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GANZ persönlich Alligator verschluckt Haben Sie schon mal Krokodilfleisch probiert? Ich habe diese Delikatesse gekostet. Meinen Geschmack trifft es nicht. Als ich gestern eine Natursendung anschaute, erin- nerte ich mich an ein ungewöhnliches Foto: Aus einer vier Meter langen Pythonschlange ragte ein Alligator heraus. Die Schlange verspeiste regelmäßig Alligatoren in den Sümpfen Floridas. Diesmal hatte sie einen 1,80 Meter langen Alligator angegriffen und lebendig verschluckt. Doch der wehrte sich: Er biss oder riss sich einen Weg ins Freie. Dabei tötete er die Schlange buchstäblich von innen nach außen. ‚Dumme Schlange‘, dachte ich, ‚das hätte sie sich denken können!‘ Doch geht es uns nicht allen so, dass wir manchmal „Alligatoren“ verschlucken – im übertragenen Sinne? Wut, Groll und Bitterkeit können uns genauso von innen zerfressen! Mir ging es 1984 so. Auch Ärzte machen Fehler und können irreparablen Schaden anrichten. So litt ich nach einer Fehlbehandlung unter schrecklichen Schmerzen. Ich bat Gott um Hilfe und ließ mich von den besten Medizinern beraten. Doch immer wieder hörte ich die Antwort: „Es tut uns leid, wir können nichts für Sie tun.“ Die Nächte waren am schlimmsten. Außer den kör- perlichen Schmerzen hielten mich quälende Fragen wach: ‚Warum bin ich dort hingegangen? Wie konnte das passieren?‘ Es fühlte sich an, als hätte ich einen Alligator verschluckt! Eines Morgens las ich in der Bibel, wie Jesus am Kreuz sagte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Aber wie? Dann kam der Tag der Begegnung. Ich traf die Frau des Arztes, die ihm assistiert hatte, im Supermarkt. Meine Füße waren wie gelähmt. Völlig erstarrt stand ich da. „Vergib ihr!“, hörte ich eine leise Stimme in meinem Herzen. „Gib ihr das Geschenk der Vergebung, das ich dir auch gegeben habe.“ Alles in mir sträubte sich. „Ich habe im Gebet schon oft Worte der Vergebung ausgesprochen!“, warf ich ein. „Warum soll ich ihr das jetzt auch noch persön- lich sagen?“ Mein Herz schrie nach Gerechtigkeit und Rache. Wegen dieser beiden Menschen litt ich an unglaublichen Schmerzen. Würde Vergebung meinen Schmerz nicht noch vergrößern? „Gott, ich kann das nicht aus eigener Kraft. Bitte schenk mir deine. Vergib du ihnen durch mich.“ Auf einmal merkte ich, wie meine Hand sich der Frau entgegenstreckte. „Ich vergebe Ihnen“, platzte es aus mir heraus. Sie sah mich überrascht an. Ihr Gesichtsausdruck blieb kühl, als würde sie sagen: „Jetzt machen Sie mal nicht so eine große Sache um diese Vergebung.“ Aber für mich war es eine große Sache! Als ich aus dem Supermarkt ging, liefen mir Tränen über die Wangen. Der innere Damm war gebrochen. Ich hatte den Alligator ausgespuckt. Der körperliche Schmerz änderte sich dadurch nicht, aber Stück für Stück heil- ten meine Gefühle. Immer wieder erinnerte ich mich selbst: „Die Rache ist nicht mein.“ Vielleicht denken Sie: ‚Huch, Elisabeth, das war aber eine Heldentat!‘ Nein, das glaube ich nicht. Ehrlich gesagt, war es sogar ein bisschen egoistisch. Indem ich vergab, habe ich selbst gewonnen. Ich bin den Monster-Alligator losgeworden, der mich von innen zerfressen wollte. Heute – 26 Jahre später – spüre ich keinen Groll. Keine Spur. Nur die Erinnerung bleibt, wie eine Narbe. Leider sind die körperlichen Schmerzen nicht weg, aber ich hoffe, dass auch davon eines Tages nur eine Narbe zurückbleibt. Ich wünschte, das wäre der letzte Alligator gewe- sen, den ich lebendig verspeist habe. Leider war es das nicht. Erst gestern passierte es mir wieder. „Warum hast du nicht aus der Vergangenheit gelernt?“, warf ich mir vor. Aber Warum-Fragen bringen mich nicht weiter. Viel wichtiger ist es, dass ich es merke und ihn schnell wieder loswerde. Am besten noch am selben Tag, bevor die Sonne untergeht. In dieser Ausgabe lesen Sie viele bewegende Geschichten, wie Frauen mit ihren persönlichen „Alligatoren“ umgegangen sind. Ich hoffe, es wird Sie ermutigen, Ihr Monster auszuspucken, falls Sie zufäl- lig auch eins lebendig verschluckt haben! Ihre Elisabeth Mittelstädt L y d i a 3 / 2 0 1 0 3

Zeitschrift Lydia - 3/2010

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In der Zeitschrift LYDIA erwarten Sie bewegende Erfahrungsberichte, spannende Interviews, Infos über Trends, Tipps zu Alltagsfragen und vieles mehr. Menschen erzählen offen, wie sie Schwierigkeiten und Ängste überwinden, wie sie Gott begegnen und Erstaunliches erleben. Genießen Sie erfrischenden Rückenwind für die Herausforderungen des Lebens. Mit jeder Ausgabe bringt LYDIA Inspiration und Ermutigung direkt vor Ihre Haustür!

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g a n z persönlich

Alligator verschluckt

Haben Sie schon mal Krokodilfleisch probiert? Ich habe diese Delikatesse gekostet. Meinen Geschmack trifft es nicht.

Als ich gestern eine Natursendung anschaute, erin-nerte ich mich an ein ungewöhnliches Foto: Aus einer vier Meter langen Pythonschlange ragte ein Alligator heraus. Die Schlange verspeiste regelmäßig Alligatoren in den Sümpfen Floridas. Diesmal hatte sie einen 1,80 Meter langen Alligator angegriffen und lebendig verschluckt. Doch der wehrte sich: Er biss oder riss sich einen Weg ins Freie. Dabei tötete er die Schlange buchstäblich von innen nach außen.

‚Dumme Schlange‘, dachte ich, ‚das hätte sie sich denken können!‘

Doch geht es uns nicht allen so, dass wir manchmal „Alligatoren“ verschlucken – im übertragenen Sinne? Wut, Groll und Bitterkeit können uns genauso von innen zerfressen!

Mir ging es 1984 so. Auch Ärzte machen Fehler und können irreparablen Schaden anrichten. So litt ich nach einer Fehlbehandlung unter schrecklichen Schmerzen. Ich bat Gott um Hilfe und ließ mich von den besten Medizinern beraten. Doch immer wieder hörte ich die Antwort: „Es tut uns leid, wir können nichts für Sie tun.“

Die Nächte waren am schlimmsten. Außer den kör-perlichen Schmerzen hielten mich quälende Fragen wach: ‚Warum bin ich dort hingegangen? Wie konnte das passieren?‘ Es fühlte sich an, als hätte ich einen Alligator verschluckt!

Eines Morgens las ich in der Bibel, wie Jesus am Kreuz sagte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Aber wie?

Dann kam der Tag der Begegnung. Ich traf die Frau des Arztes, die ihm assistiert hatte, im Supermarkt. Meine Füße waren wie gelähmt. Völlig erstarrt stand ich da.

„Vergib ihr!“, hörte ich eine leise Stimme in meinem Herzen. „Gib ihr das Geschenk der Vergebung, das ich dir auch gegeben habe.“

Alles in mir sträubte sich. „Ich habe im Gebet schon oft Worte der Vergebung ausgesprochen!“, warf ich ein. „Warum soll ich ihr das jetzt auch noch persön-lich sagen?“ Mein Herz schrie nach Gerechtigkeit und Rache. Wegen dieser beiden Menschen litt ich an

unglaublichen Schmerzen. Würde Vergebung meinen Schmerz nicht noch vergrößern?

„Gott, ich kann das nicht aus eigener Kraft. Bitte schenk mir deine. Vergib du ihnen durch mich.“

Auf einmal merkte ich, wie meine Hand sich der Frau entgegenstreckte.

„Ich vergebe Ihnen“, platzte es aus mir heraus. Sie sah mich überrascht an. Ihr Gesichtsausdruck blieb kühl, als würde sie sagen: „Jetzt machen Sie mal nicht so eine große Sache um diese Vergebung.“

Aber für mich war es eine große Sache! Als ich aus dem Supermarkt ging, liefen mir Tränen über die Wangen. Der innere Damm war gebrochen. Ich hatte den Alligator ausgespuckt. Der körperliche Schmerz änderte sich dadurch nicht, aber Stück für Stück heil-ten meine Gefühle. Immer wieder erinnerte ich mich selbst: „Die Rache ist nicht mein.“

Vielleicht denken Sie: ‚Huch, Elisabeth, das war aber eine Heldentat!‘ Nein, das glaube ich nicht. Ehrlich gesagt, war es sogar ein bisschen egoistisch. Indem ich vergab, habe ich selbst gewonnen. Ich bin den Monster-Alligator losgeworden, der mich von innen zerfressen wollte.

Heute – 26 Jahre später – spüre ich keinen Groll. Keine Spur. Nur die Erinnerung bleibt, wie eine Narbe. Leider sind die körperlichen Schmerzen nicht weg, aber ich hoffe, dass auch davon eines Tages nur eine Narbe zurückbleibt.

Ich wünschte, das wäre der letzte Alligator gewe-sen, den ich lebendig verspeist habe. Leider war es das nicht. Erst gestern passierte es mir wieder. „Warum hast du nicht aus der Vergangenheit gelernt?“, warf ich mir vor. Aber Warum-Fragen bringen mich nicht weiter. Viel wichtiger ist es, dass ich es merke und ihn schnell wieder loswerde. Am besten noch am selben Tag, bevor die Sonne untergeht.

In dieser Ausgabe lesen Sie viele bewegende Geschichten, wie Frauen mit ihren persönlichen „Alligatoren“ umgegangen sind. Ich hoffe, es wird Sie ermutigen, Ihr Monster auszuspucken, falls Sie zufäl-lig auch eins lebendig verschluckt haben!

Ihre

Elisabeth Mittelstädt

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A R T I K E L

Maike KraftTitelfoto: Jayne Jewell

www. lyd ia .net

Ein Herz für Haiti

Interview – Seite 6

6 Ein Herz für Haiti Interview mit Maike Kraft –ElisabethMittelstädt

12 Ehrlich gesagt Wie die Wahrheit ans Licht kommt, aber die Freundschaft nicht baden geht AnnetteSchmidt

15 Kritik? Ja bitte! Wie wir lernen können, mit Kritik umzugehen und daran zu wachsen Anne-MariaKreye

20 Gegen die Vergesslichkeit –SilviaKonstantinou

22 Im Käfig des Dünnseins – ConstanceRhodes

28 Königin Silvias Gebetbuch

30 Der Naomi-Faktor Lieben Sie die Ruth in Ihrem Leben? – KimberlyRuth

33 Der Schwiegermutter-Test –KarinBecker

38 Stress im Klassenzimmer So reagieren Sie auf die Stärken und Schwächen Ihres Kindes!

44 Diagnose Diabetes Glaubensmut, der meine Tochter „ganz normal“ weiterleben lässt KristaGerloff

46 Das Geschenk der Zugehörigkeit –JohnOrtberg

48 Geben Sie‘s weiter! Ihre irdische Geschichte hat ewigen Wert – RobertC.Crosby

52 Schnörkel der Rhetorik Wie Sie effektiv vom Glauben reden und unvergessliche Eindrücke hinterlassen – ElenaSchulte

56 Tal des Todes Im bosnischen Krieg fand ich die Tür der Hoffnung –EminaKoprivnjak

62 Ich liebe dich ... so wie du bist! Von verbummel-ten Socken und der Kunst, den anderen mit seinen Fehlern zu lieben – SabineMüller

64 Stürmische Zeiten in unserer Ehe JohnundStacyEldredge

Stürmische Zeiten in unserer Ehe Seite 64

I N H A L T

Kritik? Ja bitte! Seite 15

4 L y d i a 3 / 2 0 1 0

R U B R I K E N

Stress im KlassenzimmerSeite 38

Der Schwieger-mutter-Test Seite 33

3 Ganz persönlich Alligator verschluckt ElisabethMittelstädt

10 Im Blickpunkt Bücher und CDs

16 Meine Meinung Wie hat Kritik Ihnen geholfen zu wachsen?

18 Nachgefragt Ich bin so vergesslich!AnnemariePfeifer

26 Girl Talk Auf der anderen Seite ist das Gras immer grüner! – DebbieMarti

36 Unter uns Müttern Das Geheimnis der Seepferdchen–SaskiaBarthelmeß

46 Schmunzeln mit LYDIA

59 Liebe Leser

61 LYDIA Kreativ –ImkeJohannson

68 Meine Geschichte Bedingungslos geliebt Vom Perfektionismus in die Freiheit

AnetteHopf

72 Heilige heute Frauen wie wir • LYDIA und der Weg zum Himmel EstherKis • Gottes Schreib-tisch CarmenPohl• Meinen Rhythmus finden ChristianeHuß • Sieben Jahre GnadeIreneUnruh

76 Für Sie notiert Infos und Trends – wer und was

80 Briefe an LYDIA

81 Impressum

81 Sag mal, ... Fragen an Naomi

82 Nachgedacht Mitten im Leben MirjanaAngelina

84 Zu guter Letzt Große Dinge – MutterTeresa

I N H A L T

Geben Sie‘s weiter!Seite 48

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E l e n a S c h u l t e

Schnörkel der Rhetorik

Wie S ie e f fektiv vom Gl aube n red e n und unve rg es sl i che Eindr ücke h inte rl a s s e n

Schnörkel, Verzierungen und verrückte Hingucker sind aus meinem Leben nicht wegzudenken! In unserem Ess-

zimmer haben wir zum Beispiel eine Lampe, die komplett mit funkelnden Kristallen behängt ist. Eine grüne Ran-

kentapete ziert unser Schlafzimmer. In unserem Büro hängt ein türkisfarbener Druck einer Afrofrau, deren Haare

aus Sternen und Eiskristallen bestehen. Und so gibt es in jedem Raum etwas, das für manche nur ein Staubfänger

sein mag, für mich aber die Einmaligkeit und besondere Note unserer Wohnung ausmacht. Wenn ich mit Men-

schen über Jesus und den Glauben rede oder Vorträge halte, habe ich einen ähnlichen Anspruch: Ich möchte, dass

meine Sprache durch „Schnörkel“, „Verzierungen“ und „Hingucker“ (bzw. „Hinhörer“) einlädt, einen Moment zu

verweilen, interessiert aufzuhorchen und eine Vorstellung von dem zu bekommen, was mir wichtig ist.

Das habe ich von Jesus gelernt. Wenn er mit Menschen zusammen war und über Gott und die Welt lehrte, benutzte er Bilder aus ihrem Umfeld, Gleichnisse aus ihrem Alltag und

Geschichten, die es seinen Zuhörern erleichterten, ihm zu folgen und sich seine Worte einzuprägen. In Matthä-us 13,34 lesen wir: „Jesus benutzte stets Gleichnisse und Bilder, wenn er zu den Menschen sprach, er sprach nie zu ihnen, ohne solche Vergleiche zu verwenden.“

Darum sprach er über verlorene Schafe, wenn ihm Hir-ten gegenüberstanden; über das Menschenfischen, wenn er es mit Fischern zu tun hatte; über verlorene und wie-dergefundene Münzen, wenn Hausfrauen seinen Worten lauschten. Er ließ sich auf sein Gegenüber ein, kannte ihre Welt und nahm sich die nötige Zeit, um eine Atmosphä-re zu schaffen, in der seine Worte auf fruchtbaren Boden fallen konnten.

Wie schade, dass wir heute allzu oft denken, Anek-doten und Bilder hätten nur etwas in der Kinderstunde verloren! Dabei gilt das Gegenteil: Wir besitzen zwei

Gehirnhälften. Die linke ist verantwortlich für die Spra-che, für rationales Denken, für logisches und analytisches Vorgehen. Die rechte hingegen ist das Zentrum für alles Bildliche, für unser Vorstellungsvermögen, unsere Fanta-sie, Intuition und Kreativität. Je älter wir werden, desto mehr zielt alles nur noch auf unsere linke, logische Hirn-hälfte ab. Gelingt es mir aber als Redner, beide Hirnhälf-ten zu aktivieren und somit das ganze Gehirn anzuspre-chen – nämlich durch Informationen verbunden mit Geschichten, Zitaten, Körpersprache und bildhaftem Reden, eben mit „Schnörkeln“ –, wird sich meine Bot-schaft viel besser festsetzen, und die Zuhörer können sich besser daran erinnern.

Welche „Schnörkel“ können unsere Sprache bereichern und unser Reden einmalig und eindrucksvoll machen?

DekorationBevor unsere Tochter geboren wurde, haben wir unser

Büro renoviert, weil dies nun auch ihr Zimmer wer-den sollte. Zwei Wände strichen wir cremefarben, zwei

L e i t e r s c h a f t

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Wände schokoladenbraun. Es hatte Stil, wirkte für ein Kinderzimmer aber nicht sehr passend. Dann malte ich mit einem hellen Rosa eine große Ranke mit kleinen Blü-ten und Schmetterlingen auf eine der braunen Wände, und sogleich wurde das ganze Zimmer gemütlich, wohn-lich und einladend.

Was ist nun in einem Vortrag die „Dekoration“, die dem Hörer hilft, sich eingeladen, wohl und verstanden zu fühlen, sodass er gerne ein wenig „verweilt“?

Wenn ich vor Menschen rede, bin ich in erster Linie Brückenbauer: Ich möchte eine Verbindung zwischen den Hörern und dem Gesagten schaffen, Gedanken und Wahr-heiten in ihr Leben transportieren. Halte ich einen christ-lichen Vortrag, geht es noch ein Stück tiefer: Ich möchte, dass die Menschen neue Einsichten über Gott bekommen, vielleicht Dinge in ihrem Leben ändern, ermutigt werden oder einen Schritt weiter im Glauben geführt werden. Das ist eine sehr verantwortungsvolle und ehrenvolle Aufgabe.

Will ich eine Wohnung einrichten, frage ich mich: Wem soll sie gefallen? Wer wird hier wohnen? Will ich

einen Vortrag „einrichten“, muss ich mich gleichermaßen fragen: Wer wird ihn hören? Was braucht diese Person, um einen Zugang zu bekommen? Der erste Schritt ist also, sich bewusst zu machen, wen man vor sich hat. Hier gilt zum einen: Die Zuhörer sind wie ich: Ich will nicht gelangweilt, verletzt oder blamiert werden. Sie wollen es auch nicht. Zum anderen gilt aber auch: Sie sind anders als ich. Konkret muss ich mir die Frage stellen, was sie von mir unterscheidet. Was ist ihre Erlebenswelt? Mit wel-chen Erwartungen kommen sie? Was könnte sie abschre-cken, verärgern, überfordern, enttäuschen?

Es gibt verschiedene inhaltliche Mittel, um es den Zuhörern zu erleichtern, dem Redner zuzuhören und einen Zugang zum Thema zu bekommen:

- Kopfkino. Mit Geschichten, Vergleichen und Beispie-len kann ich bewirken, dass sich in der Fantasie des Zuhö-rers ein Film abspielt, der ihm eine Vorstellung von dem gibt, um das es geht.

Wenn Jesus mit Menschen zusammen war und über Gott und die Welt lehrte, benutzte er Bilder, Gleichnisse und Geschichten, die es seinen Zuhörern erleichterten, sich seine Worte einzuprägen.

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- Bezugnahmen auf das Umfeld. Ich kann auf bestimmte Personen, Ereignisse oder Feste eingehen, die im Leben meiner Zuhörer eine Rolle spielen. Dies signalisiert echtes Interesse und öffnet Ohren und Her-zen ungemein.

- Transparenz. Ich kann in mein eigenes Leben hineinschauen lassen und so eine Verbindung zwischen meinen Zuhörern und mir schaffen und mich gewisserma-ßen „entthronen“. Denn als Redner kann es leicht passieren, dass ich den Eindruck vermittle, vieles bereits verstanden zu haben und umzusetzen, was mich ein Stück weit unnahbar und übermenschlich werden lässt. Stehe ich aber ehrlich dazu, dass ich auch noch Fragen, Sorgen und Probleme habe, bin ich wieder auf Augenhöhe mit meinen Zuhörern.

- Humor. Mit humorvollen Anmerkungen kann ich auflockern und überraschen, sodass das gemeinsame Lachen eine Atmosphäre schafft, in der man auch über ernste Dinge nachdenken kann. Achtung: Humor sollte gut vorbereitet sein, denn sonst besteht die Gefahr, plump zu sein oder in ein Fettnäpf-chen zu treten.

HinguckerIn unserem Wohnzimmer gibt es eine

besondere Lampe. Es handelt sich dabei um eine große runde Reispapierlampe, die an einer Art überdimensionalen Angel befes-tigt ist und mitten in den Raum hineinragt. Ich glaube, es hat noch nie jemand unser Wohnzimmer betreten, der nicht ein Wort über diese Lampe verloren hat. Sie ist ein-fach ein Hingucker und weckt Interesse.

Auch diese Möglichkeit des Interessewe-ckens haben wir in Vorträgen. Sehr wichtig ist es an dieser Stelle, Identifikationsflä-chen zu schaffen. Wenn ich eine biblische Geschichte erzähle und dem Zuhörer dabei vermitteln kann, dass er und eine Person in der Geschichte gar nicht so verschieden sind, ist viel gewonnen. Je größer die Nähe zum Leben des Zuhörers ist, umso leichter fällt es ihm, interessiert zu sein und sich verstanden zu fühlen. Es ist eine Art Klett-verschlussprinzip: Die eine Hälfte habe ich, indem ich die Geschichte lebensnah und bildhaft erzähle. Die andere Hälfte hat der Zuhörer, indem er Gedanken denkt wie ‚Der ist ja genau wie ich‘ oder ‚So soll es mir auch mal gehen‘ oder ‚So soll es mir nie gehen‘.

Ein gutes Prüfkriterium für die Qualität meiner Rede ist, ob ich als Redner selbst

betroffen, emotional berührt und hinein-genommen bin. Merke ich, dass mir das Thema oder die Geschichte selbst nahegeht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch meine Zuhörer so empfinden werden.

WagnisseManchmal muss man etwas wagen,

um ungewöhnliche Ergebnisse zu erzie-len. Wir hatten vor, das Weiß in unserem Flur mit einem Farbstreifen aufzulockern. Eines Nachmittags kam mir die Idee, keine gewöhnliche Farbe zu nehmen, sondern Hochglanzlack in Pink. Ich konnte meinen Mann tatsächlich von dieser Idee über-zeugen, und jetzt ziert ein pinkfarbener Lackstreifen unseren Flur und gibt ihm die besondere Note!

Auch in einem Vortrag kann man unge-wöhnliche Wege gehen. Zum Beispiel:

- Die Perspektive wechseln. Wir können die Geschichte des reichen Jünglings aus der

Sicht des reichen Jünglings erzählen. Oder die Geschichte von der Speisung der Fünftau-send aus der Sicht des kleinen Jungen, der sein Lunchpaket spendet. Bekannte Geschichten bekommen auf diese Weise einen neuen Reiz und laden ein, ihnen noch einmal ganz anders Aufmerksamkeit zu schenken.

- Spekulieren. Was wäre wohl passiert, wenn Maria sich nicht zur Verfügung gestellt hätte, Jesus zu empfangen? Oder wenn Jesus am Teich Betesda alle Kranken geheilt hätte? Sicher darf man auf solchen Spekulationen keine geistlichen Wahr-heiten aufbauen, aber es kann uns helfen, Dinge besser zu verstehen, wenn wir uns das Gegenteil ausmalen.

- Sinne nutzen. Wir sind ein Wohlge-ruch Gottes. Warum nicht diese Wahrheit anhand eines verschwitzten T-Shirts und eines gut riechenden Parfüms verdeutli-

chen? Wir sind das Salz der Erde. Wer das hört und sich gleichzeitig ein paar Salzkör-ner auf der Zunge zergehen lässt, bekommt einen ganz anderen Bezug zum Gesagten.

- Erlebnisse einbauen. Gibt es ein anschau-licheres Beispiel, als eine Person auf der Bühne zu fesseln, wenn es um das Thema Freiheit geht? Was wird diese über Jesus ler-nen, wenn sie hört, dass Jesus gekommen ist, um sie zu befreien, und gleichzeitig spürt, wie ihre ganz realen Fesseln abgenommen werden?

Es gibt noch viele weitere „Schnörkel“, die dazu beitragen, dass Menschen gerne zuhö-ren, einen Bezug zum Gesagten bekommen, es verinnerlichen und ihr Leben dahinge-hend verändern.

Vorsicht: Nicht überladen!Manchmal betrete ich eine Wohnung

und jedes einzelne Detail für sich ist viel-leicht nett, aber die Fülle der Dekorations-

gegenstände überfordert und erschlägt den Betrachter. Der Effekt: Man fühlt sich nicht wohl und kann sich schlecht konzentrieren.

Das Gleiche kann in einem Vortrag pas-sieren. Ich habe Vorträge gehört, die von tol-len Beispielen nur so glänzten, aber am Ende wusste ich nur noch die Beispiele – nicht mehr, was sie verdeutlichen sollten.

Darum ist eine ganz wichtige Regel: Jedes Beispiel sollten wir anhand des Zielgedan-kens prüfen. Wenn es uns dem Ziel einen Schritt näher bringt, ist es gut. Wenn es nicht wirklich passt: Weglassen! Außerdem gilt: Lieber ein oder zwei gute Beispiele, die sich wie ein roter Faden durch die Rede zie-hen, als fünfzehn, die nichts miteinander zu tun haben und am Ende nur verwirren.

Ich habe auch Vorträge gehört, bei denen ich den Eindruck hatte, dass ich am Ende wirklich viel über den Redner gelernt habe

Wir reden, damit andere hören glauben, annehmen und handeln.

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– aber wenig über Jesus. Ein Redner darf sich zum Beispiel machen, nicht aber zum Thema!

UmwegeVielleicht habe ich auch Angst, auf den

Punkt zu kommen, und rede lieber noch ein bisschen um den heißen Brei herum? Manches Thema ist sicher etwas heikel und es ist nicht immer leicht, den Bezug zu Gott herzustellen oder Antworten zu liefern. Hierzu zwei Hilfestellungen:

- Gott hat uns dazu berufen, über ihn zu sprechen. Wir sind seine Zeugen, aber nicht seine Anwälte. Darum dürfen wir Fragen offenlassen, wo wir selbst noch keine Ant-worten gefunden haben. Das ist viel glaub-hafter als hohle Worte, die mit der Realität wenig zu tun haben. Manchmal sind wir auch um unsere Ehre besorgt. Um die geht es allerdings nicht – sondern um Gottes Ehre. Darum brauchen wir uns für seine Wahrheit nicht zu schämen und kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

- Wenn wir merken, dass ein Thema nicht zu uns passt, dürfen wir auch Nein sagen. Es gibt auch noch andere Redner! Ich habe in meinem Leben zum Beispiel noch kein großes Leid erfahren. Darum lasse ich mich zu diesem Thema nicht einladen, denn ich könnte allenfalls aus der Theorie sprechen. Dies wäre unfair gegenüber den Menschen, die Schlimmes erlitten haben und sich wahres Verständnis und Hilfestellung aus der Praxis wünschen.

ZiellosigkeitBei manchen Rednern habe ich das

Gefühl, sie reden um des Redens willen. Das ist ganz und gar nicht im Sinne der Rhetorik, die per Definition die Lehre vom richtigen und wirkungsvollen Reden ist. Gute Rhe-torik legt den Schwerpunkt nicht darauf, dass etwas gesagt wird, sondern darauf, was das Gesagte beim Hörer erreichen soll. Es geht um mehr als nur um unseren Vortrag. Wir reden, damit andere hören, glauben, annehmen und handeln. Im besten Fall heißt das, dass Menschen mit Gott in Ver-bindung kommen, ihr Leben in seine Hand legen und ihr Handeln nach ihm ausrichten. Diesem Ziel möchte ich jedes Wort meines Sprechens unterordnen.

Elena Schulte ist Evangelistin beim Missi-onswerk Neues Leben.

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