des Essens nicht gebettelt wurde usw. Spitz war ein gelehriger und braver Hund. Nur etwas konnte Maria ihm nicht abgewöhnen, nämlich das Vagabundieren. Immer wieder geschah es, daß er für einige Stunden verschwand. Die gesamte Familie geriet in helle

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Aufregung. Maria durchsuchte das Haus, den Garten, lief die benachbarten Felder ab bis hin zum Wald. Meist war er nirgends zu finden. Aber plötzlich tauchte Spitz wieder auf, wedelte freundlich mit dem Schwanz und tat, als ob nichts gewesen wäre. Maria machte ein paar Schritte in den dunklen Dachboden hinein. Ihr schien, als ob sie etwas gehört hätte, ein Rascheln oder ein leichtes Schaben, weit drüben am anderen Ende des Raumes.

Der wird mich wohl zum Narren halten, dachte Maria. »Spitz«, rief sie, »Spitz, komm endlich! Du versteckst dich,

und ich soll dich suchen! Dabei kann ich in dieser Finsternis fast nichts sehen!«

Aber langsam gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit. Sie versuchte, zwischen den Leintüchern, die fast bis zum Fußboden hingen, durchzuspähen.

»Na warte, Spitz! Dich finde ich schon. Aber dann geht es dir schlecht. Du bekommst heute kein Fressen mehr. Wirst schon sehen. Die Mutter hat’s auch gesagt.« Maria nahm allen Mut zusammen und schlüpfte zwischen den Bettlaken durch auf die Stelle zu, wo sie das Geräusch gehört hatte.

Da sah sie den Mann. Er stand mit dem Rücken flach an einen Holzpfeiler gepreßt. Es hatte den Anschein, als wolle er sich so dünn wie möglich machen. Dabei war er sowieso schon sehr mager. Seine Augen blickten geradewegs in ihre Augen.

Maria glaubte, das Herz bliebe ihr stehen. Sie wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton hervor. Der Mann machte eine unsichere Bewegung auf sie zu.

»Nicht schreien«, sagte er. »Bitte nicht schreien.« Maria versuchte, einige Schritte rückwärts zu machen. Die

noch immer feuchten, halbgefrorenen Bettücher legten sich um ihre Schultern. Nichts als fort, dachte sie, nichts als fort.

»Bitte«, sagte der Mann, »bitte, bleib einen Augenblick hier. Eine Minute, ich muß dir etwas erklären. Es dauert nur eine Minute.«

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Nein, dachte Maria, keine Sekunde bleibe ich. Aber sie war wie gelähmt. Die Knie zitterten, und sie war nicht imstande, einen Schritt zu machen.

»Du suchst doch deinen Hund?« fragte der Mann. »Deinen Spitz?« Der Mann stand nahe beim dritten Fenster des Dachbodens, beim Giebelfenster. Von hier aus, das wußte Maria, konnte man den Weg überblicken, der vom Dorf heraufkam, am Schulhaus vorbei und weiter über den Astenberg bis in die Gerlos führte. Es war der einzige Weg über den Berg, und es war immerhin möglich, daß der Mann gesehen hatte, in welche Richtung Spitz gelaufen war, den Berg hinauf oder hinunter oder vielleicht zum Wald hinüber.

»Haben Sie meinen Hund gesehen?« »Psst«, sagte der Mann und legte den Finger auf die Lippen.

»Nicht so laut. Du mußt leise reden. Niemand darf uns hören. Spitz habe ich zwar heute nicht gesehen, aber glaube mir, du brauchst keine Angst um deinen Hund zu haben. Ich habe ihn gestern schon beobachtet. Er ist intelligent und findet bestimmt zurück. Spätestens wenn er Hunger hat, wird er wiederkommen.«

»Aber die Lehrerin meint, es könnte ihn jemand fangen«, sagte Maria. »Sie meint, es gibt so viele schlechte Menschen heutzutage. Hier in der Nähe gibt es ein Gefangenenlager ...« Maria stockte. Wie, wenn dieser Mensch hier ... Sie wagte nicht weiterzudenken. Nun erst bemerkte sie, daß der Mann die alten Hosen ihres Vaters trug und den dicken Pullover, denMutti immer zum Rodeln anzog. Über Schultern und Arme hatte er die rote türkische Decke geschlungen. Die Decke lag bis vorgestern auf dem Diwan in der Stube. Für Mutter stellte sie so eine Art Heiligtum dar.

Kitty, die Katze, wurde jedesmal, wenn sie darauf schlafen wollte, hinuntergejagt. »Die Decke ist zu schade für eine Katze, die Decke muß geschont werden«, sagte Mutter.

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Jetzt fiel Maria auch auf, daß der Mann anders sprach als die Leute, die sie kannte. Anders als Mutter und Vater, die beide aus Südtirol stammten, anders als das Fräulein Lehrerin, eine Innsbruckerin. Und anders auch als die Bauern hier am Astenberg. Ihr Verdacht wurde stärker. Es war möglich, daß dieser Mensch ein Strafgefangener war. Ein Verbrecher also! Ein geflüchteter Verbrecher!

Maria drehte sich um und stürzte dem Ausgang zu. »Deine Mutter weiß, daß ich hier bin«, rief der Mann ihr nach. »Sag niemandem etwas, hörst du? Es geht um Leben oder Tod.«

Maria schlug die Dachbodentür hinter sich zu und lief die Treppe hinunter. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Im ersten Stock befanden sich das Klassenzimmer, die Schüleraborte und die Schulgarderobe. Aber weil Samstagnachmittag war, hatte die Schule geschlossen, und alle Räume waren leer und verlassen. Der erste Stock war durch eine Tür von der Lehrerwohnung im Erdgeschoß getrennt. Die Tür war wie immer unversperrt. Maria schloß sie leise, lief rasch durch den Hausgang und schlüpfte ins Klo. Sie schob den Riegel vor und fühlte sich nun endlich in Sicherheit.

Es war ein Plumpsklo, ohne Wasserspülung natürlich, ein Klo eben, wie es die alten Häuser auf dem Land zu dieser Zeit hatten. Ein kleiner Raum, den hinteren Teil bildete eine Art Holzpodest, in dem ein großes und ein kleines kreisrundes Loch ausgesägt waren. Das große diente den Erwachsenen, das kleinere den Kindern. Diese zwei Löcher waren mit einem Holzdeckel zu verschließen. Der Raum war wie alle ungeheizten Räume des Schulhauses ‒ geheizt wurden nur die Küche, die Stube und die Klassenzimmer – kalt. Aber das Klo war der einzige Raum, den Maria hinter sich absperren konnte. Hier blieb sie mit Sicherheit ungestört.

Maria setzte sich auf den geschlossenen Klodeckel, zog die Knie an und schlang die Arme eng um die Beine. So hatte sie das Gefühl, weniger zu frieren. Sie zitterte noch immer.

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Wer war der Mann? Warum hatte er sich auf dem Dachboden versteckt? Und Mutter wußte von ihm? Aber warum durfte sie niemandem etwas sagen? Es geht um Leben oder Tod?

Maria brachte den Satz nicht mehr aus dem Kopf. Freilich, neu war ihr nicht, daß man über vieles nicht reden durfte. Man mußte schweigen über das Schwarzhören und über die Erdäpfel, die Mutter in die Aushöhlung der hinteren Wand im Holzschuppen legte, man mußte schweigen über das, was man erlauschte, wenn die Erwachsenen sich mit leiser Stimme unterhielten, man mußte schweigen und durfte nicht singen und fröhlich sein, wenn ein Brief vom Vater kam, um Großmutter nicht zu kränken, die sich einen Brief von ihrem jüngsten Sohn erwartet hatte. Und andererseits durfte man nicht zu viel reden, wenn endlich Post von Fritz gekommen war, aber Mutter sich um Vater sorgte. Der Lehrerin durfte man niemals erzählen, was der Briefträger erzählte, und den wiederum brachten die Meinungen der Lehrerin in Wut.

»Reden ist Silber, Schweigen ist Gold«, sagte die Großmutter oft, und Maria, die Sprichwörter nicht mochte, mußte zugeben, daß an diesem Sprichwort etwas dran war.Überhaupt tat man als Kind gut daran, im Zweifelsfall lieber den Mund zu halten. Da war sie schon darauf gekommen.

Auf einmal hörte Maria Hundegekläff. Sie erkannte sofort die Stimme von Spitz. Also hatte er doch heimgefunden! Maria sprang zur Tür und stürzte hinaus. Mutter hatte schon die Haustür aufgemacht, und Spitz galoppierte herein. Aber wie er wieder ausschaute! Sein Fell war voll Eis und Schnee, sogar am Schwanz klebten kleine Schneeballen. Er schüttelte sich, daß die schmutzigweißen Klümpchen nur so im Hausgang herumflogen.

»Du wildes Hundsvieh, du verdreckst mir ja den ganzen Boden«, rief die Mutter empört.

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»Ich wisch gleich auf, Mutter«, sagte Maria, »ich mach alles sauber, schimpf nicht, sonst kommt er ein anderes Mal überhaupt nicht mehr.«

»Der kommt schon«, sagte Mutter. »Der Hunger treibt ihn heim.«

Aber es war nicht nur Hunger, Spitz freute sich, Maria wiederzusehen. Er sprang an ihr hoch, sie nahm ihn in die Arme. Da stellte er die Vorderpfoten auf ihre Schultern und fuhr ihr mit seiner langen, rauhen Zunge übers Gesicht. Maria drückte den Hund an sich. Sofort war sie bis auf die Haut naß. Aber das machte ihr nichts aus. Sie war so froh, Spitz wieder daheim zu haben, daß sie im Moment sogar den Mann auf dem Dachboden vergaß. Doch Mutter erinnerte sie bald an ihn.

»Wo warst du eigentlich so lange?« fragte sie. »Ich habe Spitz gesucht.« »Natürlich. Du hast Spitz gesucht. Das weiß ich. Aber wo

hast du ihn gesucht?«»Überall. Im Garten, vor dem Haus, hinter dem Haus, in der

Schülergarderobe, im Holzschuppen und auf – auf dem Dachboden.«

Eigentlich wollte Maria das gar nicht sagen. Es war ihr einfach herausgerutscht. Und jetzt stand der Satz im Raum: auf dem Dachboden. Nun mußte Mutter wohl etwas dazu sagen. Etwa: »Du, Maria, hör einmal, ich habe da jemand einquartiert. So und so verhält es sich mit ihm.«

Aber Mutter sagte nur: »So ein Unsinn! Wie kannst du Spitz auf dem Dachboden suchen? Die Türen sind doch immer geschlossen. Er kann ja gar nicht hinauf. Und überhaupt, ich mag nicht, wenn du auf den Dachboden gehst.«

»Warum denn?« fragte Maria und schaute Mutter voll ins Gesicht. »Warum soll ich nicht auf den Dachboden gehen?«

Nun kann Mutter nicht mehr anders, dachte Maria. Wenn ich sie so direkt frage, muß sie mir sagen, was für ein Mann

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das ist, der mit ihrem Einverständnis versteckt in unserem Hause lebt, während Vater im Krieg ist.

Aber Mutter sagte nur ärgerlich: »Frag nicht so patzig. Das weißt du ganz genau. Weil ich auf dem Dachboden Wäsche aufgehängt habe und nicht will, daß die Wäsche schmuddelig wird, noch bevor sie trocken ist. Es ist nämlich kein Vergnügen, mit Kriegsseife Bettwäsche sauber zu kriegen. Zudem noch im Winter.«

Das wußte Maria. Im Schulhaus gab es kein Fließwasser, und Mutter und Großmutter mußten jeden Kübel Wasser beim Brunnen unterhalb des Hauses holen und jedes Stück Wäsche dort schwemmen.

»Ich hab eh aufgepaßt«, sagte Maria. Sie fühlte sich plötzlich sehr allein. Mutter wollte ihr Geheimnis für sich behalten. Gerne hätte Maria gesagt: »Mutter, ich habe den Mann gesehen. Sag mir, wer er ist. Warum hast du kein Vertrauen zu mir?« Aber niemals hätte sie diese Worte herausgebracht. Niemals.

»Dann ist es ja gut«, sagte Mutter.�Gut? dachte Maria. Nein, es ist nicht gut. Aber ich werde�

ohne dich die Wahrheit erfahren. Ich werde alles herausbekommen.

»Die Zentralstelle hat die Abrechnung der Lebensmittelkarten bereits für morgen verlangt, so daß ich sie heute noch fertigmachen muß. Deshalb solltest du dich um Willi kümmern. Du weißt ja, wie schlampig er seine Aufgaben hinschmiert, wenn nicht jemand bei ihm sitzt und ihn zum sauberen Arbeiten anhält. Machst du das, Maria?«

»Ja, ja«, sagte Maria, »muß ich wohl. Aber Vergnügen ist das keines.«

Seufzend setzte sich Maria also zu Willi. Um diese Zeit, am Samstagnachmittag, konnte es in der Küche sehr gemütlich sein. Großmutter hatte das Geschirr schon gewaschen und aufgeräumt und zur Vorbereitung auf den Sonntag die

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kupfernen Kessel über der Holzkiste blitzblank geputzt. Sie leuchteten und strahlten wie rote Sonnen. Spitz, der viele Stunden draußen in der Kälte herumgelaufen war, hatte sein Plätzchen vor dem Herd aufgesucht. Erst schniefelte er ein bißchen herum, dann legte er sich nieder, bettete den Kopf auf die Vorderpfoten, legte seinen kurzen Schwanz, so weit er ihm halt reichte, um den Körper und war sofort eingeschlafen. Kitty, die von Großmutter Milch bekommen hatte, schlabberte eifrig ihr Schüsselchen leer und sprang dann Maria auf den Schoß. Kitty war eine richtige Schmusekatze, schön weiß getigert, mit weichem Fell und großen honiggelben Augen. Zuerst trippelte sie sich Marias Schürze zurecht. Dann setzte sie sich, kuschelte sich zusammen und wartete, daß Maria sie streichelte.

Willi ließ sich von der allgemeinen Behaglichkeit nicht anstecken. Er zappelte auf seinem Sessel herum, spielte entweder mit den Seiten des Lesebuches oder schaute in die Luft.

»Jetzt mach doch endlich die Zeile fertig«, sagte Maria. »Es wird wohl keine besondere Kunst sein, eine Reihe g zu schreiben.«

Willi nahm den Griffel in die Hand und begann die obersten Striche des g zu zeichnen, aber er drückte so fest auf die Schiefertafel, daß die Spitze des Griffels abbrach. »Verdammt«, rief er.

Großmutter, die gerade aus der kleinen Kammer neben der Küche, in der die Lebensmittel aufbewahrt wurden, herauskam, schüttelte mißbilligend den Kopf. »Wo der Bub nur das Fluchen herhat! Solche Worte will ich nicht hören!«

Maria nahm das Schmirgelpapier und begann den Griffel zu spitzen. Am liebsten hätte sie die Zeile g selbst geschrieben, aber das hätte die Lehrerin natürlich gemerkt. »Vor allem mußt du dich bemühen, die Buchstaben genau zwischen den zwei Zeilen zu machen, nicht darüber und nicht darunter«, sagte

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Maria. »So.« Sie malte mit lockerer Hand ein schönes g auf die Schiefertafel.

»Das wird wohl nicht so wichtig sein«, sagte Willi, »ein wenig darüber oder darunter, Hauptsache, man kann erkennen, daß der Buchstabe ein g ist, und basta.«

»Das ist schon wichtig«, sagte Maria. »Nur für eine Streberin, wie du eine bist«, sagte Willi. Er

war grantig, weil er Hausaufgaben machen mußte. Viel lieber wäre er bei Hans, seinem Freund, im Kuhstall gewesen und hätte ihm geholfen, die kleinen Kälber zu striegeln. Wenn man einen Zorn hat, denkt man oft nicht so genau, warum und weshalb man zornig ist, sondern reagiert sich einfach am erstbesten Menschen ab. Willi machte es auch so. Und weil er wußte, daß Maria sich ärgerte, wenn sie Streberin genannt wurde, nannte er sie Streberin.

»Sei nicht frech, du«, sagte Maria. »Du bist aber eine Streberin«, wiederholte Willi. Da nahm

Maria einen Bleistift und klopfte ihm damit auf die Finger. Natürlich ließ Willi sich das nicht gefallen. Willi ließ sich

überhaupt nie etwas gefallen. Er stieß ein regelrechtes Indianergebrüll aus, griff nach den Zöpfen seiner Schwester und zog kräftig daran. Maria holte aus und gab Willi eine Ohrfeige. Und schon wälzten sich die beiden auf dem Boden.

Spitz wachte auf und machte Miene, sich in das Getümmel zu stürzen, um seinem Frauchen zu Hilfe zu kommen, während Kitty sich unwillig unter das Gitterbettchen, das an der Fensterseite der Küche stand, zurückzog.

»Werdet ihr wohl aufhören«, rief die Großmutter, »das ist allerhand. Statt die Aufgaben zu machen, raufen die zwei! Schluß jetzt!«

Beinahe hätte sie »Kruzitürken!« angefügt. Dieses Wort hatte ihr Vater immer gebraucht, wenn er zornig gewesen war, und die Großmutter sagte es auch manchmal, um ihrem Herzen Luft zu verschaffen. Aber wenn die Kinder dabei waren,

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verzichtete sie meist darauf. Aus erzieherischen Gründen, wie sie einmal der Nachbarin anvertraut hatte. Endlich ließen die zwei voneinander ab.

»Willi, setz dich her und mach deine Aufgabe fertig. Wie du dich anstellst! Um neun Zeilen Buchstaben zu schreiben, brauchst du den halben Nachmittag. Ich kann mich gut erinnern, Maria hat dazu höchstens eine halbe Stunde gebraucht.«

»Die ist eben eine Streberin«, trumpfte Willi auf. »Fängst du schon wieder an! Warte, gleich hole ich den

Kochlöffel«, drohte Großmutter. Bei Streitereien nahm sie immer Partei für Maria. Willi wußte das und fand sich für diesmal damit ab, den kürzeren zu ziehen. Er zog den Kopf tief zwischen die Schultern und setzte sich wieder an den Tisch.

»Gib her«, sagte Maria leise. »Wir wechseln uns ab. Einen Buchstaben machst du, einen ich. Das wird die Lehrerin schon nicht merken, und wir sind schneller fertig.«

Maria war richtig erleichtert, als die Hausaufgabe geschrieben war, und Großmutter sagte: »Räumt den Tisch ab, ich muß das Poppele wickeln.«

Das Poppele war das jüngste der drei Kinder, sieben Monate alt, und hieß eigentlich Lisa. Aber alle nannten es vorläufig noch Poppele. Gerade zu der Zeit, als Mutter im Krankenhaus lag und das Poppele zur Welt brachte, hatte Vater den Einberufungsbefehl erhalten. Schon Jahre zuvor hatte Maria dieses Wort zum erstenmal gehört, damals war sie noch gar nicht zur Schule gegangen. Das Wort hatte ihr nicht gefallen, obwohl sie sich nichts darunter hatte vorstellen können. Aber das war lange her. Inzwischen hatte sie die Bedeutung dieses Wortes gelernt. Kam ein Einberufungsbefehl ins Haus, dann hieß das, daß der Vater oder der Mann oder der Bruder von daheim fort mußte. Er mußte in den Krieg ziehen.

»Sei froh, daß es dich erst jetzt erwischt«, hatte Großmutter gesagt. Ihre zwei Söhne waren schon seit mehr als drei Jahren

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im Krieg. Vater aber hatte schlechte Augen. Am rechten war er fast blind, am linken stark kurzsichtig. Deshalb hatte er als untauglich gegolten. Aber nun war das Vaterland in großer Gefahr. Alle wurden gebraucht. Auch Vater. Nun waren also nicht nur Onkel Fritz, das jüngste Kind, und Hermann, der Stiefsohn der Großmutter, im Krieg, sondern auch Vater. Nun ängstigte sich nicht mehr allein Großmutter um ihre Söhne, sondern auch Mutter um ihren Mann. Manches Mal weinten die zwei Frauen, etwa wenn eine Nachbarin auf Besuch kam, deren Mann oder deren Söhne oder Brüder auch eingerückt waren, oder wenn sie Post bekamen oder an Abenden, die so früh anbrachen und kein Ende zu nehmen schienen, vor lauter Verlassenheit.

Maria weinte ganz selten um ihren Vater. Manchmal stand sie am Brunnen vor dem Haus und schaute den Weg hinunter, und da kam jemand herauf, von dem sie dachte: Das muß Vater sein! So wie er geht und ab und zu stehenbleibt und sich den Schweiß vom Gesicht wischt. Aber dann kam der Mann näher, und es wurde deutlich, er war es nicht. Oder wenn Mutter ungerecht war. Mutter konnte sehr ungerecht sein. Dann fühlte Maria sich allein und hätte gern ihren Vater bei sich gehabt. Aber er war weit fort. An der Front.

An der Front war es ganz furchtbar. Das konnte sich niemand vorstellen, der nicht selber dort gewesen war. Granaten explodierten, Erde und Steine flogen in die Luft, Schüsse fielen, und dann das Blut und das Geschrei. Das hatte der Briefträger erzählt, der an der Front gewesen war und dort seinen Arm verloren hatte. Seither durfte er wieder daheim sein und Post austragen.

Wenn Maria Sehnsucht nach Vater hatte, lief sie zu dem dicken Weidenbaum, der am halben Weg zwischen Schulhaus und Wald stand, oder sie sperrte sich ins Klo ein. Sie haßte es, wenn jemand ihre Tränen sah.

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»Die Milch ist mir in dem Augenblick weggeblieben, als ich erfuhr, daß mein Mann den Einberufungsbefehl bekommen hatte«, erzählte Mutter später. Lisa mußte mit verdünnter Kuhmilch, der ein wenig Mehl und etwas Zucker zugesetzt wurde, aufgezogen werden.

Großmutter legte ein Kissen auf den Küchentisch, nahm das Poppele aus dem Körbchen und bettete es darauf. Während sie die Windeln und den Puder holte, mußte Maria auf das Kind aufpassen, damit es nicht vom Tisch fiel. Willi kitzelte es zart auf den Fußsohlen, und Lisa lächelte und kicherte und machte tatata, mamama, lalala.

Maria war froh, daß Großmutter bei ihnen lebte und sie im letzten Jahr das Poppele bekommen hatten. Großmutter schimpfte zwar auch manches Mal, aber sie war nicht so streng wie Mutter. Und wenn sie ungerecht war, dann zugunsten von Maria. Ob Großmutter wohl von dem Mann auf dem Dachboden wußte? Oder hatte Mutter auch ihrer eigenen Mutter nichts über ihn erzählt?

»Ich war heute auf dem Dachboden«, sagte Maria und bemühte sich, mit ihrer ganz gewöhnlichen Stimme zu sprechen.

»So«, sagte Großmutter, »hast du zufällig nachgeschaut, ob mein Unterrock schon trocken ist? Der gewaschene ist wärmer als der, den ich anhabe.«

»Nein, Großmutter, habe ich nicht. Soll ich schnell hinaufgehen?«

»Nein, nein, danke. Ohne Kerze ist es schon zu dunkel, mit Kerze zu gefährlich. Ich werde später deine Mutter bitten, mir den Unterrock zu holen.«

»Dann gehe ich mit«, erklärte Maria. Maria schaute Großmutter aufmerksam an. Die Großmutter hob gleichgültig den Kopf. »Wenn du glaubst.« Nun war sich Maria ziemlich sicher, daß auch sie nichts von dem Mann wußte.

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Das Poppele war sauber gewickelt, auch der Milchbrei gekocht und auf die richtige Temperatur abgekühlt. Maria setzte sich auf den niedrigen Schemel. Großmutter legte ihr das Kind auf den Schoß, und Maria fütterte es. Zuerst zappelte Lisa wild mit Händen und Füßen herum, verzog das Gesicht, quietschte, aber sobald sie den Schnuller im Mund hatte, glätteten sich ihre Unmutsfalten, und sie begann gierig zu saugen. Wenn sie einen Augenblick verschnaufen mußte, stieß sie einen zufriedenen Grunzer aus.

Willi hockte sich zu Maria und schaute aufmerksam zu. Meistens ließ das Poppele einen kleinen Rest in der Flasche. Den durfte Willi austrinken. Als das Kind satt war, gab Maria die Flasche an ihn weiter und hob das Baby hoch. Es war müde vom Trinken und lehnte sein Köpfchen schwer an ihre Schulter. Der zarte Haarflaum kitzelte ihren Hals, ihre Wange.

»Na, mein Kleines, mein Süßes«, flüsterte Maria und wiegte Lisa sanft hin und her. Das Poppele rülpste ein paarmal. Dabei floß ihm etwas Brei aus dem Mund und Maria übers Gesicht. Dann ballte es die winzigen Fäuste zusammen und schloß müde und zufrieden seine Augen.

Inzwischen war auch Mutter mit der Abrechnung der Lebensmittelkarten fertig geworden. Sie kam in die Küche, stellte Wasser für den Tee auf und schnitt das Brot. Zwischendurch ließ sie sich die Aufgaben zeigen, kritisierte die schiefen und verwackelten g, lobte die ordentlichen g und alle f und M auf Willis Schiefertafel.

»Anna, holst du mir noch den Unterrock vom Dachboden?« fragte Großmutter.

Mutter nickte: »Das mache ich gleich.« »Ich gehe mit«, sagte Maria. »Du bleibst da«, sagte die Mutter. »Warum denn? Laß mich halt mitgehen.« »Ich muß die Kerze nehmen, und da bin ich lieber allein, da

kann ich besser aufpassen. So schnell passiert ein Unglück.«

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Mutter strich Schmalz auf die Brotschnitten und legte sie in den kleinen geflochtenen Korb, den sie im Sommer immer fürs Beerenpflücken verwendete. Dann stellte sie eine Kanne Tee daneben, nahm die Kerze und ging hinaus. Aha, dachte Maria, das bringt sie wahrscheinlich dem Mann auf dem Dachboden. Sie spitzte die Ohren, um herauszukriegen, wohin die Mutter ging. Aber sie vernahm weder das Knarren der Treppe nochdas Öffnen einer Tür. »Wohin bringt die Mutter das Essen?« fragte sie Großmutter.

»Psst«, sagte Großmutter und deutete mit den Augen auf Willi, der aber sowieso nichts sah und nichts hörte, weil er mit seinen Bausteinen spielte. Sie nahm Maria mit in die Speisekammer und sagte leise: »Wenn Willi dabei ist, solltest du solche Sachen nicht fragen. Am besten, du fragst überhaupt nichts. Je weniger man weiß, desto besser ist es in den heutigen Zeiten. Ich frage jedenfalls nichts. Dann weiß ich nichts. Dann kann die Gestapo fragen, soviel sie will – ich weiß nichts und basta!«

(Gestapo: Geheime Staatspolizei der Nazis. Sie war maßgeblich beteiligt an der Verhaftung, Folterung und Ermordung zahlreicher Gegner des Nazisystems und an den Massenvernichtungsaktionen gegen die Juden.)

Gestapo, das war auch so ein Wort, das Maria nie hören konnte, ohne Angst zu empfinden und Unsicherheit. Die Gestapo nahm die Leute mit, verhörte sie, schlug sie, folterte sie, eine Mörder- und Verbrecherbande. Das sagte der Briefträger. Aber die Lehrerin, das Fräulein Hauser, war ganz anderer Meinung.

»Die Lehrerin hat uns einmal gesagt, die Gestapo hilft dem Führer, die Verräter und Volksfeinde unschädlich zu machen«, sagte Maria zu Großmutter.

»Ach Kind, Kind«, sagte die Großmutter. »Die Lehrerin wird schon auch noch einmal gescheiter werden.«

»Die Lehrerin ist aber nett.«

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»Nett. Sicher ist sie nett. Freundlich ist sie, jung, und ein hübsches Gesicht hat sie. Aber da hat deine Mutter schon recht. Erzählen sollst du ihr nichts. Sie ist ohne weiteres imstande, nachmittags in unserer Küche zu sitzen und mit uns Kaffee zu trinken und am gleichen Abend zu ihren Parteibonzen zu gehen, um uns zu denunzieren. Fanatisch, wie sie ist.«

»Denunzieren? Was ist das?« »Na, das ist zum Beispiel, wenn sie weitererzählen würde,

daß Mutter Schmalzbrote oder Erdäpfel für die Gefangenen hinausstellt. Denn diesen halbverhungerten armen Teufeln, die zwangsweise für das Reich schuften, etwas zum Essen zu geben, ist verboten. Das weißt du ja. Dafür kann man ins KZ kommen. Zum Glück hat sie Mutter nie dabei erwischt.«

(KZ: Konzentrationslager) »Mutter ist eben vorsichtig.« »Ja«, sagte Großmutter. »Das ist heutzutage überhaupt das

wichtigste. Vorsichtig sein, niemandem trauen, möglichst wenig wissen und niemandem etwas erzählen.«

Maria überlegte: Großmutter glaubt, daß Mutter die Brote für die Kriegsgefangenen hinausstellt. Sie weiß also sicher nichts von dem Mann auf dem Dachboden. Mutter hält ihn selbst vor Großmutter versteckt. Das Ganze wurde für Maria immer sonderbarer.

»Komm jetzt«, sagte Großmutter. »Trag den Topf da in die Küche hinaus und denk daran, daß Willi noch zu klein ist, um verschiedene Sachen verstehen zu können. Er soll möglichst wenig wissen. Sei vorsichtig. Lange wird der Krieg ja nicht mehr dauern.«

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An diesem Abend konnte Maria lange nicht einschlafen. Immer mußte sie an den Mann auf dem Dachboden

denken. Warum versteckte er sich? Warum hielt Mutter es vor allen geheim? War es wirklich nur deshalb, weil sie Angst hatte, daß Großmutter oder sie, Maria, etwas verraten könnten? Womöglich der Lehrerin? Und wie konnte Großmutter so häßlich von der Lehrerin denken? Sicher, Fräulein Hauser liebte und verehrte den Führer. Er hatte Deutschland wieder groß gemacht und die Ostmark heimgeführt ins Reich. Auch Maria verehrte den Führer, und es waren bis jetzt immer ihre liebsten Stunden gewesen, in denen die Lehrerin mit glühenden Wangen und voll Begeisterung über die Heldentaten Hitlers erzählt hatte. Es tat Maria weh, daß Großmutter, die sie gern hatte, die Lehrerin, die sie auch sehr mochte, so abfällig beurteilte.

Die Lehrerin kam aus der Stadt. Die Stadt war für Maria der aufregendste und schönste Ort, den sie sich vorstellen konnte. Der Ort des Wunderbaren. Da gab es schöne breite Straßen, Schaufenster, und in den Parkanlagen rote und blaue Blumen, zu Mustern geordnet. Maria war erst einmal in der Stadt gewesen. Sie hatte Brillen gebraucht, und Vater war mit ihr zum Augenarzt gefahren. Zwei Tage später waren die ersten Bomben auf Innsbruck gefallen, und Großmutter hatte nachträglich noch eine Kerze vor dem Bild der Jungfrau Maria angezündet. Eine Dankeskerze sozusagen, weil die Engländer ihre Bombe nicht gerade in der Stunde abgeworfen hatten, als ihr Schwiegersohn und ihre Enkelin in der Stadt weilten.

Der Augenarzt hatte gesagt, Maria müsse spätestens nach zwei Jahren wiederkommen, aber inzwischen war Vater an der Front, und es gab größere Sorgen als eine nicht mehr ganz der Sehkraft entsprechende Brille.

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Maria wäre gerne wieder einmal in die Stadt gefahren. Die Lehrerin fuhr jede zweite Woche dorthin zu ihrer Familie. Und wenn sie Montag nach dem Mittagessen ihren Kaffee in der Küche kochte, wußte sie immer die aufregendsten Dinge zu berichten. Einmal war sie im Kino, ein anderes Mal im Konzert oder im Theater gewesen. Oder sie war einfach mit Bekannten ausgegangen, hatte auswärts gegessen. Und als der Briefträger, der zufällig die schwärmerischen Berichte mitanhörte, fragte, was sie denn gespeist hätte, zuckte sie nur die Schultern.

»Es kommt nicht darauf an, was man ißt. Auf die Atmosphäre kommt es an.«

Unter Atmosphäre nun konnte Maria sich nichts Genaues vorstellen. Aber wahrscheinlich waren es Kerzen auf den Tischen, die vielen Menschen, die Musik. Weil die Lehrerin aus der Stadt war, trug sie auch viel feinere Kleider als die Bauersfrauen, feinere auch als Mutter. Und natürlich hatte sie die Haare kurz geschnitten. Maria fand das hinreißend. Alle anderen Frauen, die Maria kannte, hatten lange Haare. Die Mädchen flochten ihr Haar meist zu zwei langen Zöpfen, die ihnen rechts und links um die Schultern baumelten. Die erwachsenen Frauen steckten die Zöpfe kunstvoll um den Kopf. Mutter formte aus ihrem naturgewellten Haar eine dicke Rolle. Wenn die Lehrerin den Kopf bewegte, schwangen ihre Haare auf, um sich dann wie durch Zauberhand geordnet wieder in die ursprüngliche Fasson zu fügen. Auch ihre Hände waren schlank und zart, oft trug sie einen Ring mit einem ovalen Stein in derselben Farbe wie ihre Augen. Wenn sie draußen vor der Wandtafel stand und mit ihrer weichen Stimme Rechenbeispiele erklärte, wünschte Maria brennend, auch einmal so klug und hübsch und Lehrerin zu werden. Der Wunsch, es Fräulein Hauser gleichzutun und ihr zu gefallen, war der eigentliche Grund, warum Maria gerne lernte und manches Mal sogar eine Fleißaufgabe machte. Deshalb auch benahm sie sich nach Möglichkeit, wie es Lehrer von ihren

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Schülern erwarten. Etwas, was Willi absolut nicht verstand und als pure Streberei ansah.

Den Religionslehrer hingegen mochte Maria nicht. Er hatte einen dicken Bauch und ein gewaltiges Doppelkinn. Jede Stunde ließ er seine Schüler die Zehn Gebote Gottes, die Fünf Gebote der Kirche und die Sieben Hauptsünden von vorne und von hinten aufsagen. Das war natürlich sehr langweilig. Maria schwätzte oder gähnte und hatte deshalb – obwohl sie sämtliche Gebote und Sünden im Traum aufsagen konnte – in Religion einen Dreier im Jahreszeugnis bekommen, was eine Schande war. In Religion einen Dreier – das war schlimmer als im Rechnen einen Vierer. So sah es jedenfalls die Großmutter, und sie hatte deshalb Maria eine lange Predigt gehalten. Aber Vater verteidigte seine Tochter. Er konnte den Katecheten auch nicht leiden.

An alle diese Dinge mußte Maria denken, während sie sich im Bett herumwälzte und nicht einschlafen konnte. Am hartnäckigsten aber verfolgten sie die Gedanken an den Fremden, den sie heute auf dem Dachboden gesehen hatte und von dem sie noch immer nicht wußte, warum er sich versteckt hielt.

Morgen, morgen gehe ich gleich am Vormittag auf den Dachboden, dachte Maria. Ich muß nur aufpassen, daß Mutter nichts merkt. Ich werde ihn einfach fragen, wer er ist und was er macht. Wenn ich schon von Großmutter und von Mutter nichts erfahre, muß ich einfach selbst die Wahrheit herausbekommen.

Ihr fiel wieder die Angst ein, die sie heute nachmittag ausgestanden hatte. Aber morgen war alles ganz anders. Da wußte sie schon, worauf sie sich einließ. Da war schon von vornherein klar, was sie auf dem Dachboden erwartete: ein Fremder, der sich versteckt hielt, der selber Angst hatte, mit dem etwas nicht in Ordnung war.

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Als gegen zehn Uhr Großmutter ins Zimmer kam und sich leise, ohne Licht zu machen, in ihr Bett legte, war Maria endlich eingeschlafen. Am nächsten Morgen weckte Mutter sie gegen sieben Uhr auf.

»Maria, wenn du in die Kirche gehen willst, mußt du gleich aufstehen.«

Maria rubbelte sich die Augen. Kirche? Aufstehen? Ach ja, heute war Sonntag. Da ging Mutter immer in die Kirche. Als Vater noch nicht im Krieg war, hatte es Maria Spaß gemacht, mit den Eltern mitzugehen. Der Weg ins Dorf und zurück war lang und mühsam, aber Vater hatte Räubergeschichten erzählt oder eine Melodie gepfiffen, manchmal eine lustige, manchmal eine traurige. Oder sie und Vater hatten Wettläufe veranstaltet. Oder er hatte Vogelstimmen nachgemacht.

Erst in der Kirche mußten sie sich trennen. Vater ging auf die rechte Seite, Mutter auf die linke, und sie selbst setzte sich ganz vorne in die ersten Reihen zu den Schulkindern. Die Sitzordnung mußte streng eingehalten werden. Niemandem wäre es eingefallen, sich ihr zu widersetzen.

Bald brauste die Orgel auf, und der Kirchenchor begann zu singen. Besonders gefielen Maria die tiefen Orgeltöne, die sich so schön in den Magen eingruben. Der Mesner kam mit einem langen Stab, an dessen oberem Ende eine Kerze steckte. Damit zündete er die vielen Kerzen am Hochaltar an. Jedes neue Flämmchen ließ neues Gold glitzern. Wenig später kam der Pfarrer mit den Ministranten, alle in bestickte Gewänder gehüllt, die je nach Kirchenkalender in Weiß, Rot, Violett oder Schwarz gehalten waren. Langweilig war Maria nur bei der Predigt, wenn der Pfarrer sie durch seine endlosen Reden bei ihren Träumen störte.

Nach der Messe trafen sich die Eltern wieder mit Maria, und dann kehrten sie gemeinsam beim Postwirt ein. Maria bekam einen Himbeersaft, Vater und Mutter tranken ein Glas Wein, und alle aßen Salzbrezeln. Im Gasthaus war es warm. Die

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Leute saßen um große Tische und redeten und lachten. Rauchschwaden hingen in der Luft. Die Kellnerin balancierte große Tabletts mit Weingläsern und Bierkrügen zwischen den Tischen und klapperte mit ihrem Geldbeutel. Maria aber saß da, trank ihren Himbeersaft und spitzte die Ohren. Es war meistens sehr interessant, den Erwachsenen zuzuhören. Aber nur, wenn die nicht merkten, daß man ihnen zuhörte.

»Na«, sagte die Mutter, »hast du es dir endlich überlegt? Kommst du mit?«

Maria schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »ich bleibe hier und helfe der Großmutter.«

Natürlich wollte sie auch auf Willi aufpassen und das Poppele füttern. Aber vor allen Dingen mußte sie hierbleiben, um ungestört den Fremden auf dem Dachboden besuchen zu können.

»Na schön«, sagte die Mutter, »wenn du nicht mitgehst, kannst du noch eine Weile weiterschlafen.« Sie schloß die Tür, und Maria zog sich noch einmal das Federbett über den Kopf. So drangen die Geräusche nur abgeschwächt zu ihr. Einmal bellte Spitz, die fünf Hennen gackerten, als Mutter ihnen die Körner in den Futtertrog leerte. Im Winter lebten die fünf Hennen in einer großen Steige im Hausgang. Es war eine von Marias Aufgaben, einmal in der Woche die Steige auszumisten und neue Streu einzubreiten. Sobald das Wetter warm wurde, übersiedelten die Hennen wieder hinauf in den Schuppen. Das Poppele weinte kurze Zeit, dazwischen hörte man die beruhigende Stimme der Großmutter: »Na, na, du brauchst doch nicht zu weinen, gleich ist das Fläschchen bereit. Sei ruhig, sei brav.«

Die Mutter klapperte mit dem Ascheneimer und dem Schürhaken am Stubenofen herum. Sie heizte die Stube vor dem Gang zur Kirche. So war es mittags schon fein warm. Später hörte Maria, wie Mutter das schwere Schloß der Haustür aufsperrte und hinausging, die Tür hinter sich zumachte, aber

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nicht versperrte. Es ist auf dem Land nicht üblich, am Tag die Haustür zu versperren.

Kaum war Mutter aus dem Haus, sprang Maria aus dem Bett. Es war sehr, sehr kalt im Zimmer. Sie bemühte sich, den Boden nur mit den Zehenspitzen zu berühren. So schnell sie konnte, schlüpfte sie in ihre Kleider. Dann zog sie den Vorhang zurück, um nach dem Wetter zu schauen. Aber da war nicht viel zu sehen. Die Scheiben waren dick mit Eisblumen überzogen, und als sie das Fenster öffnen wollte, ging es nicht auf. Die Eisblumen vom gestrigen Tag, die während der wärmeren Mittagsstunden aufgetaut und als Wasser zwischen die beiden Fensterflügel gesickert waren, hatten sich wieder in Eis zurückverwandelt und hielten wie Kleister zusammen.

Willi stürmte ins Zimmer. »Wollen wir miteinander frühstücken? Dann mußt du schnell kommen, sonst wird der Kaffee kalt.«

Als Maria eine Stunde später zum Dachboden hinaufstieg, leise, um Großmutter nicht auf etwas aufmerksam zu machen, was sie nicht wissen durfte, versuchte sie sich selbst Mut zuzusprechen: »Erstens kenne ich den Menschen schon. Zweitens hält Mutter ihn versteckt, und Mutter, die schon vor Blitz und Donner unheimlich Angst hat, wird wohl keinen Gewaltmenschen unter ihrem Dach aushalten. Drittens darf er mir nichts tun, weil er sonst von Mutter hinausgeworfen wird.« Aber es half nichts. Maria konnte sich all diese Gründe und noch mehr vorsagen, sooft sie wollte, die Angst blieb. Am liebsten wäre sie noch vor der Dachbodentür wieder umgekehrt.

Sie kehrte nicht um. Sie wußte, dann würde sie sich noch viel mieser fühlen. Maria drückte also die Klinke nieder. Die Tür öffnete sich ohne das geringste Quietschen. Das erste, was sie sah, war, daß Mutter die Wäsche noch immer nicht abgenommen hatte.

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Maria blieb bei der Tür stehen. »Hallo«, rief sie leise, »hallo, ich bin’s, Maria.« Alles blieb still.

»Hallo«, rief sie nochmals. »Wo sind Sie?« Keine Antwort. Warum gab der Mensch kein Zeichen? Was war los? War er

fort? Oder – oder hatte sie gestern nur geträumt? Nein, unmöglich. Sie hatte den Fremden gesehen, mit ihm gesprochen, er mußte da sein. Sie schlüpfte zwischen den Leintüchern durch bis zu dem Pfosten, an dem er gestanden war. Heute schien die Sonne, deshalb fiel mehr Licht durch die zwei Giebelfenster und die Dachluken als gestern. Es war so hell, daß man das ganze Gerümpel auch in den hinteren Winkeln wahrnehmen konnte.

Bis auf die Mitte des Dachbodens, wo Platz für die Wäsche bleiben mußte, war der übrige große Raum vollgestopft mit allem möglichen, alten Möbeln und Plunder. In der einen Ecke türmten sich Schachteln und Kisten, in der anderen standen zwei alte Kleidertruhen, wo Mutter im Winter Sommersachen und im Sommer die Wintersachen aufbewahrte. Klappte man die schweren Holzdeckel auf, entströmte den Truhen ein intensiver Geruch von Nußbaumblättern. Großmutter schwor auf Nußbaumblätter als Mottenschutz und hatte zwischen die Kleidungsstücke unzählige in Zeitungspapier gewickelte Nußbaumblätter gelegt. Die Motten wurden von dem Gestank vertrieben. Aber noch zwei Wochen nach dem Wechsel von Sommer- auf Winterkleidung und umgekehrt roch die gesamte Familie nach Nußbaumblättern.

An der Giebelwand standen alte, unbrauchbar gewordene Möbel, zerbrochene Stühle, ein Tisch, der nur mehr dreieinhalb Beine hatte, ein Nachtkästchen, dem sämtliche Schubladen fehlten, und ein Polstersessel, durch dessen Plüschbezug eine Spirale ragte.

Und natürlich Regenschirme, alte Bilder, darunter eines, von dem Maria sich immer wieder faszinieren ließ: das Gemälde des Kaiserpaares Karl und Zita mit allen seinen Kindern,

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Onkeln und Tanten. Die Damen trugen Kleider aus zarten pastellfarbenen Spitzenstoffen und große Hüte, die Herren waren in weiße Beinkleider oder goldbetreßte Uniformen gehüllt, die Buben hatten samt und sonders Matrosenanzüge und die Mädchen weiße Kleider und weiße Strümpfe an. Heute allerdings verspürte Maria keine Lust, die feinen Herrschaften zu betrachten. Schräg zu dem ausgesparten Platz für die Wäsche stand ein uralter Diwan, auf dem sich alte Federbetten und Polster auftürmten, scheinbar in heilloser Unordnung und seit Jahren unbenutzt. Maria faßte die Decke an. Sie war warm. Bis vor kurzem mußte sich also jemand damit zugedeckt haben.

Ein leichtes, schabendes Geräusch ließ Maria aufhorchen. Es kam von der Mitte des Raumes, dort, wo sich die zwei gemauerten Kamine befanden. Die kleine Tür des einen Kamins ging langsam auf, und eine Stimme, deren seltsamen Tonfall Maria schon von gestern kannte, sagte: »Hallo, Maria! Du bist zurückgekommen?«

»Na so was«, rief Maria. Sie war viel zu erstaunt, um Angst zu haben. »Wie kommen Sie denn in den Kamin hinein?«

»Ganz einfach«, sagte der Mann. »Der Maurer hat hier ein Türchen gemacht, damit der Kaminkehrer den Kamin kehren kann. Da schlüpfe ich hinein und schlüpfe wieder heraus.«

»Aber Sie sind ja nicht schwarz geworden in dem Kamin, sondern weiß!«

»Das ist logisch. Der Kamin ist noch nie für eine Feuerung benutzt worden. Feuerung? Sagt man in diesem Fall Feuerung oder Feuer?«

Maria zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht stimmt beides.«

»Und weißt du, warum der Kamin noch nie ein Feuer gesehen hat? Weil der Maurer zwar zwei Kamine gebaut hat, einen für die Lehrerwohnung und einen für die Klassenzimmer,

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aber der Ofensetzer hat nur einen der beiden an die Öfen angeschlossen. So blieb der zweite unbenutzt.«

Maria nickte. Ja, davon hatte sie schon gehört. Die Sache mit dem Kamin war ein beliebtes Gesprächsthema in der Familie; weil aber der eine Kamin gut zog, ließ man die Sache, wie sie war.

»Ja«, sagte der Fremde, »so kommt es, daß der zweite Kamin also innen nicht schwarz, sondern weiß ist. Und weil er direkt an den funktionierenden angebaut ist, bekommt er von dem etwas Wärme ab. Dadurch ist er für einen nicht allzu langen Aufenthalt durchaus geeignet.«

Maria mußte lächeln. Wie komisch der Fremde redet, dachte sie. Da ist einmal seine Aussprache. Er redet nach der Schrift, aber mit einem weichen singenden Tonfall in der Stimme. Und dann die Wörter. Er verwendet Wörter, die weder die Großmutter noch die Mutter, ja nicht einmal die Lehrerin je verwenden. Es klingt so sonderbar, irgendwie altmodisch. Ob er ein Ausländer ist? Klar, das ist er. – Maria war sich nun schon so sicher, als ob er ihr bereits gesagt hätte, daß er auf der Flucht war und deshalb froh sein mußte, wenn ihm niemand etwas zuleide tat. Und dann trug er ja die Sachen von den Eltern, die Hose von Vater und den Pullover und die Wollmütze von Mutter. Dazu die türkische Wolldecke vom Diwan in der Stube.

»Nur das Hinein- und Herausschlüpfen durch das enge Kamintürchen ist etwas schwierig, besonders mit diesem Arm da«, sagte der Mann und deutete auf seinen linken Oberarm.»Doch mit einiger Übung gelingt auch das.«

Nun bemerkte Maria erst, daß der Mann den Arm in einer Schlinge trug.

»Wo haben Sie sich weh getan? Hier auf dem Dachboden?« Der Mann verzog das Gesicht. »Nein, nein.« »Tut es sehr weh?«

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»Ja, ziemlich. Das schlimmste ist, die Schmerzen werden ärger statt besser.«

»Und wo haben Sie sich verletzt?« »Hm«, sagte der Fremde, »du weißt ja, wie das ist, verletzen

kann man sich überall.« Die Antwort ärgerte Maria. Was sollten die Ausflüchte?

Warum hatte der Fremde kein Vertrauen zu ihr? Niemand hatte Vertrauen zu ihr. Weder Mutter noch Großmutter und auch der Fremde da nicht. Nur Vater. Plötzlich empfand sie große Sehnsucht nach dem Vater. Wäre er hier, würde er sie beiseite nehmen: »Komm, Maria, machen wir ein paar Schritte mitsammen.« Das sagte er immer, sobald es nötig schien, etwas zu besprechen, das nicht mit zwei Worten abgetan werden konnte.

»Wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben, dann frage ich mich, warum Sie überhaupt aus Ihrem Versteck gekommen sind?«

Der Fremde schaute Maria an. Er zog die Decke fester an sich. Dann sagte er: »Entschuldige, Maria. Du hast ganz recht. Ich benehme mich unklug und dumm. Wenn du schon von meiner Existenz weißt, ist es besser, du bist möglichst genau informiert. Weißt du was? Wir setzen uns dort auf den Diwan, hüllen uns gut in Decken ein, damit wir nicht frieren, und dann erzähl ich dir, wer ich bin, woher ich komme und warum ich mich versteckt halten muß. Einverstanden?«

Maria nickte. »Klar. Einverstanden.« Nun würde sie also endlich die Wahrheit über den Fremden erfahren. Der Diwan stand direkt an dem Kamin, der an den Ofen angeschlossen war, so daß man den Rücken an die lauwarme Mauer lehnen konnte. Das half in dieser Kälte hier auf dem Dachboden ein bißchen.

»Ich mag den Sommer viel lieber als den Winter«, sagte Maria.

»In normalen Zeiten kann auch der Winter sehr schön sein.«

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»Kann man in normalen Zeiten Strümpfe kaufen, die nicht kratzen?«

Der Fremde lachte. »Klar. Da gibt es auch genügend Kohle zum Heizen. Jeder kann feuern, soviel er will. Es gibt heiße Suppe und Brot und Schmalz. Aber etwas Heißes haben auch wir, nämlich Tee.«

Der Fremde machte den Deckel der Truhe auf und wühlte zwischen den Kleidern herum. Die welken Nußbaumblätter raschelten und verbreiteten einen starken Geruch. Endlich hatte er die Flasche gefunden. Maria kannte sie gut. Es war die große Thermosflasche, die Maria im Sommer immer mitnahm, wenn die ganze Familie in den Wald ging, um Schwarzbeeren und Pilze zu sammeln. Mutter hütete die Thermosflasche wie einen Schatz, denn es war schwierig, eine neue Thermosflasche zu bekommen. Und nun hatte sie die Flasche dem Fremden gegeben. Er drehte bedächtig den Becher ab und füllte ihn mit Tee. Eine Dampfwolke stieg auf.

»Die Flasche bringt mir deine Mutter jeden Morgen herauf«, erklärte er. »Tee, Schmalzbrote und heiße Suppe. Deine Mutter ist gut.«

»Und am Abend? Bringt sie Ihnen da auch etwas zum Essen?«

»Ja«, bestätigte der Fremde. »Auch am Abend.« Aha, dachte Maria, da habe ich also gestern recht gehabt.

Die Brote waren für den Fremden. »Also«, fuhr der Mann fort, »ich heiße Boris Tritonow. Du

kannst einfach Boris zu mir sagen.« »Seit wann sind Sie denn schon bei uns?« »Ich bin erst vor drei Tagen gekommen.« »Und ich habe Sie bereits am zweiten Tag entdeckt!« »Ja«, sagte der Mann, »da kann man sehen, daß ich viel zu

unvorsichtig bin.« »Warum haben Sie sich denn nicht schnell versteckt, als ich

die Tür aufgemacht habe?«

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»Da war es schon zu spät. Ich habe ganz einfach nicht damit gerechnet, daß jemand auf den Dachboden kommen würde. Deine Mutter hat mir ganz genau erklärt, wie eure Tage ablaufen. Der Samstagnachmittag ist eine ungefährliche Zeit. Außer der Familie ist niemand im Haus. Auch die Lehrerin verläßt kurz nach zwölf Uhr die Schule. Wenn ich den Hauseingang, der ja der einzige Eingang des Schulgebäudes ist,beobachte, bin ich praktisch vor jeder Überraschung sicher.«

»Ich bin aber heraufgekommen.« »Ja. Hoffentlich erwächst uns daraus kein Unglück.« »Im Winter gehe ich fast nie auf den Dachboden. Gestern

bin ich nur wegen dem Spitz heraufgekommen. Im Winter ist es mir einfach zu kalt.«

»Eben. Das hat mir deine Mutter gesagt. Und weil sie die quietschenden Angeln geschmiert hat, habe ich dich erst gehört, als du schon die ersten Schritte über die Diele machtest.«

»Sie haben Glück gehabt, daß ich heraufgekommen bin und nicht Willi. Der würde den Mund nicht halten können.«

»Das denke ich auch. Er ist einfach noch zu klein. Er kann noch nicht verstehen, wie gefährlich unsere Situation ist. Aber auf dich können wir uns verlassen.«

Wir, sagte der Fremde. Das störte Maria. Was meinte er mit »wir«? Meinte er damit Mutter und sich? Aber sie selbst, Maria, war nun genauso in der Sache drinnen wie die zwei Erwachsenen.

»Wer sind Sie eigentlich?« Der Mann setzte seinen Becher ab und schaute Maria fest

an. »Maria, ich sage dir alles, wer ich bin, wie du mich nennen

kannst und so weiter. Nun, da du von mir weißt, ist es sicher besser, wenn du die Zusammenhänge kennst. Ich habe Vertrauen zu dir. Niemals würdest du mich und damit deine Mutter absichtlich verraten.«

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Verraten? dachte Maria. Die Worte der Lehrerin fielen ihr wieder ein. Vaterlandsverräter. Letztes Jahr hatten sie in der Schule darüber gesprochen. Kämpferisch wie ein Erzengel war die Lehrerin vor der Klasse gestanden. »Deutsche Soldaten verbluten auf dem Feld für Führer und Vaterland. Und andere, die es nicht verdienen, als Deutsche angesprochen zu werden, hören feindliche Sender und zersetzen so den Wehrwillen des Volkes.«

»Das verstehe ich aber nicht«, hatte Sepp, der ältere Bub des Blaserbauern, gemeint. »Wie kann man durch das Abhören von Nachrichten etwas zersetzen?«

»Sei nicht vorlaut, Sepp. Red lieber, wenn du gefragt wirst. Aber da weißt du meistens nichts zu sagen«, hatte die Lehrerin gerufen. »Ich betone noch einmal: Das Abhören von Feindsendern wird mit Zuchthaus bestraft. Und auch das schweigende Mitwissen derartiger Verbrechen. Ich hoffe, ihr versteht das. In solch schweren Zeiten, wo Deutschland von Feinden umringt ist, sind auch von uns Opfer gefordert. Da geht die Liebe zum Führer und Vaterland vor Familienbande.«

Zu Hause hatte Maria davon erzählt. Die Eltern wechselten Blicke.

»Was ich immer gesagt habe. Eine fanatische Person«, sagte Mutter. »Hübsch, aber total verblendet. Du hast mir nicht geglaubt. Du bist auf ihr hübsches Gesichtchen hereingefallen.«

»Anna«, rief der Vater mahnend, »Anna!« Und zu Maria sagte er: »Deine Lehrerin ist eben eine überzeugte Nationalsozialistin. Sogar heute noch neigen solche Leute zuÜbertreibungen. Du weißt, auch wir hören manchmal ausländische Sender. Sind wir deshalb schlechtere Deutsche? Lieben wir unsere Heimat nicht? Na also, siehst du, die Lehrerin übertreibt.«

»Vor allen Dingen, laß ja nie ein Wort darüber verlauten«, sagte Großmutter, »die bringt uns noch ins KZ, und überhaupt

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hören fast alle die Schwarzsender. Auch die Parteibonzen. Jeder will die Wahrheit wissen.«

»Wichtig ist, daß niemand etwas davon erfährt. Niemand, Maria, verstehst du. Und schon gar nicht die Lehrerin.«

»Also zu meiner Zeit hätte es das nicht gegeben, die Kinder gegen die eigenen Eltern aufhetzen. Unglaublich, wie kann eine Lehrerin so etwas verlangen. Die Kinder sollen die eigenen Eltern verraten, anzeigen und ins Zuchthaus bringen.« Die Großmutter schüttelte den Kopf. Sie war so aufgeregt, daß sie die Gabel hinlegte. »Mir wird übel«, sagte sie. »Richtig übel wird mir.«

»Aber die Lehrerin meint eben, das sei Verrat, Eltern, die gegen die Gesetze des Staates verstoßen, nicht anzuzeigen«, sagte Maria.

»Versündige dich nicht«, rief die Großmutter. »Das hat mit Sünde nichts zu tun«, meinte der Vater. »Das

verstößt einfach gegen allergewöhnlichste, natürlichste Empfindungen.«

Und nun gebrauchte auch der Fremde das Wort Verrat. Für den Fremden war Verrat, zu erzählen. Für die Lehrerin, zu verschweigen.

Der Fremde schenkte noch einmal den Becher voll. »Nun«, sagte er, »mit Absicht würdest du niemals etwas über meine Anwesenheit verraten. Viel schwieriger ist, daß du nicht am falschen Platz ein falsches Wort fallenläßt und damit Anlaß zu Verdächtigungen und Nachforschungen gibst.« Maria dachte an die Großmutter, die ihr gestern gesagt hatte, daß es gut sei, wenig zu wissen. Je weniger man wußte, desto weniger konnte man verraten – das war die Meinung von der Großmutter.

»Also«, sagte Maria, »ich kann schweigen. Ich sage nichts, was ich nicht sagen will.«

»Bist du dir da so sicher?« »Klar«, sagte Maria. »Was glauben Sie! Darin bin ich schon

geübt. In der Schule kann ich auch nicht immer alles sagen.

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Und Mutter kann ich auch nicht alles sagen. Nicht einmal Großmutter. Im Verschweigen bin ich echt geübt.«

»Also«, sagte der Fremde, »ich werde dir nun schön der Reihe nach alles erzählen. Ich bin ein Kriegsgefangener. Das hast du dir ja wahrscheinlich schon gedacht. Die Nazis haben mich zur Zwangsarbeit hierher verschleppt. Ich mußte mit vielen anderen Kameraden das Kraftwerk Gerlos bauen. Da gibt es auch Polen und Italiener und Franzosen. Drei von uns haben einen Plan ausgearbeitet. Wir wollten fliehen. Ein Italiener, ein Pole und ich. Wir haben eine günstige Stunde abgewartet, und es ist uns geglückt, gut aus dem Lager herauszukommen. Wir waren schon im Wald, als uns die Wachposten mit ihren Hunden aufspüren konnten. Die Wachposten haben geschossen. Der italienische Kamerad wurde getötet. Das habe ich noch gesehen. Vom polnischen weiß ich nichts. Und ich bin verletzt worden. Hier, am Oberarm, haben sie mich erwischt. Zum Glück war der Schnee stark verharscht, er hat gut getragen. Ich bin durch einen Bach gewatet und weiter durch den Wald, und die Hunde haben meine Spur verloren. Das Schulhaus war das erste Haus, auf das ich gestoßen bin. Ich kannte es schon. Ich wußte, daß deine Mutter eine gute Frau ist. Sie legt immer wieder Brot und Kartoffeln in den Holzschuppen hinaus, wo wir Kriegsgefangene uns die Lebensmittel heimlich nehmen können.«

Maria fiel auf, daß er Kartoffeln statt Erdäpfel sagte. Erdäpfel sagte man daheim, und Kartoffeln stand in den Schulbüchern.

Der Fremde fuhr fort: »Es war vielleicht gegen vier Uhr, alles war ruhig. Die Nacht war nicht sehr dunkel, obwohl es keinen Mondschein gab. Aber das Sternenlicht wurde von der Schneedecke so stark reflektiert, daß man recht gut sehen konnte. Mein linker Arm war vom gefrorenen Blut ganz steif. Er tat mir weh. Ich fühlte mich elendiglich. Ich hatte einfach

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keine Wahl. Ich klopfte an die Haustür. Das hörte der Hund, und natürlich hat er gebellt. Davon ist dann deine Mutter wach geworden.«

»Und Großmutter?« »Weiß ich nicht. Ich habe sie nicht gesehen. Deine Mutter

hat mir die Haustür nur einen Spalt weit aufgemacht. Sie hat mich angeschaut und sofort begriffen. Sie ist ganz bleich geworden, so furchtbar ist sie erschrocken. Im ersten Augenblick hat sie mich vielleicht wieder wegschicken wollen. Aber dann hat sie meine gesunde Hand genommen und mich in den Vorraum gezogen und die Haustür verriegelt. Ich hab ihr gesagt, daß sie meine Spur verloren haben und mich wahrscheinlich ganz woanders suchen. Sie hat mir die Jacke abgenommen, den Ärmel mußte sie aufschneiden. Sie hat Wasser heiß gemacht, ich konnte mich waschen. Dann hat sie mir frische Wäsche und Kleider gegeben. Nachdem sie die Wunde verbunden hatte, führte sie mich hier herauf.«

»Was ist, wenn sie eine Hausdurchsuchung machen! Das hatten wir schon einmal. Plötzlich, mitten in der Nacht, klopfte eine Gruppe Gestapoleute hier an und stellte das Haus auf den Kopf. Sie waren überall, im Keller, in der Wohnung, in den Klassenzimmern. Auch auf dem Dachboden. Am nächsten Tag erst haben wir erfahren, warum sie hier waren. Im Dorf war ein SS-Offizier umgebracht worden. Vom Mörder keine Spur. Deshalb haben sie alle Häuser am Astenberg und im Dorf und weit im Umkreis untersucht.«

»Deine Mutter und ich haben uns einige Dinge überlegt. Vom Giebelfenster aus, das weißt du ja, kann man jeden sehen, der sich dem Schulhaus nähert. Das ist das erste. Dann hat deine Mutter noch eine Art Warnanlage eingebaut.«

»Eine Warnanlage? Davon weiß ich nichts, gar nichts!« »Doch, du mußt sie kennen. Neben der Haustür hat sie zwei

Blechkübel aufeinandergestellt und über diese noch eine Kuhglocke. Sollten die Gestapoleute plötzlich vor der Tür

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stehen, so stößt sie – scheinbar völlig unabsichtlich – an die Kübel. Diese fallen um, die Glocke poltert zu Boden. Welchen Höllenlärm das macht, hat sie auch schon ausprobiert. Hast du es nicht gehört?«

»Wann war das?« »Vorgestern.« »Vorgestern? Am Nachmittag? Ja, klar. Wir hatten

Handarbeiten und lernten gerade die Doppelnaht. Auf einmal hörte man ein Gepolter, wir glaubten, das Schulhaus bricht zusammen. Die Lehrerin sprang auf und stürzte zur Tür. Mutter hat sich für den Lärm entschuldigt.«

»Also, unser Plan ist folgender: Wenn Gefahr im Anzug ist, setzt Mutter die Kübel in Aktion. Ich schlüpfe in den Kamin. Bevor ich das Türlein schließe, verspritze ich noch ein halbes Fläschchen Salmiak über das Inventar. Das irritiert die Hunde. Vom Kamin kann man notfalls aufs Dach gelangen. Dann kommt es darauf an. Sorgen macht mir nur die Wunde.«

»Wie lange wollen Sie bleiben?« Der Fremde zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Wir

werden sehen. Sobald die Berge halbwegs frei sind, möchte ich mich davonmachen. Aber dazu muß die Wunde verheilt sein.«

»Werden Sie dann heimgehen?« »Heim? Ach Maria, du weißt nicht, wo ich daheim bin. Das

ist weit weg. Da kommt man nicht so schnell hin. Aber wir werden sehen. Vielleicht gehe ich sogar heim.«

»Wo sind Sie denn daheim?« »Meine Eltern sind aus Tula. Dort bin ich aufgewachsen.

Aber studiert und gearbeitet habe ich in Moskau. Dort lebe ich mit meiner Frau und unseren zwei Kindern.«

»Sie sind Russe?« »Ja. Erstaunt dich das?« Maria nickte. »Die Lehrerin hat uns gesagt, die Russen ...«

Sie stockte. Sie wußte nicht recht, wie sie weiterreden sollte. »Na, was hat die Lehrerin gesagt? Rede ruhig.«

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»Sie hat gemeint, daß die Russen nicht so Menschen sind wie wir.«

»Daß wir Untermenschen sind, nicht wahr, das hat sie gesagt? Aber hat sie euch auch den Unterschied zwischen einem Unter- und einem Obermenschen erklärt?«

Maria schwieg. Dann sagte sie: »Das heißt nicht Obermenschen, sondern Übermenschen. Das sind die deutschen Volksgenossen. Die sind zum Herrschen da. Sagt die Lehrerin.«

»Aha. Und hat die Lehrerin den Unterschied zwischen Menschen und Untermenschen erklärt?«

Maria dachte nach. Im Schulbuch über Lebenskunde konnte man viele Bilder oder Fotos über die verschiedenen Menschenrassen betrachten. Die Menschen der germanischen Rasse waren groß, blond, blauäugig und hatten einen offenen Blick. Darunter die minderwertige slawische Rasse, kleine Augen, breite Backenknochen, verschlagen und hinterhältig.

»Sie meint, die Germanen sind edler«, sagte Maria. »Und du? Was meinst du?« »Ich?« fragte Maria zurück. Ihr war sehr ungemütlich

zumute. Sie hatte alles gelernt, was die Lehrerin auf die Tafel geschrieben hatte, genau so, wie sie auch das Einmaleins gelernt hatte. Und es stimmte, daß die Kriegsgefangenen, abgerissen, mager und bärtig, anders ausschauten als zum Beispiel die Bauern hier am Astenberg oder die Leute aus dem Dorf oder die deutschen Soldaten. »Ich«, fragte Maria noch einmal. »Ich weiß es nicht. Der Briefträger und die Großmutter jedenfalls pfeifen auf die ganze Rassenlehre. Das weiß ich, weil sie es oft genug gesagt haben.«

Der Fremde lächelte. »Übrigens: Großmutter. Weiß deine Großmutter, daß du hier bei mir bist?«

Maria schüttelte den Kopf. »Nein. Niemand weiß es.« »Dann solltest du aber wieder hinuntergehen, Großmutter

wird sich schon wundern, wo du so lange bleibst.«

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»Nur noch eine Frage. Wenn Sie Russe sind, warum sprechen Sie dann so gut Deutsch?«

»Das ist ganz einfach. Ich habe die deutsche Sprache studiert. Ich bin Dolmetsch. Und meine Lehrerin, das war eine Wienerin.«

»Und trotzdem sagen Sie Kartoffeln statt Erdäpfel?« »Ja, und Tomaten statt Paradeiser, genau so, wie es in den

Schulbüchern zu lesen ist. Ich habe ja Deutsch gelernt undnicht Österreichisch. Aber wenn ich mich bemühe, kann ich auch die österreichischen Wörter verwenden. Die hat mir meine Lehrerin nämlich auch beigebracht. Es war übrigens eine ganz ausgezeichnete Lehrerin.«

»Wo ist sie jetzt?« »Ja, wo wird sie wohl sein?« fragte der Fremde. »Wenn ich

das wüßte! Aber ich weiß gar nichts. Ich weiß nicht, wo meine Eltern sind. Ich weiß nicht, wo meine Frau ist. Ich weiß nicht, wo meine kleinen Töchter sind.« Der Fremde starrte düster in den Blechbecher der Thermosflasche.

Plötzlich wurde Maria bewußt, daß sie überhaupt keine Angst mehr vor dem Fremden hatte. Er war ihr ja auch nicht mehr fremd. Sie hatten lange miteinander geredet. Sie wußte viel über ihn. Wie er hieß, woher er war, was er arbeitete. Nein, sie hatte keine Angst mehr. Er tat ihr nur mehr leid. So weit weg von zu Hause und ohne Verbindung zu seiner Familie. Und dazu noch verwundet. Er tat ihr leid, obwohl er eigentlich ein Feind war.

Maria lief die Stiegen hinunter. Sicher war es schon sehr spät. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. An dem Kleiderständer der Garderobe hing ein grauer Soldatenmantel. Vater, dachte sie, Vater ist heimgekommen! Sie stürzte hin und griff in die schweren Falten des Mantels. Da blitzte ihr das Abzeichen entgegen.

Nein, das war nicht Vaters Mantel. Vater war ein einfacher Soldat. Der einfache Soldat trug niemals ein derartiges

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Abzeichen. Dieses hier durfte nur ein Angehöriger der Waffen-SS tragen.

(SS: Schutzstaffel) Maria hatte zwischen den einzelnen Abzeichen genau

unterscheiden gelernt. Die Lehrerin besaß ein dickes, buntes Buch, in dem sämtliche Rang- und Dienstabzeichen der Armee abgebildet waren. Vater trug überhaupt kein Abzeichen. Also konnte der Mantel nicht Vater gehören. Aber wer war dann hier? Ein Angehöriger der Waffen-SS. Was hatte das zu bedeuten? Er konnte doch nicht wegen dem Russen auf dem Dachboden gekommen sein? Und dazu noch allein? Nein, das war ausgeschlossen. Maria riß die Tür zur Küche auf. Am Tisch saß Onkel Hermann.

Natürlich! Warum hatte sie denn nicht gleich daran gedacht? Er war bei der Waffen-SS. Onkel Hermann hatte es sich bequem gemacht. Die Stiefel ausgezogen und neben den Herd zum Trocknen gestellt. Die Mütze hatte er aufs Fensterbrett gelegt. Bedächtig rührte er in seiner Kaffeetasse. »Aha, Maria!« sagte er. »Schön, dich wiederzusehen.«

»Onkel Hermann! Du!« Sie flog ihm an die Brust. Onkel Hermann war der einzige

Mann auf der Welt, den sie gerne umarmte. Außer Vater. Aber der zählte nicht, da war es selbstverständlich. Onkel Hermann war hochgewachsen, hatte helle, leuchtend blaue Augen, dunkle Haare und war ungemein kräftig. Als sie noch klein gewesen war, hatte er sie auf seinen Armen herumgetragen, bis sie eingeschlafen war. Er hatte sie auf den Schultern reiten lassen oder mit kurzem Schwung zur Decke gehoben. Sie schmiegte sich an seine Schultern, spürte den rauhen Stoff der Jacke an ihrer Wange und kaltes Metall. Da zuckte sie zurück. Das Dienstgradabzeichen.

Ein Eichenlaub. Aha! Standartenführer! Onkel Hermann war also befördert worden. Einen Augenblick lang freute sich Maria auf das morgige Frühstück. Fräulein Hauser kam jeden

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Morgen kurz in die Küche, um sich ein wenig aufzuwärmen. Sie wohnte bei der Gruberbäuerin. Vom Gruberhof zum Schulhaus waren es gut zwanzig Minuten. Fräulein Hauser würde Augen machen, wenn sie sah, daß Maria einen Onkel hatte, der Standartenführer bei der Waffen-SS war.

Aber im nächsten Moment fiel Maria der Briefträger ein, der ebenfalls jeden Morgen eine Schale Kaffee in Mutters Küche trank, und die Freude verging ihr. Der Briefträger dachte in den meisten Dingen anders als die Lehrerin. Maria konnte auch ihn gut leiden. Er erzählte immer interessante Sachen. Allerdings nur, wenn sie unter sich waren. »Unter sich sein« bedeutete, daß niemand anderer da war außer Großmutter, Mutter, Vater und Maria. Nicht die Lehrerin, nicht Willi. Maria war sehr stolz, daß der Briefträger sie zu den Personen seines Vertrauens zählte und sie so alles erfahren konnte, was der Briefträger über den Krieg, den Frontverlauf, die Alliierten oder eben über die SS dachte. Über die SS dachte er leider nichts Gutes. Verbrecherbande, Mörderclique nannte er ihre Mitglieder. Aber das glaubte Maria ihm nicht. Er war übrigens auch ein Fanatiker. Das gab sogar Mutter zu, die ihm jeden Tag eine Schale Malzkaffee und Marmeladebrote vorsetzte. Fanatiker übertreiben. Fanatiker sehen alles schwarz. Fanatikern brauchte man nicht zu glauben.

Maria liebte Onkel Hermann. Er war kein Verbrecher und kein Mörder. Trotzdem legte sie die Wange nicht mehr auf den Kragenaufschlag ihres Onkels. Sie blickte ihm ins Gesicht. Nein, wie ein Verbrecher schaute er wirklich nicht aus. Verbrechergesichter kannte Maria aus der Zeitung. Onkel Hermann schaute ganz anders aus. Er hatte schöne blaue Augen und ein offenes Gesicht. Müde war er freilich. Aber das war nicht verwunderlich. Die Angehörigen der Waffen-SS gehörten zu den tapfersten Männern der deutschen Nation. Sie kämpften in den heißesten Schlachten für Führer und Vaterland. Sagte die Lehrerin.

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Onkel Hermann bückte sich und zog aus seinem Rucksack ein kleines flaches Päckchen hervor.

»Schau, Maria, was ich dir mitgebracht habe. Eine Tafel Schokolade.«

»Schokolade?« fragte Großmutter gedehnt. »Wo nimmst du denn Schokolade her? Ich habe schon lange keine mehr gesehen.«

Onkel Hermann lächelte. »Sonderzuteilung. Im Feld bekommt man Sonderzuteilungen.«

»So, Sonderzuteilungen!« Großmutter war erstaunt. »Kriegen die alle Soldaten?«

»Nein, nein. Natürlich nicht. Nur die, die Besonderes leisten. Eben Angehörige der Waffen-SS zum Beispiel. Der Führer denkt eben an seine Leute.«

»So, so«, sagte die Großmutter. »So, so.« Onkel Hermann zuckte die Schultern. »Na, Mutter, was

soll’s! Laß dem Kind die Freude.« Maria löste das Silberpapier ab, dunkelbraune dünne

Schokoladenrippen kamen zum Vorschein. Maria zog den süßen Duft tief ein. Es war lange her, seit sie das letzte Mal richtige Schokolade gegessen hatte. Sie bot Großmutter ein Stück an.

»Nein, danke«, sagte Großmutter. »Ich mag heute keine Schokolade.«

Auch Onkel Hermann lehnte ab. »Die ist für dich, mein Kind!«

Maria brach zwei Rippen ab, eine für Willi und eine für Mutter. Für das Poppele brauchte sie nichts aufzusparen, es war noch zu klein zum Schokoladeessen. Die restlichen drei Rippen aß Maria auf der Stelle auf. Erst als sie das letzte Stückchen in den Mund geschoben hatte, fiel ihr der Fremde auf dem Dachboden ein. Eigentlich hätte ich ihm auch ein Stückchen aufheben sollen, dachte Maria. Wer weiß, wie lange

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er keine Schokolade mehr gegessen hat, wo er doch Kriegsgefangener ist.

Bei diesem Gedanken tat es so etwas wie einen Knacks in Marias Kopf. Kriegsgefangener, Flüchtling, Soldat der Waffen-SS, Onkel Hermann. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Ihr wurde siedend heiß. Was würde Onkel Hermann denken, wenn er wüßte, daß sich im Haus ein russischer Kriegsgefangener befand! Versteckt gehalten von seiner Schwester und seiner Lieblingsnichte Maria!

»Was hast du?« fragte Onkel Hermann. »Ist dir nicht gut? Erst warst du ganz rot im Gesicht, und auf einmal bist du blaß wie die Wand.«

»Sie hätte eben die Schokolade nicht essen sollen«, sagte Großmutter. »Fast eine ganze Tafel auf einmal.«

»Aber nein«, widersprach Onkel Hermann, »so viel war das gar nicht. Die paar Deka.«

(Deka: In Österreich gebräuchliche, grundlegende Gewichtseinheit. 100 Dekagramm (dag) = 1 Kilogramm. Man verlangt also z.B. 10 Deka(gramm) Wurst statt 100 Gramm.)

Maria schüttelte mühsam den Kopf. »Nein, nein. Mir geht es gut. Aber ich muß einmal schauen, wo Willi ist. Und den Spitz habe ich seit dem Frühstück auch nicht mehr gesehen. Womöglich stellen die zwei etwas an, oder sie rennen in den Wald. Das kann man nie wissen.«

Onkel Hermann nickte. »Ja, da hast du ganz recht. Heutzutag muß man vorsichtig sein. Ihr habt ja auch ein Kriegsgefangenenlager hier in der Nähe. Da bricht immer wieder einmal einer aus, so daß sich alles mögliche Gesindel hier in den Wäldern herumtreibt.« Maria machte, daß sie hinauskam.

Im Vorraum nahm sie ihre Pelerine vom Haken, ohne den Mantel von Onkel Hermann zu berühren. Rasch stülpte sie die Mütze über die Ohren und zog die warmen, selbstgestrickten Fäustlinge an.

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Draußen stand ein blauer und wolkenloser Himmel über den verschneiten Bergen. Maria atmete die Winterluft tief ein. Kalt und klar war die Luft. Freundlich und still schien die Welt. Aber es war Krieg. Maria sprach das Wort laut: Krieg, Krieg. Sie stapfte durch den Schnee zum Vogelbeerbaum hinauf, von wo man den großen Teil des Weges überblicken konnte, der vom Tal zum Schulhaus heraufführte. Sie wiederholte alle Worte, die ihr so viel Schrecken einflößten und vor denen sie sich manchmal nicht anders zu retten wußte als durch scheinbar grundloses Toben und Schreien.

»Maria ist hysterisch«, sagte Mutter dann, aber Großmutter nahm sie in Schutz. »Sie ist zu empfindsam. Man muß Geduld mit ihr haben.«

Maria sagte: Krieg – Soldaten – Gewehr – Granaten – Bomber – Konzentrationslager – Kriegsgefangene – Waffen-SS – Gestapo – Front. Die schrecklichen Worte paßten überhaupt nicht hierher. Hier, wo alles so vertraut und heimatlich aussah. Aber das war es eben. Es schaute nur so aus. In Wirklichkeit war es auch hier anders.

Der russische Kriegsgefangene auf dem Dachboden, der dieses Land, wo er verfolgt und mit dem Tod bedroht wurde, hassen mußte. Onkel Hermann, der ausschaute wie ein Held, tapfer, stark, ein treuer Gefolgsmann des Führers. Doch wie war er wirklich? Und wer hatte eigentlich recht? Der einarmige Briefträger oder die Lehrerin? Was würde Onkel Hermann machen, wenn er den Russen entdecken würde? Mitleid haben mit dem Verwundeten oder die Gestapo benachrichtigen? Damit würde er auch seine Schwester, seine Mutter, die ganze Familie ins Unglück stürzen.

Aber mußte er das nicht tun, wenn er seinem Führer treu bleiben wollte? Maria hatte ein Gefühl, als ob sich die Gedanken wüst und wild in ihrem Kopf drehen würden. Wie sollte man sich da noch auskennen?

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Der Stamm des Baumes war rauh und leicht zu umfassen. Maria kletterte hoch hinauf und hockte sich auf einen dicken Ast. Hier konnte sie über die Felder und Wiesen sehen bis hinunter zu den zwei nächsten Nachbarhäusern. Rauch kräuselte aus den Kaminen, der Schnee glänzte auf den Dächern.

Weiter unten, wo der Weg den Wald verließ und zwischen niederen Steinmauern über die Felder bis zum Schulhaus führte, kam Mutter herauf. Langsam schritt sie voran, blieb ab und zu ein paar Sekunden stehen und verschnaufte. Manches Mal hob sie die Hand vor die Augen, um sie vor den blendenden Strahlen der Sonne zu schützen, und schaute sich um. Maria sprang vom Baum herunter und lief ihr entgegen. Aber Mutter breitete nicht, so wie Vater immer, die Arme aus, damit man sich bedenkenlos hineinstürzen konnte. Sie blieb nur stehen und schaute ihrem Kind entgegen.

»Maria! Nun, wie geht’s? Hast du Großmutter geholfen, das Poppele zu versorgen?«

Das hatte Maria vergessen! Sie war daheim geblieben, um Großmutter Arbeit abzunehmen, hatte sich aber den ganzen Vormittag um nichts gekümmert. Doch nun war es sowieso zu spät.

»Mutter«, sagte Maria, »Onkel Hermann ist bei uns.« »Onkel Hermann, um Gottes willen!« rief die Mutter. »Er hat Urlaub, gerade seit einer Stunde ist er hier. Er hat

mir Schokolade mitgebracht.« »So. Schokolade«, wiederholte die Mutter. »Ja. Für dich habe ich auch ein Stückchen aufgehoben. Er

bekam eine Art Sonderzuteilung.« »So. Eine Sonderzuteilung«, sagte Mutter. »Was hast du?« fragte Maria. »Freust du dich gar nicht, daß

Onkel Hermann gekommen ist? Als er letztes Mal Urlaub hatte, hast du dich so gefreut!«

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»Doch, doch. Ich freue mich schon, natürlich. Wo ist er jetzt? Was macht er?«

»Er sitzt in der Küche und trinkt Kaffee und redet mit Großmutter.«

»Hm«, sagte Mutter, »das ist eine Überraschung. Wir werden für ihn auf dem Diwan in der Stube eine Schlafgelegenheit herrichten. Wie lange wird er bleiben?«

Maria zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht. Habe mich nicht getraut, ihn zu fragen. Wo er doch erst gekommen ist.«

»So«, sagte Mutter. »Hoffen wir, daß alles gutgeht.« Maria stapfte neben der Mutter her. Der Weg war nur auf

einem schmalen Streifen ausgetreten, und sie mußten eng nebeneinander gehen. Mutter legte den Arm um ihre Schultern.

Maria hätte gerne gesagt: »Mutter, ich weiß, daß du einen Russen auf dem Dachboden versteckt hältst. Du kannst mir alles sagen. Warum hast du kein Vertrauen zu mir?« Aber sie brachte es nicht zustande. Ihr war klar, daß auch Mutter sich Sorgen machte, daß sie beunruhigt war über die Ankunft von Onkel Hermann. Sie traute ihm nicht. Wie ein Blitz durchzuckte sie dieser Gedanke. Mutter traute Onkel Hermann nicht. Sie traute ihrem Bruder nicht. Mutter beschleunigte ihre Schritte, der Schnee knirschte unter ihren Füßen. »Der verfluchte Krieg«, stieß Mutter hervor. »Dieser verfluchte Krieg.«

Maria schaute erschrocken auf. So etwas durfte man doch nicht sagen.

»Nichts als Elend, wohin man schaut. Den Schuldirektor Volger haben sie letzte Woche verhaftet. Wegen staatsfeindlicher Tätigkeiten. Seine Frau hat einen Nervenzusammenbruch erlitten. Sie haben ihn nach Berlin transportiert. Und dann diese Kriegsgefangenen. Die Zwangsarbeiter. Die Männer sind im Krieg, und statt dessen werden Ausländer gezwungen, hier zu arbeiten. Wer macht die Arbeit, die sie früher bei sich zu Hause gemacht haben? Oder

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die Bomben. Gestern nacht ist Innsbruck wieder bombardiert worden. Es gab Tote. Und von Vater seit vierzehn Tagen keine Nachricht.«

»Aber jetzt ist wenigstens Onkel Hermann gekommen.« »Ja«, seufzte Mutter. »Onkel Hermann ist gekommen.

Großmutter wird sich freuen.« »Ich glaube, es wäre ihr lieber gewesen, wenn statt ihm

Onkel Fritz hier wäre«, sagte Maria. »Sei still«, rief Mutter. »So etwas darfst du nicht sagen!

Hörst du! Niemals. Denk dir, Onkel Hermann würde deine Worte hören.«

»Aber es ist doch wahr. Großmutter hat Onkel Fritz viel lieber. Ihm schreibt sie jede Woche, und für ihn strickt sie neue Socken und Handschuhe.«

»Wahr, wahr. Natürlich ist es wahr«, rief Mutter heftig. »Vieles ist wahr, und trotzdem kann man es nicht einfach so hinausposaunen.«

»Zu Onkel Hermann sage ich es ja nicht, nur zu dir.« »Dann ist es ja gut. Mit mir sollst du sogar darüber reden,

weil ich dir sagen kann, warum das so ist. Großmutter hat Onkel Hermann sehr gern. Daß sie Onkel Fritz noch lieber mag, liegt daran, daß er ihr jüngstes Kind ist und noch zu Hause war, als die anderen schon längst weit weg von ihr waren. Das muß man wissen, und deshalb darf man Großmutters Vorliebe für Fritz nicht persönlich nehmen.«

Aber Maria wußte, Mutter nahm das selber manchmal persönlich. Sie war ja auch nicht das Lieblingskind ihrer Mutter. Doch fünf Minuten später schien alle Mißstimmung wie weggewischt. Willi und Spitz waren vom Hunger getrieben in die Küche gekommen. Spitz stand vor seiner Schüssel und fraß sein Mittagessen. Willi saß am Tisch, hatte in der einen Hand einen Löffel und in der anderen eine Gabel und wartete ungeduldig auf die Suppe.

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Mutter umarmte ihren Bruder, drückte ihn fest an sich. »Wie schön, daß du da bist.« Es klang ehrlich.

»Hoffentlich komme ich nicht ungelegen. Hast du ein Plätzchen für mich zum Schlafen?«

»Klar. Du schläfst einfach in der Stube. Da hast du es fein warm.«

»Ich würde gerne bis Dienstag bleiben, wenn es dir keine Umstände macht. Dann besuche ich noch Luise. Vier Tage bleiben mir für sie.«

Luise war seine Verlobte. Maria kannte sie gut. Sie wohnte in Landeck und kam manchmal auf Besuch.

»Am Sonntag muß ich wieder an die Front.« »Wieder nach Osten?« »Ja. Ich bin noch immer bei der Partisanenbekämpfung.« Partisanen. Das war wieder so ein Wort, bei dem Maria

nicht wußte, was sie davon halten sollte. Für die Lehrerin hatte das Wort eine klare Bedeutung. Partisanen waren Banditen, heimtückische und grausame Banditen. Sie arbeiteten hinter der Front. In bereits besiegten Gebieten überfielen sie arglose deutsche Soldaten in ihren Unterkünften oder sonstwo, sprengten Züge in die Luft, beschädigten Brücken, betrieben Sabotage. Für den Briefträger jedoch waren sie Helden. Gerne erzählte er am Morgen in Mutters Küche von ihren allerneuesten Taten, über die er auf geheimnisvolle Weise erfahren hatte. Partisanen gab es in vielen Gebieten. In Frankreich, in Jugoslawien, in Rußland, Polen, überall, wo Hitler seine Armeen hingeschickt hatte. Der Briefträgerbehauptete, auch in Österreich gäbe es Partisanen, besonders in seiner alten Heimat Kärnten, wo seine Eltern heute noch lebten. Hier hatten sich Partisanenverbände gebildet, die in den Bergen lebten und die deutschen Soldaten bekämpften.

»Und bei der Partisanenbekämpfung gibt es Sonderzuteilungen«, sagte Großmutter. Mutter warf Großmutter einen kurzen Blick zu.

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»Aber Mutter«, sagte Onkel Hermann, »was soll das, Krieg ist Krieg. Entweder sie oder wir, das ist so. Da kann man nichts machen. Da brauchst du gar nicht so zu schauen.«

»Maria, ich bitte dich. Steh nicht herum und sperr Mund und Ohren auf«, rief Mutter ungeduldig. »Hol das Besteck aus der Lade und decke den Tisch. Onkel Hermann wird bestimmt schon hungrig sein.«

Maria zog den Kopf zwischen die Schultern. Das war wieder einmal typisch. Wenn Mutter schlechter Laune war oder irgendwelche Schwierigkeiten hatte, war sie patzig zu Maria. Manchmal auch zu Willi, immer aber zu Maria. In diesem Augenblick fing Lisa an zu weinen.

»Das Poppele hat auch Hunger«, erklärte Willi sachkundig und klopfte mit seinem Löffel auf den Tisch. »Hunger, Hunger, Hunger.«

»Es gibt ja gleich was zu essen«, sagte Großmutter. »Regt euch bloß nicht auf, weil das Mittagessen eine halbe Stunde später fertig wird als gewöhnlich. Andere Kinder können sich die ganze Woche nicht satt essen.«

Onkel Hermann trat ans Gitterbettchen und nahm das Kind heraus. Er trug es ein wenig herum und wiegte es, worauf es augenblicklich still wurde und zufrieden an seinem Luller nutschelte.

»Verwöhnt ist der kleine Fratz«, sagte Mutter. Inzwischen hatte Großmutter den dünnen Milchbrei abgekühlt und in das Trinkfläschchen umgefüllt. Sie wischte es an ihrer Schürze trocken und hielt es probeweise nochmals an ihre Wange. Es hatte die richtige Temperatur. Nun war alles bereit. Als Lisa das Fläschchen sah, spuckte sie den Schnuller in hohem Bogen auf den Boden und tappte mit beiden Händen nach dem Fläschchen.

»Ein vifes Mädchen«, sagte Onkel Hermann. Er nahm Großmutter das Fläschchen aus der Hand, setzte sich auf die Bank am Fenster und begann das Kind zu füttern.

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»Du hättest ein wunderbarer Kinderpfleger werden können«, sagte Mutter lachend.

»Oder ein großartiger Vater«, meinte die Großmutter. Sie war nicht zufrieden damit, daß Onkel Hermann erst verlobt war und noch immer keine richtige Familie hatte.

»Das wird nachgeholt«, sagte Onkel Hermann. »Nach dem Krieg wird das alles nachgeholt. Ich heirate die schönste Frau von Landeck, und die setzt dir Enkel in die Welt, so viele du dir wünschst. Schöne Enkel.«

Aber Großmutter war nicht zum Scherzen aufgelegt. »Ach, wer weiß, wie lange der Krieg noch dauern wird. Und was wird nachher sein?«

»Wart nur, bis wir die Wunderwaffe haben«, sagte Onkel Hermann. »Mit der Wunderwaffe haben wir den Krieg in einer Woche gewonnen. Du wirst schon sehen.«

»Und wenn ihr sie nicht kriegt, eure Wunderwaffe?« fragte Großmutter.

»Wir werden sie schon kriegen, verlaß dich darauf, Mutter. Und dann werden wir der ganzen Welt zeigen, daß Deutschland unbesiegbar ist.«

Maria war getröstet. Wir arbeiten an der Wunderwaffe. Sobald wir sie haben, gewinnen wir den Krieg. Dann ist er aus. Dann kommt Vater nach Hause. Auch die Kriegsgefangenen werden heimgehen können. Und die Zwangsarbeiter. Und Onkel Hermann, das sah Maria nun ganz deutlich, war bestimmt kein Verbrecher. Ein Mann, der einem Kind die Flasche gab und es herumtrug und in seinen Armen schaukelte, konnte doch kein Verbrecher sein! Der Briefträger irrte sich. Die Soldaten der SS waren anständige Leute. Sie brachten den Kindern Schokolade heim und streichelten die Hunde und fütterten die Säuglinge. Die Lehrerin hatte recht: Im Feld waren sie Helden, und zu Hause waren sie liebenswürdige Väter und Onkel.

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Nach dem Essen sagte Mutter zu Maria, sie solle mit ihr in die Stube gehen, um ihr zu helfen, die gewaschenen

Vorhänge zusammenzulegen und aufzuhängen. »Laß nur, das mach ich schon«, sagte Onkel Hermann. Mutter jedoch bestand darauf, daß Onkel Hermann in der Küche bleiben und Großmutter Gesellschaft leisten möge.

»Und überhaupt«, sagte sie, »es ist wichtig für ein junges Mädchen, wenn es lernt, im Haushalt mitzuhelfen. Das predigt der Nationalsozialistische Frauenbund doch auch dauernd, nicht wahr?«

(NS-Frauenbund: Nationalsozialistische Frauenorganisation)

Mutter machte die Stubentür gut zu. »Höre, Maria«, sagte Mutter, »ich muß dir etwas sagen.«

Maria spürte ihr Herz im Hals klopfen. Etwas sagen. Mit diesen Worten begann Mutter für gewöhnlich die Ermahnungen und Vorhaltungen, wenn ihre Kinder etwas angestellt hatten. Blitzschnell erforschte Maria ihr Gewissen. Für heute jedenfalls war es rein. Und gestern? Nun ja, gestern hatte sie ihr Lineal gegen das Abziehbild von Hans eingetauscht. Das war natürlich eine Art Straftat. Erstens mochte es Mutter absolut nicht, wenn ihre Kinder Tauschgeschäfte tätigten. Und dann war das Lineal ein nützlicher Gegenstand und einer, den man für die Schule braucht. Während ein Abziehbild nichts war als halt schön. Etwas Schönes zum Freuen. Womöglich war Mutter hinter das Tauschgeschäft gekommen. Vielleicht war sie auf dem Weg zur Kirche ein Stück mit Hans gegangen, und der hatte ihr in seiner grenzenlosen Dummheit von der Tauscherei erzählt?

Aber Mutter wollte etwas anderes von Maria. »Ich kann dir nicht sagen warum, aber es ist sehr wichtig,

daß Onkel Hermann das Haus verläßt und mindestens eine

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halbe Stunde nicht zurückkommt. Vielleicht bittest du ihn, daß er mit dir rodeln geht. Das tut er bestimmt. Es ist wichtig.«

Aha, dachte Maria, der Russe! Mutter will ihn warnen. Vielleicht ist es ihr zu gefährlich, einen Kriegsgefangenen – einen Russen – und einen Soldaten der Waffen-SS unter einem Dach zu haben. Aber was wollte sie machen? Sie konnte doch den Russen nicht einfach vor die Tür setzen. Wo er doch verwundet war und der Arm immer schlimmer wurde.

»Mutter«, sagte Maria, »Mutter ...« Sie stockte. Sie wagte nicht weiterzusprechen.

»Nun, was ist?« fragte Mutter. Ihre Stimme klang ungeduldig. Maria traute sich überhaupt nicht mehr weiterzufragen.

»In Ordnung«, sagte Maria, »ich werde Onkel Hermann bitten, daß er mit mir rodeln geht.«

»Gut«, sagte Mutter, »sehr gut. Eine halbe Stunde genügt. Dann habe ich alles erledigt.«

»Aber was willst du erledigen?« »Ich habe dir schon gesagt, daß ich darüber nicht reden darf,

du mußt Vertrauen zu mir haben. Später werde ich dir alles erzählen.«

»Wann später?« »Sobald der Krieg vorbei ist.« »Nach dem Endsieg?« »Endsieg gibt’s keinen«, rief Mutter. »Ich bitte dich, hör

auf, mit Schlagwörtern herumzuwerfen, von denen du nichts verstehst.«

»Aber das sagt doch die Lehrerin immer.« »Auch Lehrerinnen können sich irren. Und jetzt bitte, schau,

daß Onkel Hermann aus dem Haus kommt, ja?« Maria ging. Besonders paßte es ihr nicht, hinaus in die

Winterkälte zu gehen. In der Stube hier am Kachelofen war es so warm und gemütlich. Zudem hatte sie das Buch, das ihr die

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Lehrerin vorige Woche geliehen hatte, auch noch nicht ausgelesen. Onkel Hermann aber war von der Idee begeistert.

»Natürlich gehe ich mit dir rodeln. Bei diesem schönen Wetter wäre es sehr schade, daheim zu bleiben. Ich mag die frische Winterluft.«

Maria holte den Schlitten aus dem Holzschuppen, eine große, stabile Rodel, auf der sogar drei, nicht nur zwei Leute Platz fanden. Onkel Hermann nahm ihr die Schnur aus der Hand.

»Die Rodel ziehe ich.« Sie wollten schon losgehen, da fing Spitz hinter der

verschlossenen Tür wie verrückt zu bellen an. »Darf ich ihn mitnehmen?« fragte Maria. »Na klar, wenn er gerne mitgeht, nehmen wir ihn mit.« Zu dritt wanderten sie den Weg Richtung Oberberg hinauf.

Spitz freute sich, daß er mitgehen durfte. Er lief ein Stück vor, dann wieder zurück, sprang den Schneeballen, die Maria ihm zuwarf, nach und wedelte in einem fort mit dem Schwanz.

»Na, der wenigstens freut sich des Lebens«, sagte Onkel Hermann.

Eine gute Stunde stiegen sie bergauf. »Wie kommt Spitz wieder heim?« fragte Onkel Hermann. »Er kann unmöglich so schnell laufen, wie wir mit der Rodel fahren.«

»Wir lassen ihn bei uns aufsitzen. Das macht er gerne«, sagte Maria.

»Na schön, wie du meinst.« Die Sonne schien, und es war nicht mehr so kalt wie am

Morgen. Durch das Steigen war ihnen recht warm geworden. Maria hätte der Ausflug sehr gut gefallen, wenn sie nicht dauernd hätte an den Russen denken müssen. Was würde Mutter mit ihm machen? Maria tat es nun sehr leid, daß sie Mutter nicht einfach gefragt hatte. Nun ging ihr diese Geheimniskrämerei langsam auf die Nerven.

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»Du bist so still«, sagte Onkel Hermann. »Was ist los? Gefällt dir unsere Rodelpartie nicht?«

»Doch, mir gefällt’s schon.« »Was wirst du nächstes Jahr machen, wenn du mit der

Volksschule fertig bist?« »Nächstes Jahr gehe ich in die Hauptschule nach Zell.« »Da mußt du jeden Tag eine Stunde den Berg hinauf und

hinunter gehen.« »Ja«, bestätigte Maria. »Ist das nicht ein bißchen weit?« »Ich bin ja dann schon fast elf Jahre. Die Leitnerkinder

müssen schon mit sechs Jahren einen Schulweg von einer Stunde und die Kinder vom Birknerhof gar einen von fünf Viertelstunden zurücklegen.«

Knapp vor dem Anwesen des Leitnerbauern stand eine mächtige alte Esche. Einmal war sie von einem Blitz getroffen worden. Nun hatte sie einen gespaltenen Wipfel. Wie ein dichtgesponnenes Netz zeichneten sich die unzähligenblattlosen Ästchen gegen den tiefblauen Himmel ab. Maria und Hermann setzten sich auf die Rodel und rasteten. Maria hob den Kopf und ließ sich die Sonne aufs Gesicht scheinen. Spitz war nicht müde. Er lief herum, bohrte die Schnauze tief in den Schnee hinein. Dann fing er plötzlich wie ein Wilder mit beiden Vorderpfoten zu wühlen an, daß es nur so staubte.

»Also«, sagte Onkel Hermann nach einer Weile, »nun wollen wir einmal schauen, wie Spitz das Schlittenfahren gefällt.«

»Ich weiß schon, wie wir es machen. Ich sitze ganz vorne, du hinten, und Spitz nehmen wir zwischen uns.«

»Und wer soll lenken?« »Du natürlich«, erklärte Maria großzügig. »Du bist der

Älteste.« »Also gut. Aber halte dich fest. Ich fahre gerne schnell.« »Ich auch«, sagte Maria. »Je schneller, desto lieber.«

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Leider war Spitz mit der Sitzordnung, welche die zwei sich ausgedacht hatten, überhaupt nicht einverstanden. Wahrscheinlich kam er sich eingeklemmt vor. Er stemmte seine Vorderpfoten mit aller Kraft gegen den Rücken von Maria und versuchte mit seinen Hinterpfoten und seinem Schwanz Onkel Hermann abzudrängen. Ununterbrochen klagte, winselte und jaulte er. Schließlich nahm Maria ihn nach vorne. Zum Glück war ihre Pelerine so weit und groß geschnitten, daß Spitz leicht darunter Platz hatte, so daß er nun dicht an Marias Brust geschmiegt war, warm gehalten von dem dicken Lodenstoff und ganz eingehüllt von dem Geruch seines vielgeliebten Menschen. Da war er zufrieden wie ein Kätzchen, rollte sich zusammen, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und rührte sich nicht mehr. Maria umschlang mit der linken Hand ihren Hund, mit der rechten hielt sie sich an der Rodel fest.

»Achtung, fertig, los«, rief Onkel Hermann – und schon ging’s dahin.

Sie hatten schon eine tolle Geschwindigkeit drauf, als sie plötzlich nach einer Kurve zwei Leute den Weg heraufkommen sahen. Maria und Onkel Hermann schrien aus Leibeskräften »Aus! Aus!«, denn zum Ausweichen war beim besten Willen kein Platz, und zum Bremsen und Stehenbleiben war der Abstand zwischen den Leuten und der Rodel viel zu knapp. Auch Spitz wurde durch das Geschrei von Maria aufgeschreckt und fing zu bellen an. Die zwei Frauen, es waren die Schwestern vom Gruberhof, retteten sich mit einem Satz auf den Zaun. Lachend winkten sie ihnen von ihrem sicheren Platz aus zu, aber da war die Rodel schon vorbei und um die nächste Kurve geflitzt. Vor dem Schulhaus kamen sie mit einem elegant eingeleiteten Bremser zum Stehen.

»Ah, das war schön«, sagte Maria. Spitz sprang mit einem Jauler auf den Boden.

»Ja, ja, dir hat’s auch gefallen«, sagte Onkel Hermann und fuhr Spitz ein paarmal zärtlich übers Fell.

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Mutter arbeitete in der Küche herum. Als Maria eintrat, gab sie ihr mit einem Blick zu verstehen, daß alles in Ordnung war.

»So, jetzt trinkt einmal einen heißen Tee, das wird euch guttun nach eurer Rodelpartie«, sagte sie. Sie setzten sich um den Tisch. Aus der Teekanne stiegen weiße Dampfwölkchen. Ein geflochtener Korb mit aufgeschnittenem Brot stand da, ein großer Topf mit Grammelschmalz und ein Glas Marmelade. Kaum hatte Maria es sich gemütlich gemacht, kam Kitty unter der Bank hervor und sprang ihr auf den Schoß. Sie kuschelte sich zusammen, zog die Hinterbeine an, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und wartete. Maria begann sie zu streicheln, und wie immer, nach dem neunten oder zehnten Streichler, fing Kitty zu schnurren an. Heute aber hatte Maria nicht Zeit, den ganzen Abend still zu sitzen und mit der Katze zu schmusen. Sie wollte so rasch wie möglich erfahren, was mit dem Russen passiert war. Als sie den Tee ausgetrunken hatte, setzte sie die Katze auf den Boden und stand auf.

»Wo gehst du hin?« fragte die Großmutter. Maria wußte in der Eile nicht, was sie antworten sollte. Sie

konnte gut Ausreden erfinden, aber dazu brauchte sie Zeit. Also murmelte sie etwas von einem Heft, das sie im Klassenzimmer liegengelassen habe und aus dem sie heute noch etwas lernen mußte.

»Du bist ja wieder einmal früh dran!« sagte die Großmutter. »Und vergiß nicht, den Schlüssel mitzunehmen. Die Klasse ist schon abgesperrt.«

Maria nahm den Schlüssel, der immer am Haken hinter der Küchenkredenz hing.

Auf dem Dachboden herrschte totale Finsternis. Zwar hatte Maria im oberen Stock das Licht eingeschaltet, aber sein Schein reichte nur bis zur Mitte der Treppe. Maria rief leise: »Hallo, Herr Boris, hallo!« Sie wunderte sich über sich selbst. Noch vor zwei Tagen hätte sie es nicht gewagt, so spät am Abend allein auf den Dachboden zu gehen. Heute machte es ihr

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nichts mehr aus. Aber eigentlich war das auch logisch. Sie war ja nicht allein. Auf dem Dachboden war Boris – wenn, ja wenn er überhaupt noch da war.

»Boris«, rief Maria noch einmal, »ich bin’s, keine Angst. Geben Sie mir Antwort.«

Da löste sich aus dem Dunkel ein heller Fleck. »Maria, hier bin ich. Was willst du?« »Aha, hier sind Sie. Ich wollte nur wissen, ob Sie überhaupt

noch da sind.« »Warum hast du nicht einfach deine Mutter gefragt? Du

solltest nicht zu oft heraufkommen. Das könnte auffallen.« »Mutter hat ja keine Ahnung, daß ich von Ihnen weiß.« »Ich glaube, du solltest einmal mit ihr darüber reden.« »Das wollte ich eigentlich schon längst. Aber dann hat sich

wieder keine Gelegenheit dazu ergeben. Oder ich habe mich nicht getraut. Aber ich geh schon wieder, Hauptsache, daß Sie noch da sind.«

Boris berührte leicht ihren Arm. »Du bist ein liebes Mädchen«, sagte er. »Deine Mutter hat Angst bekommen. Du weißt schon, wegen deinem Onkel. Er ist ein überzeugter Nationalsozialist. Solche Leute sind unberechenbar. Aber schließlich hat Mutter eingesehen, daß ich im Augenblick nirgendwoanders hingehen kann. Mein kranker Arm erlaubt mir nicht, ein anderes Versteck zu suchen.«

»Ich war heute mit Onkel Hermann rodeln. Wir haben es fein gehabt. Ich mag Onkel Hermann.« Maria hatte das Gefühl, Onkel Hermann in Schutz nehmen zu müssen.

Boris antwortete nicht. Schließlich räusperte er sich. »Natürlich ist dein Onkel Hermann nett zu dir. Und du magst ihn. Das ist schön. Aber du darfst ihm trotzdem kein Wort über mich sagen. Er ist sicher sehr pflichtbewußt und würde glauben, es sei seine Pflicht, mich anzuzeigen. Für ihn bin ichein Volksfeind oder so etwas Ähnliches.«

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»Das weiß ich schon«, sagte Maria, »daß ich Onkel Hermann nichts sagen darf. Das ist mir klar. Aber so – so ist er sehr nett, der Onkel Hermann, sehr nett. Er spielt mit Spitz und füttert das Poppele.«

»Ja, das glaube ich dir gerne. Und es freut mich wirklich, ich bin froh, daß du einen Onkel hast, den du magst. Aber wir müssen in den zwei Tagen trotzdem sehr vorsichtig sein. Und jetzt geh schnell hinunter in die Küche, damit niemand Verdacht schöpft.«

»Ja«, sagte Maria, »ich gehe schon, auf Wiedersehen. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Maria«, antwortete Boris. Maria machte leise die Dachbodentür zu. Um Großmutter –

falls sie nachfragen würde – nicht noch einmal belügen zu müssen, sperrte sie das Klassenzimmer auf und holte ihr Heft aus der Bank. Am Abend und ohne Schüler schaute der Raum ganz anders aus als sonst. Die Verdunklung war zugezogen, so daß die Fenster wie schwarze, geschlossene Augen wirkten. Auf der großen Wandtafel standen noch ein paar Gleichungen von der Rechenstunde am Samstag. Für gewöhnlich wusch Mutter, wenn sie das Klassenzimmer ausfegte, auch die Tafel sauber. Aber dieses Beispiel wollte Fräulein Hauser nicht gelöscht haben. Mit ihrer zierlichen Schrift hatte sie darübergeschrieben: Bitte stehenlassen. Der Ofen war natürlich ganz ausgekühlt. Mutter hatte schon die Asche ausgeräumt und neues Holz und Papier für das morgige Feuermachen hergerichtet. Sie hatte dünne Späne geschnitten und sie im Ofen kunstvoll auf zusammengeballtes Papier geschichtet. Vater hatte eine andere Methode, Feuer zu machen. Aus weichem Holz schnitzte er sogenannte Schrefen, das waren Späne, die so zart waren, daß sie sich aufringelten. An dem vorderen Drittel des Scheites ließ er sie stehen. Diese Schrefen fingen leicht Feuer und entzündeten rasch die dicken Holzprügel. Maria betrachtete Mutters Vorbereitungen, und

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plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. Wie lange mußte Vater noch an der Front sein? Wann würde er endlich wiederkommen? Würde er – würde er überhaupt zurückkommen?

Maria preßte das Heft an sich und lief die Treppe hinunter. Sie ging gar nicht mehr in die Küche, sondern sofort ins Zimmer, zog sich aus und legte sich ins Bett. Sie fühlte sich sehr müde.

Auch Onkel Hermann mußte wohl sehr müde gewesen sein. Die Kammer, in der Großmutter und Maria schliefen, war nur durch das Wohnzimmer zu erreichen. Als Maria am nächsten Morgen frühstücken ging, lag Onkel Hermann tief in seinen Kissen vergraben auf dem Diwan und stieß in unregelmäßigen Abständen röchelnde Schnarcher aus. In der Küche saß schon der Briefträger vor seiner Schale Kaffee. Er trug die hübsche blaue Uniform der Briefträger. Den leeren Ärmel hatte er umgeschlagen und mit einer großen Sicherheitsnadel am oberen Ende festgesteckt. In den ersten Tagen des Krieges in Polen hatte ihm ein Granatsplitter den linken Arm zerfetzt. Man mußte ihn bis auf einen kurzen Stumpf abnehmen.

»Guten Morgen«, grüßte Maria, als sie die Küche betrat. Mürrisch schaute der Briefträger auf. »Guten Morgen«, murmelte er.

Maria wunderte sich. Was hatte er nur? Für gewöhnlich war er am Morgen immer gut aufgelegt. Großmutter werkelte am Herd herum. Sie klapperte mit den Ringen, legte neues Holz aufs Feuer und rührte eifrig im Töpfchen, in dem der Milchbrei fürs Poppele brodelte. Willi saß schon am Tisch und aß Marmeladebrote. Endlich beendete Großmutter die Kocherei. Sie füllte sich eine Schale mit Kaffee und setzte sich zum Briefträger. »Na, was gibt’s Neues?« fragte sie.

»Neues?« schniefte der Briefträger. »Neues gibt’s genug, Mutter.« Er nannte sie immer Mutter, obwohl sie nicht einmal verwandt miteinander waren. Doch das störte niemanden.

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»Nun, dann erzähl!« »Niemals! Ich werde mich hüten, ein Wort zu sagen,

solange der Herr SS-Standartenführer im Haus ist.« »Nanana«, sagte die Großmutter. »Jetzt mach aber einen

Punkt. Der Hermann ist immerhin mein Sohn, und bei mir wird ihm die Tür offenstehen, wann immer er kommen will.«

»Schokolade hat er mir auch mitgebracht«, sagte Maria. »Und gestern war er mit mir rodeln.« Sie mochte es nicht, daß der Briefträger in einem so verächtlichen Ton von Onkel Hermann sprach. Kitty hingegen schien das nichts auszumachen. Sie umstrich, den Schwanz hochgestellt, die Stiefel des Briefträgers und sprang schließlich mit einem Satz auf seinen Schoß. Ihn störte das nicht, er tauchte sein Schwarzbrot in den Kaffee und aß ruhig weiter.

»Ich versteh nicht, wie jemand mit so einer Mutter zur SS gehen kann«, bemerkte er nach einer Weile.

»Red keinen Unsinn«, sagte die Großmutter, »was hätte er denn machen können? Keine Berufsausbildung, nur acht Klassen Volksschule. Und als der vifste Bursche, der er war? Die SS, das war seine Chance. Kann man es einem jungen Menschen verübeln, wenn er die Chance seines Lebens ergreift?«

»Chance! Hahaha!« Der Briefträger stieß ein häßliches Lachen aus.

»Maria, schau, ob die Stubentür gut zu ist«, sagte die Großmutter.

Maria stand auf und schaute nach. Die Stubentür war fest verschlossen. Das einzige Geräusch, das man hören konnte, war das Schnarchen von Onkel Hermann. Sie kehrte wieder in die Küche zurück. »Alles in Ordnung«, beruhigte sie Großmutter.

»Wie lange bleibt er denn?« fragte der Briefträger. »Morgen fährt er zu seiner Verlobten. Ende der Woche muß

er wieder an die Front. Da kannst du sagen, was du willst, aber

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daß er zwei von sechs Tagen bei seiner alten Mutter verbringt – das ist schön von ihm.«

»Ja, ja, ich behaupte ja nicht, daß er ein schlechter Sohn ist. Ich behaupte nur, daß keiner bei der SS schuldlos bleiben kann.«

»Ich hab dir schon gesagt, es war seine einzige Chance.« Großmutter zupfte nervös an ihrem Brot herum.

»Schöne Chance. Monatelang im Krieg, eine Woche Sonderurlaub. Ich für meine Person renn lieber bei jedem Wetter den Berg auf und ab und trage meine Briefe aus, als daß ich die steilste Karriere beim Hitler machen möchte; selbst wenn ich nur das Allernotwendigste zum Beißen habe und froh bin um die Schale Kaffee und das Stück Brot, das ihr mir jeden Tag hinstellt.«

In der rechten Hand hielt er das Brot und führte die Tasse zum Mund; den Armstumpf, der sonst zu nichts mehr zu gebrauchen war, hob und senkte er unablässig. So versuchte er seine Worte zu unterstreichen.

»Aber«, fuhr er nach einer Sekunde Nachdenken fort, »das dicke Ende kommt erst.«

»Was willst du damit wieder sagen?« Der Briefträger winkte ab. »Ach nichts, nichts. Aber wenn

der Krieg aus ist, möchte ich nicht bei der SS gewesen sein.« Großmutter wandte dem Briefträger voll ihr Gesicht zu.

»Die Kinder gehen ihre eigenen Wege. Du hast keine, so kannst du das nicht wissen.«

»Mag sein«, sagte der Briefträger, »aber nach dem Krieg sind Leute wie dein Hermann dumm dran. Im Grunde ist er das schon heute. Nur sieht man’s zur Zeit noch nicht so deutlich.«

»Ach, Briefträger, da täuschst du dich«, sagte die Großmutter. »Ich seh’s schon.«

»Hast recht, Mutter, hast recht«, sagte der Briefträger. »Auch ich hab ihm gestern, wie ich ihm auf dem Heimweg begegnet bin, angesehen, daß es ihm dreckig geht.« In diesem

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Augenblick klopfte es, und Fräulein Hauser betrat die Küche. Ihre Wangen waren gerötet. Die Augen strahlten.

»Heil Hitler«, schmetterte sie. »Grüß Gott«, sagte die Großmutter. »Guten Morgen«, sagte der Briefträger. »Heute ist es aber wieder kalt«, sagte die Lehrerin. »Wie geht’s?« fragte der Briefträger. »Sie haben den

Sonntag ja wieder bei Ihren Eltern in der Stadt verbracht. Auf unsere Gauhauptstadt hat’s einen Bombenangriff gegeben, habe ich gehört.«

»Ja, ja, wir haben die letzte Nacht in den Luftschutzkeller müssen. Aber es war nicht so schlimm. Man darf nur nicht nervös werden.«

»Ganz richtig, ganz richtig«, meinte der Briefträger. »Immer nach der Devise: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.«

Die Lehrerin schaute den Briefträger zweifelnd an. Sie war sich nicht ganz sicher, ob er es ernst meinte oder sich wieder einmal über sie lustig machen wollte. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Denken Sie eigentlich manchmal auch an unsere Soldaten, Herr Briefträger? Daran, was sie mitmachen müssen? Bei Kälte bis minus fünfzig Grad kämpfen sie tapfer und unerbittlich um jeden Fußbreit Boden. Da müssen auch wir uns an der Heimatfront würdig zeigen.«

Der Briefträger verzog das Gesicht. »Bravo, bravo«, sagte er. »Hören Sie, ich sage Ihnen ein Gedicht auf, das ich heute morgen in der Zeitung gelesen habe. Das trifft, scheint mir, genau Ihre Einstellung. Dabei ist es so einprägsam, daß ich es beim zweitenmal Lesen schon behalten habe.« Er stand auf. Die Katze sprang verdutzt auf den Boden. Dann stieß sie einen kurzen Schrei aus zur Warnung, damit der Mensch nicht erschrecken sollte, und schnellte mit zwei Sätzen auf seine Schulter. So leicht ließ sie sich nicht vertreiben. Der Briefträger beugte ein wenig den Rücken, um der Katze einen

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bequemen Sitz zu ermöglichen, dann hob er den Kopf und begann zu deklamieren:

»Schreibt Lise einen Feldpostbrief, dann ist der Inhalt positiv, voll Liebe und Vertrauen. Ein Brief aus miesem Horizont kann den Soldaten an der Front die Stimmung nur versauen.«

Er schaute die Lehrerin erwartungsvoll an. »Nun, was sagen Sie dazu? Schön, nicht?«

»Sie sollten sich schämen, Herr Briefträger«, sagte die Lehrerin. »Auch wenn dieses Gedicht nicht gerade ein poetisches Meisterwerk ist, so drückt es doch den guten Willen des Schreibers aus. Und das ist das entscheidende in unserer Zeit.«

Der Briefträger ließ sich wieder auf den Sessel fallen. Nun hatte Kitty endgültig genug. So ein Hin und Her, Auf und Nieder wird selbst der gutmütigsten Katze einmal zu dumm. Mit einem kurzen mißmutigen Seufzer verließ sie die breiten Schultern des Gastes und verschwand unter der Kredenz.

Die Lehrerin wandte sich an Großmutter. »Frau Singer, verzeihen Sie die Frage. Wem gehört denn der

Wehrmachtsmantel, der draußen hängt?« »Der gehört Onkel Hermann, dem Sohn von Großmutter«,

rief Maria. »Er hat Urlaub.« »Oh, du hast einen Onkel, der Soldat der SS ist? Wie schön!

Er hat Urlaub? Dann werde ich ja seine Bekanntschaft machen können. Wie schön!« Die Lehrerin war entzückt. Vor freudiger Erregung schlug sie die Hände zusammen. Maria fand es ein wenig übertrieben. Schließlich wußte die Lehrerin noch gar nicht, wie Onkel Hermann war. Freundlich oder mürrisch, groß

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oder klein, klug oder dumm? Wie konnte sie sich da auf seine Bekanntschaft freuen?

Der Briefträger saß am Tisch und schaute finster in seine Tasse. Großmutter wischte die Tischplatte vor der Lehrerin mit ihrem Schürzenzipfel ab und stellte eine Schale vor sie hin.

»Hier, Fräulein Hauser, trinken Sie Ihren Malzkaffee, solange er noch heiß ist.«

»Ach, Frau Singer«, sagte diese, »glauben Sie, daß Ihr Sohn bereit wäre, für eine halbe Stunde zu unseren Kindern in die Klasse zu kommen? Vom pädagogischen Standpunkt her könnte dies von unschätzbarem Wert sein. Die Kinder lernen einen Soldaten der Waffen-SS persönlich kennen.«

»Aber Fräulein Hauser, ich bitte Sie, es gibt doch kaum eine Familie, die nicht einen Soldaten im Feld hätte. Die Kinder kennen genug Soldaten.«

»Soldat und Soldat ist zweierlei. Einen einfachen Soldaten kann man nicht mit einem Soldaten der Waffen-SS vergleichen.«

»Nein, das nicht, da haben Sie sogar recht«, sagte der Briefträger. Seine Worte klangen so scharf, daß Fräulein Hauser ihn irritiert anschaute. »Wie meinen Sie das? Was wollen Sie damit sagen?«

»Nichts, nichts, ach Gott, nichts.« Der Briefträger stand auf. »Ich muß weiter. Bis morgen also, Mutter«, sagte er zu Großmutter gewandt. »Auf Wiedersehen allseits.«

»Ach, reden Sie doch mit Ihrem Sohn«, bat die Lehrerin, als der Briefträger gegangen war.

Die Großmutter hatte ihren Kaffee ausgetrunken und wirtschaftete wieder in der Küche herum. Das Drängen der Lehrerin ging ihr auf die Nerven. Sie putzte die Herdplatte blank, rührte zwischendurch im Topf mit den eingeweichten Linsen.

»Auch Maria würde sich sehr freuen, nicht wahr, Maria?« sagte die Lehrerin.

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Da drehte die Großmutter sich um. »Ich muß Ihnen in aller Offenheit etwas sagen, sonst geben Sie ja doch nicht auf. Sie können zu Hermann gehen und ihn fragen, was immer Sie wollen. Aber lassen Sie mich aus dem Spiel. Ich will damit nichts zu tun haben. Ich war nämlich von allem Anfang dagegen, daß er zur SS geht. Nur, daß Sie es wissen. Mir war er als einfacher Lagerarbeiter lieber. Viel lieber.« Die Großmutter tat einen tiefen Schnaufer. Sonst blieb es still in der Küche.

Endlich faßte sich Fräulein Hauser. »Frau Singer! Ach, Frau Singer!« murmelte sie, »wenn ich so einen Sohn hätte oder einen Bruder, wie wäre ich stolz auf ihn.«

Maria war alles, was Großmutter gesagt hatte, sehr peinlich. Was sollte die Lehrerin von ihr und ihrer Familie denken, wenn Großmutter solche Dinge erzählte. Sie hätte gerne etwas gesagt, was den ungünstigen Eindruck, den Großmutter durch ihre Reden gemacht hatte, mildern könnte. Aber ihr fiel leider nichts Geeignetes ein. Sie war froh, als die Lehrerin aufstand, ihre Aktentasche nahm und in das Klassenzimmer hinaufging.

In der Nacht wurde Maria wach. Im Zimmer war es dunkel, nur von der Tür her fiel ein schmaler Streifen Licht. Sobald Maria eingeschlafen war, machte Mutter die Tür immer einen Spalt auf. So wurde die Kammer, in der Maria und Großmutter schliefen, von der Stube aus ein wenig angewärmt. Für gewöhnlich herrschte in der Nacht völlige Ruhe. Heute aber war es laut. Maria hörte Gläser klirren, ein kurzes Auflachen der Mutter, Onkel Hermanns lärmende Stimme. Sie streckte den Arm aus und tastete zum Bett der Großmutter hinüber. Es war leer. Da fiel ihr wieder ein, daß Onkel Hermann morgen abreisen würde und die Erwachsenen deshalb Abschied feierten. Auch Maria hatte am Abend ein bißchen mitgefeiert. Onkel Hermann hatte zwei Gläser goldgelben Likör eingeschenkt und mit ihr angestoßen. Bis hinunter zu den

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Zehenspitzen war ihr davon warm geworden. Um neun Uhr hatte Mutter sie aber ins Bett geschickt.

Maria setzte sich auf und spitzte die Ohren. Die Erwachsenen feierten anscheinend immer noch, und wie es schien, sehr laut und sehr fröhlich. Maria kam sich ein wenig ausgeschlossen vor, allein im Zimmer, abgeschnitten von der lustigen Gesellschaft da draußen in der Stube. Genauso allein wie Boris auf dem Dachboden. »Nein«, hörte sie Mutter sagen, »nein, Hermann, da bin ich nicht einverstanden. Das kann nicht gutgehen. Der ganze Krieg kann nicht gutgehen.«

»Verstehst du nicht, daß wir für euch kämpfen? Für euch deutsche Frauen?«

Ja, dachte Maria, und sie war einen Augenblick lang sehr stolz auf Onkel Hermann. Er kämpft für uns, für Großmutter, für Mutter, für mich. Auch für die Lehrerin. Vielleicht war Fräulein Hauser deshalb so begierig, Onkel Hermann kennenzulernen, weil er für sie kämpfte?

»Was glaubst du, Anna, was passiert, wenn die Russen bis ins Reich vorstoßen?« fuhr Onkel Hermann fort. »Oder die Amerikaner? Du mußt dir einmal vorstellen, wie viele Neger die in ihren Armeen haben.«

Jetzt erst fiel Maria auf, daß Onkel Hermann anders redete als gewöhnlich. Lauter, aber auch unsicherer, ein wenig lallend, mit schwerer Zunge.

»Ha«, rief die Großmutter. »Das kommt davon. Zuerst einen Krieg anzetteln, und dann heißt es, ihr müßt für die Frauen kämpfen. Eine Logik ist das.«

»Ihr habt ja gar keine Ahnung, wie rachsüchtig der Russe ist. Wenn ihr das begriffen hättet, würdet ihr anders denken.«

Die Stimme von Onkel Hermann überschlug sich. O Gott, dachte Maria entsetzt, Onkel Hermann, er ist ja betrunken. Er hat einen Rausch. Ja, darf ein SS-Standartenführer denn einen Rausch haben? Die Lehrerin hat doch immer gesagt, daß die SS nur hundertprozentige, treue und pflichtbewußte Männer

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hat. Aber wer trinkt, bis er einen Rausch hat, kann nicht verläßlich und pflichtbewußt und auch nicht treu sein, schon gar nicht hundertprozentig. Im Rausch weiß man nicht, was man sagt oder tut.

Maria zog die Knie an und schlang die Arme um ihre Beine. Im Zimmer war es recht kühl, obwohl die Tür zur geheizten Stube offenstand. Aber sie wollte im Bett sitzen bleiben und sich nicht wieder hinlegen. Wenn man liegt, schläft man oft sehr schnell ein. Sie wollte nichts versäumen, sondern alles hören, was die Erwachsenen miteinander redeten.

»Rachsüchtig?« fragte die Großmutter. »So, so. Der Russe ist rachsüchtig. Also ich habe nie etwas Besonderes für die Russen übrig gehabt. Habe mich nicht dafür interessiert. Aber seit ich fast jeden Tag halbverhungerte, zaundürre Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter sehen muß ...« Großmutter stockte einen Augenblick, dann fuhr sie fort: »Hermann, hast du dir schon einmal überlegt, warum alle miteinander, die Russen und die Polen und die Franzosen, und Gott weiß wer noch alles, warum die rachsüchtig sind gegen uns?«

»Der Krieg war ein großer Fehler. Hitler hätte keinen Krieg anfangen sollen. Und schon gar nicht gegen Rußland, ein so großes Land. Unsere Männer und Brüder müßten nicht an die Front, wir hätten keine Kriegsgefangenen, und du brauchtest nicht Partisanen bekämpfen«, sagte Mutter.

»Und die Russen«, sagte Großmutter, »hätten keinen Grund, rachsüchtig zu sein.«

»Hitler wollte Frieden«, sagte Onkel Hermann lallend. »Hitler wollte immer schon den Krieg, nur hat er eine

Zeitlang das Gegenteil behauptet und von Frieden geredet. Aber jeder, der Augen im Kopf hat, hat gewußt, daß er auf einen Krieg hinarbeitet. Und jetzt, wo wieder jeder, der sehen kann, weiß, daß der Krieg verloren ist, redet er von der

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Wunderwaffe und will damit das Volk hinhalten und hinhalten«, sagte Mutter.

»Weißt du, Hermann, wir haben hier am Berg nur die Innsbrucker Nachrichten. Die freilich schreiben das, was genehm ist. Aber über unseren Köpfen ist der Äther und dort in der Ecke der Volksempfänger. Verstehst du, uns kann man nicht mehr für dumm verkaufen«, sagte Großmutter.

Maria erschrak. Was fällt Großmutter ein! dachte sie. Wie kann sie nur so zu Onkel Hermann sprechen. Sie gibt klipp und klar zu, daß sie Feindsender hört! Er ist doch bei der SS. Er ist direkt verpflichtet, sie anzuzeigen.

Onkel Hermann schien wirklich erschüttert über diese Reden zu sein. »Aber, Mutter«, rief er, und seine Stimme klang auf einmal wieder nüchtern, »wie kannst du so reden. Ich, ich muß ...«

Nun kommt’s, dachte Maria. Nun wird er sagen, daß er Meldung machen muß.

»Nein, Hermann«, sagte Großmutter, »nichts mußt du, und nichts tust du. Und wenn ich dir einen Rat geben darf, so sage ich dir: Es wird Zeit, daß du dich mehr zurückhältst.«

»Wir sollten nicht streiten«, sagte Mutter. »Hermann muß morgen wieder von uns fort. Wir sollten uns den letzten Abend nett machen miteinander. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen werden.«

Maria stieg leise aus dem Bett. Sie nahm die Decke und hüllte sich damit ein. Dann schlich sie vorsichtig zur Tür und schaute ins Wohnzimmer. Die drei Erwachsenen saßen am Tisch. Jeder hatte ein Glas mit Wein vor sich, aber leere, gebrauchte Gläser standen ebenfalls herum. Außerdem gab es Brot und ein Schüsselchen Grammelschmalz mit Zwiebeln. Auch die Flasche mit dem selbstgemachten und sorgfältig gehüteten Eierlikör war noch da.

»Vielleicht sehen wir uns nie wieder«, sagte Onkel Hermann. Er hatte seine Jacke abgelegt und einen bunten

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Pullover von Vater angezogen. Seine Wangen waren gerötet. Kleine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Die Ärmel hatte er zurückgeschoben.

»Das deutsche Volk braucht Lebensraum, der war nur im Osten zu holen«, sagte er und hob sein Weinglas.

»Komm, Hermann, hör auf zu sinnieren«, sagte Mutter, »hier, iß besser noch ein Schmalzbrot. Getrunken hast du bereits genug.«

Aber Onkel Hermann achtete nicht auf Mutter. Er leerte sein Glas. »Schwer und hart ist das Leben der Soldaten«, stieß er hervor. »Leben im Feindesland. Jeden Tag setzen wir das Leben für unser Vaterland aufs Spiel. Wir halten den Schädel hin für die Frauen daheim. Aber diese? Ach!« Seine Stimme ging in leises Gebrabbel über.

Großmutter fuhr auf. »Höre, Hermann«, sagte sie. »Du bist im Urlaub. Du hast getrunken, von mir aus. Aber was den Krieg betrifft, laß mich aus dem Spiel. Für mich braucht kein Soldat seinen Schädel hinhalten. Ich habe keinen Krieg gebraucht und keinen gewollt. Beklag dich bei deinem Führer. Dem bist du nachgerannt. Ich habe mit eurem Krieg nichts zu schaffen.«

Großmutters Stimme klang erregt und schrill. Maria hatte Großmutter noch nie so gesehen, so aufgeregt und zornig. Mutter barg das Gesicht in beide Hände. »Ich bitte euch, hört endlich auf. Warum können wir nicht wenigstens den letzten Abend einvernehmlich verbringen?«

»Ja, ja«, nickte Onkel Hermann. »Im Einvernehmen. Tot oder im Einvernehmen.« Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und schloß die Augen. Maria trat von einem Fuß auf den anderen. Sie bekam schon kalte Zehen. Eigentlich sollte ich mir Socken anziehen, dachte sie. Maria verstand den Sinn von Onkel Hermanns Worten nicht. Was wollte er damit sagen?

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Auch Großmutter und Mutter schienen sich nicht auszukennen. Sie saßen da, die Arme verschränkt, und schwiegen. Plötzlich hob Onkel Hermann den Kopf. »Die russischen Weiber wollten auch nicht im Einvernehmen leben. Auch die Kinder nicht. Da mußten sie halt sterben. Nützte nichts. Im Einvernehmen leben oder sterben.«

Großmutter fuhr auf. »Was soll das heißen?« Der Blick seiner Mutter machte Onkel Hermann unsicher.

»Unser Leben ist hart«, sagte er. »Manchen machte es ja Spaß. Mir nicht. Das könnt ihr mir glauben. Mir nicht. Mir macht so etwas keinen Spaß. Im Gegenteil. Aber was soll man tun? Entweder sie oder wir. Krieg ist Krieg.«

»Nein«, rief Mutter. »Nein, du willst doch nicht sagen, daß ...« Mutter unterbrach sich. Sie wagte nicht weiterzusprechen.

»An die dreißig Frauen und ein Dutzend Kinder. Dazu vier, fünf alte Männer. Uralte Männer. Alle aus einem Dorf. Alle vor einem großen Grab. Das haben sie selbstverständlich selbst geschaufelt. Ist so der Brauch im Osten. Und dann raterattatt...« Onkel Hermann hob die Hände, als ob er ein Maschinengewehr hielte, und machte eine Schwenkbewegung, einmal hin, einmal zurück. »Alle tot«, sagte er und ließ die Arme sinken. »Waren alles Partisanen.«

Maria rutschte den Türstock entlang zu Boden. Die Kälte, die durch Decke und Nachthemd drang, brachte sie wieder zu sich. Dunkel erinnerte sie sich, daß Großmutter ihr streng verboten hatte, während der Monate, deren Namen ein r enthält, barfuß zu gehen oder sich auf den bloßen Fußboden zu setzen. Aber sie war nicht imstande, aufzustehen oder sich auch nur zu bewegen. Hatte sie geträumt, oder war es Wirklichkeit? Von ihrem Platz aus konnte sie den Tisch sehen, die Gläser darauf, die halbleere Likörflasche, den Wein. Die

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Erwachsenen saßen immer noch dort. Sie schwiegen. Auch Onkel Hermann schien plötzlich ernüchtert zu sein. Er hatte sich aufgerichtet und saß nun kerzengerade auf seinem Sessel.

»Hermann, sag, ist es wahr, was du sagst, oder – oder ist es Aufschneiderei?« fragte Großmutter. Dann fuhr sie mehr zu sich selbst gewandt fort: »Früher hast du nicht einmal einem Hendl den Kopf abhacken können. Wenn es stimmt, was du sagst, dann haben sie dich dazu gezwungen. Freiwillig hast du es nicht gemacht. Nicht freiwillig, nein, nein.«

»Natürlich nicht! Wo denkst du hin!« sagte Onkel Hermann. »Das geht alles auf Befehl. Das ist ja klar. Man muß gehorchen als Soldat. Befehl ist Befehl.«

»O Gott, o Gott«, Großmutter schüttelte den Kopf. »Wie sollen wir jemals wieder normal werden?«

»Darfst du überhaupt darüber sprechen?« fragte Mutter. »Nein, natürlich nicht. Ich rede nie darüber. Nur heute, weil

ich morgen weg muß und weil ich niemanden habe, dem ich es erzählen kann. Luise kann ich mit so was nicht kommen. Die läßt mich glatt stehen. Die darf das nie erfahren, nie.« Er sackte wieder zusammen. »Aber eines sage ich euch«, murmelte er, »ich mache das alles nur für den Führer und für Deutschland. Manche machen es, weil sie es gerne tun oder weil sie Sonderzuteilungen bekommen. Ich nicht. Ich verschenke meine Sonderzuteilungen. Nur den Schnaps trinke ich selber. Den Schnaps und die Zigaretten, die behalte ich mir.«

Sonderzuteilung, hörte Maria. Sonderzuteilung, dröhnte es in ihren Ohren. Sonderzuteilung!

Sonderzuteilung, das ist Schokolade. Onkel Hermann hatte gestern eine Tafel mitgebracht. Er hatte keine gegessen. Großmutter auch nicht. Maria hatte sie gegessen. Maria wurde es schlecht. Ihr Magen rebellierte. Sie versuchte aufzustehen, packte mit der einen Hand die Decke fest, mit der anderen stützte sie sich am Türstock ab. Dann wankte sie an den völlig überraschten Erwachsenen vorbei in den Hausgang hinaus. Mit

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Mühe schaffte sie es, ins Klo zu kommen. Dort erbrach sie. Mutter hatte sich inzwischen gefaßt, war aufgesprungen und ihr nachgeeilt. Sie hielt sie an den Schultern und stützte ihr den Kopf. »Kind«, murmelte sie, »Kind, was hast du? Bist du krank? Ach Kind, Kind.«

Später gingen sie zusammen in die Küche. Großmutter stocherte in den glühenden Holzstücken im Herd herum, legte ein paar dünne Späne nach, und das Feuer flackerte erneut auf. Sie stellte einen Topf mit Wasser auf. Auch Onkel Hermann war aus der Stube gekommen und hatte sich zum Tisch gesetzt. Als er Maria erblickte, stand er auf und wollte sie in die Arme nehmen und sie trösten. Maria wich zurück. Mutter, bestürzt über den Ausdruck in Marias Gesicht, bat Großmutter, dafür zu sorgen, daß Onkel Hermann ins Bett käme. »Geht nur alle schlafen. Ich gieße Maria noch eine Tasse Kamillentee auf und bringe sie dann auch zu Bett. Geht nur, geht.«

»Ist schon recht«, murmelte Großmutter, »ist schon recht.« Sie nahm Onkel Hermann am Arm und führte ihn aus der

Küche. Mutter bereitete zwei Tassen Tee und setzte sich nahe zu Maria an den Tisch.

»Trink, Kind«, sagte sie, »trink, das wird dir guttun.« Maria rührte in der Tasse herum. Kamillentee wurde in der

Familie als Allheilmittel ausgegeben. Im Sommer schwärmten alle aus und pflückten die wildwachsenden Kamillenblüten. Dann wurden diese getrocknet, und immer, wenn eine Unstimmigkeit, gleich welcher Art, auftrat, kochten Großmutter oder Mutter zuallererst einmal einen Topf Kamillentee.

»Bist du schon länger wach gewesen?« fragte Mutter. Maria nickte. »Und du hast gehört, was Onkel Hermann erzählt hat?« Bei der ruhigen und warmen Stimme der Mutter begann sich

der Druck auf ihrer Brust langsam zu lockern. Sie schlug die Arme um die Mutter und legte das Gesicht an ihre Schultern.

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Mutter streichelte sie und wischte ihr die Tränen vom Gesicht. »Wein nur«, sagte sie, »wein nur. Wer solche Dinge hört, muß weinen.«

»Wir dürfen es ihm nicht sagen, das weiß ich jetzt. Wir dürfen es ihm auf keinen Fall sagen.«

»Was dürfen wir ihm nicht sagen?« fragte Mutter. »Daß wir einen Russen auf dem Dachboden versteckt

haben, er ist zu allem imstande, zu allem.« Mutter faßte Maria fester. »Woher – woher weißt du?« »Ich hab ihn entdeckt. Als ich Spitz suchte, bin ich auf den

Dachboden hinaufgestiegen. Er hat sich nicht schnell genug verstecken können. Da habe ich ihn gesehen.«

»Das hättest du mir sofort sagen sollen!« »Du hast mir ja auch nichts gesagt«, antwortete Maria. »Ach, Maria, das ist ziemlich schwierig. Die Großmutter hat

recht, wenn sie sagt, heute ist es am besten, möglichst wenig zu wissen.«

»Du hast geglaubt, daß ich nicht den Mund halten kann?« Mutter zuckte die Schultern. »Nein, nicht so direkt. Aber du

– du hast deine Lehrerin sehr gern. Ist ja richtig so. Und sie ist auch nett auf ihre Weise. Aber sie ist eine überzeugte Nationalsozialistin. Da nützt ihre ganze Nettigkeit nichts. Ich habe einfach Angst gehabt, daß du glaubst, ihr etwas sagen zu müssen. Aus lauter Treue, du weißt ja. Sie redet dauernd in diese Richtung, und sie selber, das Fräulein Hauser, also wenn sie etwas erfährt, da bin ich mir sicher, daß sie damit zur Gestapo rennt.«

Maria schwieg still. Sie war sich nicht sicher, ob Mutter recht hatte. Wahrscheinlich hatte sie recht. Sogar was sie, Maria, betraf. Noch vor einer Woche, als sie den Russen noch nicht persönlich kannte, hätte sie wirklich geglaubt, daß er ihr Feind sei und daß man ihn bei der Polizei melden müßte. Daß es einfach die Pflicht sei, die Pflicht eines jeden Deutschen, einen entsprungenen Gefangenen zu melden.

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Mutter fuhr fort: »Und dann war da noch etwas. Ich wollte dich nicht damit belasten. Natürlich weiß ich, daß du kein kleines Kind mehr bist. Nächstes Jahr wirst du schon elf Jahre. Trotzdem, in anderen Zeiten wissen Kinder in deinem Alter noch gar nicht, was das ist, Krieg und Zwangsarbeit und Kriegsgefangenschaft. Aber heute ...« Mutter verstummte.

»Heute werden Kinder, die jünger sind als ich, einfach umgebracht.« Nun war es mit der Fassung von Maria wieder vorbei. Schluchzend warf sie sich über den Tisch. Ihre Schultern zuckten. »Ich mag nicht mehr, mir graust so. Ich kann Onkel Hermann nicht mehr sehen. Nie mehr. Ich halte ihn nicht mehr aus«, stieß sie unter lautem Weinen hervor.

Mutter nahm sie in die Arme und wiegte sie hin und her, wie sie es getan hatte, als Maria noch ein kleines Kind gewesen war. »Sei ruhig, Maria, sei ruhig. Es wird alles wieder gut.«

Maria ließ sich von der sanften, stillen Stimme der Mutter einwiegen. Sie war sehr müde. Aber sie wußte, das konnte nie mehr gutgemacht werden. Nie mehr werden tote Kinder lebendig.

Als Mutter sie eine Stunde später ins Schlafzimmer begleitete, war das Licht in der Stube schon gelöscht, und Onkel Hermann schlief und war unter seinem Federbett nicht zu sehen.

Am nächsten Tag wachte er erst auf, als Maria schon lange in der Schule saß. In der Zehnerpause blieb sie im Klassenzimmer, und mittags, als sie zum Essen ging, war er schon abgereist. Aber noch lange Zeit nachher schreckte Maria manchmal mitten in der Nacht aus dem Traum, rief angstvoll nach der Mutter und nach der Großmutter. Sie hatte von den ermordeten Kindern geträumt.

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An einem Nachmittag der Woche hatten die Mädchen Handarbeitsunterricht. Für die Buben gab es dieses Fach

nicht. Es war niemand da, der mit ihnen hätte basteln können, und Stricken, Stopfen oder Nähen, das kam für die Buben nicht in Betracht. Das waren weibliche Arbeiten, die man zukünftigen Männern nicht zumuten konnte. Niemandem, auch nicht Maria, fiel es ein, diese Ansicht in Frage zu stellen. Buben handarbeiteten nicht, basta. Sie hatten also einen Nachmittag zusätzlich schulfrei. Aber frei von der Schule sein hieß nicht, frei von Arbeit zu sein. Die Väter und großen Brüder dieser Bauernbuben waren fast alle im Krieg. Die Mütter mußten die Höfe zum großen Teil allein bewirtschaften, und es war klar, daß die Buben jede Stunde, die sie nicht in der Schule verbrachten, zu Hause für die Arbeit nützen mußten. Deshalb beneideten manche Buben heimlich die Mädchen, die gemütlich im geheizten Klassenzimmer sitzen und an ihrem Nähfleck herumsticheln konnten. Zugeben taten sie das natürlich nicht. Maria aber haßte Näharbeit. Viel lieber hätte sie den Nachmittag in einem Stall verbracht, hätte Kühe gestriegelt oder auch Mist geführt. Nicht, daß sie Handarbeiten überhaupt nicht mochte. Stricken zum Beispiel tat sie gerne. Großmutter hatte ihr das Stricken beigebracht, da war sie noch nicht einmal fünf Jahre alt gewesen. Für Papa hatte sie schon herrliche warme Fäustlinge gestrickt und für ihre Puppe zwei Röcke und viele dicke Socken für alle Familienmitglieder. Aber mit dem Nähen kam sie nicht zurecht. Ja, wenn sie eine hübsche Bluse oder ein Nachthemd hätte nähen dürfen! Aber in diesem Jahr hatten die Schülerinnen noch nichts anderes gemacht als gelernt, wie man Flecke in kaputte Kleidungsstücke einsetzt, und zwar auf insgesamt vier verschiedene Arten. Es war gräßlich. Doch die Lehrerin war der Meinung, in Kriegszeiten müßten die Mädchen lernen,

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zerschlissene und löchrige Kleidungsstücke fachmännisch auszubessern. Das sei wichtiger, als Neues zu nähen. Stoffe gab es sowieso kaum mehr.

Maria war eine gute Schülerin. Aber in Handarbeiten enttäuschte sie Fräulein Hauser in einem fort. Noch nie war es ihr gelungen, einen Lappen schön ordentlich in das ausgeschnittene Loch einzusetzen. Auch an diesem Nachmittag war es nicht anders. Sie saß in ihrer Bank, hatte das Nähzeug vor sich auf dem Tisch liegen und bemühte sich krampfhaft, eine halbwegs ordentliche Arbeit hinzukriegen. Eine halbe Stunde probierte sie herum. Immer wieder zerriß der Faden. Verzweifelt zerrte sie an den Knoten, die sich, sie wußte nicht wie, bildeten. Schließlich wandte sie sich mit den zwei zerknitterten und zerfransten Stofflecken an die Lehrerin.

»Aber, Maria«, sagte Fräulein Hauser, »wie kannst du nur eine derart schlechte Arbeit liefern. Du mußt dich wirklich mehr anstrengen. Denk dir, unsere Soldaten stehen an der Front und setzen Tag für Tag ihr Leben ein für Führer und Vaterland. Wir alle, die wir in der Heimat sind, müssen ...«

Da schaltete Maria ab. Sie schaute auf das schmuddelige Stück Stoff in ihren Händen und ließ die Worte der Lehrerin an ihren Ohren vorbeirauschen. Hundertmal hatte Fräulein Hauser darüber gesprochen. Immer hatte Maria andächtig zugehört und dabei ihren Willen gestärkt. »Wenn unsere tapferen deutschen Soldaten ihr Leben einsetzen für Führer und Vaterland, dann ist es die selbstverständlichste Pflicht jedes deutschen Kindes, auch seine bescheidenen Aufgaben zu erfüllen.« Heute hörte Maria das erstemal bewußt weg. Sie stöpselte innerlich ihre Ohren zu, und erst als die Lehrerin daranging, einen neuen Stoff zuzuschneiden, machte sie die Ohren wieder auf.

»Als erstes merke dir«, sagte die Lehrerin, »daß der Faden immer kurz sein muß, sonst können leicht Knoten entstehen. Burgl, wie heißt das Sprichwort über den Faden?« fragte sie die Nachbarin.

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Burgl ließ ihre tadellos saubere Handarbeit sinken und stand auf. »Langes Fädchen – faules Mädchen!«

»Richtig«, sagte die Lehrerin, »ganz richtig!« Sie wandte sich wieder an Maria. »Also paß auf. Wir machen das Ganze noch einmal. Der Flicken muß auf jeder Seite zwei Zentimeter breiter als die kaputte Stelle zugeschnitten werden. Siehst du. Und nun stecken wir den Stoff zuerst mit einer Stecknadel fest, so. Die erste Seite habe ich dir gemacht, die anderen machst du selbst.«

Maria versuchte die Stecknadeln richtig zu setzen. Ihre Hände schwitzten, die feuchten Nadeln rutschten ihr aus den Fingern, eine fiel zu Boden. Mit hochrotem Kopf begann sie den Boden nach der Nadel abzusuchen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als daß die Handarbeitsstunde endlich zu Ende sein würde. »Fräulein Hauser, bitte, dürfen wir singen?« fragte Lisbeth, die Tochter vom Blaserhof.

Wenn alle mit ihren Handarbeiten zurechtkamen und keine besondere Aufmerksamkeit mehr erforderlich war, setzte sich die Lehrerin manchmal auf eine Bank in der ersten Reihe und erzählte eine Geschichte. Oder sie stimmte ein Lied an, das allen geläufig war.

Die Lehrerin lächelte. »Was möchtet ihr denn singen?« »Die blauen Dragoner – Fein sein, beinander bleiben –

Wann der Guggug schreit – Mariechen saß weinend im Garten«, riefen die Mädchen durcheinander.

»Na schön, alles der Reihe nach«, sagte die Lehrerin. »Zuerst muß ich noch Maria helfen, ihre Arbeit in Ordnung zu bringen. Dann können wir singen.« Ein Glück, daß Maria eine der Lieblingsschülerinnen der Lehrerin war, so daß sie nicht gleich zu schimpfen anfing oder ihr einfach einen Fünfer eintrug, wie sie das schon bei Rosa gemacht hatte. Endlich hatte Maria den Fleck ordentlich auf den Stoff gesteckt. Die Lehrerin heftete ihn an. Dann sagte sie: »Nun kann nicht mehr viel passieren. Du brauchst den Stoff nur mehr mit festen

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kleinen Stichen zusammenzunähen. Gib dir Mühe, denk daran ...«

Schon wollte Maria wieder die Ohren zumachen. Aber die Lehrerin redete diesmal nicht von den deutschen Soldaten, sondern sagte, daß von diesem Stück die Note im Halbjahreszeugnis abhänge und die Handarbeitsnote ihr das ganze Zeugnis verpatzen könne.

Maria setzte sich also wieder auf ihren Platz und begann langsam zu nähen. Die Lehrerin klatschte in die Hände und rief: »Nun machen wir ein Wunschkonzert. Jede darf sich ein Lied aussuchen, das wir gemeinsam singen werden. Los, wir fangen an. Barbara, du darfst das erste Lied auswählen.«

»Im Märzen der Bauer«, sagte Barbara. Es war ihr Lieblingslied.

Maria sang sehr gern. Aber leider furchtbar schlecht. Luise stieß sie an. »Du singst völlig falsch.« Beschämt schwieg Maria. Ab nun begnügte sie sich damit, ab und zu, wenn die anderen besonders laut sangen, leise mitzusummen. Manches Mal drehte ihr die Lehrerin den Rücken zu, da ließ sie das Nähzeug sinken und rastete sich aus. Sie schaute zum Fenster hinaus. Nachdem es gerade zwei Tage schön gewesen war, hatte es angefangen zu schneien. Sie gab sich dem Spiel hin, das sie, solange sie denken konnte, gespielt hatte: Sie schaute in die fallenden Schneeflocken hinauf, bis ihr ganz schwindlig war und sie das Gefühl hatte, selber zu fliegen.

Maria war ganz erstaunt, als die Lehrerin aufstand und die Hände zusammenschlug.

»Es ist vier Uhr. Wir machen Schluß. Die Schule ist aus.« Die Kinder packten die Sachen zusammen, zogen sich an

und verließen das Schulhaus durch das Schultor an der oberen Seite des Hauses. Maria und die Lehrerin stiegen die innere Treppe in die Wohnung hinunter. Die Mutter schaute aus der Küche heraus und schwenkte ein Blatt Papier in der Hand. Sie war sehr aufgeregt.

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»Vater hat einen Brief geschrieben!« Der Briefträger kam jeden Tag zweimal ins Schulhaus.

Einmal, wenn er ins Dorf hinunterging, die Post vom Postamt zu holen. Das war am frühen Morgen, und da trank er eine Tasse Zichorienkaffee, und das zweitemal kam er, wenn er den Berg wieder hinaufstieg und die Post zustellte. Das war meist um die Mittagszeit. Da kehrte er nochmals bei Mutter ein und verzehrte in der Küche sein mitgebrachtes Jausenbrot.

Die Mutter lud die Lehrerin auf eine Schale Kaffee ein. Der Brief mußte gefeiert werden.

»Denken Sie, er wird wahrscheinlich Fronturlaub bekommen. Er rechnet, daß er nächsten Monat für ein paar Tage heimfahren darf, ist das nicht herrlich?« sagte Mutter. Ein Wort, das sie für gewöhnlich nie verwendete. Sie war sehr erregt und sprach lebhaft. Sie hatte rote Wangen, ihre Augen glänzten. Sie zog die Lehrerin in die Küche und goß ihr heißen Kaffee in die Tasse. Maria wunderte sich, denn Mutter war der Lehrerin gegenüber sonst immer abweisend. Vaters Brief, seine angekündigte Hoffnung, nach Hause kommen zu können, hatte sie so heiter und fröhlich, fast ausgelassen gestimmt.

»Das freut mich«, sagte die Lehrerin, »das freut mich wirklich.«

Maria setzte sich an die Schmalseite des großen Tisches. Auch sie freute sich auf das Wiedersehen mit Vater. Länger als ein halbes Jahr war er nun fort. Mutter schenkte sich auch eine Schale Kaffee ein und nahm gegenüber der Lehrerin Platz. Sie schob ihr Zucker hin, goß Milch nach. »Ach, Fräulein Hauser«, sagte sie, »ich bin so froh, daß mein Mann heimkommt. Wissen Sie, ich bin es nicht gewohnt, so allein zu sein. Solange mein Mann da war, habe ich das Leben hier noch einigermaßen ausgehalten. Aber jetzt!«

»Sie sind doch nicht allein, Sie haben Ihre Mutter bei sich, Ihre Kinder.«

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»Ja, natürlich«, sagte Mutter ungeduldig. »Ich habe eine Familie. Aber so meinte ich es nicht. Ich meinte das Leben am Berg. Ich bin in Meran aufgewachsen. Auch wenn mein Heimatort nicht groß ist, gibt es dort Geschäfte, richtige Straßen, ein paar Kaffeehäuser. Am Abend brennen die Lichter. Ich war es gewöhnt, am Sonntagnachmittag mit meinen Freundinnen die Etschpromenade auf und ab zu spazieren. Später besuchten wir ein Lokal, um Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen. Wir trugen hübsche Kleider und Stöckelschuhe. Die Leute sahen uns nach, viele kannten uns. Wir trafen Freunde, grüßten und plauderten. Aber hier?«

Maria hatte Mutter noch nie so über ihr Leben hier am Astenberg klagen hören.

»Oh, ich kann Sie gut verstehen«, sagte die Lehrerin. »Mir geht es genauso. Ich bin so froh, am Samstag in die Stadt fahren zu können, daß ich die nächtlichen Bombenalarme gern in Kauf nehme. Monatelang nur zwischen Wald und Wiesen zu leben, das muß ja furchtbar langweilig sein.«

Mutter seufzte. »Schrecklich langweilig!« Plötzlich waren sich die zwei einig. Staunend hörte Maria, wie sie ihre Erinnerungen an städtische Frühlingsabende, Kinobesuche, Platzkonzerte und Schaufensterbummel austauschten.

»Können Sie nicht einmal am Samstagnachmittag mit mir in die Stadt fahren? Sie könnten bei mir übernachten. Meine Eltern haben Platz genug. Und einen Luftschutzkeller haben wir auch in der Nähe.«

Mutter hob den Kopf. Es war ihr direkt anzusehen, wie verlockend sie den Vorschlag fand. Aber dann schüttelte sie zweifelnd den Kopf.

»Ich weiß nicht recht, ob ich das machen kann. Mutter mag wahrscheinlich nicht allein bleiben mit den drei Kindern. Da wird sie sich ängstigen.«

Aber Großmutter ist ja nicht ganz allein, dachte Maria. Der Russe ist ja auf dem Dachboden. Der würde ihr schon helfen,

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wenn etwas Unvorhergesehenes passieren würde, eine Feuersbrunst vielleicht oder sonst irgendein Unglück.

Dann fiel ihr ein, daß Großmutter ja noch nichts von Boris wußte.

»Ich bin meinem Mann gefolgt«, sagte Mutter, »aber wenn ich geahnt hätte, wie allein man sich auf so einem Berg fühlt – es ist nicht sicher, ob ich mitgegangen wäre.« Mutter erzählte der Lehrerin von den Umständen, wodurch sie und Vater ausgerechnet hier an der Volksschule vom Astenberg gelandet waren. Vater hatte die Lehrerausbildung in Südtirol gemacht, und die italienische Behörde hatte ihm keine andere Stelle angeboten als jene an der Schule eines kleinen Dorfes weit fort in Reggio Calabria. Das wollte er nicht. Er liebte die Berge und den Wald und den Schnee. Heimat, das konnte Nordtirol ihm eher werden, auch wenn es Gau hieße, niemals aber ein süditalienisches Dorf.

Fräulein Hauser zog die Stirn in Falten. »Aber, Frau Winkler, das sind doch wohl Vorurteile. Ich verstehe nicht, warum manche Leute etwas gegen unsere nationalsozialistischen Bezeichnungen haben. Gau, das ist ein ehrwürdiges altes Wort mit Tradition.«

»Ach, mir ist das ziemlich gleich, wie Tirol heißt«, sagte Mutter. »Das Problem liegt für mich darin, daß ich hier auf diesem Berg meine schönsten Jahre verbringen muß, weitab von jedem gesellschaftlichem Leben.«

»Sie dürfen nie vergessen, daß es auch etwas Gutes hat, in den heutigen Zeiten außerhalb von Städten zu wohnen. Wenn Sie wüßten, wieviel Angst ich immer ausstehen muß.«

»Angst?« fragte die Mutter. »Ja, Angst um meine Eltern.« »Das haben Sie mir noch nie gesagt.« »Ach, wenn man alle seine Schwächen zeigte.« »Das ist doch keine Schwäche, Angst um die Eltern zu

haben«, meinte Mutter.

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»In diesen Zeiten müßte man bereit sein, ohne zu zögern alles zu opfern«, meinte die Lehrerin.

Mutter schüttelte den Kopf. »Sie übertreiben. In diesen Dingen übertreiben Sie immer.«

Die Lehrerin holte eine silberne Dose aus ihrer Tasche, klappte den Deckel auf und nahm eine Zigarette heraus. Sie steckte sie in den Mund und zündete sie mit einem schönen, zierlichen Feuerzeug an. Maria schaute ihr schweigend zu. Die rote Bluse warf einen rosigen Schimmer auf ihr Gesicht. Ihr Haar glänzte. Der Briefträger witzelte manchmal über die leidenschaftliche Raucherei der Lehrerin. »Eine deutsche Frau raucht nicht«, sagte er und behauptete, daß er diese Aussage direkt vom Führer gehört habe. Maria aber gefiel die Art, wie die Lehrerin mit dem goldenen Feuerzeug umging und wie sie die hübschen Rauchwölkchen in die Luft blies.

Maria war sehr zufrieden, daß sich Mutter der Lehrerin gegenüber heute nicht so abweisend verhielt wie sonst immer. Im Wohnzimmer schlug die Uhr. Man hörte die hohen Glockentöne bis in die Küche heraus. »Oh, sechs Uhr«, sagte Mutter. »Wir müssen verdunkeln.«

»Ich helfe Ihnen«, meinte die Lehrerin. »Ich muß sowieso schon heimgehen, sonst wird es mir zu spät.« Die zwei Frauen schlüpften in ihre Mäntel, Mutter band sich ein Kopftuch um, die Lehrerin setzte ihre Mütze auf. Die Küche lag ebenerdig, so daß die Läden von außen geschlossen wurden. Früher hatten sie ausgeschnitzte Herzen, durch die, auch wenn sie zu waren, das Licht ins Freie drang. Vater hatte sie mit starkem schwarzem Papier verklebt, so daß nun kein Lichtstrahl mehr auf den Weg hinausfallen konnte.

Auch Maria zog ihren Kapuzenmantel an und ging mit den Erwachsenen. Es schneite noch immer. Auf den Zaunlatten lag der Neuschnee schon mindestens zehn Zentimeter hoch.

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»Ich hasse es, bei Dunkelheit heimgehen zu müssen«, sagte die Lehrerin. »Noch dazu, wenn es schneit und man so wenig sieht. Es ist unheimlich.«

»Ich begleite Sie«, sagte die Mutter. »Ich brauche ein paar Atemzüge frische Luft.«

»Darf ich mitgehen?« fragte Maria. »Ja, selbstverständlich. Dann bin ich auf dem Retourweg

nicht allein. Aber sag Großmutter Bescheid.« Großmutter saß entgegen ihrer Gewohnheit in der Stube am

Kachelofen und las die Zeitung. Das Poppele hockte in seinem Gitterbettchen neben der Kommode und beutelte seine Rassel. Das Gitterbettchen hatte Räder, so konnte man es je nach Bedarf von der Küche in die Stube oder ins Schlafzimmer stellen. Spitz lag unter dem Tisch. Als Maria zur Tür hereinschaute, sprang er sofort auf und wedelte mit dem Schwanz.

»Ja, ja«, sagte Maria, »du darfst auch mitkommen.« »So, ihr macht also noch einen Abendspaziergang«,

brummte die Großmutter. »Auch schön, geht nur und vergnügt euch.«

»Wir sind bald wieder zurück«, sagte Maria. Sie wußte nicht, warum Großmutter schlechte Laune hatte. Spitz freute sich, sprang an Maria hoch. Er mochte es sehr, mit Maria spazierenzugehen, besonders in der Nacht. Mutter hatte zur Vorsicht noch die Sturmlaterne mitgenommen. Das ist eine Petroleumlampe, die so konstruiert ist, daß sie vom ärgsten Sturm nicht ausgelöscht werden kann. Zu viert stiegen sie den Weg zum Gruberhof hinauf, wo die Lehrerin ein Zimmer gemietet hatte. Sie gingen hintereinander, vorne der Hund, dann die Mutter, hinter ihr Maria und zum Schluß die Lehrerin. Der Hund ließ fast keine Spur im lockeren frischgefallenen Schnee. Erst Mutter machte Stapfen, in die Maria trat und dann das Fräulein Hauser. Mutter trug die Lampe vor sich her, aber ihr Licht leuchtete nur schwach durch das dichte

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Flockengestöber. Zum Glück war der Weg durch Zäune und Mauern begrenzt, sonst wäre es schwierig gewesen, ihn auszumachen. Der Schnee schluckte jedes Geräusch. So zogen sie lautlos dahin. Maria hielt sich nahe an der Mutter.

Sie waren schon knapp am Gruberhof, als Lumpi, der Gruberhund, anschlug. Spitz antwortete lautstark, und damit war augenblicklich die schönste Bellerei im Gange. »Hör auf, Spitz«, rief Mutter, »hör auf!« Drinnen vom Hof her hörte man rufen: »Lumpi, wirst du wohl still sein!« Aber die zwei Hunde scherten sich nicht um die Befehle ihrer Frauen. Sie bellten weiter. Es gefiel ihnen offensichtlich, die abendliche Stille mit ihrem Gebell zu erfüllen. »Ich danke Ihnen«, sagte die Lehrerin. »Ich hätte mich gefürchtet, allein heraufzugehen. Kommen auch Sie noch gut heim.«

»Keine Angst«, sagte Mutter. »Wir sind zu zweit, und dann haben wir auch noch Spitz mit.«

Als Spitz hörte, daß Mutter von ihm sprach, reckte er den Kopf in die Höhe, stemmte alle vier Füße in den Schnee und tat so, als ob er sich zur doppelten Größe aufblasen wollte. Er hatte verstanden, daß er eine wichtige Persönlichkeit für die Sicherheit seiner Menschen war. Da der Weg zum Schulhaus bergab führte, kamen sie schnell weiter. Es wurde auch Zeit, daß sie heimkamen. Maria hatte schon kalte Zehen und Finger. Wenn Mutter einmal die Lampe hochhob, sah man, daß ihre Nase ganz rot war. Nur Spitz machten weder Kälte noch Schnee etwas aus. Er war ja auch von der Schnauze bis zur Schwanzspitze mit Fell bedeckt.

Als sie heimkamen, war Großmutter gerade dabei, ihren Ziegelstein aus dem Backofen zu nehmen und in ein altes Wolltuch einzuwickeln. Im Winter hatte jeder in der Familie einen Ziegelstein, der am Abend aufgeheizt wurde und dann das Bett fein vorwärmte. »Ich gehe schlafen«, erklärte sie.

»Willst du nicht noch ein wenig bei uns bleiben?« fragte Mutter.

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»Nein, ich habe keine Lust dazu«, sagte sie und ging. »Was Großmutter nur hat?« wunderte sich Maria. »Sie ist beleidigt.« »Hast du ihr etwas getan?« »Nein, nicht direkt. Es ist halt immer das gleiche. Wenn ein

Brief von Vater kommt, aber keiner von Fritz, ist sie gekränkt. Natürlich weiß sie, daß ich nichts dafür kann, das ist ja klar. Aber sie verübelt mir, daß ich mich freue, statt mit ihr traurig zu sein, weil sie von Fritz keine Nachricht erhalten hat. Und dann war Onkel Hermann kürzlich hier, und auch Vater soll Urlaub bekommen. Aber Fritz nicht.«

Maria nickte. Sie konnte Großmutter gut verstehen. Ihr ging es auch manchmal so. Man weiß ganz genau, daß man im Unrecht ist, aber man kann trotzdem nicht anders. Man ist muffelig und böse. Sie seufzte leise auf. Sie ihrerseits verübelte Großmutter, daß sie sich nicht freuen konnte, weil Vater geschrieben hatte, daß er gesund sei und bald heimkommen würde. Schließlich war er der Mann ihrer Tochter. Da fiel ihr der russische Kriegsgefangene ein. »Was machen wir mit Boris, wenn Vater kommt?«

»Oh, bis dahin ist er schon lange fort. Sobald seine Wunde verheilt ist, verschwindet er. Das hat er mir fest versprochen.«

»Wohin wird er gehen?« »Das weiß ich nicht. Ich frage auch nicht danach. Er wird

schon seine Pläne haben.« »Vater würde ihn jedenfalls nicht verraten, nicht wahr?«

fragte Maria. Sie hatte plötzlich Angst. Wie war Vater wirklich? Würde er Gefangene verstecken, so wie Mutter das tat? Oder würde er ihnen keine Unterkunft geben? Oder sie gar anzeigen?

Mutter schaute Maria ins Gesicht. »Ich glaube, Vater würde so handeln wie wir. O ja, ich bin fest davon überzeugt. Sonst. . . sonst, ich . . . ich glaube, ich könnte ihn nicht mehr liebhaben.«

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Mutter hämmerte mit ihrem Teelöffel gegen die Untertasse. Das war eine Unart, die sie bei Maria nicht duldete. Aber Maria sagte nichts. Sie schaute ruhig zu, wie der Löffel auf den goldenen Rand des Tellers schlug. Peng, peng, peng! Maria fühlte sich sehr erwachsen und glücklich. Es geschah nicht oft, daß Mutter so vertraulich mit ihr redete. Meistens war sie viel zu beschäftigt damit, Maria zu erziehen, ihr dies oder jenes anzuschaffen, zu verbieten oder zu erklären, als einfach mit ihr zu reden.

Endlich schien Mutter ihr eigenes sinnloses Klopfen zu bemerken. Sie legte den Löffel hin und verschränkte die Arme. »Schreckliche Zeiten sind das«, sagte sie. »Kinder wie du müssen lernen, sich zu verstellen und zu lügen.« Maria sagte nichts. Sie wollte ihre Mutter nicht schocken, aber sie fand es überhaupt nicht schrecklich, daß sie ein gefährliches Geheimnis kannte, daß sie mithelfen mußte, das Versteck des Russen auf dem Dachboden geheimzuhalten, und niemandem Fremden davon erzählen durfte. Das war sehr aufregend. Wenn die Gestapo sie verhörte, würde sie lügen und lügen. Kein wahres Wort würde ihr von den Lippen kommen. Doch das sagte sie Mutter nicht, weil die Mutter prinzipiell gegen das Lügen war und sich sehr aufregen würde, wenn sie wüßte, daß eines ihrer Kinder, Maria, geradezu mit Lust lügen konnte.

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I n der Deutschstunde kramte Fräulein Hauser einen Zeitungsausschnitt aus der Aktenmappe. Eine Schularbeit

stand auf dem Programm, für die Noten erteilt wurden. Die Kleinen hatte die Lehrerin mit einer Schreibaufgabe beschäftigt. Sie malten eifrig so schwierige Wörter wie Winter, Werwolf, Wollweste auf ihre Schiefertafeln. Auch Bruder Willi. Die Griffel knirschten unter dem harten Druck der Kinderhände. Die Schüler der zweiten und dritten Schulstufe mußten einige Rechenaufgaben lösen. Die Schüler der vierten, fünften und sechsten Schulstufe hatten Deutschunterricht, und das hieß heute Aufsatz schreiben. Die Schüler der siebten und achten Schulstufe übten sich im Wurzelziehen. Sie saßen in den zwei letzten Bänken in der Fensterreihe, hatten ihre Rechenbücher aufgeschlagen und trugen lange Zahlenkolonnen in ihre Hefte ein. Während des Krieges und auch noch einige Zeit danach gab es in den kleinen Dorfgemeinden viele derartige Schulen, wo in einem Klassenzimmer alle Kinder von der ersten bis zur achten Schulstufe unterrichtet wurden. Maria war nichts anderes gewöhnt, und wenn auch die Lehrerin in der Küche zu Mutter manches Mal sagte, diese Art von Unterricht koste sie die letzten Nerven, so gefiel es Maria im Gegensatz dazu sehr. Sie beeilte sich immer mit ihrer eigenen Aufgabe und hörte dann zu, was die Lehrerin den Kindern der anderen Schulstufe erzählte.

Die Lehrerin schwenkte also den Zeitungsausschnitt. »Hans, komm heraus und lies diesen Bericht vor.« Hans erhob sich etwas mühsam von der Bank. Obwohl er erst vorige Woche seinen zehnten Geburtstag gefeiert hatte, war er einer der größten Schüler und tat sich immer schwer, seine langen Beine, die er möglichst platzsparend unter der Bank plaziert hatte, wieder in die normale Stellung zu bringen. Langsam ging er

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nach vorne und stellte sich neben die Lehrerin. Sie ging ihm gerade bis zu den Ohren.

»Hier«, sagte sie. »Aber lies langsam und deutlich.« Hans begann zu lesen: »Ein Hitlerjunge hörte in einem Wald bei Wernigerode im Harz verdächtige Geräusche. Mit seinem Tesching (Kleine Handfeuerwaffe), das er zum Spatzenschießen dabeihatte, ging er dem Geräusch nach. In einem Busch versteckt, entdeckte er zwei polnische Kriegsgefangene. Mit seinem Tesching im Anschlag schüchterte der unerschrockene Hitlerjunge die beiden Gefangenen so ein, daß sie sich ohne Gegenwehr festnehmen ließen.«

Hans ließ die Zeitung sinken und schaute grinsend in die Klasse. »Wer’s glaubt, wird selig«, sagte er.

Die Lehrerin runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?« fragte sie. Auch Maria wunderte sich. Glaubte Hans dem Bericht etwa gar nicht?

Hans zuckte die Schultern. »Das sagt halt mein Großvater immer: Wer’s glaubt, wird selig.«

»Das ist mir gleich, was dein Großvater sagt. Ich möchte wissen, was du damit meinst.«

»Mir kommt die Geschichte sehr unwahrscheinlich vor. Wenn ich an den Kriegsgefangenen denke, der uns letzten Sommer bei der Feldarbeit geholfen hat – also mit dem hätte dieser Hitlerjunge nicht so umspringen können.« Hans lachte unfroh auf. »Der hätte ihn übers Knie gelegt und versohlt.«

»Was redest du da für einen Unsinn?« Die Lehrerin war entrüstet. »Setz dich! – Und ihr«, wandte sie sich an die anderen Kinder, »ihr paßt jetzt gut auf. Wir werden diesen Bericht fünf Minuten lang besprechen. Dann müßt ihr darüber einen Aufsatz schreiben, das Thema lautet: ›Tapferer Hitlerjunge fängt zwei Kriegsgefangene‹. Dabei sind eurer Phantasie keine Grenzen gesetzt. Der Hergang der Tat ist euch ja bekannt. Im Aufsatz geht es darum, die Gefühle, die

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Stimmung und die Atmosphäre herauszuarbeiten. Was hat der Hitlerjunge bei seinem kühnen Unternehmen gefühlt? Hatte er einen Augenblick Angst? Wohl kaum. Wir wissen, er ist sehr mutig. Wie hat die Wache reagiert, als plötzlich der Junge mit den zwei Gefangenen eintraf? Und die Dorfbewohner?«

»Aber bitte, wenn diese Geschichte womöglich wirklich nicht stimmt, wie Hans meint?« fragte Lisbeth.

Lisbeth war eine sehr gute Schülerin, die traurige Gedichte so eindrucksvoll und überzeugend aufsagen konnte, daß Maria darüber immer weinen mußte.

»Da mach dir nur keine Sorgen«, sagte die Lehrerin. »Was Hans denkt, ist unwichtig. Der Bericht steht in den Innsbrucker Nachrichten. Das ist eine offizielle Zeitung. Hier stimmt alles.«

»Also ich kann mir auch nicht vorstellen, daß zwei erwachsene Männer, die im Krieg gekämpft haben, sich von so einem Buben einfach gefangennehmen lassen«, meinte Hias. Er trug eine Gipsmanschette um den Hals. Vor vierzehn Tagen waren die Rodelwege sehr eisig gewesen. Weil er weit oben am Berg, am Klausnerhof, daheim war und zu Fuß fast eineinhalb Stunden zur Schule brauchte, mit der Rodel aber höchstens zehn Minuten, war er natürlich trotzdem mit der Rodel gefahren. Klar, daß er vor jeder Wegbiegung den berühmten Rodlerruf ausgestoßen hatte: Auuuuus, auuuuus! Damit glaubte er sich sicher. Als er aber schon nahe beim Schulhaus die letzte Kurve nahm, erblickte er plötzlich eine Gruppe von Kindern ganz knapp vor sich. Es war sehr kalt, und sie trugen dicke Mützen und Kopftücher über die Ohren, weshalb sie seine Rufe nicht hörten. Zum Ausweichen war kein Platz da. Er bremste, was ging, kam ins Schleudern und prallte an einen Baum. Davon hatte er sich einen Halswirbel gebrochen, und nun mußte er einen weißen Halswickel aus Gips tragen und hatte dauernd ein kaltes Gefühl im Genick. Das ist im Winter sehr unangenehm.

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»Das waren doch Polen«, erklärte die Lehrerin. »Polen, Russen, Neger, das sind doch alles Untermenschen. Versteht ihr das denn nicht?«

»Warum schießt der Hitlerjunge überhaupt auf Spatzen? So ein Blödsinn. Spatzen tun doch niemandem etwas. Bei uns fiele es niemandem ein, auf Spatzen zu schießen. Hat der nichts Besseres zu tun?« Das war Barbara, die jüngste Tochter vom Hörndlebauer.

»Heute, wo unser Vaterland in Gefahr ist!« rief Josef dazwischen.

»Euer dummes Gerede ist nicht auszuhalten«, sagte Erich, der Bub vom Bichlerbauer, der als einer der wenigen Bauern nicht an der Front war. Er war Ortsgruppenleiter und daher unabkömmlich. »Und überhaupt, warum soll er nicht auf Spatzen schießen? Diese Vögel sind unnütze Fresser. Wenn er auf sie zielt, übt er sich im Schießen. Das kann er später gut gebrauchen.«

»Die armen Spatzen, warum kann man sie nicht leben lassen?« widersprach Veronika. »Ich mag Spatzen. Einmal habe ich einen fast gezähmt. Der hat mir glatt aus der Hand gefressen.«

»Schluß jetzt! Macht kein Theater. Ihr seid einfach aus Prinzip dagegen. Ich hab schon wieder Magenkrämpfe«, rief die Lehrerin. Immer wenn die Schüler schlimm waren, bekam sie Magenkrämpfe. Dann schickte sie ein Kind um ein Glas Wasser in die Küche, holte das Baldrianfläschchen aus ihrer Aktentasche und schüttete zwanzig Tropfen hinein. Sie trank die Flüssigkeit in kleinen Schlucken, und dann ging es ihr wieder besser.

Die Lehrerin war sehr aufgebracht. »Ihr schreibt einen Aufsatz zu diesem Thema. Den Bericht

habt ihr gehört. Alles andere braucht euch nicht zu kümmern. Und laßt eurer Phantasie freien Lauf. Erfindet ruhig noch hübsche Einzelheiten dazu. Wie war das Wetter? Herrschte

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Nebel? Vielleicht Schneetreiben? Oder schien die Sonne? Halfen Spuren im Schnee dem Hitlerjungen, die beiden Kriegsgefangenen aufzuspüren? Und so weiter, und so fort.« Die Lehrerin stand vor den Bankreihen. Ihr hellblaues Kleid hob sich von den blonden Haaren ab. Begeisterung lag auf ihrem Gesicht.

»Sollen wir beschreiben, wie der tapfere Hitlerjunge die beiden Polen abführte? Vielleicht bohrte er ihnen den Gewehrkolben in den Rücken oder so?« erkundigte sich Franz.

»Ein Spatzengewehrkolben in zwei Rücken, wie geht denn das?« fragte Helga spöttisch.

»Ihr könnt zum Beispiel die freudige Überraschung schildern, welche die Wachmänner empfanden, als der tapfere Hitlerjunge mit den zwei Gefangenen in die Wachstube trat«, sagte die Lehrerin. »Beschreibt nur alles recht plastisch und anschaulich. Das ist das wichtigste.« Die Lehrerin nahm die Aufsatzhefte, die am Pult lagen, und teilte sie aus. Maria schlug ihres auf. Drei Aufsätze hatte sie in diesem Schuljahr schon schreiben müssen. Das erste Thema lautete: »Der Herbstwind erzählt.« Dieser Aufsatz hatte Maria großen Spaß gemacht. Dreieinhalb Seiten hatte sie vollgeschrieben, und sie hätte noch viel mehr zu erzählen gewußt. Aber leider war die Zeit zu rasch vorbeigegangen, und sie hatte das Schlußwort schreiben müssen. Für diese Arbeit hatte Maria einen zweimal unterstrichenen Einser bekommen. Auch auf die anderen zwei Aufsätze hatte ihr die Lehrerin ein »Sehr gut« gegeben. Maria schrieb gerne Aufsätze. Heute aber starrte sie ratlos auf das leere Blatt. Keine Idee, kein brauchbarer Satz wollte ihr einfallen. Langsam schrieb sie den Titel hin.

Nun stand wenigstens die Überschrift: »Tapferer Hitlerjunge fängt zwei Kriegsgefangene.« Die Worte verschwammen vor ihren Augen. Plötzlich schob sich das Gesicht von Boris zwischen sie und das Blatt Papier. Ernst schaute er sie an. Und sosehr sie sich auch bemühte, sich zu konzentrieren und an den

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tapferen deutschen Hitlerjungen zu denken, an seinen Mut und seine Entschlossenheit – sie konnte sich nicht von dem Gedanken losreißen, was wohl mit den zwei Gefangenen passiert war, nachdem er sie abgeliefert hatte. Waren sie eingesperrt worden? Hatte man sie bestraft? Wie? Was passierte mit den geflüchteten Kriegsgefangenen, die man wieder einfing? Aber Maria brauchte darüber nicht zu grübeln. In Wirklichkeit war ihr dies schon beim Vorlesen des Artikels bewußt geworden: Flüchtende Kriegsgefangene wurden, falls man ihrer habhaft wurde, zum Tode verurteilt. Das war ja schließlich auch der Grund, warum Boris unter keinen Umständen gefunden werden durfte. Sie würden ihn mit dem Tode bestrafen. Gerade so, wie sie bestimmt auch diese zwei Polen in Wernigerode getötet hatten.

Maria wandte ihre Augen vom Heft ab. Sie konnte die Überschrift nicht mehr anschauen, sie konnte auch die Lehrerin nicht mehr anschauen. Und nicht die Kinder, die sich eifrig über ihre Hefte beugten. Sie sah zum Fenster hinüber. Es war nicht viel zu sehen. Noch immer schneite es, wenn auch weniger stark als gestern. An der Wand tickte die Uhr ihre Zeit herunter. Schon war eine halbe Stunde vergangen, und das Blatt in Marias Heft war noch immer unbeschrieben. Maria packte den Federstiel fester, tauchte ihn ins Tintenfaß ein. Irgendwie mußte sie anfangen.

»Maria, träum nicht«, sagte die Lehrerin. Maria zuckte zusammen. Sie schaute wieder ins Heft. Da standen unter der Überschrift nur zwei Worte: Boris Tritonow. Maria erzitterte bis ins Herz. Was hatte sie getan? Sie hatte den Namen des Kriegsgefangenen aufgeschrieben. Wie konnte sie nur! Niemand durfte auch nur ahnen, daß sie diesen Namen kannte. Sie durfte überhaupt keinen russischen Namen kennen. Russen, das waren Untermenschen. Kein deutsches Mädchen befaßte sich mit den Untermenschen. Tat sie es trotzdem, war sie schon verdächtig. Tinte konnte man nicht mehr löschen. Während des

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Krieges gab es noch keine Tintenkiller. Was einmal mit Tinte geschrieben war, blieb geschrieben. Was sollte sie tun? Zitternd tauchte Maria die Feder nochmals ins Tintenfaß und überstrichelte den Namen so lange, bis die zwei Worte unlesbar geworden waren. Nun schaute das Blatt sehr seltsam aus. Aufder ersten Zeile die Überschrift, dann ein dicker Balken und dann nichts. Da schlug die Uhr. Es war zwölf. Die Stunde war zu Ende. Maria hatte keinen einzigen Satz geschrieben. Daß ein Schüler bei einer Schularbeit einfach nichts schreibt, das war überhaupt noch nie passiert. Selbst jene Kinder, denen nur sehr wenig einfiel, hatten zumindest immer noch eine halbe Seite Text zusammengebracht. Maria war ratlos.

Sie genierte sich. Was würde die Lehrerin von ihr denken? Sollte sie das Heft nicht abgeben und es heimlich verschwinden lassen? Vielleicht dachte die Lehrerin, sie selbst hätte es verloren. Oder sollte sie zu ihr hingehen und sagen, daß sie zu diesem Thema einfach nichts hatte schreiben können? Aber dann würde die Lehrerin nach den Gründen fragen. Was dann? Josef, der die Schularbeitshefte einsammeln mußte, stand schon vor ihrer Bank und streckte die Hand aus. Da klappte sie das Heft zu und reichte es ihm hin.

Am Nachmittag stand das Fach Leibesübungen auf dem Stundenplan. Einen Turnsaal gab es an Marias Schule nicht. Also konnte es auch kein richtiges Turnen geben. Aber das wurde von niemandem bedauert. Im Sommer gingen die Kinder in den Wald. Nicht weit vom Schulhaus befand sich auf einem halbwegs ebenen Platz eine kleine Lichtung. Dort konnte man herrlich Völkerball und Sackhüpfen oder Blindekuh spielen. Im Winter gingen die Kinder rodeln, oder sie machten eine Schneeballschlacht. Schi besaßen sie keine. Heute entschloß sich die Lehrerin für eine Aktion besonderer Art. Die Kinder sollten etwas Nützliches leisten. Der Weg über den Berg war nach den letzten Schneefällen noch immer sehr schlecht zu begehen. Die Schüler sollten ihn in den

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Turnstunden ordentlich austreten, und zwar ausgehend vom Schulhaus so weit hinauf, solange eben die Zeit reichte. Die Kinder mußten sich im Gänsemarsch aufstellen und in kleinen Schritten den Schnee niedertreten, so daß eine Spur entstand, in der ein Mensch bequem gehen konnte. Als sie beim Hörndlebauer angelangt waren, wurde eine Pause eingeschoben. Die Bäuerin lud die Kinder zu sich in die Küche und gab ihnen heißen Tee zum Trinken. Sie holte auch frischgebackenes Brot aus der Speisekammer und stellte ein Schüsselchen Schmalz auf den Tisch. Die Lehrerin erzählte den Kindern, daß die Schneefälle auch bei ihr zu Hause, in Innsbruck, große Komplikationen verursachten, weil es einfach zu wenig Leute gab, die den Schnee forträumen konnten. Die meisten Männer waren ja im Krieg. Oft blieben die Autos und Straßenbahnen stecken, dann sprangen die braven Buben von der Hitlerjugend ein und schaufelten die Straßen frei.

»Das ist immerhin besser, als wenn sie auf geflüchtete Kriegsgefangene mit Spatzengewehren schießen«, sagte Olga. »Oder ihnen gar nachspionieren.« Maria schaute Olga fragend an.

»Findest du nicht auch, daß das heutige Aufsatzthema besonders blöd war?« meinte Olga. »Ich werde wieder einmal einen Vierer kriegen, das sehe ich schon kommen!« Sie machte sich nie Sorgen wegen der Noten. Sie war groß und kräftig und half der Mutter, ihren Bauernhof zu bewirtschaften. Wie im Sommer der Roggen stand und wann die Kuh Enzian ihr Kalb zur Welt bringen mußte und ob ihre drei Schweine gut im Speck waren – darum kreisten ihre Gedanken. Die Schule sah Olga mehr oder weniger als Zeitverschwendung an. »Aber«, fuhr sie fort, »mir ist das völlig gleichgültig. Wenn die Lehrerin so komische Themen stellt, muß sie mit dementsprechenden Aufsätzen rechnen.« Sie lachte.

Maria wurde leichter ums Herz. »Ich habe überhaupt nichts geschrieben«, sagte sie. »Kein Wort. Ich konnte nicht, ich habe

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immer an die zwei Kriegsgefangenen denken müssen, die wieder eingefangen worden sind.«

»Wenn die Geschichte überhaupt wahr ist. Die Zeitungen glauben, ihre Leser sind total blöd, und sie können ihnen die dümmsten Lügen vorsetzen.«

»Na, was ist, wollen wir wieder weitertreten?« rief die Lehrerin. »Nun habt ihr euch ja aufgewärmt und gestärkt. Los, los, kommt! Noch eine Stunde, und dann ist Schluß, und ihr könnt nach Hause gehen.«

»Wollen tun wir nicht, aber müssen«, sagte Robert so laut, daß es auch die Lehrerin hören mußte. Aber sie achtete nicht darauf, sondern schlüpfte in ihren Mantel, band sich den Wollschal um den Kopf und machte die Küchentür auf. »Na marsch, marsch«, rief sie. »Hinaus mit euch in die herrliche Winterluft.«

Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien, doch war es sehr kalt geworden. Der Schnee knirschte unter den Füßen. Die meisten Kinder hatten feste Schuhe an mit dicken Holzsohlen, sogenannte Knospen, eine zu dieser Zeit auf dem Land weitverbreitete und beliebte Fußkleidung. Andere trugen dicke, selbstgemachte Patschen. Als Mäntel hatten die meisten Kinder warme Lodenumhänge. Viele Kinder besaßen auch Pullover aus selbstgesponnener Schafwolle. Die Gesichter waren ungeschützt. Der Frost biß sie in die Nasen und brannte ihnen die Wangen rot. Nur durch das heftige Treten konnten sie sich warm halten. Aber schließlich durften sie Schluß machen und nach Hause gehen.

Als Maria heimkam, hatte Großmutter eine weitere Aufgabe für sie. »Zuerst trinkst du eine Schale heiße Milch und ißt ein Marmeladebrot«, sagte Großmutter. »Dann, wenn du dich richtig aufgewärmt hast, hilfst du mir noch, das letzte Holz aus dem Schuppen auszuräumen.«

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»Müssen wir das unbedingt heute machen? Ich mag jetzt nicht. Ich bin müde, und ich habe mich den ganzen Nachmittag auf die warme Küche gefreut.«

»Es dauert ja nicht lange. Eine Viertelstunde, dann haben wir die Arbeit geschafft.«

»Soll doch Willi einmal etwas tun. Ich bin wirklich müde«, murrte Maria.

»Oh, ich bin auch oft müde«, sagte die Großmutter, »und muß trotzdem noch anfallende Arbeiten erledigen. So ist das Leben halt einmal – da nützt nichts. Je eher du das lernst, desto besser.«

Diese Worte empörten Maria noch mehr. Ihr kam das als sinnloser Zwang und Unterordnung vor. Unterordnung haßte sie.

»Wir könnten den Schuppen wirklich auch morgen ausräumen«, beharrte sie.

»Nein, das geht nicht. Du bist vormittags in der Schule, und nachmittags kommt schon der Blaserbauer und bringt neues Holz. Da muß Platz sein, damit man es schön aufstocken kann.«

Inzwischen hatte Maria ihre Milch ausgetrunken. »Komm jetzt«, sagte Großmutter, »wenn wir uns beeilen,

sind wir bald fertig.« Widerstrebend stand Maria auf. Der Holzschuppen war kein

richtiger Schuppen. Man hatte einfach den Raum unter der Stiege, die in den ersten Stock zu dem Klassenzimmer hinaufführte, durch einen Bretterverschlag vom Hausgang abgeteilt.

Am Fußende der Treppe war der Verschlag so niedrig, daß sogar ein Kind nur gebückt stehen konnte. Großmutter hatte oft Rückenschmerzen und mochte sich deshalb nicht gerne niederbeugen. Aus diesem Grunde sollte Maria die Holzscheite aus diesem Winkel herausholen und zur Tür werfen. Dort saß Großmutter auf einem Schemel und legte sie in die Kiste.

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»Aufgaben sollte ich auch noch machen«, schimpfte Maria, während sie unwillig hinter der Großmutter hertrottete.

Nun riß Großmutter die Geduld. »Schluß jetzt«, rief sie. »Du hilfst mir jetzt das Holz ausräumen und basta. Keine Widerrede mehr!«

Dieser Ton brachte Maria noch mehr auf. Aber sie wagte es nicht mehr, sich dagegen aufzulehnen. Zornig schleuderte sie die Holzscheite in Richtung Tür, wo Großmutter auf ihrem Hocker saß und sie einsammelte. Ich hasse Großmutter, dachte Maria, ich hasse sie. Ah, wie ich sie hasse.

»Paß auf«, rief Großmutter, »wirf etwas kürzer, mehr nach links. Sonst triffst du womöglich noch mich.«

Aber in diesem Augenblick war es schon geschehen. Ein Scheit war gegen Großmutters Hand geprallt und hatte ihr die Haut aufgerissen. Ein dünner Blutstrahl strömte aus der Wunde. Großmutter riß ihr Taschentuch aus der Schürzentasche und umwickelte die Hand, um zu verhindern, daß sie ihre Kleider beschmutzte.

»Das hast du absichtlich gemacht, Maria«, sagte Großmutter mit ganz ruhiger, kalter Stimme.

»Nein, nein«, beteuerte Maria tief erschrocken. »Bestimmt nicht, ich schwör’s.« Aber tief in ihrem Herzen wußte sie ganz genau, daß sie absichtlich auf Großmutters Hand gezielt hatte. Nun war ihr Zorn wie weggeblasen. Sie hätte stundenlang Holz verräumt, wenn sie den Wurf hätte ungeschehen machen können.

Mutter kam aus der Küche heraus. Sie half Großmutter aufstehen und führte sie in die Küche. Dann holte sie Gaze und Mullbinden aus dem Verbandkasten. Die Wunde wurde mit Jod ausgepinselt, Kräuterheilsalbe auf ein Stück Gaze gestrichen, aufgelegt und die Wunde mit einer Mullbinde gut umwickelt. Großmutter ließ alles mit sich geschehen und sagte während der gesamten Prozedur kein Wort. Auch Mutter schwieg. Maria schlich leise aus der Küche. Sie lief ins

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Klassenzimmer hinauf. Im Finstern tappte sie zum Fenster und öffnete die Verdunklungsläden. Hier war sie allein. Ihre Augen brannten von den verhaltenen Tränen, so schämte sie sich und war gleichzeitig voller Reue und Trauer. Draußen war inzwischen die Nacht übers Land gekommen. Es hatte aufgeklart, der Mond stand als große Scheibe am dunklen Himmel. Der Hof vom Gruberbauer schmiegte sich in seine Mulde. Er war fast nicht zu sehen, weil eine dicke Schneehaube sein Dach überdeckte und alle seine Fenster, wie die Fenster aller Häuser, verdunkelt waren. Nirgends war Licht zu sehen, nur die Sterne glitzerten.

Nach einer Weile riß sich Maria vom Fenster los und stieg leise die Treppe hinunter. Sie knipste das Licht im Hausgang an. Dann schlüpfte sie in den Holzverschlag und fing an, die Holzscheite unter der Stiege in ihre Schürze zu sammeln, nach vorne zu tragen und in die Holzkiste zu schichten. Nachdem die Arbeit beendet war, fühlte sie sich irgendwie erleichtert.

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Großmutter hatte für Maria die Wäsche herausgelegt, die sie diese Woche tragen sollte. Oben auf dem Stapel lagen

die grauen Strümpfe. Als Maria diese Strümpfe sah, wurde ihr innerlich ganz steif und starr zumute. Die Strümpfe waren selbstgestrickt, Maria besaß nur selbstgestrickte Strümpfe. Aber auch zwischen selbstgestrickten Strümpfen gab es Unterschiede. Für die blauen zum Beispiel hatte Großmutter Wolle verwendet, die von einem alten Pullover stammte. Diese blauen Strümpfe fühlten sich weich an, und wenn man sie anzog, hatte man es warm und angenehm. Aber die grauen waren aus selbstgesponnener, grober Schafwolle. Großmutter hatte durch ein kompliziertes Tauschgeschäft, von dem niemand Näheres wußte, rohe Wolle eingehandelt und sie auf dem eigenen Spinnrad versponnen. Daraus hatte sie dann die Strümpfe gestrickt. Sie waren abscheulich. Die Gewißheit, diese Strümpfe sieben Tage lang tragen zu müssen, verdarb Maria die Woche schon im vorhinein. Maria nahm die Strümpfe zwischen die Finger und knetete und walkte sie durch. Aber es nützte nichts. Kratzige Strümpfe bleiben kratzig, da ist nichts zu machen. Am liebsten wäre Maria wieder ins warme Bett geschlüpft. Wie freute sie sich auf den Sommer, wenn man keine Strümpfe tragen mußte, keine Schuhe, keine Westen. Sie wünschte, es würde immer Sommer sein. Im Zimmer war es kalt. Das bißchen Wärme, das am Abend durchs Offenlassen der Tür von der Stube hereinkam, war längst verflogen. Maria fröstelte. Am Morgen sollte sie immer sehr schnell machen. Heraus aus dem Bett und sofort die Kleider angezogen! Je länger sie zögerte, sich anzuziehen, desto kälter wurde ihr. Also hinein in die Wäsche! Das dicke Flanellhemd, die Unterhose, der Strumpfgürtel und dann die Strümpfe.

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Maria hörte, wie draußen die Haustür geöffnet wurde. Der Briefträger war gekommen. Maria erkannte ihn an den schweren Schritten. Wie jeden Morgen zog er die Stiefel aus, bevor er die Küche betrat. Sicher hatte Mutter schon eine Schale Zichorienkaffee und ein Schmalzbrot für ihn hergerichtet. Nun mußte sie sich beeilen. Der Briefträger kam meistens gegen halb acht. Maria streifte den linken Strumpf über. Sofort bekam sie eine Gänsehaut, am liebsten hätte sie ihn wieder ausgezogen. Aber es half alles nichts. Sie mußte sich noch den rechten anziehen. Selbst ihr Lieblingskleid aus rotgeblümtem Barchentstoff konnte sie nicht trösten. Bei den ersten Schritten versuchte sie, die Knie nicht abzubiegen, um die Haut an den Kniekehlen nicht noch stärker der kratzenden Wolle aussetzen zu müssen.

»Komm«, sagte Großmutter, die bereits fix und fertig angezogen, frisiert und gewaschen ins Zimmer kam und Marias steife Bewegungen sah. »Komm, Maria, denk nicht an die Strümpfe, du wirst sehen, du gewöhnst dich gleich wieder an sie. In einer Stunde spürst du sie kaum mehr.« Aber Maria wußte, daß die Strümpfe sie auch nach sieben Tagen noch kratzen würden. Nach sieben Tagen, wenn sie sie endlich in die Wäsche geben konnte und die weichen blauen wieder anziehen durfte.

»Denk daran«, sagte die Großmutter, »wie viele Kinder heutzutage überhaupt keine Strümpfe haben. Diese armen Kinder müssen frieren. Wie froh wären sie, wenn sie deine Strümpfe anziehen könnten.«

Maria antwortete nichts. Erstens war sie froh, daß Großmutter kein Wort über den gestrigen Vorfall verlor. Das war das schönste an Großmutter. Maria gegenüber war sie niemals nachtragend. Und den großen weißen Verband hatte sie auch schon gegen einen schmalen Hansaplaststreifen vertauscht. Da wollte Maria nicht schon wieder schnippisch

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sein. Und zweitens hatte sie es sowieso aufgegeben, auf derartige Feststellungen zu reagieren.

Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit hieß es: Sei froh, daß du Zichorienkaffee trinken darfst, sogar mit Zucker. Viele Kinder bekommen überhaupt keinen Kaffee. Sei froh, daß du Polenta essen darfst, andere Kinder müssen hungern. Sei froh, daß du schlafen gehen darfst, die Stadtkinder müssen die Nächte im Luftschutzkeller verbringen.

Maria haßte es, immer die anderen Kinder vorgehalten zu bekommen. Natürlich taten ihr die anderen Kinder leid. Aber sie hatte schließlich nicht schuld daran, daß es ihnen schlechtging, und Polenta, gar mit Erdäpfeln vermischt und geröstet, konnte sie einfach nicht essen. Mit steifen Knien ging Maria in die Küche. Da saß schon Willi am Tisch und kaute an seinem Brot.

»Du brauchst aber lange zum Aufstehen«, sagte er, »ich bin schon mit Spitz draußen gewesen. Es hat ihm so gut gefallen, er wollte gar nicht mehr hereinkommen.« Auch der Briefträger saß schon vor seiner Kaffeeschale. Mit dem Armstumpf hielt er die Brotscheibe am Teller fest, mit der gesunden Hand brach er kleine Stücke ab und tauchte sie in den Kaffee. Dann steckte er die angefeuchteten Stücke genüßlich in den Mund.

Maria setzte sich dem Briefträger gegenüber. Sie hielt die Beine weit von sich gestreckt. Nur nicht die Knie abbiegen und ganz ruhig sitzen. So waren die Strümpfe noch am ehesten zu ertragen. Mutter stellte eine Tasse Kaffee mit zwei Broten, dick mit Schwarzbeermarmelade bedeckt, auf den Tisch. Im Sommer hatte Mutter sich selbst und die Kinder wochenlang zum Schwarzbeersuchen durch die Wälder gejagt – nun bekamen sie wochenlang Schwarzbeermarmelade. Aber das machte nichts. Schwarzbeermarmelade schmeckte immer gut. Leider schwamm auf dem Kaffee wieder eine Haut. Die kam von der abgekochten Milch, welche Mutter immer reichlich dem Kaffee zusetzte. Wenn Maria außer kratzenden Strümpfen

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und Erdäpfeln, vermischt mit Polenta, etwas haßte, so Milchhaut im Kaffee. Es grauste ihr einfach davor. Mutter wußte das, und deshalb achtete sie fast immer darauf, daß Maria ihren Kaffee ohne Haut bekam. Aber heute tauchten große, grausige Fetzen Milchhaut an die Oberfläche.

»Mutter«, sagte Maria, »darf ich mir den Kaffee noch einmal abseihen?«

Der Briefträger zog die Stirn kraus. Er mochte Maria, aber er fand, daß sie verwöhnt wurde. Er wischte sich mit der gesunden Hand über den Mund und sagte: »Andere Kinder wären froh ...«

Maria war gezwungen, sich wieder einmal die Ohren innerlich zuzustopfen. Es war nicht mehr auszuhalten. Nun fing sogar der Briefträger mit solchen Sprüchen an. Normalerweise war er nämlich recht vernünftig. Erstens verspürte er keine Verpflichtung, Maria zu erziehen. Und zweitens war er überhaupt ein einsichtiger Mensch. Aber heute schien sich alles gegen Maria verschworen zu haben.

»Komm«, sagte Mutter, »ich seih dir den Kaffee ab.« In diesem Augenblick betrat die Lehrerin die Küche. Sofort

fiel Maria der gestrige Aufsatz wieder ein. »Heil Hitler«, sagte die Lehrerin schwungvoll. Sie trug graue Flanellhosen und einen weinroten Pullover. Um den Hals hatte sie einen buntkarierten Schal geschlungen. Maria betrachtete sie ein wenig neidisch. Wenn sie einmal erwachsen sein würde, würde sie nur mehr Kleider anziehen, die ihr gefielen. Und nie mehr grobe Strümpfe, nie mehr!

»Ah, guten Morgen, Fräulein Hauser«, sagte Mutter. »Kommen Sie, trinken Sie eine Tasse Kaffee mit uns.«

Die Lehrerin setzte sich zum Tisch. »In Ihrer Küche, Frau Winkler, ist es so gemütlich«, lobte sie. »Den ganzen Morgen freue ich mich auf die Viertelstunde, in der ich mich hier aufwärmen kann.«

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»Ja«, sagte die Mutter. »In der Küche haben wir es fein warm. Aber auch im Schulzimmer habe ich schon fest eingeheizt.«

In diesem Winter mußte Mutter jeden Schultag um sechs Uhr aufstehen, um im Klassenzimmer den Ofen zu heizen. Letztes Jahr, als Vater noch nicht im Krieg war, hatte er das gemacht. Er war aufgestanden, hatte im Klassenzimmer und in der Küche Feuer gemacht, Tee gekocht und Mutter eine Tasse davon ans Bett gebracht. Vielleicht war Mutter damals auch deshalb besser aufgelegt gewesen als heute.

»Ich bin mit dem Frühstück fertig«, sagte Willi, »darf ich aufstehen?«

»Ja, aber wasch dir deine Hände und hol Spitz herein, damit er nicht wieder wegläuft«, sagte Mutter. Die Lehrerin hatte neben Maria Platz genommen und wartete auf den Kaffee.

»Sag, Maria«, sagte sie plötzlich. »Warum machst du eigentlich ein so finsteres Gesicht?«

»Hm, Gründe, finster dreinzuschauen, gibt es genug«, meinte der Briefträger, obwohl er gar nicht gefragt war. »Man dreht den Volksempfänger auf und hört als erstes von neuen Frontbegradigungen. Begradigungen, nichts als Begradigungen. Das muß einen ja finster stimmen.« Mit dem Wort Begradigung, das wußte Maria natürlich, wurde die Tatsache umschrieben, daß die deutsche Armee an verschiedenen Grenzabschnitten zurückgedrängt worden war, und sie war sicher, der Briefträger wußte genau, daß sie nicht deshalb mißmutig gestimmt war. Er wollte die Lehrerin ärgern, das war klar. Diese warf ihm einen strafenden Blick zu.

»Ach, Sie immer mit Ihrer Politik«, sagte die Lehrerin. Aber im Grunde redete sie auch gern und oft über den Krieg. Allerdings nur, wenn es Siege zu feiern gab. »Außerdem habe ich Maria gefragt und nicht Sie. Sag mir, Maria, was dich bedrückt.«

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Also die Aufsätze hat sie noch nicht korrigiert, sonst wäre sie nicht so freundlich, dachte Maria. Wenigstens etwas. Unwillkürlich seufzte sie auf. »Im Grunde habe ich gar nichts Besonderes«, antwortete sie endlich. »Nur eine ganze Menge kleiner, dummer Sachen. Winter ist, und beim Aufstehen ist es kalt. Dann habe ich heute diese gräßlichen Strümpfe anziehen müssen, die mich schrecklich kratzen. Und jetzt noch die Haut auf der Milch. So fein ist das Sieb nicht; auch wenn Mutter den Kaffee noch einmal abseiht, bleibt immer noch Haut drinnen. Davor graust mir einfach. Und dann ...« Maria stockte. Dann war die Sache mit Boris, die ihr auch dauernd im Kopf herumging und über die sie nicht reden durfte. Ja, und der Aufsatz von gestern, über den sie natürlich auch noch schweigen mußte. Die Vorwürfe und Fragen würden sowieso bald genug kommen.

»Ja, und dann?« bohrte die Lehrerin. »Was hast du noch auf dem Herzen?«

»Ach nichts«, wehrte Maria ab. »Was soll denn sein?« fragte Mutter beunruhigt. Sie hatte

inzwischen das Poppele gewickelt. Nun nahm sie es aus dem Gitterbettchen und setzte sich mit ihm in den breiten Lehnsessel in der Ecke neben dem Herd. Sie kostete ein Schlückchen aus der Babyflasche, um die Temperatur des Milchbreis zu prüfen. Lisa sah es gar nicht gern, daß die Mutter aus ihrem Fläschchen trank. Sie zappelte mit den Armen und Beinen, verzog mißmutig ihr Gesicht und fing zu plärren an. »Na, na, sei ruhig, du bekommst schon dein Essen, du Freßsack, du«, sagte Mutter und steckte ihr den Schnuller in den Mund. Da war das Poppele endlich zufrieden und fing augenblicklich zu saugen an.

»Also gut, Frau Winkler«, sagte die Lehrerin. »Sie müssen es ja doch erfahren. Warum sollten wir also nicht gleich darüber reden?«

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»Was ist? Ich bitte Sie, Fräulein Hauser, reden Sie endlich. Was ist los? Hat Maria etwas angestellt?«

Willi, der eigentlich auf den Weg hinausgehen wollte, setzte sich wieder hin. Die ganze Sache fing an ihn zu interessieren. Nun schauten alle auf Maria. Der Briefträger, die Mutter und natürlich Willi. Nur einzig das Poppele ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Es nutschelte zufrieden an seinem Fläschchen und kümmerte sich um nichts anderes. Maria aber wäre am liebsten im Boden versunken. Nun war klar, daß Fräulein Hauser das Aufsatzheft bereits gesehen hatte. Sie fand es taktlos von der Lehrerin, daß sie Schulangelegenheiten öffentlich abhandelte. Sogar vor dem Briefträger, der nicht einmal richtig zur Familie gehörte.

»Sie wissen ja, Frau Winkler«, wandte sich Fräulein Hauser an die Mutter, »Sie wissen ja, daß ich Maria sehr schätze, sie ist zwar oft etwas zu neugierig und in manchen Dingen etwas zu aufgeweckt, aber sie ist auch fleißig und lernwillig und durchaus nicht dumm. Im Gegenteil. Vielleicht ein wenig zu sehr an Dingen interessiert, die sie eigentlich überhaupt nichts angingen.«

»Fräulein Hauser«, sagte Mutter, »ich bitte Sie, kommen Sie zur Sache. Sagen Sie endlich, was hat Maria angestellt?«

»Angestellt? Also angestellt hat sie nichts. Sie hat etwas unterlassen. Und das ist oft genauso schlimm. Wir hatten gestern nämlich Schularbeit.«

»Ach so«, sagte Mutter. Sie schien recht erleichtert. Also doch, dachte Maria, sie hat den Aufsatz also doch schon korrigiert.

»Nun, wir hatten ein wirklich interessantes Thema. Aber Maria, die sonst immer sehr gute Aufsätze macht, hat keinen einzigen Satz geschrieben. Nicht einen Satz!«

»Aber, Maria, warum denn nicht?« fragte Mutter erstaunt. »Das gibt es doch nicht, daß dir nichts eingefallen wäre!«

»Wie lautete denn das Thema?« fragte der Briefträger.

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»Tapferer Hitlerjunge fängt zwei Kriegsgefangene«, sagte Maria.

Der Briefträger pfiff durch die Zahnlücke. »Na, na, da wäre mir freilich auch nichts eingefallen. Dabei habe ich eine sehr lebhafte Phantasie. Das sagte meine Mutter auch immer.«

»Es brauchte ihr gar nichts einzufallen«, sagte die Lehrerin. »Das ist es, was mich so empört. Wir haben zuerst einen Bericht aus der Zeitung gelesen. Sie hätte diesen Bericht nur in eigenen Worten wiederzugeben brauchen.« Und direkt zu Maria gewandt fuhr sie fort: »Du hast mich wirklich sehr enttäuscht. Und natürlich muß ich dir für diese Nichtarbeit einen Fünfer geben. Einen glatten Fünfer! Alles andere wäre ungerecht gegenüber deinen Klassenkameraden.«

Maria hob die Nase aus der Tasse. »Aber, Fräulein Hauser, ich kann wirklich nichts dafür. Ich – ich habe einfach nicht schreiben können.« Ihre Stimme klang kläglich. Hilfesuchend schaute sie zur Mutter hinüber, die eben das Fläschchen wegstellte. Das Poppele hatte das Fläschchen bis auf den letzten Rest ausgetrunken.

»Arme Maria«, sagte sie und hielt das Kind hoch, damit es aufstoßen konnte. »Arme Maria, das muß sie von mir haben. Das werde ich ihr vererbt haben. Ich habe auch solche Tage. Da kann ich nichts schreiben. Reden ja, das schon. Aber schreiben? Nicht um die Burg! Kein Wort kann ich zu Papier bringen.«

»Tja«, sagte der Briefträger, »da sieht man wieder, daß die nationalsozialistischen Erbforscher letztlich doch recht haben. Alles Vererbung. Alles Vererbung.« Er kniff ein Auge zusammen und warf Maria mit dem anderen einen kurzen Blick zu.

Maria verstand. Er machte sich über Fräulein Hauser lustig. Sie glaubte nämlich felsenfest daran, daß man alles vererben könne.

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Die Lehrerin wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie war anscheinend ziemlich verwirrt.

»Ein Fünfer! Das ist natürlich schlimm, Maria, sehr schlimm«, sagte der Briefträger und stand auf. »Aber andererseits – heutzutage, wo Tausende Kinder durch Krieg und Bomben sterben müssen, sollte man den Verlust einer guten Note auch nicht zu tragisch nehmen.«

»Herr Karl! So einfach kann man das nicht sehen!« widersprach die Lehrerin. »Gerade in schweren Zeiten, wenn das Vaterland in Gefahr ist ...«

»Verzeihen Sie, meine Gnädigste«, sagte der Briefträger. »Ich kann Ihnen nicht länger zuhören. Ich muß gehen, um meine vaterländische Pflicht zu erfüllen. Adieu allerseits, adieu!«

»Heil Hitler«, antwortete die Lehrerin steif. »Nein, du bleibst hier«, sagte die Mutter zu Willi, der auch zur Tür hinausschlüpfen wollte. »Nun ist es zu spät, um spielen zu gehen. Du mußt zur Schule. Der Unterricht beginnt gleich.«

Die Lehrerin trank rasch ihre Tasse aus und stand auf. »Also, Sie wissen Bescheid, Frau Winkler. Ich dachte, es ist besser, Sie erfahren es gleich. Vielleicht, wenn Maria sehr fleißig ist, kann sie noch einiges an der Zeugnisnote verbessern.«

»Hörst du, Maria?« fragte die Mutter. »Fräulein Hauser gibt dir noch eine Chance. Also sei recht brav und fleißig.«

Maria nickte ergeben. Das war vielleicht ein schrecklicher Morgen gewesen. Aber wenigstens war die Sache mit dem Aufsatz jetzt vorbei. Darüber war Maria erleichtert. Sie stand auf und trug ihre Tasse zur Abwasch hinüber, sehr bemüht, die Beine nicht abzubiegen, um möglichst das Kratzen der Strümpfe nicht zu verstärken.

»Maria, geh doch normal, ich bitte dich«, sagte die Großmutter, die eben zur Tür hereinkam. »Du übertreibst. So schlimm sind die groben Strümpfe nun wirklich nicht.«

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Maria schwieg. Vielleicht waren die Strümpfe für Großmutter wirklich nicht so schlimm. Für sie waren sie es aber. Ganz, ganz schlimm.

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So, nun muß ich aber Schluß machen«, sagte Mutter. Sie setzte noch ein paar Vernähstiche, dann ließ sie das Stück

Stoff sinken. Marias Handarbeitsaufgabe war fast fertig. Jede Näharbeit, die Maria zu Hause machen mußte, erledigte Mutter. Das helfe ihr, so behauptete sie zumindest, Zeit und Nerven zu sparen, und trug Maria noch eine halbwegs erträgliche Handarbeitsnote ein. Großmutter verdammte diese Regelung, aber Mutter meinte, später einmal würde Maria das Nähen vielleicht von selber lernen, und bis dahin müßte man sich halt irgendwie behelfen. »Soll ich weitermachen?« fragte Maria der Form halber.

»Um Gottes willen, nein. Nicht, wenn ich nicht neben dir sitze. Du bist imstande und verdirbst das Stück noch im nachhinein. Laß es nur schön liegen, die restliche Naht mache ich morgen abend.«

Mutter faltete den Stoff sorgfältig zusammen und legte ihn in die Schachtel zurück.

»So, nun muß ich schnell zur Kerschbäuerin hinuntergehen. Ich habe versprochen, ihr zu helfen, einen Antrag an die Gauleitung zu schreiben. Kannst du heute den Russen versorgen?«

»Klar«, sagte Maria, »ich koch ihm einen Tee und schmiere ein paar Brote. Großmutter wird sicher noch eine halbe Stunde in der Stube bleiben.«

In den frühen Abendstunden gab es am Mittwoch im Radio immer Volksmusik. Das war die Lieblingsmusik von Großmutter und Willi. Dann setzten sich beide in die Stube direkt vor den Volksempfänger. Großmutter strickte, Willi spielte mit den Bauklötzen, aber mit ihren Ohren waren sie ganz bei der Musik. Großmutter bevorzugte die gesungenen Lieder, Willi Blasmusik. Alle zwei kamen bei dieser Sendung, die eine Stunde dauerte, voll auf ihre Rechnung. Es konnte

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passieren, was wollte, während dieser Zeit rührten sie sich nicht von ihren Plätzen.

»Nein, Maria, du brauchst keinen Tee zu kochen. Es ist alles schon fertig hergerichtet. Da schau.« Mutter kniete sich vor die Küchenkredenz und zog aus dem untersten Fach den großen Weidenkorb hervor, den sie im Sommer zum Schwammerlnsammeln benützte. Der Korb, den Mutter mit einem sauberen Geschirrtuch ausgelegt hatte, barg die rote Thermosflasche, den Warmhaltetopf und zwei in Papier eingeschlagene Brote sowie einen Apfel. »Du brauchst den Korb nur hinaufzutragen. Zum Glück hat uns der Briefträger neue Batterien organisiert. So kannst du die Taschenlampe nehmen. Aber laß sie nur so lange brennen, wie unbedingt notwendig ist. Du weißt ja, wie schwer man heutzutage Batterien bekommt.«

»Wird gemacht«, sagte Maria. »Und paß auf, daß Großmutter dich nicht sieht. Sie ahnt

nichts von unserem Russen. Oder«, die Mutter stockte, »zumindest tut sie, als ob sie nichts ahnte.«

»Keine Angst, ich paß schon auf.« Spitz, der auf seinem Lieblingsplatz vor dem Herd

geschlafen hatte, war aufgestanden und schwänzelte um Mutter herum. Er verstand genau, daß Mutter im Begriff war, wegzugehen, und versuchte so, sich bemerkbar zu machen. Er wollte mitgenommen werden. Schließlich fing er laut zu jaulen an, richtete sich auf und rieb seine Schnauze an Mutters Knie.

»Ja, ja, Spitz, ist schon recht«, sagte Mutter. »Ich nehm dich mit. Aber jetzt gib Ruhe. Sonst stolpere ich noch über dich.«

Mutter band sich ein Kopftuch um, nahm die Petroleumlampe in die eine Hand, die Hundeleine in die andere und ging.

Auch Maria schlüpfte in ihren Mantel, weil sie wußte, daß es auf dem Dachboden sehr kalt war und sie etwas länger oben bleiben wollte. Sie hatte Lust, ausführlich mit Boris zu reden.

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Die Taschenlampe knipste sie erst an, als sie die Tür zum Dachboden aufmachte.

»Hallo, Boris«, rief sie leise. »Ich bin’s, Maria. Ich habe Ihnen Suppe und heißen Tee mitgebracht.«

Sie schaute sich um und ließ den Strahl der Taschenlampe durch den Raum gleiten. Aber der Dachboden war zu groß, als daß ihn die kleine Lampe hätte ausleuchten können.

»Wo sind Sie? Ich kann Sie nicht sehen!« »Ah, Maria«, sagte Boris. »Da schau her. Hier bin ich, auf

dem Diwan. Ich bin ein bißchen eingenickt und habe dich nicht gleich gehört.«

Seine Stimme klang erfreut. Maria hielt die Taschenlampe in Richtung Diwan und trat näher. Jetzt konnte sie ihn erkennen.

»Ah, da sind Sie, grüß Gott.« Das Giebelfenster war mit einer Decke verhängt. Boris hatte

im Dunkeln gesessen. »Können wir die Petroleumlampe anzünden?« fragte Maria.

»Mutter hat gesagt, daß ich die Batterien sparen soll.« »Ja, solange du hier bist, leisten wir uns das Licht der

Petroleumlampe.« Er zog eine Packung Zündhölzer heraus und entflammte den Docht. Dann schraubte er den Zylinder wieder fest. Nun brannte die Lampe mit einer schönen hellen Flamme. Gleich schaute der Dachboden ein wenig heimeliger aus.

Jetzt erst bemerkte Maria, wie stark sich Boris verändert hatte. Dichte Bartstoppeln bedeckten Wangen und Kinn. Die Wollmütze hatte er weit in die Stirn gezogen, die Augen lagen tief in den Höhlen. Sein Gesicht wirkte noch blasser und eingefallener. »Wie geht es Ihnen?« fragte Maria.

»Oh, nicht besonders. Die Wunde brennt und tut weh. Mir kommt vor, sie wird immer schlimmer statt besser.«

»Ich habe heißen Tee da«, sagte Maria. Eifrig packte sie den Korb aus, stellte die Thermosflasche auf die wacklige Kiste

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neben dem Diwan und hob den Deckel vom Topf. Die Suppe dampfte noch.

»Hier«, sagte Maria, »Gulaschsuppe mit Erdäpfeln und Wurst. Sie ist schön heiß. Da ist das Besteck. Essen Sie, bevor sie kalt wird.«

Der Russe nahm den Löffel in die Hand und beugte sich über den Topf. Der Löffel schlug an den Topfrand, er hatte Mühe, nichts zu verschütten.

»Was haben Sie denn? Sie zittern ja«, rief Maria erschrocken. Sie griff nach seiner Hand. Sie war eiskalt.

»Ich glaube, ich habe Fieber. Bald ist mir heiß, dann wieder schrecklich kalt.«

»Ja«, bestätigte Maria. »Das sind Anzeichen für Fieber.« Sie hatte letztes Jahr eine schwere Angina gehabt und war vierzehn Tage lang mit Fieberanfällen im Bett gelegen. Mutter und Großmutter hatten sie gepflegt, sie schwitzen lassen, ihr Wickel und Umschläge verpaßt und sie mit verschiedenen Tees behandelt. Seit dieser Zeit fühlte sich Maria als Expertin für Krankenpflege.

»Ich hole das Thermometer. Dann können Sie Fieber messen, und wir haben Gewißheit.«

Noch ehe Boris antworten konnte, packte Maria die Taschenlampe und lief die Treppe hinunter. Auf den untersten Stufen im ersten Stock blieb sie einen Augenblick stehen. Im Hausgang war es dunkel. Nur aus dem Spalt zwischen Stubentür und Schwelle drang ein schmaler Lichtstreif. Großmutter hatte das Radio nun etwas leiser gestellt, daß man gerade noch ab und zu ein paar Takte Musik hören konnte. Rasch klinkte Maria die Küchentür auf, stieg auf den Sessel und öffnete das oberste Fach der Kredenz. Hier bewahrte Mutter die verschiedensten Tabletten, Pillen und Salben und das Fieberthermometer auf. Ein Griff, und schon hatte Maria es in der Hand. Es hat doch etwas für sich, Ordnung zu halten,

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dachte Maria, schloß die Tür wieder und sauste schon die Stiege hinauf.

Boris hatte inzwischen seine Suppe ausgelöffelt. Er hielt den Teebecher mit beiden Händen fest. Als er trinken wollte, schlugen die Zähne gegen den Rand des Bechers.

»Schüttelfrost«, sagte Maria. »Ich kenne das, ich hatte es auch. Sie sollten ins Bett gehen und ordentlich schwitzen. Das Schwitzen ist schrecklich, aber es hilft.«

»Kommt bestimmt von der Wunde. Da ist etwas nicht in Ordnung.«

Maria schien es, als ob Boris verzagt wäre. Seine Stimme klang müde und verdrossen. Keine Spur mehr von der Zuversicht, die er an dem Tag gehabt hatte, da sie ihm zum erstenmal begegnet war. »Hier ist das Thermometer«, sagte Maria. Boris versuchte, das Thermometer in die Achselhöhle zu klemmen, doch Maria mußte ihm helfen, denn er trug drei Pullover und eine Jacke, und darüber hatte er noch die rote Decke gewickelt.

»Haben Sie eine Uhr?« fragte Maria. »Nein, wo denkst du hin! Aber das macht nichts, wir

schätzen die Zeit.« »Oder wir zählen. Fünfmal langsam bis sechzig. Das sind

dann fünf Minuten.« »Laß nur«, sagte Boris, »so genau muß es ja nicht sein.« Schweigend saßen sie auf dem Diwan. Maria zog den

Umhang enger um die Schultern. Trotzdem spürte sie die Kälte durch ihre Kleider dringen. Auch die Strümpfe kratzten wie am Morgen, obwohl Maria sie nun schon einen ganzen Tag lang ertragen hatte. Wann würde dieser gräßliche Krieg endlich vorbei sein? Dann würden alle Leute wieder feine, weiche Strümpfe tragen, und die Kranken und Verwundeten würden in richtigen Betten liegen und von tüchtigen Krankenschwestern gepflegt werden. Und niemand – niemand brauchte sich mehr zu verstecken.

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Maria stand auf und ging zum Giebelfenster. Sie schob die Decke etwas beiseite. Sie hatte Lust, ein wenig den Himmel anzuschauen. Oder wenigstens den Weg, der vom Tal heraufkam und zwischen Feldern, Mauern und Wiesen direkt zum Schulhaus führte und auf dem auch Vater kommen würde – wenn nur erst der Krieg vorbei wäre. Aber durch das Fenster konnte man nicht hinausschauen. Es war mit Eis bedeckt, und so eifrig Maria auch kratzte und hauchte, die Eisschicht war zu dick. Sie ließ sich nicht entfernen.

»Maria«, rief Boris plötzlich. »Maria, was machst du? Schieb die Decke wieder vor das Fenster und komm her. Stell dir vor, jemand würde den Lichtschein von unserer Lampe sehen. Wie leicht könnte er Verdacht schöpfen!« Maria stopfte die Decke fest und trat vom Fenster zurück.

»Entschuldigung! Aber ich glaube nicht, daß die Lampe bis hierher scheint. Und dann ist das Eis auch so dick.«

»Wir dürfen uns nicht die geringste Unvorsichtigkeit erlauben.«

»Wieviel Fieber haben Sie? Geben Sie her, ich lese das Thermometer ab. Aha, da, vierzig komma sechs. Also doch. Sie haben Fieber. Hohes Fieber. Großmutter sagt immer, über vierzig Fieber, das ist schon kritisch.« Maria steckte das Thermometer in die Hülle zurück. »Also, da heroben in der Kälte können Sie nicht mehr bleiben.«

»Vielleicht kann mir deine Mutter noch eine Decke geben. Dann geht’s schon. Und einmal muß diese blöde Wunde ja besser werden.«

»Weiß Mutter, daß Sie Fieber haben?« »Nein, natürlich nicht. Heute morgen habe ich sie ganz kurz

gesehen. Sie hatte es sehr eilig, weil der Ofen im Klassenzimmer nicht richtig zog. Sie sagte, sie müsse nochmals Feuer anmachen. Sie stellte mir den Tee hin und die Brote und ging dann schnell wieder fort.«

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»Ich werde hinuntergehen und schauen, ob Mutter schon zurück ist.«

Boris schreckte hoch. »Du willst schon gehen?« »Ich muß. Aber ich komme heute abend noch einmal herauf.

Ganz bestimmt.« An der Tür drehte sich Maria nochmals um. Boris hatte den

Docht der Petroleumlampe zurückgeschraubt, so daß nur ein schwaches Flämmchen sein zuckendes Licht in die Dunkelheit warf. Auch Boris verschwand in den schwarzen Schatten. Man mochte meinen, der Raum sei menschenleer, so tief war die Stille. Boris lebte Tag und Nacht in diesem Schweigen. Schon viele Tage lang. Für Maria war das Leben inzwischen weitergegangen. Aufregung in der Schule, Ärger mit Großmutter und Willi, Zorn über ihre Mutter. Aber für Boris änderte sich nichts. Was machte er nur den ganzen Tag? Wahrscheinlich dachte er an seine Familie, an seine Frau, seine zwei Kinder. Hier war er in der Fremde. Mutter hielt ihn versteckt, gab ihm zu essen, aber ringsum waren Menschen, die ihn verfolgten. Wenn sie ihn fingen, würden sie ihn umbringen. Maria mußte an den Aufsatz vom Hitlerjungen denken. Sogar Kinder würden kein Erbarmen mit ihm haben.

Mutter legte gerade den Mantel ab. Ihre Haare trugen hauchfeine Eiskristalle, die Nase war rotgefroren. Spitz hatte sich natürlich wieder im Schnee gewälzt. Sogar in den Ohren klebte Schnee. Er schüttelte sich, daß es nur so staubte.

»Ah, gut, daß du heimgekommen bist«, rief Maria. »Was sollen wir tun? Er hat Fieber.«

Mutter schlug die Hände zusammen. »O Gott, das auch noch. Und das bei der Kälte auf dem Dachboden. Aber ich habe es befürchtet. Schon wie ich ihm das erstemal die Wunde verband, habe ich es befürchtet.« Sie machte die Küchentür auf. »Komm herein. Wir müssen überlegen, was wir tun sollen.«

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Mutter stocherte mit dem Schürhaken in der verlöschenden Herdglut herum, legte ein, zwei dünne Holzscheite darauf und fachte so das Feuer wieder an. Dann setzte sie einen Topf mit Wasser auf.

»Jetzt koch ich uns erst einmal einen ordentlichen Kamillentee. Mir ist kalt. Und dann überlegen wir, was wir tun können.«

Maria setzte sich auf die Bank hinter dem Tisch, zog die Knie hoch und schlang die Arme um die Beine.

»Ich bitte dich«, sagte Mutter gereizt, »setz dich anständig hin.«

Maria stellte die Füße auf den Boden. »Auf dem Dachboden oben in dieser Kälte kann er nicht

bleiben. Zu uns können wir ihn auch nicht nehmen. Ich wüßte nicht wohin. Wir haben einfach keinen Platz.«

Da ging die Tür auf. Großmutter betrat die Küche. Mutter verstummte. Großmutter schaute von Mutter zu Maria und zurück.

»Was habt ihr denn für ein Geheimnis vor mir?« fragte sie mit spitzer, vorwurfsvoller Stimme.

»Schläft Willi schon?« »Ja, der war so müde, daß er sofort eingeschlafen ist.« »Mutter, ich muß dir etwas sagen – wir haben einen Russen

im Haus.« »Aha, ein Russe ist es. Ausgerechnet! Daß du etwas vor mir

verbirgst, ahnte ich natürlich schon seit Tagen. Ich habe aber absichtlich nichts gesagt. Je weniger man weiß, desto ...«

»Mutter, ich kenne deine Sprüche«, sagte Mutter ungeduldig. »Nun mußt du es wissen, ob du willst oder nicht. Er hat nämlich Fieber bekommen. Auf dem Dachboden ist es zu kalt für ihn. Wir müssen uns etwas ausdenken.«

Großmutter setzte sich an den Tisch, zog ihr Wollzeug aus dem Beutel und fing zu stricken an. Sofort sprang Kitty von der Kredenz herunter und ihr auf den Schoß. Großmutter legte den

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Strumpf auf den Tisch. Kitty war zu dick und zu groß. Da war für das Strickzeug einfach kein Platz mehr.

»Wieviel Fieber hat er denn?« fragte Großmutter.»Über vierzig. Aber es ist keine Grippe. Er hat eine

Verwundung!«»Über vierzig Fieber! Und es kommt von einer Wunde!«

wiederholte Großmutter. »Da hast du dich auf etwas Schönes eingelassen. Was ist, wenn er stirbt, der arme Mensch? Was tust du dann mit der Leiche?«

»Du machst mich wahnsinnig«, rief die Mutter. »Du sollst mir nicht angst machen, sondern helfen. Du kennst dich doch aus. Die Ahnl hat dir doch alles mögliche angesagt, wie man den Brand bekämpft und Wunden heilt. Du hast schon vielen Leuten helfen können. Das mußt du jetzt auch bei dem Russen probieren.«

Großmutter schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht. Wer weiß, ob wir überhaupt die richtigen Tees haben. Und kaufen kann man heutzutage kaum welche. Genausowenig, wie man gute Salben bekommt.«

»Also jetzt nützt gar nichts. Du mußt halt mit den Sachen, die da sind, versuchen auszukommen. Wir können den Russen nicht einfach sterben lassen.«

»Ja«, sagte Großmutter, »aber wohin mit ihm?« Maria, die bis jetzt dem Gespräch der beiden Frauen

schweigend zugehört hatte, sagte: »Wir könnten ihn in die kleine Kammer legen. Großmutter kann bei dir schlafen, und ich lege mich ins Wohnzimmer auf den Diwan.«

»Eher umgekehrt. Du legst dich zu Mutter. Das ist vielleicht weniger auffällig. Willi sagen wir, wir machen die Umstellungwegen der Kälte. Überhaupt, bei Willi müssen wir aufpassen. Er darf nichts erfahren.«

Mutter nickte. »Stimmt. Das wäre gefährlich. Willi kann das alles unmöglich verstehen. Er würde auch nicht den Mund halten können. Dazu ist er einfach noch zu klein.« Mutter fuhr

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sich über die Stirn und strich die Haare zurück. »Schrecklich. Worauf habe ich mich da eingelassen. Womöglich kommen wir noch alle ins Gefängnis und werden umgebracht, mitsamt dem Russen.«

»Beruhige dich, Anna«, sagte Großmutter. »Jetzt müssen wir halt schauen, wie wir aus dem Schlamassel wieder herauskommen. Wer weiß, vielleicht ist es für etwas gut. Vielleicht wird dafür auch unseren Männern von jemandem geholfen. Wer weiß.«

»Wir müssen die Kammer immer zusperren«, sagte Maria, »damit Willi nicht hineinkommt.«

»Aber das ist wieder zu auffällig.« »Nein, glaube ich nicht. Willi geht ja fast nie in die

Kammer. Dort ist es ihm zu ungemütlich. Er hält sich lieber in der Stube oder in der Küche auf.«

»Wir haben den Vorteil, daß sie den Russen wahrscheinlich nicht mehr suchen. Die denken, er ist entweder umgekommen oder über alle Berge. Die rechnen nicht damit, daß ihn jemand versteckt hält.«

»So, jetzt trinken wir schnell den Tee aus. Dann werde ich das Bett herrichten«, sagte Großmutter. »Du, Anna, holst inzwischen den Russen herunter. Das kriegen wir schon in den Griff. Und sobald es ihm bessergeht, kann er ja wieder auf den Dachboden zurück.«

»Dann wird er wohl wieder weggehen!« rief Mutter. »Ich hoffe, daß das bald sein wird. Als ob wir nicht schon genug Sorgen hätten in der eigenen Familie. Und nun haben wir noch einen Russen am Hals.« Sie stand auf und griff nach der zweiten Petroleumlampe.

Großmutter und Maria gingen in die kleine Kammer. Die Verbindungstür zwischen Stube und der Kammer hatte Großmutter schon vor einer Stunde aufgemacht, so war es in dem Raum zwar nicht gerade warm, aber doch angenehm. Auf jeden Fall wärmer als auf dem Dachboden. Maria zog das Bett

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ab. Großmutter brachte frische Bettwäsche. Während sie als letzte Vorbereitung zwei Ziegelsteine ins Backrohr schob, kam Mutter mit Boris die Treppe herunter. Er hatte noch immer die Decke um seine Schultern geschlungen, aber die Mütze abgenommen. So sah man, daß er kahlgeschoren war.

»Guten Abend«, sagte Boris und verbeugte sich vor Großmutter. »Es tut mir leid, daß ich Umstände mache.«

»Aber der Russe kann ja Deutsch«, rief Großmutter erstaunt, »das habt ihr mir gar nicht gesagt.« Dann, als ihr ihre Unhöflichkeit bewußt wurde, reichte sie Boris die Hand und sagte rasch: »Grüß Gott auch. Es freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Mein Name ist Boris.« »Ich heiße Singer. Veronika Singer, und jetzt setzen Sie

sich. Wir werden schauen, was sich machen läßt.« Großmutter rückte einen Sessel unter die Lampe. »So, ziehen Sie die Pullover aus, ich muß mir die Wunde anschauen.«

Mühsam befreite sich Boris von seinen Pullovern und Jacken. Großmutter machte Mutter hinter seinem Rücken ein Zeichen und zog sie in die Ecke. »Hat er Läuse? Oder Flöhe?« flüsterte sie.

Mutter zuckte die Schultern. »Hoffentlich nicht. Genaues kann ich nicht sagen. Als er ankam, habe ich seine sämtlichen Kleider verbrannt und ihm Sachen von Peter und mir gegeben. Und gewaschen hat er sich auch von oben bis unten. Und rasiert.«

»Also Läuse in meinem Bett, das wäre das Letzte«, sagte Großmutter. Sie trat vor Boris hin und fragte ihn geradeheraus, ob er Läuse oder Flöhe habe. »Läuse nicht mehr. Flöhe schon. Tut mir leid«, sagte Boris.

»Na ja, Flöhe bringt Maria auch dann und wann von der Schule mit. Ganz zu schweigen von Spitz, der sich in den Ställen herumtreibt und dauernd das Fell voller Ungeziefer hat.«

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Boris zog auch noch das Hemd aus. Dann nahm Mutter ihm den Verband ab. Die Mullbinde hatte sich verklebt, und Mutter mußte sie abreißen. Boris stieß einen kurzen Schmerzensschrei aus.

»Pssst«, sagte Großmutter und schaute ihn strafend an. »Sind Sie wahnsinnig? Wissen Sie nicht, daß direkt vor dem Küchenfenster der Weg vorbeiführt? Da gehen oft spät am Abend noch Leute vorüber. Was glauben Sie, wie lange Sie unentdeckt bleiben, wenn jemand so einen russischen Laut hört.«

Maria sah die Wunde zum erstenmal. Sie war sehr interessiert an Wunden, denn wenn sie später einmal nicht Lehrerin würde, wollte sie Krankenschwester oder Ärztin werden. Deshalb half sie auch Mutter immer, wenn sich ein Schüler weh getan hatte und zum Verbinden ins Schulhaus kam. Das passierte ziemlich oft. Im Winter fuhren viele Kinder mit ihren Rodeln zur Schule. Da waren die Wege eisig, und es kam immer wieder einmal ein Kind zum Sturz, wie es letzte Woche Hias passiert war. Klar, daß auch gerauft wurde. Dabei ging es nicht immer ohne Verletzungen ab. Dann kamen die Kinder zu Mutter und ließen sich verarzten. Zu diesem Zweck hatte Mutter eine große Holzkiste voller Verbandszeug. Jedes ausrangierte Leintuch wurde sauber gewaschen, so heiß wie möglich gebügelt und wanderte in Stücke zerschnitten in die Verbandskiste. Außerdem gab’s da noch Mullbinden, eine Flasche Jod, ein kleines Töpfchen Kräutersalbe. Kam so ein verletztes Kind käseweiß und blutend an, holte die Mutter die Kiste aus dem Schrank und ging ans Werk. Die Wunde wurde ausgewaschen, mit Jod beträufelt, ein Salbenfleck aufgelegt und das Ganze dick mit einer Mullbinde umwickelt. Maria ging Mutter zur Hand. Sie strich die Salbe auf den Fleck oder hielt den armen Patienten fest.

Eine Verletzung, wie Boris sie hatte, war neu für Maria. Die Wunde war mehr als handgroß, an den Rändern ausgefranst,

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von Eiter bedeckt. Auch die Umgebung der Wunde, ja der ganze Oberarm bis unter den Ellenbogen war geschwollen und gerötet.

Großmutter schlang Boris die Decke um die rechte Schulter und den heilen Arm. Sie rückte den Tisch ein wenig vor, so daß er den Unterarm aufstützen konnte. Sie betrachtete die Wunde genau. »Schlimm, schlimm«, murmelte sie. »Am besten wäre es wohl, einen Arzt zu holen.«

»Das ist unmöglich«, rief Mutter. »Da können wir uns gleich alle aufhängen. Es gibt in unserem Tal keinen Arzt, dem man mit einer solchen Sache kommen könnte.«

»Also gut. Ich werde halt versuchen, das zu machen, was meine Ahnl wahrscheinlich gemacht hätte, wäre ihr so eine Wunde untergekommen.« Sie stand auf, nahm einen Häfen und stellte Wasser zum Kochen auf. Dann stöberte sie lange Zeit in der Teeschublade herum. »So«, sagte sie schließlich, »hier haben wir Gänsefingerkraut, Salbei und Käsepappel. Morgen werde ich mir von der Gruberbäuerin noch Spitzwegerich holen und ein Töpfchen Ringelblumensalbe. Wenn das alles nicht hilft, hilft überhaupt nichts mehr.« Mit grimmigem Gesicht fing sie an, die verschiedenen Teekräuter zu mischen. Sie holte Geschirr aus dem Schrank, wischte eine große Schüssel sauber und goß, als das Wasser endlich kochte, den Kräutertee auf.

Maria hatte den Eindruck, als ob Großmutter das ganze Spektakel regelrecht genießen würde.

»Du, Anna«, sagte sie, »hol die Ziegelsteine aus dem Ofenrohr, die sind jetzt heiß genug. Pack sie ins Bett, damit es der Herr Russe warm hat, wenn wir ihn nach der Prozedur schlafen schicken.«

Boris saß ruhig in seinem Sessel. Er hatte sich zurückgelehnt und hielt zeitweise die Augen geschlossen. Er wirkte müde und abgespannt. Spitz, den die Ankunft des neuen Gastes anscheinend sehr erregt hatte, beschnüffelte interessiert

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dessen Füße. Ab und zu streckte Boris seinen gesunden Arm aus und streichelte dem Hund über das glatte, glänzende Fell. Er murmelte ein paar Worte in russischer Sprache, worauf Spitz so tat, als ob er Russisch verstünde, seinerseits ein freundliches Gejaule ausstieß und eifrig mit dem Schwanz wedelte. Bei Großmutters Worten verzog Boris das Gesicht.

»Frau Singer, Sie können mich ruhig Boris nennen«, sagte er.

»Na gut«, erwiderte Großmutter. »Boris. Ein netter Name. Also gut, Boris, nun trinken Sie zuallererst einmal Ihren Tee. Sechsmal täglich eine Tasse müssen Sie ab sofort von dem Tee trinken, und zwar ganz langsam, zwischen jedem Schluck eine kleine Pause machen.«

Großmutter stellte die blümchenverzierte Tasse auf den Tisch.

»Sie sind sehr gut zu mir, Frau Singer«, sagte Boris. »Ich wünschte, ich könnte es Ihnen einmal vergelten.«

»Ach was«, wehrte Großmutter ab. »Trinken Sie den Tee, trinken Sie. Ich bereite inzwischen alles für den neuen Verband vor.« Sie zerschnitt ein weiches, sauberes Tuch zu passender Größe, strich die Salbe auf und legte es beiseite. Dann verscheuchte sie Spitz. »Der Hund ist einem ja dauernd im Weg«, schimpfte sie. Beleidigt verzog sich Spitz in die hinterste Ecke.

»Komm, Maria«, bat Großmutter, »wir fangen an. Du mußt mir nun den Arm halten.«

Sie stellte die Schüssel auf den Tisch, tränkte einen sauberen Lappen mit dem Aufguß und begann vorsichtig die Wunde auszuwaschen. Boris preßte die Lippen fest aufeinander.

»Ach Gott, diese Männer! Sie sind alle gleich, ob Russen oder Tiroler«, sagte die Großmutter. »Schmerz können sie um die Burg nicht vertragen.«

»Ich jammere ja nicht. Und weinen tu ich auch nicht«, sagte Boris.

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»Nein, noch nicht. Aber Ihre Augen sind schon ganz feucht. Und Ihr Gesicht, das spricht Bände. Es ist bald vorbei. Sehen Sie! Jetzt lege ich den Salbenfleck auf die Wunde. Gleich werden die Schmerzen nachlassen.«

Maria mußte nun den Arm hochhalten, während Großmutter sehr zart und behutsam die Binde umwickelte. »So«, sagte sie, »nun helfe ich Ihnen noch die Pyjamajacke anziehen, und dann ab ins Bett.«

Mutter hatte Vaters weitesten Pyjama herausgesucht und auf die Herdstange zum Vorwärmen gehängt. Großmutter entfaltete die Jacke und wollte sie Boris eben vorsichtig überziehen, als plötzlich jemand von außen an die Fensterscheibe klopfte. Gleichzeitig rief eine barsche Männerstimme: »Aufmachen! Aufmachen!«

Boris sprang so ungestüm vom Sessel auf, daß er bald die Schüssel umgestoßen hätte.

»Da ist jemand, ich verstecke mich wieder auf dem Dachboden.«

Auch Mutter war blaß geworden. Maria spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Nur Großmutter schien ihre Kaltblütigkeit nicht zu verlieren. Das hatte Maria bei Großmutter schon oft beobachtet. Über Kleinigkeiten regte sie sich unmäßig auf, aber in wirklich brenzligen Situationen bewahrte sie Ruhe.

Sie hob den Verband, der noch am Boden lag, auf und warf ihn ins Herdfeuer. Dann raffte sie die Pullover zusammen, drückte Maria den Pyjama in die Hand, packte Boris am gesunden Arm und sagte: »Unmöglich! Auf dem Dachboden holen Sie sich den Tod. Rasch, in die Kammer, und leise. Keinen Ton. Du, Anna, geh zur Haustür und halte sie ein paar Augenblicke hin, mach erst auf, wenn wir verschwunden sind.«

Mutter ging mit wackeligen Beinen zur Tür. Spitz, der alles andere als ein Wachhund war, hatte sich unter dem Tisch verkrochen und schien abwarten zu wollen. Als er aber sah,

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daß Mutter die Küche verließ, kam er aus seinem Versteck hervor und lief laut bellend Mutter nach. Wahrscheinlich wollte er sich mit seinem Gekläffe selber Mut machen. Da schlug draußen ein Hund an. Dem Laut nach zu schließen, mußte es ein großes Tier sein.

»Still«, befahl eine Männerstimme, und weiter: »Aufmachen, was ist los? Aufmachen!«

»Ich komme schon«, sagte Mutter, »ich bin schon da. Wer ist draußen?«

»Gestapo! Wird’s bald?« Maria, die den Pyjama und die Schale Tee in die Stube

hineingetragen hatte und von Großmutter wieder herausgeschickt worden war, sah, wie Mutter mit beiden Händen die Türklinke umklammerte.

»Die Gestapo«, flüsterte sie, »aber – aber was wollen die?« Dann versuchte sie sich zu fassen und sagte laut:

»Augenblick, ich mache auf, sofort. Der Schlüssel klemmt oft, wenn es so kalt ist. Sofort. Aber bitte, sagen Sie mir, was – was wollen Sie?«

»Lehrerin, ich bin da, die Plaiknerin. Sie haben mich verhaftet. Sie wollen mich heute noch nach Innsbruck bringen. Mir ist so schlecht, ich kann nicht weitergehen. Kannst du mich ein paar Minuten bei dir rasten lassen?«

»Hedwig, du? Aber um Gottes willen, was ist los? Warum? Warum hat man dich verhaftet? O Gott, o Gott!« Mit zitternden Händen drehte Mutter den Schlüssel herum und schob dann den schweren Holzriegel zurück. Die Tür wurde aufgestoßen.

Draußen standen zwei Männer und eine Frau. Die Männer hatten die Frau in die Mitte genommen. Jeder Mann hielt einen Schäferhund an der Leine. Als Spitz die großen Hunde sah, zog er den Schwanz ein und versteckte sich hinter Mutter, aber diese hatte nur mehr Augen für die Plaiknerbäuerin.

»Komm, Hedwig, komm herein.« Mutter trat zur Seite, um den Eingang freizumachen. Die Männer stampften mit ihren

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schneebedeckten Stiefeln durch den Vorraum. Sie nahmen auch die Hunde mit. Mutter führte sie in die Küche. Maria erschrak. Hier standen noch die Schüssel Kräutersud, womit Großmutter Boris die Wunde ausgewaschen hatte, und seine leere Teetasse. Die rote Decke aus der Stube, mit der sich Boris auf dem Dachboden gewärmt hatte, lag über dem Sessel. Auch den Verbandkasten hatten sie noch nicht verräumt, sondern er stand unübersehbar auf dem Tisch. Zum Glück war der Deckel geschlossen, so daß er nicht sogleich als Verbandkasten zu erkennen war. Den Gestapoleuten schien nichts aufzufallen. Sie stellten sich an der Tür auf, jeder auf einer Seite, und hießen die Hunde, sich zu ihnen zu setzen.

»Komm, Hedwig«, sagte Mutter, »hier, nimm Platz. Was willst du, soll ich dir einen Kaffee machen? Echte Bohnen hab ich allerdings keine. Magst du einen Feigenkaffee?« Mutters Stimme zitterte immer noch. Sie wischte mit dem Geschirrtuch flüchtig über den Tisch und rückte der Bäuerin einen Sessel zurecht.

»Ja, gerne. Eine Schale Kaffee mag ich gerne«, sagte sie und ließ sich auf den Sessel sinken.

Mutter schöpfte Wasser aus dem großen Kübel, der immer gefüllt neben dem Herd stand, in eine Pfanne und hob die ersten engen Ringe vom Herd. Mit dem Schürhaken stocherte sie in der nur mehr spärlich vorhandenen Glut und legte noch ein paar dünne Holzscheite nach. Die Flammen loderten auf, und harziger Duft erfüllte die Küche. Mutter stellte die Pfanne ans Feuer.

Währenddessen standen die Männer an der Tür. In der Wärme schmolzen die Schneeklumpen an ihren Schuhen ebenso wie jene an den Fellen der Hunde, und um Männer und Hunde bildeten sich langsam größer werdende Wasserlachen. Die Plaiknerbäuerin aber saß am Tisch, stützte den Kopf auf die Arme und hielt die Augen geschlossen. Die Männer schwiegen und starrten finster vor sich hin. Mutter zog sich

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einen Sessel zum Herd und setzte sich nieder. So wartete sie auf das Kochen des Wassers. »Machen Sie weiter, Frau«, sagte der Mann. »Machen Sie weiter. Wir haben keine Lust, bis Mitternacht zu warten.«

Mutter antwortete nicht. Als das Wasser endlich heiß genug war, brühte sie das Kaffeepulver auf. Sie wischte nochmals über den Tisch und stellte eine Tasse vor die Plaiknerbäuerin hin. Der Löffel klirrte gegen das dicke Steingutgeschirr. Maria sah, wie Mutters Hände zitterten. Auch die Plaiknerin schaute Mutter voll ins Gesicht. Die Augen der beiden Frauen begegneten einander. Die Mutter tastete nach der Hand der Bäuerin und drückte sie.

»Was ist denn, was ist denn, machen Sie weiter. Wir haben noch einen langen Weg«, zeterte der junge Mann. Er wollte sich wohl besonders hervortun.

»Entweder ihr laßt mich jetzt rasten und meinen Kaffee trinken, oder ich komme überhaupt nicht mehr weiter. Dann könnt ihr schauen, wie ihr mich ins Tal schafft.«

»Aha, Sie haben sich schon wieder so weit erholt, daß Sie frech sein können. Aber das werden wir Ihnen schon austreiben.«

»Erholt, erholt«, erwiderte zornig die Bäuerin, »wenn jemand so abgerackert ist wie ich, kann er sich nicht in zehn Minuten erholen. Ich habe den ganzen Tag schwer gearbeitet und bin total erschöpft, zudem ich überhaupt schlecht auf den Beinen bin.«

»Warum mußt du überhaupt mit denen mitgehen, Hedwig?« fragte Mutter leise.

»Keine Gespräche«, herrschte der ältere der beiden Männer Mutter an. »Sie ist eine Gefangene. Sie hat keine Gespräche zu führen.«

Aber die Plaiknerin ließ sich nicht vom Reden abhalten. »So weit sind wir schon, daß man Frauen fangen muß, denk dir,

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Lehrerin. Wegen so einer Schlampe, wie die Germana ist, haben sie mich verhaftet.«

»Germana Rhun ist keine Schlampe. Sie ist ein vertrauenswürdiges BDM-Mädchen.«

(BDM: Bund Deutscher Mädel. Mädchenorganisation der Nazis für Mädchen von 14-16 Jahren.)

Was ein BDM-Mädchen war, das wußte Maria ganz genau. Die Lehrerin hatte es ihnen erzählt, und Maria wollte lange Zeit auch so ein Mädchen werden. Aber nun wollte sie nicht mehr. Warum will ich eigentlich nicht mehr zum Bund Deutscher Mädchen gehen? dachte Maria. Aber bevor sie auf diese Frage eine Antwort finden konnte, wurde sie durch die laut kreischende Stimme der Bäuerin aufgeschreckt.

»Sie hat gelogen. Sie ist eine Lügnerin. Weil ich die Arbeitsmaid zum Arbeiten angehalten habe und ihr die Schlampereien nicht durchgehen habe lassen, hat sie mich verleumdet!«

»Sie sind eine Lügnerin! Wir haben Sie ja heute selbst ertappt, wie Sie Schwarzsender gehört haben. In flagranti haben wir Sie ertappt.«

»Reden Sie deutsch mit mir, einer deutschen Frau.« »Nur keine Ausflüchte. Im übrigen können Sie sagen, was

Sie wollen. Heute, wie wir in Ihre Küche gekommen sind, saßen Sie vor Ihrem Radio. Sie sind fast hineingekrochen in das Gerät. Und was ertönte in diesem Augenblick? Die Kennmelodie von Radio London! Das können Sie nicht abstreiten. Nicht Fräulein Germana Rhun lügt, sondern Sie lügen!«

Die Plaiknerin nahm einen Schluck Kaffee. »Nichts habe ich, gar nichts habe ich! Ich habe unseren Sender gesucht, habe ihn aber die längste Zeit nicht finden können. Wenn ich zufällig eine Wellenlänge hereinbekommen habe, von der ich ja nicht wissen konnte, daß sie ein Feindsender ist, kann ich nichts dafür.«

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»Ausreden sind das, nichts als Ausreden. Und jetzt schweigen Sie endlich still. Das alles können Sie dem Untersuchungsrichter erzählen.«

»Möchten die Herren vielleicht auch eine Schale Kaffee?« fragte die Mutter.

Die zwei schauten einander an. Wieder antwortete der ältere. »Ja, gut, trinken wir eine Tasse. Aber setzen können wir uns nicht, wir bleiben stehen.«

»Wie Sie wünschen«, meinte die Mutter. Sie schenkte zwei Tassen voll, gab je eine Tablette Saccharin hinein und reichte sie den zwei Männern hin.

Großmutter betrat die Küche, sie trug das Poppele auf dem Arm. Es saß aufrecht, hatte den Kopf auf Großmutters Schulter gelegt und blinzelte verschlafen und grantig die vielen fremden Leute an.

»So ein Krach«, beschwerte sich Großmutter. »Das ist ja schrecklich. Das Poppele mitten in der Nacht aufzuwecken. Was ist da eigentlich los?«

»Heil Hitler«, sagten die zwei Gestapoleute und rissen den Arm hoch. »Entschuldigung, aber die Verhaftete benötigte eine Stärkung. Deshalb haben wir Sie stören müssen.«

»Heil Hitler«, sagte die Großmutter. »Aber wäre das nicht etwas leiser gegangen?« Ihre Blicke wanderten über die Männer und blieben an den Füßen hängen. Die Wasserlachen auf dem Linoleum hatten inzwischen einen beträchtlichen Durchmesser erreicht.

Den zweien wurde unter den strengen Blicken der Großmutter ungemütlich. »Entschuldigung«, sagte der jüngere nochmals, »das ist der Winter. Der Schnee.«

»Draußen steht ein Reisigbesen. Damit putzt sich ein wohlerzogener Mensch die Schuhe ab, bevor er ein fremdes Haus betritt.«

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Die zwei schauten peinlich betroffen. »Wir wollten schon lange weiter, aber die Verhaftete wird ewig nicht fertig. Jetzt ist aber Schluß. Marsch! Marsch!«

»Ich bin ja eh gleich fertig mit meinem Kaffee. Nur noch eine Frage hätte ich. Lehrerin, kannst du einmal einen Sprung auf meinen Hof hinauf machen? Die Liesbeth ist ja tüchtig, und der alte Vater ist auch noch da. Aber ich wäre halt doch ruhiger, wenn ich wüßte, du tätst mir einmal zu den Kindern schauen.«

»Selbstverständlich, Hedwig. Mach dir darüber keine Sorgen«, sagte Mutter. »Das mache ich gerne.«

»Zu allem Unglück soll die Bläß in diesen Tagen kalben. Wie wird die Liesbeth nur mit der ganzen Arbeit fertig werden? Das macht mir Sorgen. Aber sie werden mir alles büßen müssen«, sagte die Bäuerin, indem sie sich mühsam erhob. »Das will der Hitler nicht, daß man mit Hunden Frauen fangen geht. Der schätzt die Mütter. Sechs Kinder habe ich geboren. Sechs Kinder! Und dann kommen die zwei und glauben, weil sie in der Partei sind, können sie sich alles erlauben. Wie die Herrgötter fühlen sie sich. Aber der Führer will das nicht, das ist ein anständiger Mensch. Ein Gebildeter. Das silberne Mutterkreuz habe ich durch ihn bekommen. Und nur weil ich so außer mir war, habe ich es heute nicht umgehängt. Auf der Kommode in der Stube liegt es. In einer schönen Schatulle. Aber ich lasse es mir schicken. Da wird der Untersuchungsrichter schauen, wenn er mich sieht. Mich kennt man nämlich, mich und mein silbernes Mutterkreuz.«

Die zwei Männer ließen sich nicht anmerken, ob sie die Worte der Plaiknerin beeindruckten oder nicht.

»Hedwig«, mahnte die Mutter leise, »Hedwig!« Aber die Plaiknerin war nicht zu bremsen. »Zwei Hunde

haben sie mitgebracht, um eine unschuldige Frau wie mich zu fangen. Ich, die ich eine angesehene Bäuerin und Mutter bin, die ihr Lebtag lang Brot und Nahrung schafft für das Volk und

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deren Mann an der Front ist und sein Leben einsetzt für Führer und Vaterland.«

»Ruhe jetzt«, rief der ältere der Männer. »Ruhe! Wir führen nur Befehle aus. Der Richter wird entscheiden über Recht und Unrecht.«

Die Plaiknerin warf sich stolz in die Brust. »Das Recht ist auf meiner Seite. Ich bin Bäuerin auf einem Erbhof und keine dahergelaufene Zigeunerin oder Jüdin, mit denen ihr macht, was ihr wollt. Und nun, Lehrerin, dank dir schön für den Kaffee. Und vergiß nicht, einmal nach meinen Leuten zu schauen und der Wirtschaft. Brauchst es auch nicht umsonst zu tun, werde mich schon erkenntlich zeigen.«

»Laß nur, Hedwig. Mach dir keine Sorgen. Ich mach jeden Tag einen Sprung hinauf und werd helfen, wo ich kann.«

»Genug geredet jetzt, kommen Sie endlich.« Die Gestapobeamten faßten die Frau mit der einen Hand am Oberarm, mit der anderen ergriffen sie die Leine der Hunde. So verließen sie das Haus und traten in die Winternacht hinaus. Mutter sperrte die Tür hinter ihnen zweimal ab, kam in die Küche zurück und ließ sich erschöpft auf ihren Sessel fallen.

»Entsetzlich, entsetzlich«, murmelte sie. »Sei froh, daß die Gestapoleute nicht wegen uns gekommen sind, sondern nur einen Kaffee verlangt haben«, sagte Großmutter. Sie hatte das Poppele Maria zum Halten gegeben und wirtschaftete nun in der Küche herum. Zuerst wischte sie die Wasserlachen auf, dann sammelte sie die schmutzigen Tassen ein und stapelte sie in der Geschirrspülschüssel. »Das wäre arg gewesen, eine Hausdurchsuchung oder so etwas Ähnliches.«

»Daran darf ich gar nicht denken«, sagte Mutter, »sonst schnapp ich über. Was macht er denn jetzt, der Russe?«

»Er schläft. Wir müssen noch die Harnflasche vom Dachboden herunterholen. Während des Tages darf er auf keinen Fall aufs Klo gehen. Das wäre viel zu gefährlich. Auch das Essen werde ich ihm ins Zimmer tragen. Das ist sicherer.«

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»Wir haben nicht einmal Lebensmittelmarken für ihn.« »Das ist kein Problem. Solange wir Erdäpfel haben und

Schmalz, und beides bekommen wir von den Bauern schwarz, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.«

Maria wiegte das Poppele hin und her. Anscheinend gefiel es ihm sehr, mitten in der Nacht in der Küche zu sitzen und geschaukelt zu werden. Auch Spitz hatte sich wieder beruhigt. Selbst die Katze, die ihre Nächte oft außer Haus verbrachte, lag mit geschlossenen Augen vor dem warmen Herd. Ihr Fell hob und senkte sich in gleichmäßigem Atmen.

»Eines allerdings verstehe ich nicht«, sagte die Mutter. »Ist die Hedwig wirklich so dumm, wie sie redet, oder tut sie nur so?«

Maria hielt einen Augenblick mit dem Schaukeln inne. »Was hat sie denn dumm geredet?«

»Na, vom Hitler. Daß der nicht will, daß man Leute wie sie verhaftet, und dann das Geschwafel von ihrem silbernen Mutterkreuz und dem Erbhof und so.«

»Aber es stimmt. Sie hat das Mutterkreuz. Ich habe es selber oft gesehen. Immer, wenn sie sonntags in die Kirche geht, hängt sie es sich um den Hals.«

»Klar hat sie es. Sie hat sechs Kinder geboren, von denen allerdings eins schon als Säugling gestorben ist. Aber daß sie vor der Gestapo damit großtut und so scheinheilig vom Hitler redet, das ist die reinste Berechnung«, sagte Großmutter. »Die Plaiknerin hat’s faustdick hinter den Ohren. Mit ihren angeberischen Reden wollte sie vor der Gestapo Eindruck schinden.«

»Schwarzhören tut doch fast jeder«, sagte die Mutter. »Ich wett, auch die dicksten Parteibonzen hören Radio London oder Beromünster. Ist doch klar, jeder will wissen, wie es wirklich zugeht.«

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»Man darf sich nicht erwischen lassen. Aber die Plaiknerin ist halt überhaupt ein bißchen leichtsinnig. Und dann passieren solche Sachen.«

»Was geschieht jetzt mit ihr?« »Sie hat ja Gott sei Dank gute Beziehungen. Und direkt

nachweisen kann man ihr wahrscheinlich auch nichts. Da wird ihr hoffentlich nicht viel passieren, der armen Haut.«

»Morgen gehe ich jedenfalls auf den Plaiknerhof und schau, ob ich helfen kann.« Bei den letzten Worten hob Spitz den Kopf und schaute Mutter bittend an. »Als ob er alles verstünde«, sagte Mutter. »Du bist ein gescheiter Hund. Aber mitgehen kannst du nicht. Der Plaiknerhund wird ganz wild, wenn er einen fremden Hund auf seinem Grund sieht. Der frißt dich armen Hascher glatt auf.«

»Auch unser Leben wird sich ändern, jetzt, wo wir den Russen in der Wohnung haben«, hatte Großmutter am Abend vor dem Schlafengehen gesagt. Maria hatte diese Worte nicht ernst genommen. Was sollte schon anders werden? Selbstverständlich mußten alle vorsichtig sein und aufpassen, daß Willi nichts bemerkte. Auch würde Mutter das Essen ein wenig strecken müssen, weil die Nahrungsmittelmarken jetzt für eine Person mehr reichen mußten. Also würde es mehr Wasser in Suppe und Kaffee geben, ein paar Löffel Zucker weniger und ein paar Erdäpfel mehr. Das alles störte Maria nicht, das waren keine Probleme für sie. Hungern hatte Maria im Gegensatz zu vielen anderen Kindern, die in diesen Tagen aufwuchsen, nie müssen. Aber es änderte sich manches, woran Maria nicht gedacht hatte.

Gegen sechs Uhr morgens läutete der Wecker. Mutter ließ ihn nur ganz kurz klingeln. Maria wachte, da sie nun in Mutters Zimmer schlief und das Weckerläuten nicht gewohnt war, trotzdem auf. Willi rührte sich nicht, er hatte das Federbett so weit über den Kopf gezogen, daß nur sein kurzer dunkler

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Haarschopf zu sehen war. Er schlief und schnarchte ruhig weiter. Mutter seufzte leise und setzte sich im Bett auf.

Von draußen hörte Maria die raschen Schritte der Großmutter. Warum ist denn Großmutter schon aufgestanden? wunderte sich Maria. Für gewöhnlich schlief sie bis sieben Uhr, ließ Mutter den Ofen im Klassenzimmer und den Herd in der Küche anheizen und stand erst auf, wenn die Küche fein angewärmt war.

Maria blinzelte verschlafen zur schwach erleuchteten Stube hin. Da die Tür offenstand, sah sie, daß Boris auch schon wach war und eben gemeinsam mit Großmutter dem Vorzimmer zustrebte.

Da sprang sie auch aus dem Bett. Mutter schaute sie erstaunt an. »Ich bin schon ausgeschlafen«, sagte Maria. Aber das stimmte nicht. Maria stand auf, weil wieder einmal ihre Neugierde größer war als ihre Bequemlichkeit. Sie wollte wissen, ob die Heilkräuter und die Salbe, mit denen Großmutter die Wunde von Boris behandelte, schon geholfen hatten. Rasch schlüpfte sie in ihre Kleider, in die gräßlichen Strümpfe. Sofort spürte sie wieder dieses unsympathische Frösteln über den ganzen Körper. Aber sie sagte nichts, sondern ging nur, ohne die Beine abzubiegen, mit steifen Knien aus dem Zimmer.

Die Küche war voll warmem Feuerschein. Großmutter hatte das Herdtürl aufgemacht. Glühende Holzscheiter türmten sich auf dem Rost.

»Guten Morgen«, sagte Boris, der bereits am Tisch saß und den Verband abgewickelt hatte.

»Grüß Gott«, erwiderte Maria. »Du kannst mir gleich helfen«, sagte Großmutter, »halte den

Arm, ich muß die Wunde noch einmal mit Teesud auswaschen und neu verbinden.«

»Haben Sie noch Fieber?« erkundigte sich Maria.

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»Nur mehr 38,7«, verkündete Großmutter stolz. »Die Behandlung schlägt schon an. Es geht halt doch nichts über die alte Volksmedizin. Da sieht man’s wieder.« Großmutter war sehr zufrieden. Aber die Wunde sah noch immer arg aus. Sie hatte auch über Nacht Eiter abgesondert und war stark entzündet. Maria wurde fast schlecht, als sie den Arm halten mußte und den sonderbaren Geruch wahrnahm, der von der Wunde aufstieg. Sie zwang sich, die Verletzung anzuschauen.Falls sie später wirklich Krankenschwester oder Ärztin sein würde, wäre es gut, sich rechtzeitig abzuhärten.

»Warum stehst du so früh auf, um Boris zu verbinden?« fragte Maria die Großmutter.

»Früh am Morgen ist die sicherste Zeit. Durch die Verdunkelung unserer Fenster dringt kein Lichtstrahl nach außen, so daß niemand ahnen kann, daß wir früher aufstehen als gewöhnlich. Also wird niemand Verdacht schöpfen. Auch kann man mit großer Sicherheit annehmen, daß um diese Zeit kein Mensch auf Besuch kommt. Später am Tag ist das anders. Da schaut bald der eine, bald der andere auf einen Sprung ins Schulhaus. Und dann noch die Leute, die Lebensmittelmarkenfassen wollen. Keinen Augenblick ist man vor Überraschungen sicher.«

»Außerdem müssen wir noch an Willi denken. Nein, nein, Großmutter hat schon recht. Am frühen Morgen ist man am ungestörtesten«, bestätigte Mutter.

Großmutter hatte allem Anschein nach die Verantwortung für Boris’ Genesung übernommen. Und es schien ihr großen Spaß zu machen, Arzt und Krankenschwester und Fluchthelferin in einem zu sein.

»Frühstücken können Sie noch mit uns in der Küche«, sagte Großmutter zu Boris. »Es ist erst halb sieben, also haben wir noch Zeit. Hier, Ihr Tee, Brot und Marmelade.« In diesem Augenblick fing das Poppele im Zimmer der Mutter zu weinen an. Das hohe, dünne Gejammer drang durch alle Türen bis in

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die Küche. Erschrocken fuhren sie zusammen. Mutter hatte schon den Ofen im Klassenzimmer angeheizt und war eben dabei, sich die Hände zu waschen. Beim Ofenausräumen und Einheizen machte man sich immer sehr schmutzig. Nun wischte sie sich die Hände hastig an der Schürze ab und stürzte hinaus. Auch Großmutter lauschte gespannt. »Wenn nur Willi nicht aufwacht, bevor sich Boris wieder im Zimmer versteckt hat«, sagte sie.

»Ach was«, meinte Maria, »Willi ist so faul. Der kann lange wach sein, er steht nicht auf, bevor Mutter ihn nicht mindestens zehnmal geheißen hat.«

Mutter kam mit dem Poppele auf dem Arm in die Küche. Nun schrie es nicht mehr, sondern lachte vergnügt, hielt sich mit dem einen Händchen an Mutters Hals fest und zauste mit der anderen ihre Haare.

»So, so, du wachst auch jeden Tag früher auf«, brummte die Großmutter.

»Tatatata«, sagte Lisa, das hieß in ihrer Sprache etwa folgendes: »Jetzt bin ich wach, und deshalb will ich etwas zum Essen kriegen, und zwar möglichst bald. Ich habe Hunger! Hunger habe ich!«

Aber Großmutter sagte: »So, nun trinke ich erst einmal in aller Ruhe meine Tasse Kaffee. Die lasse ich nicht kalt werden. Du kriegst dein Fläschchen ein bißchen später, meine Liebe.«

Als Fräulein Hauser eine Stunde später die Küche betrat, waren alle Spuren von Boris getilgt. Das Poppele saß frisch gewickelt in seinem Gitterbettchen. Es fuchtelte mit seiner Rassel herum, machte tatata und wartete ungeduldig auf das Fläschchen. Willi frühstückte. Er verdrückte gerade sein drittes Marmeladebrot.

Fräulein Hauser grüßte mit ihrem gewohnten Gruß. »Maria, da schau her, ich habe dir etwas mitgebracht!«

In diesem Augenblick kam auch der Briefträger zur Küchentür herein. Maria war sehr überrascht. »Sie haben mir

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etwas mitgebracht?« fragte sie die Lehrerin. »Aber warum denn?«

»Hat sie vielleicht Geburtstag?« fragte der Briefträger. »Das wäre mir ja geradezu peinlich, wenn ich Marias Geburtstag vergessen hätte, wo wir doch so gut befreundet sind miteinander.«

»Nein, nein, ich habe nicht Geburtstag.« »Oder vielleicht Namenstag?« »Nein, auch nicht Namenstag.« »Man kann wohl auch so, ohne einen bestimmten Anlaß, ein

kleines Präsent machen«, sagte die Lehrerin, »zumal Maria – die letzte Deutschstunde mit der Aufsatzsache einmal ausgenommen – sehr fleißig ist und mir in der Schule viel Freude macht.«

»Also in Handarbeiten könnte sie sich auch etwas mehr anstrengen«, meinte Großmutter.

»Na ja, das, was ich Maria schenke, ist ja in Wirklichkeit gar nicht der Rede wert«, sagte die Lehrerin. Dann wandte sie sich an Maria: »Aber vielleicht hilft es dir, das Leben ein bißchen angenehmer zu machen. Du magst doch keine kratzenden Strümpfe, nicht wahr?«

Maria wurde warm vor Freude. Gestern beim Frühstück hatte die Lehrerin gefragt, warum sie grantig war, und Maria hatte die Strümpfe erwähnt. Die Lehrerin hatte sich Gedanken darüber gemacht. Sie mag mich, dachte Maria, sie mag mich also! »Ja, die grauen Strümpfe, die ich diese Woche tragen muß, die kann ich nicht ausstehen. Die verderben mir jeden Tag«, sagte sie.

»Nun, ich hoffe, daß ich dir mit diesem Päckchen helfen kann. Da sind nämlich Strümpfe drinnen, ganz dünne Strümpfe. Sie haben allerdings eine Laufmasche und sind schon einige Male gestopft worden. Ich kann sie nicht mehr tragen. Aber unter kratzenden Wollstrümpfen leisten sie

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vielleicht noch gute Dienste. Sie sind sehr dünn und elastisch und passen sicher. Magst du sie, Maria?«

»Kratzen dann die Wollstrümpfe nicht mehr so stark?« fragte Maria aus purer Verlegenheit. Am liebsten wäre sie der Lehrerin um den Hals gefallen.

»Nein, ich glaube nicht.« »Aber Fräulein Hauser, das können wir doch nicht

annehmen! Heutzutage, wo es sowieso nichts gibt. Sie können die Strümpfe sicher noch gebrauchen. Unter langen Hosen zum Beispiel.«

»Nein, nein, ich schenk sie Maria. Ich möchte, daß Maria sie anzieht.«

Maria nahm das Päckchen und bedankte sich. Fräulein Hauser ist die beste Lehrerin der Welt. Sie hat mich gern, dachte Maria, obwohl ich den Aufsatz mit dem Hitlerjungen nicht geschrieben habe, weil ich ihn nicht schreiben habe können. Und im gleichen Augenblick fiel ihr ein, wie es ihr, der Lehrerin, recht gewesen war, daß die zwei Kriegsgefangenen wieder eingefangen worden waren. Wie konnte man gleichzeitig so mitfühlend und hartherzig sein? Aber Maria hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie mußte sich beeilen, weil es schon spät war.

Rasch lief sie in die Stube und wollte schon die Klinke zu ihrem Zimmer niederdrücken, als sie im letzten Augenblick daran dachte, daß die Tür ja versperrt war. Maria drehte sich auf dem Absatz um und marschierte ins Zimmer der Mutter. Hier entledigte sie sich der grauen Strümpfe und zog die feinen zarten Seidenstrümpfe an. Sie waren etwas gestopft, freilich, aber wie angenehm fühlten sie sich auf der Haut an! Maria schwor sich, wenn sie erst einmal groß sein würde, nur mehr Seidenstrümpfe zu tragen, ganz gleich, wie kalt es wäre. Auch als sie ihre groben Wollstrümpfe drüberzog, war das Kratzen fast nicht mehr zu spüren. Einfach kein Vergleich zu vorher. Maria konnte sich gut vorstellen, daß sie sich an dieses leichte

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Stechen gewöhnen würde. Sie bewegte die Beine, bog die Knie durch, lief in die Küche.

»Danke«, sagte sie, »danke, Fräulein Hauser. Nun geht es mir gut. Nun habe ich nichts mehr gegen den Winter.«

Die Lehrerin lachte. »Das freut mich«, sagte sie. Den ganzen Tag über bemerkte Maria nichts mehr von

Boris. Mittags kam sie von der Schule, da hatte Boris schon gegessen, und Mutter hatte auch sein Geschirr bereits abgewaschen und verräumt. Die Kammertür war abgesperrt, kein Geräusch drang heraus. Es war so, als ob es Boris gar nicht gäbe. Er war wie verschwunden. Die Familie saß um den Tisch und löffelte die Suppe. Weil nachmittags Schule war, hatte Mutter auch für die Lehrerin mitgekocht. Sie bekam dafür Lebensmittelmarken für das Essen und ein paar Mark im Monat für die Arbeit.

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Ein Teil des Klassenzimmers befand sich genau über der Küche. Jene Kinder, die weiter als eine halbe Stunde

Fußmarsch von der Schule entfernt wohnten, brachten Brote und in einem Blechgeschirr Suppe oder Milch mit. Sie blieben während der Mittagszeit in der Schule und aßen ihre Brote und die Suppe, die sie am Ofen warm hielten. So wie jeden Tag in der Mittagszeit, hörte man sie auch heute hin und her laufen, einmal tat es einen lauten Plumps. Die Lehrerin schreckte einen Augenblick auf. Die Großmutter warf unruhige Blicke von der Zimmerdecke zur Lehrerin und zurück.

»Ich mag es gar nicht, wenn man mir auf dem Kopf herumtrampelt«, sagte sie.

Die Lehrerin zuckte die Schultern. Sie wollte sich beim Essen nicht stören lassen. »Wenn ich fertig bin mit meiner Mahlzeit und sie lärmen immer noch, gehe ich nachschauen«,

versprach sie. Spitz hob den Kopf und klopfte mit seinem Schwanz

auf den Fußboden. Fragend schaute er die Lehrerin an. Wahrscheinlich wäre er gerne in die Klasse hinaufgelaufen und hätte Ordnung geschaffen. Wofür hatte er denn eine so schöne kräftige Stimme und ein scharfes Gebiß? »Nein, mein lieber Spitz, die Kinder hätten keine Angst vor dir«, sagte die Lehrerin, die im Gesicht von Spitz zu lesen verstand, »die kannst du mit deinem bißchen Kläffen nicht schrecken.« Da legte Spitz den Kopf auf die Vorderpfoten und schloß die Augen. Er war beleidigt. Erst als Willi die Tür aufmachte und mit ihm in den Schnee hinauslief, war er wieder versöhnt.

Die Erwachsenen tranken noch eine Schale Zichorienkaffee. Dann war es, fand die Lehrerin, Zeit, in die Schule zu gehen.

Als Maria am Nachmittag wieder heimkam, machte Mutter sich gerade fertig zum Ausgehen. Sie stand vor dem Spiegel und steckte ihre Haare fest. Dann schlang sie das Kopftuch

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darüber, kreuzte es unter dem Kinn und band die zwei Enden im Nacken zusammen.

»Wohin gehst du?« fragte Maria. »Du hast ja gehört, daß ich der Plaiknerbäuerin versprochen

habe, jeden Tag kurz einmal nach ihrer Wirtschaft zu schauen.«

»Darf ich mitgehen?« »Hast du deine Aufgaben gemacht?« »Heute haben wir nur ganz wenig auf. Das Gedicht, das ich

auswendig lernen muß, kann ich schon fast. Am Abend übe ich noch.«

»Also gut«, sagte die Mutter, »dann komm mit.« Maria schlüpfte schnell in ihre Stiefel. Sie ging sehr gern

auf den Plaiknerhof. Der alte Plaikner war ein leidenschaftlicher Bienenzüchter, genau wie Vater. Bevor Vater an die Front mußte, hatten die zwei viele Nachmittage zusammen bei den Bienenstöcken verbracht. Und Maria war fast immer dabeigewesen. Das schönste an der ganzen Imkerei ist das Honigschleudern. Jeder Bienenstock hat an der Rückseite eine Tür, die aufgemacht werden kann. Will man Honig schleudern, nimmt man die schweren, gefüllten Honigwaben aus dem Bienenstock. Dabei muß man ganz ruhig und gelassen sein, damit die Bienen nicht nervös werden. Sobald sie Angst bekommen, stechen sie. Vater war in seinem ganzen Leben noch von keiner Biene gestochen worden. Mit einer besonderen Spachtel werden die Waben entdeckelt. Diese Wachsschicht, an der natürlich viel Honig klebt, gaben die zwei in ein großes Glas, und Maria hatte sich davon nehmen können, soviel sie wollte. Maria lutschte die süße Masse, bis der gesamte Honig ausgelaugt war, und spuckte das übriggebliebene Wachs aus. Maria hatte oft stundenlang Honigwaben gekaut. Die entdeckelten Waben kommen in eine Zentrifuge, die den Honig ausschleudert, wobei immer wieder ein Löffel voll für ein honigliebendes Kind abfällt.

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Kein Wunder also, daß Maria gerne zum Plaiknergroßvater ging. Spitz mußte wegen des Plaiknerhundes leider daheim bleiben. Es dauerte lange, bis er endlich einsah, daß seine bettelnden Blicke, sein Schwanzwedeln, sein Hochspringen und sein Jammern nichts nützten. Da zog er den Schwanz ein und schlich unter den Küchentisch. Er fühlte sich wieder einmal ungerecht behandelt.

Die Sonne war schon untergegangen, und vom Joch herunter blies ein schneidender Wind. Maria zog ihre Mütze tief über die Ohren. Sie hielt sich hinter Mutter, so war sie ein bißchen geschützt. Es war so kalt, daß der Atem als Rauch aus ihrem Mund kam. Beide gingen rasch und hatten in einer guten halben Stunde den Plaiknerhof erreicht. Sehr still und verlassen, wie im Schnee versunken, lag er da. Kein Lichtschein war zu sehen. Nicht einmal der Hund schlug an, als Mutter die Klinke der Haustür niederdrückte. Erst als sie den langen Hausgang betrat, stieß er ein paar Beller aus. Die Küchentür ging auf, und Liesbeth, die Schwester der Plaiknerbäuerin, kam, sich die Hände an der Schürze abtrocknend, heraus.

»Ah, du bist es, Lehrerin«, rief sie überrascht. »Grüß euch, kommt herein.« Sie führte die zwei in die Küche. Der Großvater und die vier größeren Kinder saßen am Tisch. Sie waren gerade beim Abendessen und hatten eine Pfanne in der Mitte des Tisches stehen, aus der sie das Mus löffelten. Türk, der Hund, stand neben dem Herd und schaute Maria und ihre Mutter aufmerksam an. Es war ein kohlrabenschwarzer Hund mit einem glatten Fell, dunklen Augen, spitz aufstehenden Ohren und einem buschigen Schwanz. Maria hatte ihn gerne, auch wenn er ihren Spitz nicht ausstehen konnte. Etwas, was sie sonst niemandem verzieh. Auch Türk liebte Maria.

»Na, geh nur«, sagte Liesbeth, »begrüße deine Freundin.« Da lief er wedelnd zu Maria hin. Er richtete sich auf, stemmte

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die Vorderpfoten gegen ihre Brust und blies ihr seinen heißen Atem ins Gesicht.

»Jetzt ist es aber genug«, rief Liesbeth, die sah, daß Mutter unwillig das Gesicht verzog. »Platz, Türk! Platz!« Der Großvater hatte, als die zwei eingetreten waren, kurz aufgeschaut, nahm aber dann keine Notiz mehr von ihnen und aß ruhig weiter. Auch die Kinder ließen sich nicht stören.

Liesbeth sagte leise zu Mutter: »Das Unglück hat Vater völlig verwirrt. Seit sie heute in der Nacht Hedwig geholt haben, hat er noch kein Wort gesprochen.«

Mutter seufzte. »So ein Unglück. An ihm hast du also keine Hilfe?«

»Ich hoffe nur, daß die Hedwig bald wiederkommt. Das schrecklichste ist, daß die Bläß heute kalben soll. Ich war schon den halben Nachmittag bei ihr im Stall. Jetzt hab ich müssen hereingehen, die Kinder versorgen. Die müssen ins Bett.«

Mutter sagte: »Wenn du willst, lege ich die Kinder schlafen. Dann kannst du in den Stall gehen und bei der Kuh bleiben.«

Liesbeth schaute Mutter zweifelnd an. »Hast du so viel Zeit, Lehrerin?«

»Selbstverständlich. Ich habe es mit Hedwig ja so ausgemacht. Sie war auf einen Sprung bei uns gestern nacht, wie die Gestapo sie abgeführt hat.«

»Ja gut, wenn es geht, bin ich freilich froh. Die Hedwig wird’s dir schon vergelten. Schmalz und Erdäpfel hat man bei einem Bauern immer, und du kannst das in solchen Zeiten auch gut brauchen.«

»Laß nur, laß nur«, sagte Mutter anstandshalber. Aber Maria wußte natürlich genau, daß Mutter sehr froh war, wenn Hedwig ihre Hilfe mit Lebensmitteln abgalt. »Hansl kennt sich aus. Der weiß, wo die Kinder ihre Sachen haben. Der Seppele schläft schon in der Stube drinnen, der hat seine Flasche gehabt und ist gewickelt und versorgt. Um ihn brauchst du dich nicht mehr zu

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kümmern. Es genügt, höchstens einmal einen kurzen Blick auf ihn zu werfen.«

Liesbeth ging hinaus und kam nach kurzer Zeit noch einmal zurück. Sie hatte eine alte Jacke von ihrem Schwager angezogen und ein wollenes Kopftuch umgebunden. »Also, dann gehe ich in den Stall. Hoffentlich geht alles gut mit der Kuh, sie ist so unruhig. Mir kommt vor, sie spürt, daß Hedwig nicht da ist. Wenn wir das Kalbl verlieren oder mit der Kuh was sein sollte, ich weiß nicht, wie das weitergehen wird.«

»Sag, Liesbeth, der Hund tut uns nichts? Schließlich bin ich ziemlich fremd für ihn«, fragte Mutter.

»Nein, keine Sorge, der tut niemandem etwas. Nur fremde Hunde kann er nicht ausstehen.«

Inzwischen war das Mus bis auf den letzten Rest aufgegessen. Die Kinder schleckten noch die Löffel ab und legten sie dann auf den Tisch. Großvater stand wortlos auf und ging hinaus.

»Wir bringen euch ins Bett«, sagte Mutter zu den Kindern, »damit die Liesbeth sich um die Bläß kümmern kann. Hansl, du mußt uns helfen, wir wissen nicht, wo ihr schlaft.«

»Wir schlafen heute alle in der Elternkammer, sonst fürchten sich die Kleinen. Das haben wir schon ausgemacht mit der Liesbeth.«

»Ja, habt ihr denn da überhaupt Platz?« »Freilich, leicht haben wir Platz da. Wir liegen einfach ganz

eng nebeneinander, dann geht’s gut.« Mutter füllte eine Schüssel mit warmem Wasser, da sollten

sich die Kinder die Hände waschen. Zuerst sträubten sie sich und sagten, daß das nicht notwendig sei, sie hätten sich schon vor dem Essen die Hände beim Brunnen draußen gewaschen. Dann, als Mutter weiter aufs Waschen mit warmem Wasser beharrte, spritzten sie herum. Bald war mehr Wasser am Boden als in der Schüssel, und Mutter gab freiwillig auf.

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»Sie machen sich überhaupt nichts draus, daß ihre Mutter verhaftet worden ist«, sagte Maria leise zu Mutter.

»Was sollen sie denn tun? In einem fort weinen? Sei froh, daß sie so vernünftig sind«, antwortete Mutter ebenfalls leise. »Aber du, schau einmal kurz nach dem Seppele.«

Maria ging in die Stube. Da saß der Plaiknergroßvater beim Tisch. Eine Kerze brannte und verbreitete schwaches Licht. Der alte Mann hatte den Kopf in beide Hände gestützt und schaute stumm vor sich hin.

»Plaiknergroßvater«, rief Maria leise, »was machen deine Bienen?«

Da schaute er einen Moment auf. »Ach, Maria, du bist’s!« sagte er.

Aber ihre Frage schien er überhört zu haben. Dabei waren doch die Bienen seine größte Freude gewesen. Er gab ihr keine Antwort. Der kleine Seppl lag ruhig in seinem Bettchen, hatte beide Händchen zu winzigen Fäusten geballt und schlief.

Maria ging wieder in die Küche zurück und half der Mutter das Geschirr abzuwaschen und alles in Ordnung zu bringen. Die Küche der Plaiknerbäuerin war viel größer als die Küche im Schulhaus. In der einen Ecke stand der eingemauerte mächtige Herd. Die Plaiknerin brauchte so einen Herd. Sie hatte nicht nur für eine große Familie zu sorgen, sondern mußte auch für zwölf Schweine Futter kochen. An drei Wänden entlang lief eine Bank, auf der viele Leute Platz finden konnten. Den Volksempfänger, wegen dem die Plaiknerin verhaftet worden war, konnte Maria nirgends erblicken. Aber ein paar schöne Bilder hingen an den Wänden, bunte Bilder mit alten Sennhütten und hohen Bergen und vielen weißen Wolken darüber. Geschirr war auf offenen Fächern gestapelt. Auch an den Wänden weiße Teller und Schüsseln mit blauen Blumen. Im Winkel über dem Tisch hing ein Kruzifix, das von rotblühenden Geranien eingerahmt war. Die Fenster waren mit

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karierten Vorhängen verhüllt, so daß die Verdunkelung nicht zu sehen war. Maria gefiel die Küche der Plaiknerin.

Kaum hatten sich die Kinder ins Bett gelegt, kam heraus, daß sie in Wirklichkeit großes Heimweh nach der Mutter hatten. Zuerst schniefte nur Petra, das jüngste von den vier Größeren, ganz leise ins Kissen, aber auf einmal fing Michael zu weinen an, und damit war es mit der Fassung der anderen auch vorbei. Nicht einmal Minna und Hans konnten ihre Tränen und ihren Jammer zurückhalten.

Im Augenblick stand Mutter völlig hilflos vor den Kindern, die eng aneinandergepreßt schluchzten und weinten. Schließlich faßte sie sich und sagte: »Hört, Kinder, weinen nützt gar nichts. Betet jetzt ein Vaterunser für die Mutter und eines für alle Menschen, die verfolgt werden. Und dann versucht ihr zu schlafen. Vielleicht wird eure Mutter sogar morgen wieder freigelassen. Sie hat zum Glück gute Beziehungen. Das hat sie mir selber zu verstehen gegeben.«

Maria hatte keine Lust zum Vaterunserbeten. Beim Beten wurde ihr immer langweilig, und die Geschichten, die Mutter erzählen könnte, die wußte Maria bestimmt schon auswendig. Sie ging lieber zu Liesbeth in den Stall, um nach Bläß zu schauen, die heute ihr Kalb zur Welt bringen sollte.

Um in den Stall zu gelangen, brauchte man das Haus nicht zu verlassen, denn der Stall war direkt angebaut und durch eine Tür mit dem Haus verbunden. Als Maria die Tür aufmachte, schlug ihr der anheimelnde Geruch von Kühen, Heu und Milch entgegen. Nicht nur die Küche war groß auf dem Plaiknerhof, auch der Stall war es. Einundzwanzig Rinder hatten hier Platz. Die Kühe standen eine neben der anderen mit dem Hintern zum Mittelgang aufgereiht. Einige hatten sich niedergelegt, andere standen noch und wandten Maria ihre Köpfe zu oder fächelten ein bißchen mit den Schwänzen. Man konnte annehmen, zur Begrüßung.

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Liesbeth saß am hinteren Ende des Stalls auf einem niederen Hocker. Sie hatte eine Petroleumlampe an die Wand gehängt, so daß sie und die Kuh Bläß in einem hellen Lichtkreis waren.

»Komm nur herein«, rief Liesbeth, »komm herein. Ich glaube, es ist bald soweit. Hoffentlich geht alles gut.«

Bläß war eine sehr schöne Kuh mit weiß und rotbraun geflecktem, glattem Fell. Es schien sie zu beruhigen, wenn Liesbeth mit ihr sprach, und so redete diese leise und in gleichbleibendem Tonfall weiter: »Bald, bald hast du es überstanden. Es ist ja schon deine zweite Geburt. Da geht es schon leichter. Du wirst ein schönes Kälbchen haben, ein sehr schönes Kälbchen. Du wirst schon sehen. Nur Geduld, Bläß, nur Geduld.«

Plötzlich hob Bläß den Kopf und stöhnte auf. Ihre Flanken krümmten sich und arbeiteten heftig. Sie blutete ein bißchen. Liesbeth hielt ihr den Kübel hin, und Bläß trank ein wenig Wasser. Plötzlich erschien ein nasses Bein zwischen ihren Hinterbacken und gleich darauf ein zweites. Bläß plagte sich sehr. Liesbeth band mit einem Strick die beiden braunen Beine zusammen. Maria sah, wie sie vor Aufregung ein bißchen zitterte.

Sie zog, aber das war gar nicht mehr nötig. Bläß stöhnte noch einmal laut auf, und da kam schon der Kopf. Bei der nächsten Wehe war das Kälbchen geboren. Naß und zitternd lag es vor der Mutter, die sofort anfing, es abzuschlecken. »Was für ein schönes Kälbchen«, sagte Liesbeth begeistert. »Es ist ein Kuhkälbchen. Hedwig wird sich freuen! Alles ist gutgegangen.«

Maria hatte noch nie die Geburt eines Kalbes miterlebt. Nur einmal vor zwei Jahren war sie dabeigewesen, als die alte Sau der Grünsteinbäuerin sechs kleine Schweinchen geboren hatte. Aber ein Kalb ist natürlich eine besondere Sache. Bläß konnte sich gar nicht genug daran tun, es abzuschlecken. Es war graubraun, dunkler als seine Mutter, und auf seiner Stirn, dort,

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wo es später Hörner tragen würde, ringelte sich das Fell zu kleinen Löckchen. Schon nach ein paar Minuten versuchte es, auf die Beine zu kommen, und Bläß stupste es voll Liebe und Stolz in die Seite. Liesbeth holte frisches Wasser und Heu. Sie gab der Kuh zu trinken, kraulte sie zwischen den Hörnern und lobte sie mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme: »Brav, Bläß, brav und tüchtig bist du gewesen.«

Die Kuh streckte ihre rauhe Zunge heraus und fuhr Liesbeth einmal kurz übers Gesicht.

»Sie ist meine Lieblingskuh«, erklärte Liesbeth gerührt. »Und sie mag mich auch. Das solltest du einmal sehen, Maria, wenn ich im Sommer auf die Alm komme, wie sie mich schon von weitem an der Stimme erkennt und mich dann begrüßt.«

Liesbeth betrachtete das Kälbchen in seinem Verschlag, direkt neben dem Platz der Mutter, so daß sich Bläß jederzeit hinüberbeugen und ihr Kind abschlecken konnte. Nach einiger Zeit wurde Bläß wieder unruhig und bekam nochmals Wehen. Es dauerte nur wenige Minuten, dann war auch die Nachgeburt da. Nun legte sich Bläß ermattet nieder.

Maria half Liesbeth den Stall reinigen und frische Streu aufbreiten. Als sie eben fertig waren und nochmals zum Kälbchen schauten, hatte es sich tief unters Heu verkrochen und schlief. Liesbeth nahm die Lampe vom Nagel. Zufrieden und glücklich gingen die zwei ins Haus zurück. Hier trafen sie auf eine völlig erschöpfte Mutter, fünf schlafende Kinder und einen auf der Ofenbank hingestreckten, schnarchenden Großvater. Liesbeth schob ihm ein Polster unter den Kopf und deckte ihn mit einem Federbett zu. »Soll er hier schlafen. Er braucht den Schlaf. Wenn ich ihn jetzt ins Bett bringe, wacht er wieder auf und kann womöglich die ganze Nacht keinen Schlaf mehr finden. So wie gestern.«

»Wie ihr, du und Hedwig, das alles schafft«, sagte Mutter, »das verstehe ich nicht. Die Kinder, den Hof, den Haushalt, das Vieh und die Feldwirtschaft.«

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»Das ist viel Gewohnheit«, meinte Liesbeth, »Großvater hilft auch mit. So wie heute ist er sonst nie. Gott sei Dank. Heute ist er einfach noch im Schock.«

»Wir werden nun wieder gehen«, sagte Mutter, »sonst machen sich unsere Leute daheim Sorgen.«

Aber Liesbeth protestierte. »Nein, zuerst müßt ihr noch etwas essen. Mit hungrigen Mägen laß ich euch nicht fort.«

Liesbeth holte ein Reindl mit Fleischsuppe aus der Speisekammer und wärmte Knödel darin auf. Dann stellte sie einen Topf Milch, Brote und ein Schüsselchen mit Grammelschmalz auf den Tisch. Bevor sie zu essen anfingen, schenkte sie in drei Gläschen Schnaps ein, zwei machte sie voll. Eines füllte sie nur einen Zentimeter hoch. In dieses gab sie ein Löffelchen Zucker und goß heißes Wasser darauf. Das bekam Maria. Sie stießen miteinander an: »Auf das neugeborene Kalb, auf eine glückliche Heimkehr der Mutter, auf ein baldiges Ende des Krieges.«

Daheim erwartete sie eine Überraschung. Großmutter hatte die Haustür abgesperrt und sorgfältig sämtliche Verdunkelungsmaßnahmen, wie Fensterschließen, Vorhängezuziehen, Jalousienverriegeln, durchgeführt. Dann hatte sie Willi zu Bett gebracht und, sobald er eingeschlafen war, kurzerhand das Zimmer abgesperrt. So abgesichert hatte sie Boris aus der Kammer geholt. Nun saßen sie beide in der Stube und beugten sich eifrig über den Volksempfänger.

»Endlich«, sagte Boris, er strahlte. »Radio Moskau! Denken Sie, wir haben eine halbe Stunde Radio Moskau empfangen.«

Auch Großmutter freute sich. »Wir fangen immer entferntere Sendungen ein. Gestern hatten wir Radio London drin. Heute Moskau. Wenn das so weitergeht, werden wir bald New York empfangen.«

»Es ist großartig. Ach, die Technik. Die Technik!« sagte Boris träumerisch.

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In diesem Augenblick fing der Apparat zu krachen an. Mutter lächelte. »Sie hat auch ihre Tücken, die Technik.«

»Zum Glück liegt es im Wesen der Technik, daß sie entwicklungsfähig ist«, meinte Boris und schaltete das Radio ab, nicht ohne vorher noch den Sender zu verstellen.

»Und was meldet Radio Moskau?« fragte die Mutter. »Daß der Krieg für Deutschland verloren ist und jeder Tag

Krieg nur weiteres sinnloses Leid bringt. Dann hat ein Österreicher geredet und die Soldaten aufgefordert, zu desertieren. Alles haben wir nicht gehört, weil der Sender inzwischen immer wieder kurz weg war«, sagte Großmutter. Sie stand auf, holte einen Topf mit Tee und einige Brote aus der Küche und forderte Boris auf, zuzugreifen. »Das ist der Vorteil vom Leben am Berg unter lauter Bauern«, sagte sie. »Wir halten Freundschaft untereinander, so gut es geht. Wir helfen uns gegenseitig. Wir erledigen für sie dieses und jenes, und sie lassen uns dafür dieses und jenes zukommen.«

»Und ich esse euch die Sachen weg«, sagte Boris. »Aber vielleicht kann ich euch eure Gastfreundschaft einmal vergelten.«

Mutter wurde heftig. »Hören Sie auf. Es ist ja nicht Ihre Schuld, daß Sie in diese Lage gekommen sind.«

Großmutter sagte: »Was wir für Sie tun, ist Christenpflicht. Und vielleicht hat der Herrgott ein Einsehen und läßt auch die Unseren jemanden finden, der ihnen hilft.«

Boris antwortete nicht. Maria schaute ihn an. Sein Gesicht wirkte verschlossen und düster. Gerne hätte sie gewußt, was er dachte, aber sie traute sich nicht zu fragen. Es war gar nicht so lange her, da war Maria von Hitler begeistert gewesen. Fräulein Hauser hatte in der Schule oft und gerne von ihm erzählt, und Maria hatte stundenlang zuhören können, ohne dieser Geschichten überdrüssig zu werden. Hitler liebte Kinder und Hunde. Er war es, der Deutschland groß und stark gemacht, es von Schmach und Schande gereinigt und

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Österreich heim ins Reich geholt hatte. Er hatte die Feinde geschlagen, und lange Zeit war er ein strahlender Sieger und Held gewesen. Und nun, da Deutschland in Not war, in ganz großer Not, sollten alle zusammenstehen und einander helfen. Jetzt gerade müßte man seine Treue beweisen, aber da war nun Boris, der ein Feind war, aber den Maria einfach nicht als Feind sehen konnte. Im Gegenteil, dachte Maria erschrocken. Im Gegenteil. Eigentlich habe ich ihn schon direkt gern. Und dann war da Onkel Hermann. An ihn dachte Maria nie mehr, das heißt, sie bemühte sich, nie mehr an ihn zu denken. Nur manchmal in der Nacht, wenn sie schlief, legte sich ein schwerer Stein auf ihre Brust, und kurz bevor sie glaubte, ersticken zu müssen, wachte sie auf. Ihre Wangen waren patschnaß, und sie wußte, nun im Schlaf, da die Gedanken kommen und gehen, wie sie wollen, und man nichts dagegen tun kann, hatte sie von Onkel Hermann geträumt und dem fernen Dorf und den toten Kindern. Dann bohrte sie den Kopf tief ins Kissen, damit niemand hören sollte, daß sie weinen mußte, und wartete geduldig, bis die Tränen den Kloß auflösten und sie wieder atmen konnte.

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Mitten in der Nacht wachte Maria auf. In der Stube brannte Licht, und sie hörte Mutter und Großmutter

miteinander tuscheln. Verschlafen rieb Maria sich die Augen. War es schon Zeit zum Aufstehen? Sie warf einen Blick auf den Wecker, der große, grüne Leuchtziffern hatte und gut sichtbar auf der Kommode stand. Es war erst drei Uhr früh. Schon wollte sie sich auf die andere Seite drehen und weiterschlafen. Aber die Frage, was Mutter und Großmutter mitten in der Nacht zu besprechen hatten, ließ ihr keine Ruhe. Obwohl sie die Ohren spitzte und angestrengt lauschte, konnte sie kein Wort von dem Gespräch verstehen. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als das warme Bett zu verlassen. Seufzend stand sie auf. Sie nahm die Bettdecke, wickelte sich darin ein und ging in die Stube. Großmutter stand mit dem Rücken an den Ofen gelehnt. Obwohl das Feuer schon längst abgebrannt war, hatten die Kacheln noch ein bißchen Wärme bewahrt. Mutter hatte sich einen Sessel herangerückt, und Spitz saß zwischen den beiden Frauen, schaute von einer zur anderen und bewegte unruhig den Schwanz auf und ab.

»Maria, du gehst barfuß! Was fällt dir ein? Was machst du überhaupt hier, mitten in der Nacht. Du solltest schlafen.«

Mutter tat sehr empört, was wiederum Maria ärgerte. »Ihr habt mich aufgeweckt, ihr schaltet in der Stube das Licht ein, redet, laßt die Tür offenstehen und wundert euch, daß andere Leute aufwachen.«

»Sei nicht frech«, sagte Mutter. Das war wieder einmal typisch. Statt auf das einzugehen,

was Maria vorbrachte, der Befehl: Werd nicht frech. Maria spürte, wie ihr vor Zorn Tränen in die Augen stiegen. Am liebsten hätte sie sich umgedreht, die Tür zugeworfen, den Wecker am Boden zertrümmert oder sonst irgend etwas gemacht, was imstande war, Mutter furchtbar zu ärgern.

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Da schaltete sich Großmutter ein. »Aber, Anna«, sagte sie, »Maria will ja nur wissen, warum wir um diese Zeit wach sind.« Dann wandte sie sich an Maria. »Schau, diesen Zettel hat deine Mutter gefunden.«

»Ja«, sagte Mutter, »vor vielleicht zehn Minuten oder einer Viertelstunde. Spitz hat plötzlich zu bellen angefangen. Als er sich gar nicht mehr beruhigen wollte, bin ich aufgestanden und habe nachgeschaut. Da habe ich den Zettel gefunden. Jemand hat ihn durch den Spalt zwischen Haustür und Schwelle geschoben.«

Großmutter schwenkte das Blatt. Sie hatte sich in ihren dicken Wollschal gehüllt. Von den Hüften abwärts war nur das geblümte Nachthemd sichtbar. Mutter trug den schönen samtblauen Schlafrock, den Vater ihr zum dritten Hochzeitstag geschenkt hatte und der Maria ungemein gut gefiel.

»Was steht denn auf dem Zettel?« fragte sie. »Jetzt ziehst du dir erst einmal die Patschen an«, sagte

Mutter, »dann reden wir weiter.« Also lief Maria ins Zimmer zurück und schlüpfte in die

selbstgemachten Hausschuhe. Sie hatte sowieso schon eiskalte Füße.

»Wir werden den Zettel morgen früh dem Russen zeigen. Er hat Sprachen studiert, er kann die Schrift vielleicht lesen.«

»Laß mich das Blatt anschauen«, bat Maria. Großmutter gab ihr den Zettel. Es waren nur einige wenige Worte darauf. Maria wandte ihn hin und her, drehte ihn um, aber die Schrift konnte sie nicht lesen.

»Eine fremde Sprache, eine fremde Schrift«, sagte Großmutter. »Aber Moment – das bringt mich auf eine Idee. Könnte dieser Brief nicht vielleicht eine Botschaft für Boris sein?«

Mutter überlegte. Dann nickte sie. »Das würde aber bedeuten, daß jemand weiß, wo Boris sich zur Zeit aufhält.

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Wißt ihr, was das für uns bedeutet? Da will ich aber Gewißheit haben. Und zwar sofort!«

Sie ging zur Kammertür und klopfte einmal heftig an, drückte auch schon die Klinke nieder. Sofort war Boris wach und aus dem Bett gesprungen. Er schaute die Frauen verstört an. »Was ist los, soll ich verschwinden?«

»Aber nein«, sagte Großmutter, »aber nein, seien Sie unbesorgt. Es ist nichts passiert.«

Spitz begrüßte Boris freudig. Er stellte sich auf, legte die Vorderpfoten auf den Bettrand und stieß kurze aufgeregte Laute aus.

»Dieser Brief wurde uns bei der Tür hereingeschoben.« Sie reichte ihm den Zettel. »Wir können die Schrift nicht lesen.«

Boris nahm das Blatt und betrachtete es eingehend. »Sie werden es sich schon gedacht haben, er ist für mich.«

»Aber woher weiß der Schreiber, daß Sie hier sind?« Mutters Stimme zitterte vor Erregung. »Halten Sie Verbindung mit jemandem außerhalb? Wie können Sie so etwas machen? Sie bringen uns in allergrößte Gefahr!«

»Keine Angst«, sagte Boris, »dieses Schreiben und alles, was damit zusammenhängt, dient der Vorbereitung für mein baldiges Verschwinden.«

»Aber Ihre Wunde?« fragte Großmutter. »Und warum sagten Sie uns nichts? Wie konnten Sie überhaupt irgendwelche Kontakte aufnehmen? Sie sind doch völlig abgeschirmt in diesem Zimmer hier.«

Boris lächelte. »Maria hat mir Ihren Wahlspruch für diese Zeit verraten, Frau Singer: Je weniger man weiß, desto besser ist es. Ich finde, diese Einstellung ist sehr klug und vernünftig. Wir wollen uns weiter daran halten, vertrauen Sie mir. Alles ist gut überlegt. Ich bin ein äußerst vorsichtiger Mensch.«

»Und die Wunde?« wiederholte Maria die Frage der Großmutter.

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»Ich bin bereits zwei Tage fieberfrei. Die Wunde heilt schon zu. Einige Tage werde ich Ihre Gastfreundschaft schon noch in Anspruch nehmen müssen. Wenn Sie gestatten.«

Wieder wunderte sich Maria über die Ausdrucksweise von Boris. Sie verstand, was er sagte, natürlich. Aber es klang hochgestochen und unüblich. Dabei war er selbst bescheiden.

»Ich möchte den Zettel am liebsten gleich verbrennen. Sicher ist sicher. Gibt es noch ein wenig Glut im Ofen?«

Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht.« »Dann machen wir es anders.« Er ging zum Ofen, nahm das

Feuerzeug, öffnete das Ofentürchen und legte den Zettel auf den Feuerrost. Dann entflammte er das Feuerzeug und hielt es hin. Die Flamme ergriff das Papier, das Blatt ringelte sich zusammen, loderte auf und fiel dann zu einem kleinen Häufchen großflockiger Asche zusammen. »So, jetzt ist alles in Ordnung. Nun könnten wir wieder schlafen gehen«, meinte Boris.

Großmutter schüttelte den Kopf. »Sie haben Nerven. Ich glaube nicht, daß ich heute noch ein Auge zumachen werde, aufgeregt, wie ich bin.« Aber natürlich legte sich auch Großmutter noch einmal ins Bett.

Am nächsten Tag kam die Plaiknerbäuerin zurück. Man hatte sie am frühen Vormittag entlassen, und sie war sofort zum Bahnhof geeilt und mit dem nächsten Zug nach Hause gefahren. Da wenige Züge verkehrten, wurde es Abend, bis sie im Dorf den Zug verlassen konnte. In der Dunkelheit nahm sie den vertrauten Weg auf den Astenberg. Trotzdem wollte sie am Schulhaus nicht vorbeigehen, sondern wenigstens für einen Augenblick hineinschauen. Die Familie war noch in der Küche. Großmutter wusch das Geschirr ab, Mutter wischte es trocken. Willi und Maria saßen beim Tisch und spielten Mensch ärgere Dich nicht. Die beiden Frauen unterbrachen ihre Arbeit. Mutter kochte wieder einen Topf Zichorienkaffee, und dann setzten sich alle zum Tisch. Die Plaiknerin hatte viel zu erzählen.

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Dreimal war sie verhört worden, aber sie hatte nichts, gar nichts zugegeben. Sie war mit anderen Frauen bekannt geworden, mit Bäuerinnen, Arbeiterinnen. Die eine hatte man eingesperrt, weil sie ein Schwein schwarz geschlachtet hatte. Das heißt, sie hatte es heimlich getan, nicht gemeldet und das Fleisch für ihre Familie verwendet und an Bekannte verkauft. Eine andere Frau hatte, als sie vom Soldatentod ihres Buben erfuhr, Hitler und den Krieg verflucht. Das hatte der Blockwart gehört, sie angezeigt, und man hatte sie in Haft genommen.

»Also«, sagte die Plaiknerin, »ich sage euch, ich bin so froh, daß ich da auf dem Berg lebe, weitab von der Stadt. Im Vergleich zu den Stadtleuten haben wir es wie im Paradies.«

»Und die harte Arbeit, die du jahrein, jahraus leisten mußt?« fragte die Mutter.

Die Plaiknerin lachte. »Arbeit, daran gewöhnt man sich. Auch wenn es manchmal hart ist, der Mann im Krieg, der Hof, das Vieh. Aber wenigstens haben wir halbwegs Ruhe hier, sind weit weg vom Schuß. Keine Bombenangriffe, keine Blockwarte.« Die Plaiknerin wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Wie ich im Dorf unten aus dem Zug gestiegen bin und unseren Berg wiedergesehen habe – jubeln hätte ich können, direkt jubeln!«

»Weißt du schon, Hedwig, daß eure Bläß gekalbt hat?« fragte die Mutter. »Ein schönes, gesundes Kuhkalb hat sie geworfen, gerade einen Tag nachdem sie dich abgeholt haben.«

Die Plaiknerin tat einen Seufzer. »Da ist mir ein Stein vom Herzen. Ich habe mir große Sorgen gemacht. Bin ich froh, daß alles gutgegangen ist!«

Nun hielt es sie nicht länger. Sie bedankte sich für den Kaffee und ging. Großmutter machte sich wieder ans Geschirr, Mutter mußte nun das Klassenzimmer aufräumen gehen, so daß Maria die restlichen Teller abtrocknete. Plötzlich hielt sie in der Arbeit inne.

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»Großmutter, was hast du?« fragte sie erschrocken. »Du weinst ja.«

»Ach nichts, nichts, Kind«, wehrte die Großmutter ab. »Es ist nichts.«

»Doch, ich sehe es ja. Sag mir, warum du weinst, sag’s mir. Bitte!«

»Es ist nur, weil ich heute wieder keinen Brief von Fritz bekommen habe. Nun sind’s schon achtzehn Tage her seit seinem letzten Brief. Das macht mir einfach Sorgen. Eine Zeit erträgt man es, aber auf einmal ist es aus. Die Angst, Maria, die Angst.« Großmutter ließ den Lappen in das schmutzige Abwaschwasser sinken, wischte sich die Hände an der Schürze ab und ließ sich schwer auf den Sessel fallen. Sie legte die Arme auf den Tisch, bettete den Kopf darauf. Ihre Schultern zuckten in harten Stößen. Großmutters Haar war grau, glatt nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem kleinen Knoten aufgesteckt. Maria betrachtete den weißen Streifen, der sich an der linken Seite durch das dunkelgraue Haar zog. Gerne hätte sie Großmutter gestreichelt, sie getröstet. Aber eine seltsame Scheu hielt sie davon ab. Großmutter geriet leicht außer Fassung, schimpfte oder schrie herum, aber weinen hatte Maria sie noch nie gesehen.

Es war Willi, der Großmutter zu trösten versuchte. Er kletterte auf den Sessel und fing an, ihr sanft die Wangen zu streicheln.

»Sei nicht traurig, Großmutter. Onkel Fritz wird schon wieder schreiben. Bestimmt schreibt er wieder.« Endlich überwand sich Maria. »Wahrscheinlich ist der Brief verlorengegangen«, sagte sie. »Der Briefträger behauptet auch immer, daß heutzutage viele Briefe einfach verlorengehen. Es ist doch Krieg.«

Großmutter nickte. »Briefe gehen verloren, Soldaten werden getötet, Kinder gehen zugrunde.«

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»Ich hasse den Führer«, sagte Maria und erschrak im gleichen Augenblick. Was hatte sie gesagt? Aber plötzlich wußte sie, daß es stimmte. Ja, wirklich, sie haßte Hitler. Warum hatte er den Krieg angefangen? Warum gab es Konzentrationslager? Warum wurden Zigeuner umgebracht und Juden? Warum wurden Menschen eingesperrt, nur weil sie einem halbverhungerten Gefangenen ein Stück Brot gaben oder einen ausländischen Sender hörten?

»Da kannst du viele hassen«, sagte Großmutter. »Hitler, ja, und dazu diejenigen, die mitgemacht haben, weil es ihnen geschmeichelt hat, Übermenschen zu spielen, und jene, die sich Vorteile ergattert haben. Und vor allem jene, die den Hitler an die Macht gebracht haben.«

Und Onkel Hermann? dachte Maria. Der hat auch mitgemacht, der hat selbst Hand angelegt, und Großmutter weiß es, und trotzdem ist er an unserem Tisch gesessen und hat in unserer Stube geschlafen, und ich habe Schokolade gegessen. Aber sie wagte nicht, diese Fragen auszusprechen. Sie stand auf und ging leise hinaus.

Als Maria am nächsten Morgen die Küche betrat, bemerkte sie gleich, daß etwas anders war als an den vergangenen Tagen. Im Herd knisterten die brennenden Holzscheite und gaben eine angenehme Wärme. Der Kaffee war schon gekocht und der Tisch gedeckt. Aber die Küche war leer. Wo Großmutter wohl war? Mutter war sicherlich im Klassenzimmer, um dort den Ofen zu heizen. Willi und Lisa schliefen noch. Wo aber war Großmutter? Und wo war Boris?

Die Tür zwischen Stube und der Kammer war geschlossen gewesen. Für gewöhnlich war Boris um diese Zeit schon längst in der Küche, Großmutter hatte ihm die Wunde versorgt, und er frühstückte. Maria lief in die Stube zurück und klopfte an die Kammer von Boris. Die Tür ging von innen auf. Mutter hatte sie geöffnet. »Boris ist fort«, sagte sie.

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Maria erschrak. »Aber warum denn? Ist etwas passiert? Hat – hat man ihn gefunden? Ihn abgeholt?«

Großmutter schüttelte den Kopf. In ihren Augen lagen Trauer und Bestürzung. »Nein«, sagte sie. »Lies, lies den Brief. Er ist auch an dich geschrieben.« Großmutter drückte Maria einen Bogen Papier, der mit schöner, gleichmäßiger Schrift bedeckt war, in die Hand. Die Buchstaben neigten sich leicht nach rechts und waren gestochen scharf, wie gemalt. Maria las.

Liebe Retterinnen, vernichten Sie diesen Brief, sobald Sie ihn gelesen haben. Verzeihen Sie, daß ich fortging, ohne mich persönlich von Ihnen verabschiedet zu haben. Aber wir müssen vorsichtig sein. Noch ist nichts entschieden. Es geht um Ihre und meine Sicherheit. Später, wenn der Krieg vorbei ist und die Menschen sich wieder ohne Arg begegnen können, werde ich Sie besuchen. Dann erfahren Sie meinen wahren Namen und meine wahre Identität. Ich danke Ihnen aus ganzem Herzen. Ohne Ihre Hilfe hätte ich die Verwundung nicht überstanden. Ohne Ihre Hilfe wäre ich den Häschern nicht entkommen. Ihr Boris Tritonow

Maria ließ den Brief sinken. Das Bett, in dem Boris bis heute nacht geschlafen hatte, war abgezogen, die Wäsche fein säuberlich am Boden gestapelt. Sogar den Strohsack hatte Boris aufgeschüttelt.

»Ist es nicht seltsam, wie er schreibt?« sagte Mutter leise, fast wie zu sich selbst. »Häscher nennt er die Gestapoleute. Und er heißt gar nicht Boris. Er hat uns einen falschen Namen genannt.«

»Den Brief vernichten wir nicht«, sagte Großmutter. »Den verstecke ich. Lang wird der Krieg sowieso nicht mehr dauern. Der Brief ist ein Andenken.«

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Mutter widersprach nicht. Maria starrte auf das leere Bett und konnte es nicht fassen. Zehn Tage hatte Boris bei ihnen gelebt. Fünf Tage auf dem Dachboden, fünf Tage hier in der Kammer. Wenigstens von mir hätte er sich verabschieden können, dachte Maria. Wenigstens von mir.

»Was tut ihr denn da alle in der Kammer?« fragte Willi. Die drei fuhren herum. Willi stand an der Tür, die Haare zerzaust, das kleine Gesicht noch verdrückt vom Schlaf. »Ich habe Hunger, ich will frühstücken.«

»Ja, ja, du bekommst gleich deinen Kaffee«, sagte Großmutter. »Gleich, gleich.«

»Und Marmeladebrote«, sagte er, »Marmeladebrote will ich auch. Und...« Da brach er ab. Er lief auf Maria zu. »Warum weinst du, Maria?« rief er. »Wein nicht. Ich will auch nicht, daß du wieder in der Kammer schlafen mußt. Ich will auch, daß du weiter bei mir schlafen darfst.« Er warf sich ihr an die Brust. »Wein nicht mehr. Wenn sie dich nicht bei mir im Zimmer schlafen lassen, schrei ich ganz laut, so laut ich kann. So lange, bis sie nachgeben.«

Mutter und Großmutter schauten einander an. Als erste prustete Großmutter los. »Also das ist die Höhe. Du willst uns erpressen. Ein Knirps, geht das erste Jahr zur Schule und will Erwachsene erpressen!«

Niemand klärte Willi auf und sagte ihm, daß Marias Tränen eine ganz andere Ursache hatten. Aber Maria drückte ihren Bruder an sich. Er hat mich gern, dachte sie dankbar. Auch wenn er ein Lauser ist und ein Frechdachs dazu. Er hat mich gern.

»Nun wollen wir frühstücken gehen«, sagte die Mutter. »Jeden Augenblick kann der Briefträger kommen. Ich möchte hören, was er wieder für Neuigkeiten zu erzählen weiß.«

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Nachwort�

Als Österreich 1938 von deutschen Truppen besetzt wurde, begann eine Periode seiner Geschichte, die durch Terror und Schrecken, Tod und Gewalt, Unrecht und Verfolgung gekennzeichnet war. Trotzdem haben auch heute noch manche ältere Menschen durchaus positive Erinnerungen an diese Zeit. Immerhin – so meinen sie – hatte der Nationalsozialismus manchen von ihnen Vorteile geschaffen: Arbeitsplätze waren nach Jahren drückender Arbeitslosigkeit wieder vorhanden, man hatte das Gefühl, der Zeit der Not und der Entbehrung entronnen zu sein, und man fühlte sich nun auf einmal wieder »stark« und bedeutsam.

Vergessen wird dabei, daß die neuen Arbeitsplätze für die Vorbereitung eines Krieges dienten; daß das Gefühl, wieder »jemand« zu sein, auf Kosten anderer ging, die erniedrigt und gedemütigt wurden; daß »Zucht und Ordnung« der Aufrechterhaltung eines unmenschlichen Systems dienten, das all jene unbarmherzig verfolgte, die sich dieser Ordnung nicht anpassen wollten oder konnten. Wer damals mit der offiziellen Meinung des nationalsozialistischen Regimes nicht einverstanden war und dies auch öffentlich äußerte, mußte damit rechnen, verhaftet und zur Verantwortung gezogen zu werden. Mitleid mit den Menschen, die unter den Schikanen und Verfolgungen zu leiden hatten, wurde als Schwachheit und Verrat ausgelegt und bestraft.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Aufrechterhaltung dieses menschenfeindlichen Systems des Terrors und der Gewalt waren ein straff organisierter Überwachungsapparat und eine erbarmungslos vorgehende Geheime Staatspolizei, die selbst kleine Vergehen streng verfolgte. In diesem Klima des

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allgemeinen Mißtrauens konnte niemand sicher sein, ob er nicht von dem anderen – dem Nachbarn, dem Kollegen, sogar dem Freund – verraten wurde. Ein weitgespanntes Netz polizeilicher Überwachung registrierte jede Meinungsäußerung, wobei die Polizei auch mit der Mithilfe eines Teiles der Bevölkerung rechnen konnte.

Nicht das zu tun, was der »Staat« verlangte, war unter diesen Voraussetzungen bereits der Ausdruck des Widerstands. Nicht jeder brachte den Mut auf, sich offen gegen das Unrecht zur Wehr zu setzen. Die meisten schwiegen oder schauten weg. Trotzdem gab es auch damals Menschen, die Widerstand leisteten. Die Möglichkeiten der Opposition gegen das nationalsozialistische Regime waren sehr verschieden: Widerstand konnte zum Beispiel einfach darin bestehen, daß jemand, so gut es ging, nicht mitmachte oder da und dort auch Signale für seine andere Auffassung setzte. Widerstand konnte aber auch heißen, sich mit anderen zusammenzufinden und ganz bewußt gegen das Regime zu arbeiten. Heute begreifen wir, daß »Widerstand« im Nationalsozialismus viel mehr umfaßte als nur jene Aktionen, die von organisierten politischen Gruppen getragen wurden. Dabei ging es nicht so sehr um großartige Aktivitäten, sondern vielmehr darum, dort zu helfen, wo Hilfe und Unterstützung notwendig waren: im täglichen Leben.

Sich menschlich und mitfühlend gegenüber der Not bedrängter Menschen zu verhalten war damals gewiß nicht einfach. Selbst ein freundliches Wort oder die Einladung an einen Kriegsgefangenen, am selben Tisch mitzuessen (was offiziell streng verboten war), konnte ein Zeichen der Verweigerung sein. Der Besuch eines kranken Bekannten in einem jüdischen Spital, die Unterstützung Deportierter im Getto von Theresienstadt mit Lebensmittelpaketen, aber auch die Treue zu einem jüdischen Ehepartner erforderten Mut und Charakterstärke.

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Vor allem die Kleinen und die Schwachen waren bereit, das Risiko auf sich zu nehmen und zu helfen, wo Hilfe notwendig war. Es gibt genügend Hinweise, daß Menschen nur deswegen, weil sie anderen hilfreich zur Seite standen, ins Gefängnis gesperrt, in Konzentrationslager verschleppt oder getötet wurden. Der österreichische Widerstand hat niemals jene Breitenwirkung erreicht wie der anderer von Deutschland besetzter Länder. In Dänemark hat sich der König selbst zum Zeichen der Solidarität mit den verfolgten Juden den Judenstern angesteckt; in den Niederlanden haben die Bischöfe einen mutigen Hirtenbrief zugunsten der verfolgten Juden erlassen; in Deutschland hat sich ein Bischof Galen öffentlich gegen die planmäßige Ermordung Geisteskranker ausgesprochen.

In Österreich ist es im wesentlichen bei einzelnen Aktionen kleiner Gruppen oder mutiger Alleingänger geblieben.

Dazu ist es notwendig, eines zu bedenken: Als deutscheTruppen Österreich 1938 besetzten, konnten sie zunächst mit dem Zuspruch zumindest eines Teiles der Bevölkerung rechnen. Sicherlich waren im März 1938 nicht »alle« Österreicher auf dem Heldenplatz. Viele (man schätzt etwa 70.000) befanden sich zu diesem Zeitpunkt bereits in den Gefängnissen der Gestapo und der örtlichen Polizeibehörden. Allerdings war es den Nationalsozialisten gelungen, Gefühle anzusprechen, die auch schon vor 1938 zur politischen KulturÖsterreichs gehörten: einen erschreckenden Antisemitismus, eine Unfähigkeit, mit »anderen« umzugehen und Konflikte friedlich zu lösen, eine Ausrichtung nach »oben«, die bereit war, alles zu akzeptieren, wenn es nur von der Obrigkeit angeordnet wurde.

Bedenklich bleibt, daß die Zeichen von Widerstand und Verweigerung, die es trotzdem auch gegeben hat, von der österreichischen Gesellschaft nach 1945 verdrängt wurden oder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden sind. Es ist

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beschämend, daß den Opfern des Widerstands nur zögernd Anerkennung und Wiedergutmachung geleistet worden ist. Dazu kommt, daß der Begriff von »Widerstand« sehr eng verstanden wurde und sich vor allem auf jene Menschen bezog, die sich aus politischen Gründen gegen das NS-Regime stellten. Jene, die sich etwa als aufsässige Jugendliche, als Angehörige religiöser Randgruppen oder einfach deswegen dem Regime widersetzten, weil sie sich mit den Lebensformen des Nationalsozialismus nicht einverstanden erklären konnten, sind immer noch vergessen.

Widerstand im Nationalsozialismus zu leisten bedeutete, Gefahren und Opfer auf sich zu nehmen. Hilfe für Bedrohte und Bedrängte konnte eine tödliche Gefahr sein. Trotzdem haben Frauen und Männer sich auf vielfältige Weise gegen das nationalsozialistische Regime gestellt. Die Opfer des österreichischen Widerstandes kamen aus den verschiedensten gesellschaftlichen, politischen und weltanschaulichen Gruppierungen. 2700 Österreicher wurden 1938-1945 als Zeugen des Widerstandes hingerichtet; 16.493 Österreicher wurden in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches ermordet; 9687 Österreicher starben in den Gefängnissen derGestapo; 6420 Österreicher sind in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten in Gefängnissen, Zuchthäusern und Lagern ums Leben gekommen. Trotzdem ist es notwendig, sich klar und deutlich einzugestehen, daß insgesamt zu wenig – viel zu wenig – getan worden ist. Die Vergangenheit ist nicht mehr ungeschehen zu machen. In der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sollten wir aufmerksam dafür werden, was geschehen kann, wenn ein Unrechtsregime einmal an die Macht gelangt ist.

Peter Malina

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