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Vom Ticker Petersburger Wis- senschaſtler testen Aids-Impfstoff am Menschen eva./rian.- An der Peters- burger Pawlow-Universität haben Wissenschaftler damit begonnen, einen Impfstoff gegen den Aids-Virus an Menschen zu testen, schreibt Fontanka.ru. Bisher wurde das Medikament nur in Tierversuchen erprobt, und nun ist man dazu überge- gangen es an gesunden Freiwilligen zu testen. Diese ersten Tests am Menschen sollen sicherstellen, welche Nebenwirkungen der Im- pfstoff beim menschlichen Organismus hervorruft. Es sei noch verfrüht, von einem Durchbruch zu sprechen, be- tonen die Forscher. Vorläufig könne der Impfstoff lediglich die Widerstandsfähigkeit des Imunsystems gegenüber dem HIV erhöhen, aber noch kei- ne Erkrankung verhindern. Mehr als ein Prozent der Ein- wohner Russlands sind HIV- infiziert. Die Zahl der AIDS- Kranken steigt ständig. Das geht aus einem Bericht des HIV/AIDS-Programms der Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hervor. Während die UNO-Experten weltweit ei- nen Rückgang neuer HIV- Fälle verzeichnen, wachsen diese Zahlen in Osteuropa und Zentralasien weiter. Laut dem Bericht wird die Infektion in Russland hauptsächlich über Drogen- abhängige verbreitet: Rund 37 Prozent der 1,8 Millionen Drogenabhängigen sind HIV-infiziert. Das russlanddeutsche Folklore-Ensemble “Lo- relei” singt viele deutsche Lieder, die man in ihrer Heimat längst verges- sen hat oder nicht mehr singen darf. Die fidele Truppe entdeckt viele Melodien und Interpre- ten neu – unter ihnen Lale Andersons legendäre “Lili Marleen”. Von Eugen von Arb Zugegeben, wer den Namen “Lorelei” hört, denkt im er- sten Moment an ein braves Feld-Wald-und-Wiesen- Chörchen, das sein Publi- kum mit seinem “deutschen Liedgut” brav schunkelnd in den Schlaf wiegt. Aber diese Folklore-Truppe ist ganz anders: Deutsche Me- lodien, von temperament- vollen Russinnen mit char- mantem Akzent gesungen und begleitet von Geige und “Garmoschka”, werden zu lebendiger Kultur vol- ler Farbe und Frische. Der siebenköpfige Frauenchor haut sein Publikum buch- stäblich aus den Socken. Der Geist, der in diesem Kollektiv steckt, wird ein- deutig von seiner Gründer- in Natalia Petrovna Kraub- ner geprägt. Stolz und begeistert kündet sie jedes Lied an, und zu jedem hat sie eine Geschichte zu er- zählen – kein Wunder, hat sie doch alle selbst entdeckt und die meisten von ihnen eigenhändig ins Russische übersetzt. Zu Beginn der Neunzi- gerjahre als es noch kein Internet gab, waren Noten und Texte deutscher Volks- lieder in Petersburg kaum aufzutreiben, sie waren ver- schüttet wie alles Deutsche in Russland. Mit jedem der Lieder – so hat man das Ge- fühl – hat Natalia Kraubner einen Teil von sich selbst entdeckt. >>> Fortsetzung des Artikels auf S.3 Ensemble “Lorelei” - rassige deutsche Folklore mit russischem Akzent Reissen ihr Publikum mit ihrem Temperament mit: die “Lorelei”-Frauen. Bild: Eugen von Arb Stadtnachrichten S. 2 >>> Krawalle während Zenit-Siegesfeier Petersbürgerin S. 4 >>> Afro-Petersbürgerin Justine Da Costa Kultur S. 7 >>> CH-Strassenkünstlerin Barbara Streiff in Piter Wirtschaſt S. 9 >>> Germanwings stellt Peterburger Flüge ein Nachbarn S. 10 >>> Schengen-Grenze: dich- ter oder durchlässiger? www.spzeitung.ru Die deutschsprachige Zeitung zum Leben in Piter Hinter verschlossenen Türen feierte eine aus- gesuchte Gästeschar die Eröffnung von Stock- manns gigantischem Einkaufszentrum am Newski Prospekt. eva.- Unter den Geladenen im “Newski Zentr” befan- den sich der Petersburger Vizegouverneur Michail Osejewski, die finnische Premierministerin Mari Johanna Kiviniemi sowie der Stockmann-Generaldi- rektor Hannu Penttilä. Das siebenstöckige Zentrum, für dessen Bau 2006 ein ganzer historischer Häuserblock an der Ecke Newski-Prospekt/ Uliza Vostania abgerissen worden war, ist die grösste Stockmann-Filiale in Russ- land und das zweitgrösste weltweit. Es besitzt eine Ge- samtfläche von 98.000 Qua- dratmetern, wovon Stock- mann auf fünf Etagen rund einen Fünſtel beansprucht. Unter den Geschäſten fin- den sich Filialen von Dior, Shiseido, H&M, Vero Moda, Jack&Jones, sowie Lindex und Seppälä, die zum Stock- mann-Konzern gehören, schreibt Fontanka.ru. Ins- gesamt sind 14 Restaurants und Cafés in dem Komplex untergebracht, darunter das Dachrestaurant “Moskwa” im sechsten Stock, das zur Ginza Project-Gruppe ge- hört. Der Bau kostete rund 185 Millionen Euro – die nächste Stockmann-Filiale soll 2011 in Jekaterinburg öff- nen. Der Stockmann-Bau hatte einen denkmalschüt- zerischen Skandal ausgelöst, als ersichtlich wurde, dass auf das historisch kaschierte Gebäude weitere dreiver- glaste Etagen aufgesetzt wor- den waren. Trotz Protesten wurde der Bau der vollendet, wobei das Bewilligungsver- fahren bisher unklar blieb. Neben der weit überschrit- tenen Höhe wurden auch die Arkaden im Erdgeschoss kritisiert, die nicht der his- torischen Vorlage des Bau entsprechen. Umstrittener Stockmann-Gigant klamheimlich eröffnet “Originalgetreue Rekonstruktion mit Beton-Glas-Aufsatz: das Newski-Center von Stockmann. Bild: Eugen von Arb November 2010 (Nr. 21) Bewirkt vorerst nur Stär- kung des Immunsystems: der russische HIV-Impfstoff. Bild: Wikimedia Commons

Zenit-Siegesfeier Barbara Streiff in Piter Vom Ticker ... file“Lorelei” hört, denkt im er-sten Moment an ein braves Feld-Wald-und-Wiesen-Chörchen, das sein Publi-kum mit seinem

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Vom TickerPetersburger Wis-senschaftler testen Aids-Impfstoff am

Menschen

eva./rian.- An der Peters-burger Pawlow-Universität haben Wissenschaftler damit begonnen, einen Impfstoff gegen den Aids-Virus an Menschen zu testen, schreibt Fontanka.ru. Bisher wurde das Medikament nur in Tierversuchen erprobt, und nun ist man dazu überge-gangen es an gesunden Freiwilligen zu testen. Diese ersten Tests am Menschen sollen sicherstellen, welche Nebenwirkungen der Im-pfstoff beim menschlichen Organismus hervorruft. Es sei noch verfrüht, von einem Durchbruch zu sprechen, be-tonen die Forscher. Vorläufig könne der Impfstoff lediglich die Widerstandsfähigkeit des Imunsystems gegenüber dem HIV erhöhen, aber noch kei- ne Erkrankung verhindern. Mehr als ein Prozent der Ein-wohner Russlands sind HIV-infiziert. Die Zahl der AIDS-Kranken steigt ständig. Das geht aus einem Bericht des HIV/AIDS-Programms der Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hervor. Während die UNO-Experten weltweit ei- nen Rückgang neuer HIV-Fälle verzeichnen, wachsen diese Zahlen in Osteuropa und Zentralasien weiter. Laut dem Bericht wird die Infektion in Russland hauptsächlich über Drogen-abhängige verbreitet: Rund 37 Prozent der 1,8 Millionen Drogenabhängigen sind HIV-infiziert.

Das russlanddeutsche Folklore-Ensemble “Lo-relei” singt viele deutsche Lieder, die man in ihrer Heimat längst verges-sen hat oder nicht mehr singen darf. Die fidele Truppe entdeckt viele Melodien und Interpre-ten neu – unter ihnen Lale Andersons legendäre “Lili Marleen”.

Von Eugen von ArbZugegeben, wer den Namen “Lorelei” hört, denkt im er-sten Moment an ein braves Feld-Wald-und-Wiesen-Chörchen, das sein Publi-kum mit seinem “deutschen Liedgut” brav schunkelnd in den Schlaf wiegt. Aber diese Folklore-Truppe ist ganz anders: Deutsche Me-lodien, von temperament-vollen Russinnen mit char-mantem Akzent gesungen und begleitet von Geige und “Garmoschka”, werden

zu lebendiger Kultur vol-ler Farbe und Frische. Der siebenköpfige Frauenchor haut sein Publikum buch-stäblich aus den Socken.Der Geist, der in diesem Kollektiv steckt, wird ein-deutig von seiner Gründer-in Natalia Petrovna Kraub-ner geprägt. Stolz und begeistert kündet sie jedes

Lied an, und zu jedem hat sie eine Geschichte zu er-zählen – kein Wunder, hat sie doch alle selbst entdeckt und die meisten von ihnen eigenhändig ins Russische übersetzt.Zu Beginn der Neunzi-gerjahre als es noch kein Internet gab, waren Noten und Texte deutscher Volks-

lieder in Petersburg kaum aufzutreiben, sie waren ver-schüttet wie alles Deutsche in Russland. Mit jedem der Lieder – so hat man das Ge-fühl – hat Natalia Kraubner einen Teil von sich selbst entdeckt.

>>> Fortsetzung desArtikels auf S.3

Ensemble “Lorelei” - rassige deutsche Folklore mit russischem Akzent

Reissen ihr Publikum mit ihrem Temperament mit: die “Lorelei”-Frauen. Bild: Eugen von Arb

Stadtnachrichten S. 2 >>>Krawalle während Zenit-Siegesfeier

Petersbürgerin S. 4 >>>Afro-PetersbürgerinJustine Da Costa

Kultur S. 7 >>>CH-StrassenkünstlerinBarbara Streiff in Piter

Wirtschaft S. 9 >>>Germanwings stelltPeterburger Flüge ein

Nachbarn S. 10 >>>Schengen-Grenze: dich-ter oder durchlässiger?

www.spzeitung.ruDie deutschsprachige Zeitung zum Leben in Piter

Hinter verschlossenen Türen feierte eine aus-gesuchte Gästeschar die Eröffnung von Stock-manns gigantischem Einkaufszentrum am Newski Prospekt.

eva.- Unter den Geladenen im “Newski Zentr” befan-den sich der Petersburger Vizegouverneur Michail Osejewski, die finnische Premierministerin Mari Johanna Kiviniemi sowie der Stockmann-Generaldi-rektor Hannu Penttilä. Das siebenstöckige Zentrum, für dessen Bau 2006 ein ganzer historischer Häuserblock an der Ecke Newski-Prospekt/ Uliza Vostania abgerissen

worden war, ist die grösste Stockmann-Filiale in Russ- land und das zweitgrösste weltweit. Es besitzt eine Ge-samtfläche von 98.000 Qua-dratmetern, wovon Stock-mann auf fünf Etagen rund einen Fünftel beansprucht. Unter den Geschäften fin-den sich Filialen von Dior, Shiseido, H&M, Vero Moda, Jack&Jones, sowie Lindex und Seppälä, die zum Stock-mann-Konzern gehören, schreibt Fontanka.ru. Ins-gesamt sind 14 Restaurants und Cafés in dem Komplex untergebracht, darunter das Dachrestaurant “Moskwa” im sechsten Stock, das zur Ginza Project-Gruppe ge-hört. Der Bau kostete rund

185 Millionen Euro – die nächste Stockmann-Filiale soll 2011 in Jekaterinburg öff- nen. Der Stockmann-Bau hatte einen denkmalschüt-zerischen Skandal ausgelöst, als ersichtlich wurde, dass auf das historisch kaschierte Gebäude weitere dreiver-glaste Etagen aufgesetzt wor-

den waren. Trotz Protesten wurde der Bau der vollendet, wobei das Bewilligungsver-fahren bisher unklar blieb. Neben der weit überschrit-tenen Höhe wurden auch die Arkaden im Erdgeschoss kritisiert, die nicht der his-torischen Vorlage des Bau entsprechen.

Umstrittener Stockmann-Gigant klamheimlich eröffnet

“Originalgetreue Rekonstruktion mit Beton-Glas-Aufsatz: das Newski-Center von Stockmann. Bild: Eugen von Arb

November 2010 (Nr. 21)

Bewirkt vorerst nur Stär-kung des Immunsystems: der russische HIV-Impfstoff.Bild: Wikimedia Commons

Stadtnachrichten Seite 2

Am 11. November wurde in St. Petersburg das Fest des Heiligen Martin gefeiert, welches gemeinsam von der Deutschen Evangelisch- Lutherischen Kirche, der Römisch- Katholischen Kirche, der Deutschen Schule und dem Deutsch-Russischen Begegnungszentrum (DRB) veranstaltet wurde. Über 200 Men-schen fanden sich dazu in der Petrikirche am Newskij Prospekt ein, um mit leuchtenden Laternen daran teilzunehmen. Text Viktorija Schäfer, Bild: Bild: Alexander Beierbach

St. Martinstag in St. Petersburg

Mit Verletzten Zenit-Fans und Polizisten, Verhaftungen, Trot-toirs voller Glassplitter und zertrümmerten Bushaltestellen endete die wilde Feier auf dem Newski-Prospekt nach dem Meisterschaftssieg von Zenit am 14. No-vember.

eva.- Dank einem souverä-nen 5:0-Sieg gegen die Mann-schaft von Rostow eroberte die Petersburger Mannschaft unter Trainer Luciano Spal-letti den russischen Meis-tertitel und ist damit für die Champions-League-Grup-penphase 2011/2012 qualifi-ziert.Die Zenit-Fans im Petrow-ski-Stadion gerieten bereits ab dem ersten Tor in Rage und begannen kurz vor Spiel-schluss, die Absperrungen zu durchbrechen. Der grösste Teil der feiernden Fans sam-melte sich später beim Gos-tiny Dwor und setzte sich laut singen und skandierend,

aber weitgehend friedlich in Richtung Ploschad Vos-tanii in Marsch, schreibt Fontanka.ru. Erst bei der Hausnummer 57 kam es zu Zusammenstössen der un-gefähr 500-Personen gros-sen Menge mit der Polizei, als die Fans auf die Strasse strömten.Die ersten harten Auseinan-dersetzungen ereigneten sich in der Seitenstrasse Malaja Sadowaja beim Dom Radio, als Fans begannen Omon-Sonderpolizisten mit Pe-tarden und Flaschen zu be-werfen. Da die Polizei in der Unterzahl war, zog sie sich zurück, schoss jedoch laut

Augenzeugen Tränengas in die Menge.Als die Masse jedoch auf den Newski-Prospekt hinaus-strömte, geriet die Situation ausser Kontrolle, wobei sch-wer zu sagen ist, wer die Es-kalation auslöste.Die vorbeifahrenden Au-tofahrer reagierten zwar durchaus freundschaftlich hupend auf die “Verkehrs-störung”, doch die Polizei beschloss, die Fangruppe auf der Höhe des Singerhauses zu stoppen, was ihr teilweise gelang, weil ein Teil der Leute aus Angst vor der prügelnden Polzei flüchtete.Etwas weiter unten auf der

Höhe der Kasanskaja Uliza ging es nochmals hart auf hart – zwei Polizisten gerie-ten in die blauweisse Masse und erhielten Schläge.Einer der beiden musste mit blutüberströmtem Kopf ins Krankenhaus gebracht wer-den. Danach beruhigte sich die Situation zunehmend – verletzte Fans wurden in Ambulanzen behandelt.Die Polizei bestätigte bisher die Nachrichten über die Krawalle nicht, und mitt- lerweile wird vermutet, dass dies mit einer weiteren “Schlacht” in der Unterfüh-rung beim “Gostiny Dwor” zusammen hängt, bei der eine Gruppe von Fans ohne provoziert zu haben, von Polizisten eingekesselt und verprügelt wurde.Einem Journalisten, der die Szene filmte, nahm man bei der Verhaftung die Karte aus Kamera und löschte sämt-liche Dateien. Fontanka.ru gelang es jedoch, ein Teil der Aufnahmen wieder herzu- stellen.

Krawalle während Zenit-Siegesfeier

Zenit-Fans im Siegestaumel. Bild: www.fc-zenit.ru

Ein Jahr nachAnschlag auf

Newski-Express: Wieder Bombe am

Gleis entdeckt

rian.- Ein Jahr nach dem Sprengs to ffansch lag auf den Schnellzug Newski-Express ist im Raum Sankt Petersburg wieder eine Bombe auf den Gleisen entdeckt worden. Ein Sprengsatz der Marke Eigenbau sei zwischen Werewo und Gatschina gefunden worden, erfuhr RIA No-vosti von den Ermitt- lungsbehörden. Nach den jüngsten Erkennt-nissen war die Bombe nicht stark genug, um Gleise zu zerstören.Dennoch mussten viele Züge umgeleitet werden. Nachdem Sprengstoffexperten die Sprengladung abmon-tiert und in sicherer Entfernung vernichtet hatten, wurde die be-troffene Strecke wie-der für den Verkehr freigegeben.Am 27. November 2009 war der von Moskau nach Sankt Petersburg fahrende Schnellzug “Newski-Express” mit 682 Insassen bei vol-ler Fahrt über eine Sprengladung gerollt und zum Teil entgleist. Dabei kamen 28 Men-schen ums Leben, mehr als 90 erlitten Verlet-zungen.Der Bombenanschlag nach offizieller Version von einer Terroristen-Bande verübt. Chef der Bande soll der Top-Ter-rorist Said Burjatski gewesen sein, der bei einer Polizeiaktion in Inguschetien ums Le- ben kam.

Die Sprengkraft der Bombe reichte nicht aus für die Zerstörung der Geleise.Bild: Wikimedia Commons

November 2010 (Nr. 21)

Schwerpunkt Seite 3>>> Fortsetzung von S.1 “Ensemble Lorelei - ras-sige deutsche Folklore mit russischem Akzent”.

Kraubners Vergangen-heit ist typisch für eine Russlanddeutsche: Ihre Grosseltern stammten aus der russlanddeutschen Kolonie Strelna, südlich von Petersburg. Obschon die Kolonie sich der Kol-lektivierung durch die Bolschewisten nicht wi-dersetzte, geriet sie in die Mühlen der Geschichte. In einer ersten Welle wur-den ab 1929 die “Kulaken” (Grossbauern) verhaftet, und ab 1936 rollte die zweite Terrorwelle über die Siedlung hinweg.

Die deutsche Sprache nur per Radio gehörtKraubners Familie wurde in die 1934 gegründete Siedlung Montschegorsk auf der Kola-Halbinsel südlich von Murmansk deportiert und arbei- tete im Nickel-Abbau. Ihr Grossvater Filipp Iwan-owitsch Kraubner wurde 1938 verhaftet und später erschossen – es galt, alles Deutsche zu verstecken und zu vergessen, um zu überleben. “Ich lernte kein Deutsch – ich bekam es höchstens ab und zu im Flüsterton zu hören oder am finnischen Radio, das in Grenznähe zu empfan-gen war und manchmal deutsche Lieder sendete”, erzählt sie.Dank ihrer Musikalität konnte sie eine Musik-schule absolvieren, später kam sie als Chemiestuden-tin nach Leningrad, wo sie bis zu ihrer Pensionierung in der Rüstungsindustrie arbeitet. Ihr Leben verlief, ohne dass sie mit der deut-schen Kultur in Kontakt kam.Doch mit der Perestroika erhielt sie die Gelegen-heit, die Zeit noch einmal zurück zu drehen und ihre deutschen Wurzeln zu entdecken. In der lu-

theranischen Kirche in Puschkin liess sie sich konfirmieren, und seit 1993 nimmt sie aktiv am Leben des neu gegrün-deten deutsch-russischen Begegnungszentrums an der Petrikirche teil. “Nach meiner Pensionierung er-hielt ich die Gelegenheit, mich endlich mit jenen Dingen zu beschäftigen, die mich interessieren”, erklärt Kraubner zufrie-den. Dazu gehören der “Lorelei”-Chor und ihre ehrenamtliche Arbeit als Kinderbetreuerin für die Diakonie an der Pe-trischule. Ihr Sohn lebt in Deutschland, und bei ihren Aufenthalten kauft sie an Noten, was sie krie-

gen kann. So singt der Lorelei-Chor an Festtagen des Begegnungszentrums, an kirchlichen Feiertagen oder an Folklore-Festivals. Dieses Jahr belegte das Ensemble am estnischen Folklore-Festival den er-sten Platz.“Oh du lieber Augustin” – “Die güldne Sonne” – “In einem kühlen Grunde”… Im ersten Moment fällt niemandem das ausserge-wöhnliche Repertoire der Russlanddeutschen auf.Spätestens, wenn die hei-teren Frauenstimmen zu den Ohrwürmern “Die Kleine Kneipe in unserer Strasse” oder “Zeig mir den Platz an der Sonne” übergehen, bemerkt man,

dass der Chor keine Gren-zen zwischen E-, U-Mu-sik oder “Schlagerkitsch” kennt. Die Frauen singen eben einfach, was ihnen und ihrem Publikum Spass macht. Der Chor hat mittlerweile seine vierte CD veröffentlicht

Spass hört an der Grenze zur Politkorrektheit aufDass der Spass in der deut-schen Musikwelt jedoch an der Grenze zur Politkor-rektheit aufhört, musste Kraubner bei ihrer Lieder-suche feststellen. “Als mir ein Priester der Petrikir-che bei der Beschaffung von Noten half, klärte er mich auf, dass einige der populärsten deutschen

Volkslieder nicht mehr gesungen werden dürfen, weil sie bei den Soldaten der Wehrmacht beliebt waren – zum Beispiel “Eri-ka” oder “Ein Blümlein auf der Heide” . “Aber ihr Russlanddeutschen habt überhaupt nichts damit zu tun – darum dürft ihr diese Lieder auch singen”, erklärte er ihr.Eines der “belasteten” Lie-der ist mittlerweile zu ei-nem echten Hit des Lorel-ei-Chors geworden: “Lied eines Wachpostens” – oder “Lili Marleen”. Die Sopra-nistin Natalia Schmidt singt es regelmässig an Konzerten und hat einen Riesenerfolg damit.Das Lied wurde ab 1941 vom Soldatensender Bel-grad ausgestrahlt und an allen Fronten gehört. Der Radiosender wurde über-schwemmt mit Postkarten, die wünschten, Lili Mar-leen im Wunschkonzert zu spielen. Als die Platte 1942 auf Befehl Goebbels vorübergehend aus dem Programm genommen wurde, hagelte es Proteste von der Front.

“Lili Marlen warkein Kriegslied”“Goebbels konnte es nicht ausstehen, weil es kein Kriegslied war, sondern die Soldaten an ihre Frauen und Freundinnen dachten, wenn sie es hörten”, meint dazu Kraubner. Schliesslich wurde es jeweils einmal täg-lich zum Sendeschluss ge-spielt – und wurde als Gute-Nacht-Lied bei Freund und Feind zur Legende.Natalia Kraubner gefiel das Lied, und sie begann nach seiner Geschichte zu forschen. Dabei fand sie heraus, dass es zwar einen russischen Liedtext von Jos-sip Brodsky aus den Vierzi-gerjahren gibt, doch stimmt dieser überhaupt nicht mit dem deutschen Original überein. Darum erstellte sie eine neue Version, die das Folklore-Ensemble bei sei-nen Auftritten verwendet.

Hahn im Korb - zum Frauenchor von Natalia Kraubner (links aussen) gesellen sich ab und zu auch männliche Stimmen. Bild: Eugen von Arb/SPB-Herold

November 2010 (Nr. 21)

Hat Lale Andersens Hit “Lili Marleen” zu neuem Leben erweckt: die “Lorelei”-Solistin Nata-lia Schmidt. Bild: Eugen von Arb/SPB-Herold

Fotogalerie Seite 4

Boris Smelow - Leningrader “Stadtstreicher” mit Kamera

November 2010 (Nr. 21)

Boris Smelows foto-grafierte jenes Peters-burg, das einmal Le-ningrad hiess. Seine poetischen Schwarz- weiss-Aufnahmen of-fenbaren eine Welt, die es nicht mehr gibt.

eva.- Das Städtische Skulp-turenmuseum zeigt bis am 15. Dezember eine weitere Ausstellung der Peters-burger Fotografenlegende Boris Smelow. Seine poeti-schen Schwarzweissbilder spiegeln die Untergrund-kultur und das Alltagsle-ben in den Strassen und Hinterhöfen in einer Zeit

als Petersburg noch Le-ningrad war.

Fotograf derSowjet-BohèmeBoris Smelow (1951-1998) porträtierte die Künstle-rinnen und Künstler der Leningrader Untergrunds-zene und gehörte selbst zu ihnen. Seine Person und sein Schaffen wurden erst in den Neunzigerjahren in grossem Stil ausgestellt und publiziert, denn seine Motive und Perspektve passten in keiner Hinsicht in die optimistisch-sozre-alistischen Schablone der offiziellen Sowjetkunst.

Das heisst aber keines-wegs, dass seine Fotogra-fie pessimistisch ist – im Gegenteil gab er seiner Stadt ein poetisch-ro-mantisches Gesicht, das dem Paris eines Dois-neau in nichts nachsteht. Seine Szenen sowjetischer Beschauligkeit und die neblig-grauen oder hart konstrastierenden Stadt-landschaften bestechen durch ihre Rauheit.

Blick hinter die KulissenSmelow blickt hinter die verführenden Kulissen der “Kulturhauptstadt”, anstelle arrangierter

Schönheit wirken Zufall und Spontaneität. Die Ka-mera ist immer dabei, sie liegt auf dem Küchentisch und neben dem Bett, sie wird auf jedem Spazier-gang, während mitgetra-gen. Fotografie ist nicht Projekt mit Anfang, Ende und Ziel, sondern das Le-ben selbst ohne Grenzen zwischen Beruf und Pri-vatleben.

Werk auf viele Privat-sammlungen verstreutEntsprechend seiner un-steten Biografie wurde auch Smelows Schaffen auf eine Vielzahl von Samm-

lungen verstreut. Nach ei-ner umfassenden Ausstel-lung in der Eremitage und in der Galerie “Borey” präsentiert nun das Städ-tische Skulpturenmuseum einen weiteren Ausschnitt von Smelows Werk aus den Siebziger- Achtziger- und Neunzigerjahren.

Bis am 15. Dezember im Ausstellungssaal des städtischen Skulpturenmu-seums, Newski Prospekt 179/2. Eintritt 50-100 Rubel. Тel. 314-12-14. 15. Dezember 16.00 Finissage

Bilder: Boris Smelow, Eugen von Arb, Heidi Moretti.

Petersburgerin Seite 5

Dunkelhäutig sein in einem weissen Land ist nicht einfach – schon gar nicht in einem wie Russland, würde man meinen. Doch Justine Da Costa, Tochter des ersten offiziell getrau-ten afrikanisch-russi-schen Paars, fühlt sich hier zuhause. Erstaun- te und schiefe Blicke auf der Strasse über-sieht sie buchstäblich.

Von Eugen von ArbSie ist gross, rund und dun-kel – Da Costas Gestalt, ihr Gesicht mit den grossen, freundlichen Augen und ihre schwarz gekrausten Haare stechen sofort aus der Menschenmenge auf dem Newski-Prospekt he-raus. Dabei ist sie keine reine Afrikanerin, sondern Mu-lattin – ihre Eltern, die Mut-ter aus Leningrad, der Vater aus Zaire waren das erste offiziell getraute sowjetisch-afrikanische Paar.

Entwicklungshilfe und Waffen aus RusslandIhre Trauung – indirektes Ergebnis von Chruschtows Völkerfreundschaftspolitik – wurde 1964 in Moskau ge-schlossen. Die beiden wur-den aus diesem Anlass sogar auf der Zairischen Botschaft empfangen. “Meine Mutter erzählte mir, dass am Ess-tisch ein kleiner afrikani-scher Junge sass, der mit Tel-leraugen auf sie als einzige Weisse starrte und plötzlich zu weinen begann”, be-schreibt Da Costa das steife Zeremoniell lachend.Die Ehe ihrer Eltern war gewissermassen eine Staatsangelegenheit, denn die Freundschaft mit den afrikanischen Staaten war ein wichtiges Instrument im Kalten Krieg. Auf dem schwarzen Kontinent, wo sich die Kolonialstaaten befreiten, fanden stellver-tretend die heissen Kriege zwischen Ost und West

statt. Die Sowjetunion leistete Entwicklungshilfe – und belieferte die Rebellen grosszügig mit Waffen.Doch das Ganze hatte auch friedliche Seiten, so kamen zu dieser Zeit erstmals tau-sende schwarzafrikanischer Schüler und Studenten zur Ausbildung nach Russland. Unter anderem wurde da-mals die Lumumba-Univer-sität in Moskau gegründet. Ärzte, Ingenieure, Lehrer und andere Spezialisten erhielten hier eine solide Ausbildung und leisteten nach ihrer Rückkehr einen wichtigen Beitrag zur Ent-wicklung ihres Landes.

Echte Freundschaften mit RussenViele Russen begegneten den afrikanischen Studen-tinnen und Studenten mit Enthusiasmus und Offen-heit – echte Freundschaften und Liebschaften enstan-den. “Mein Vater erzählte mir von einer Lehrerin in Iwanowo, die ihre Studenten bei der Rückkehr bis an den Flughafen begleitete und so geheult hat, dass man sie nochmals zur Verabschie-dung ins Flugzeug liess”, er-zählt Da Costa gerührt.Auch sie wuchs in dieser freundschaftlichen At-mosphäre auf – “Meine

Wahl der Ausbildung war ganz einfach: Ein Bekannter sagte mir damals, ich solle Energie-Technik studie-ren, weil es dort soviele von “Meinesgleichen” gäbe, sagt sie lachend. Sie schloss mit dem roten Diplom ab und war voller Idealismus. “Ich war so begeistert, dass ich mich sofort zur Arbeit nach Magadan im Fernen Osten melden wollte – darüber erschraken die Leute, und man teilte mich bei Lenen-ergo in Leningrad ein!”Dort arbeitet sie schon nun seit zwanzig Jahren als Kontrolleurin – sie schätzt das gute menschliche Klima und die vorbildlichen An-stellungsbedingungen. “Gde ja rodilas, tam i prigadilas” – zitiert sie ein russisches Sprichwort – “Dort, wo ich geboren wurde, wurde ich gebraucht”. “Eigentlich bin eine richtige russische Tan-te”, fügt sie schmunzelnd hinzu.An ihrem Job gefällt ihr, dass sie sehr selbstständig und viel unterwegs ist. Mit erfahrenem Blick überprüft sie die Einhaltung der Ver-tragsbedingungen bei Gros-skunden. Praktisch überall fühlt sie sich korrekt behan-delt, nur ab und zu kommt es zu komischen Szenen – “Nicht schlecht, meinte

einmal ein Mann als ich vor ihm stand – jetzt kontrol-lieren die Amerikaner sogar den Strom bei uns!”, erzält sie lachend.

Negative “Randbemer-kungen” überhörenNegative “Randbemer-kungen” hat sie gelernt, zu überhören. “Man muss sie wegstecken wie ein Fussbal-ler, der während des Spiels die Flüche der gegnerischen Fans hört”, verrät sie ihren Trick gegen Rassismus. Mit den erstaunten oder ver-achtenden Blicken auf der Strasse macht sie es ähn-lich – “Ich ziehe einfach die Brille aus, wenn ich auf der Strasse bin, dann sehe ich sie nicht!” So ist ihr Lebens-motto: positiv und realis-tisch – “Sei aktiv und zähle nur auf dich selbst”, fasst sie zusammen. So meisterte sie ihr Leben und zog ihre drei Kinder aus zwei Ehen auf. Ihre beiden Töchter studie-ren in Petersburg, ihr Sohn lebt in Berlin.Obschon sie überhaupt keine Rassistin ist, hofft sie, dass ihre Kinder einmal dunkel-häutige Partner haben wer-den. “Ich habe überhaupt nichts gegen gemischte Ehen, aber meistens bringt Mischung verschiedener Kulturen sehr viele Proble-

me mit sich, unter denen die ganze Familie leidet.”Doch sogar dieselbe Hau-tfarbe kann den Kultur-schock nicht verhindern – das musste sie selbst erfah-ren, als sie versuchte mit ih-rem ersten Mann in dessen Heimat Guinea-Buisseau zu leben. “Die gesellschaft-lichen Rollen sind dort noch so stark”, dass man als emanzipierte Frau kaum akzeptiert wird. Wenn ein Mann beispielsweise sei-ner Frau beim Wassertra-gen hilft, wird er verachtet – auch wenn seine Frau krank oder schwanger ist.” Da sich auch ihr Mann zu-nehmend den traditionellen Regeln anpasste, hielt sie es nicht mehr und kehrte nach einem Jahr allein nach Rus-sland zurück.Den Rassismus hält sie in Afrika für viel grösser als in Russland – am schlimmsten ist es ihrer Meinung nach in Ägypten, wo man sie einmal als “Schokoladenhase” be-schimpfte. Den einen zu dun-kel, ist man den anderen zu hell – zum Beispiel in Zaire, wo man Mulatten als “weisse Bohnen” bezeichnet. Interes-santerweise fühlt sich in Tu-nesien am wohlsten, wo den Leuten scheinbar die Hau-tfarbe schlichtwegs egal ist.

Angst vor neuen An-schlägen auf AfrikanerNatürlich haben auch sie die rassistischen Übergriffe in Petersburg und anderen russischen Städten schok-kiert. Mit dem bekannten Petersburger Afrikanisten und Antifaschisten Nikolai Girenko, der 2004 von Skin-heads erschossen wurde, war sie persönlich befreun-det – Tränen steigen ihr in die Augen als sie von ihm er-zählt. “Jedes Mal, wenn wie-der ein Anschlag auf einem afrikanischen Studenten passiert, machen Telefone besorgter Eltern die Runde, die sich nach ihren Kindern erkundigen.”

Justine Da Costa: “Ich bin eine richtige russische Tante”

“Sei aktiv und zähle nur auf dich selbst” - Justine Da Costa hat gelernt als Dunkelhäutige n der russischen Gesellschaft zurecht zu kommen. Bild: Eugen von Arb/SPB-Herold

..November 2010 (Nr. 21)

Stadtnachrichten Seite 6

November 2010 (Nr. 21)

Die Gouverneurin Va-lentina Matwijenko überraschte die Oppo-sition mit einer Ein-ladung.

eva.- Mit einem informellen Treffen mit “gemässigten” oppositionellen Politikern und Aktivisten sorgte die Petersburger Gourverneurin Valentina Matwijenko für eine Überraschung. Noch wissen die Teilnehmer nicht, was sie von der Einladung halten sollen – beginnt damit ein echter Dialog oder war es bloss eine Finte im Vorfeld der Wahlen 2011/12 ?An der zweistündigen Ge-sprächsrunde beteiligt waren Alexander Karpow, Leiter des Zentrums für Umwelt-expertisen, Alexander Kono-now, stellvertretender Leiter des Zentralrats für Kultur-güterschutz in Russland, Maxim Resnik, Vorsitzender der “Jabloko”-Partei sowie Julia Minutina, Leiterin der Denkmalschutz-Bewegung “Schiwoi Gorod” (Lebendige Stadt). Obschon Matwijenko mit den Gesprächspartnern

Schweigen über den Inhalt vereinbart hatte, gelangten einige Informationen an die Medien. Demnach soll sich die Gourverneurin die An-liegen der einzelnen Grup-pen angehört haben – ein sehr ungewöhnlicher Schritt einer Person, die man ge-meinhin als Machtmenschen kennt, der per Ukas regiert.Am meisten verblüfft war man allerdings über das An-

gebot der Gouverneurin an die oppositionelle Denkmal-schützerin Julia Minutina, sie als stellvertretende Chefin des städtischen Kommitees für Denkmalschutz einzus-tellen.Sie habe den Vorschlag Mat-wijenkos zuerst als Witz verstanden, meinte die 26-jährige Lehrerin gegenüber Fontanka.ru. Sie wisse noch nicht, wie sie auf diesen Vor-

schlag reagieren solle. Sie befürchte, in ihrer Freiheit eingeschränkt zu werden und wolle sich auf keinen Fall zur oppositionellen “Dekora-tion” in einer Position ohne Einfluss machen lassen. An-dererseits wäre es vielleicht wirklich eine Chance etwas in der Politik zu bewirken. Den anderen Gesprächsteil-nehmern hatte Matwijenko lediglich Dialogbereitschaft signalisiert. Es wird vermu-tet, das die Begegnung vom Präsidentenberater für Kul-tur und Kunst Alexander Sokurow inijziert wurde. Sie würde den Äusserungen von Präsident Medwedew entsprechen, der kürzlich die Absicht äusserte, gewissen kleineren Oppositionspar-teien Zugang zur Politik zu verschaffen.Beim Oppositionsbündnis “Anderes Russland” reagier-te man vorsichtig auf die Be-gegnung – man wisse noch nicht, ob der Dialog ernst gemeint sei, oder sich Mat-wijenko damit nur den nöti-gen Hauch von Demokratie verschaffen wolle.

Ehrliches Entgegenkommen oder Finte: Matwijenko traf Oppositionelle zum Dialog. Bild: Eugen von Arb/SPB-Herold

Anderthalb Jahre nach der Festnahme Michail Gluschenkos hat die Polizei die ersten Aus-sagen ausgewertet.

eva.- Der wegen mehrfa-chem Mord und Erpressung in Millionenhöhe ange-klagte Ex-Duma-Abgeord-nete und Mafioso Michail Gluschenko hat ausführ-liche Aussagen zu einem Abschnitt seiner Strafsache gemacht. Während der ver-gangenen anderthalb Jahre seit seiner Verhaftung konn- te so die Erpressung der Brüder Wjatscheslaw und Sergei Schewtschenko weit-gehend aufgeklärt werden, schreibt Fontanka.ru.Nicht nur für eine Verur-teilung Gluschenkos ist der Fortschritt bei den Ermit-tlungen wichtig – auch seine

Untersuchungshaft konnte so verlängert werden. Glu-schenko erpresste von den beiden “Königen des New-ski-Prospekts” von 1992 bis 2003 Schutzgelder in der Höhe von insgesamt zehn Millionen Dollar – je 50.000 pro Monat. Die Zahlungen erfolgten sogar als sich Glu-schenko 2002 ins Ausland zurückzog. Als der Geldfluss plötzlich stockte, versuchte

Gluschenko zu verhandeln: Er forderte entweder zehn Millionen Dollar bar oder das Metropol-Haus an der Sadowaja-Strasse 22. An-dernfalls drohte er den Schewtschenkos mit dem Tod. Auch im dreifachen Mordfall auf Zypern 2004, in den Gluschenko verwic-kelt sein soll, ergaben sich neue Spuren. Der kürzlich festgenommene Mafioso

Sergei Kowaljow, der in der Szene als “Usbeke” bekannt ist, hat die Brüder Schew- tschenko ebenfalls um zehn Millionen erpresst und ih-nen mit dem Tod gedroht. Kowaljow soll darum wie Gluschenko an der Ermor-dung von Wjatscheslaw Schewtschenko, Juri Sorin und ihrer Dolmetscherin beteiligt gewesen sein.Schewtschenko und Sorin gehörten zu den führenden Köpfen in der Petersburger Geschäfts- und Unterwelt der Neunzigerjahre. Zu ih-ren Imperien gehörten ganz oder teilweise wichtige Pe-tersburger Firmen, so unter anderem die Unternehmen “OAO Nord”, die Nacht-klubs “Goliwudskie Not-schi” und “Golden Dolls”, “OOO Vostotschnie Slados-ti”, “Sever” und “Metropol”.

Fall Gluschenko: erste Ermittlungen abgeschlossen

Lehrerin im Klas-senzimmer zusam-

mengeschlagen – Öffentlichkeit

schockiert

eva.- Vor den Augen ihrer Klasse wurde eine junge Lehrerin vom Stief- vater einer Schülerin brutal zusammenge-schlagen. Der Mann drang während des Un-terrichts in die Schule ein und schlug die Frau zu Boden, wo er sie mit Fusstritten tracktierte. Mit einer Hirnerschüt-terung musste sie hospi-talisiert werden, konnte mittlerweile aber wieder nach Hause zurückkeh-ren.Der Täter, ein ehema-liger Polizist, wurde fest-genommen – ausser dem Überfall werden ihm Morddrohungen und Drogenhandel vorge-worfen, schreibt Fon-tanka.ru.Laut Polizei steht er be-reits seit einiger Zeit im Verdacht, einem Drogenring anzuge-hören, darum nahmen die Fahnder nach dem Zwischenfall in der Schule gleich mehrere Verhaftungen vor. Bei einer Hausdurchsuc-hung fand man Waffen und Drogen.Die Öffentlichkeit re-agierte schockiert auf den Zwischenfall – in Internetforen drückten hunderte von Menschen der frisch diplomierten Pädagogin ihr Mitleid aus und baten sie, ihre Kündigung wieder zurückzuziehen, die sie nach dem Anschlag ein-gereicht hatte. Mittler-weile ist sie dieser Bitte nachgekommen.Die Petersburger Gou-verneurin Valentina Matwijenko zeigte sich empört über den Ang-riff und forderte, dass der brutale Täter aufs Härteste bestraft werden müsse.

Gouverneurin sucht Gespräch mit Opposition - Wahlmanöver?

“Geschäftsmann mit grossem Sündenregister: Michail Glu-schenko gilt als führender Kopf der Petersburger Unterwelt.

Kultur Seite 7

Dossier - Barbara Streiff

Barbara Streiff stammt aus dem Schweizer Ge-birgskanton Glarus und ist ein echtes Urgestein – direkt, ehrlich und voller Emotionen. Obschon sie sich als Malerin, Bildhau-erin, Performance-Kün-stlerin, Kuratorin und Galeristin stark in ihrer Heimatregion engagiert, konnte sie auch an einer Reihe internationaler Kunstprojekte teilnehm-en und dabei ein dichtes kulturelles Kontaktnetz herstellen. Mit ihrem “Aion”-Projekt – Metall-skulpturen, in denen Symbole sämtlicher Weltkulturen vereint sind – und ihren Tuschpor-träts auf Zeitungen aller Herren Länder konnte sie sich bereits in Brasilien, China, Zypern vorstellen. Seit Jahren arbeitet sie mit dem New Yorker Galeris-ten Abraham Lubelski und dem Zürcher DaDa-Haus zusammen.

Die Schweizer Künstle-rin Barbara Streiff hat diesen Herbst St. Peters-burg besucht. Obschon Russlands Kultur-hauptstadt von einem akademisch-konser-vativen Geist geprägt ist, gelang es Streiff als zeitgenössische Künst-lerin leicht, eine Brücke zu schlagen. Mutig ging sie auf die Leute auf der Strasse zu, um sie mit Tusche und Pinsel auf Zeitungen zu ma-len, wie sie es schon in der Schweiz, Brasilien, China, Zypern und Saudiarabien getan hat. Wo auch immer sie sich bewegte, inszenierte sie ihre Mal-Performance – auf dem Flughafen, in den Parks, in der Fuss-gängerzone und direkt vor der Eremitage.

Eugen von Arb hat sich mit der Künstlerin unterhalten: Du hast schon in vielen Län-dern Leute auf der Strasse gezeichnet – was ist Dir an Deinen russischen Modellen aufgefallen?

Barbara Streiff: Die Leute sind sehr stolz und haben Cha-rakter. Sie zeigen Ihr Gesicht und spielen einem nichts vor. Sie sagen oft kompromisslos ihre politische Meinung und was Sie denken. Mir gefiel vor allem die Vielfalt. Vom asiatischen Gesicht, über den typischen Russen bis zu Zi-geunern ist alles zu sehen. Die Leute tragen auch spezielle Kleider, welche viel über ihre Herkunft aussagen.

SPB-Herold: Trotz Warnun-gen hast Du auf dem Flugha-fen und an anderen heiklen Orten in Russland gemalt und gefilmt – wo ist die Po-lizei strenger, in Russland oder in der Schweiz?

Barbara Streiff: Die Italiener sagen, wir haben viele Poli-zisten, aber in der Schweiz ist jeder ein Spitzel. Die Rus-sen waren offen und erfreut

an meiner Kunstaktion. Ich wurde nirgends gestört. Wie ich im Flugzeug wider den Anweisungen gefilmt habe, schützte mich der Nachbar vor neugierigen Augen, ohne mich zu kennen. Danach hat er den Kontakt mit mir ge-sucht und wir lachten und po-litisierten offen miteinander. Es hat mich erstaunt, wie of-fen die Russen Ihre kritische Meinung sagen, obwohl der Staat so streng ist. Ich hatte einige Verweise, dass mich Beamte streng anfuhren, ich solle dies und das nicht ma-chen, da bin ich einfach um die Ecke gelaufen und machte weiter wie zuvor.

SPB-Herold: Haben sich die Leute für Deine Arbeit oder Herkunft interessiert, oder war es ihnen gleichgültig, dass Du sie zeichnest?

Barbara Streiff: Es waren viele Leute, welche sich für mich interessierten, aber nie-mand hat gefragt, woher ich komme. Ich hatte von den Leuten auf den öffentlichen Plätzen das Gefühl, dass sie sich darüber freuten, gemalt zu werden und dass ich ihnen Interesse zukommen liess. Sie sind mir mit Respekt und Achtung begegnet.

SPB-Herold: Ist es leicht, mit RussInnen in Kontakt zu kommen?

Barbara Streiff: Das ist sehr verschieden. Ich hatte viele schöne und ebenso interes-sante Begegnungen. Sie sind

sehr hilfsbereit. In Moskau als ich mit einem Stadtplan und ohne die Sprache zu beherschen vom Flughafen mit Bus und Metro zum roten Platz fahren wollte, halfen mir alle von Jung bis Alt, den Weg zu finden.Sie betreuten mich und machten oft Umweg, um mich an richtigen Ort zu führen. Ich hatte nicht ein einziges einmal das Gefühl, belächelt, oder abgelehnt zu werden. In der Kasa-ner Kirche wurde mir vom Aufseher sogar erlaubt zu filmen, was jedoch darauf zurückzuführen ist, dass ich aus Respekt vor den Sitten der orthodoxen Kiche ein Kopftuch getragen habe.

SPB-Herold: Fühltest Du Dich sicher auf Petersburgs Strassen?

Barbara Streiff: Dank der Ein-führung meiner Freunde, die die Sitten Russlands kennen, habe ich mich sehr sicher und wohl gefühlt. Die Innenstadt ist ein sicherer Ort.Es heisst, dass St.Petersburg die Banditenstadt Russlands ist. Wenn ich um die Ecken in die Nebenstrassen ging, habe ich schon einige dubiose Ma-fiatypen gesehen. Doch dann legte ich meinen russischen Schal um den Kopf (denn die langen roten Haare waren et-was auffällig ) und ich konnte sorglos weitergehen.

SPB-Herold: Moskau und Petersburg sind ein bisschen Konkurrenten – hast Du ei-

nen Unterschied zwischen den beiden Hauptstädten bemerkt?

Barbara Streiff: Moskau ist eine Stadt, welche sehr ano-nym ist. Die einfachen Leute auf der Strasse sind freund-lich und bescheiden. Erstaunt haben mich die grossen Klas-senunterschiede. An einer Ecke kriegst Du nie, was Du willst, und sie haben nur ein kleines Sortiment, beschränkt auf das Notwendigste, aber in den Warenhäusern nahe dem Roten Platz herrscht ein Luxus, den ich noch nirgends auf der Welt in solchem Aus-mass gesehen habe.Ich habe mich in St:Peters-burg verliebt und ich werde nächstes mal Moskau über- fliegen, was übrigens echt schön ist, wenn man auf all die Binnengewässer mit Schifffahrt und die endlosen Wälder hinunterschaut.Petersburg ist nur schon von der Architektur her viel in-teresanter und schöner. Ich denke, es ist kulturell interes-santer als Moskau. Es ist auch, trotz der Grösse von sieben Millionen Einwohnern ir-gendwie heimelig. Neben rie-sigen Strassen und Häusern und einer gut organisierten Metro hat es auch viel Grün, um sich zu erholen. Bei einem Rundgang in der Innenstadt vom hektischen Newski-Prospekt vorbei an fantasti-schen Kirchen an die ruhige Newa erlebt frau alle Facetten des Seins.

SPB-Herold: Wodurch un-

terscheidet sich der Newski-Prospekt von der Bahnhofs-strasse?

Barbara Streiff: Der Newski Prospekt ist viel farbiger und reich an historischen Gebäu-den. Der Newski ist sicher zwei bis drei Mal so breit und lang wie die Bahnhofstrasse. St. Peterburg ist ja auch sieben Mal grösser wie Zürich und hat soviele Einwohner wie die ganze Schweiz. Ich finde die Bahnhofstrasse in Zürich echt grau und langweilig im Gegensatz zum Newski Prospekt. Wie ich von Russ- land zurückkam, hatte ich an der Bahnhofstrasse das Gefühl, dass es hier wie in einem betonisierten Dorf aussieht. Der Strassenverkehr ist etwas kritisch am Newski – Prospekt, da sich niemand an die Ampeln hält und alle durcheinender laufen und fahren. Da ist in der Schweiz schon viel die bessere Ord-nung.

Barbara Streiff: “Die Leute sind sehr stolz und haben Charakter”

November 2010 (Nr. 21)

Zeichnet, alle, die ihr über den Weg laufen: die Schweizer Künstlerin Barbara Streiff.Bild: Eugen von Arb/SPB-Herold

Wie erwartet gewann das Bauunternehmen ”NGD” von Roman Abramowitsch die Ausschreibung für Umbau und Sanie-rung der Kanalinsel “Nowaja Gollandia”. Es wird angenommen, dass das Ergebnis im abgesprochen war.

eva.- Am 15. November wurden symbolisch die Ku-verts geöffnet und der Ge-winner Auftragsvergabe be-kannt gegeben: die “Nowaja Gollandia Development” (NGD) - ein Bauunterneh-men, das dem Oligarchen Roman Abramowitsch ge-hört. Obschon sich als Kon-kurrent auch “Meridian” mitbeworben hatte, stand der Gewinner schon lange vorher fest. Nur Abramowit-schs Imperium konnte die

Bedingungen erfüllen: Bis am 9. November musste ein Depot von einer Milliarde Rubel (rund 30 Millionen Dollar) auf ein Sperrkonto der Bank St. Petersburg ein-bezahlt werden, zu deren Miteigentümern der Sohn von Gouverneurin Sergei Matwijenko gehört.Dieses Geld wird der Inves-tor erst nach einer Frist von

ein bis drei Jahren zurück erhalten – und nur unter der Bedingung, dass er in-nerhalb eines Jahres min-destens dieselbe Summe in das Projekt investiert hat, ansonsten fällt das Geld der Stadtkasse zu. Wie die St. Petersburg Times schreibt, konnte der Besit-zer der Firma “Meridian” allerdings nicht ermittelt

werden - darum wird an-genommen, dass sie mit NGD verknüpft ist.Auf der ehemaligen Werft zwischen Moika- und Admiralteiiski-Kanal aus der Zeit Peters des Grossen, soll ein multi-funktionales Zentrum ent-stehen. Obschon das bishe-rige Projekt des britischen Star-Architekten Norman Forster strenge denkmal-schützerische Auflagen en-thielt, wurden bereits wert-volle historische Gebäude beschädigt.Dies und die Nichteinhal-tung der Fristen führten zur Kündigung des Ver-trags mit dem bisherigen Investor Mercury-Develop-ment. Die Kosten waren ursprünglich auf 320 Mil-lionen Dollar festgesetzt worden – aber schon 2008 schätzte man sie auf 800 Millionen Dollar.

Steckt Milliarden in das wenig rentable Neuholland-Projekt: Roman Abramowitsch. Bild: Wikimedia Commons

Rechtsgerichtete Grup-pierungen demon-strierten, und bei den Antifaschisten führte die Polizei eine Haus-durchsuchung wegen “Extremismus-Ver-dacht” durch.

eva.- Der “Tag der Nationa-len Einheit” am 4. Novem-ber verlief in St. Petersburg verhältnismässig ruhig. Im Tschernischwski-Park veranstalteten die Natio-nalisten, darunter die Be-wegung DNPI (Bewegung gegen illegale Migration) eine Kundgebung. Die meist vermummten Teilnehmer marschierten mit Flaggen und Transparenten durch den Park. Laut Fontanka.ru nahm die Polizei am Rand der Demonstration sechs bis sieben Personen fest, aller-dings steht nicht fest, um wen es sich handelt. Nur die Iden-tität eines Mannes, einem Fernsehjournalisten, der laut Polizei illegal den Rasen betreten habe, wurde bisher bestätigt. Die übrigen – so

wird angenommen – sind Antifaschisten, die gegen den Aufmarsch der rechten Gruppierungen protestieren wollten, jedoch abgefangen wurden.Zwar hatte die antifaschisti-sche Bewegung eine Gegen-veranstaltung geplant, doch obschon diese genehmigt worden war, wurde sie durch eine Polizeiaktion am Vora-bend behindert. Während eines Vorbereitungstreffens im Südwesten der Stadt brach die Polizei die Tür der Woh-nung auf und veranstaltete

eine Hausdurchsuchung.Laut dem Pressedienst der oppositionellen Jabloko-Par-tei nahmen die Beamten der Abteilung gegen Extremis-mus dabei den Antifaschisten Ruslan Sultanow fest. Die Po-lizei meldete, bei der Durch- suchung seien Symbole und Literatur der verbotenen Na-tionalbolschewistischen Par-tei gefunden worden.Am Tag der Nationalen wurde der Oppositionspoli-tiker Boris Nemzow an der Präsentation seines Buchs “Luschkow. Die Ergebnisse”

in Petersburg attackiert. Ein Mann begoss ihn mit Wasser – mit den Worten “Warum habt ihr Geld von Amerika genommen”. Der Attentäter, der sich als Mitglied der na-tionalistischen “Jungen Gar-de” entpuppte, wurde vor die Tür gesetzt. Wie in Moskau war es auch in Petersburg in den vergangenen Jahren immer wieder zu Zusam-menstössen zwischen rechts-gerichteten Teilnehmern des “Russischen Marsches” und antifaschistischen Gruppen gekommen.

Hausdurchsuchung am “Tag der Nationalen Einheit”

Viele Festnahmen bei Demo für Ver- sammlungsfreiheit

eva.- Obrigkeit und Po-lizei zeigten gegenüber der politischen Opposition unerwartete Härte. An der Kundgebung für den Verfas-sungsartikel 31 waren Polizei und Omon-Sonderpolizei mit einem Riesenaufgebot präsent und verhafteten ins- gesamt 113 Teilnehmer.Die traditionell-nicht genehmigten Demo vor dem Gostiny Dwor und auf dem Schlossplatz, die in den Monaten zuvor eine gewisse Toleranz von Seiten der Ob-rigkeit erfahren hatte, wurde am 31. Oktober unerwartet stark unterdrückt. Schon am frühen Nachmittag wurde das Gebiet um das Gos-tiny Dwor grossräumig mit Postenketten und Polizeifahr- zeugen abgegrenzt.Als die Kundgebung um 18 Uhr begann, wurden nicht wie sonst nur die laut auftre-tenden Demonstranten fest-genommen, sondern alle, die nach dem Aufruf der Polizei den Platz nicht verliessen. Sie wurden unzimperlich in die bereit stehenden Busse ver-frachtet.So gerieten laut Fontanka.ru beim Gostiny Dwor 104 und auf dem Schlossplatz neun Personen in Haft. Unter ihnen war eine Reihe Prominenter, so der Petersburger Jabloko-Vorsitzende Maxim Resnik, der Vorsitzende der hiesigen Nationalbolschewisten An-drei Dmitrew sowie der Chef der Nationaldemokraten An-drei Piwowarow. Auch der bekannte russische Filmregis-seur Andrei Nekrassow geriet der Miliz ins Netz – das, ob-schon er nach eigenen Aus-sagen nur am Petersburger Kinoforum habe teilnehmen wollen. Nur einer Gruppe von Anarchisten gelang es, die Polizei auszutricksen. Es gelang ihnen, auf das Dach des schräg gegenüber liegen-den Kaufhauses “Passage” zu klettern, wo sie ein Transpar-ent entfalteten, Leuchtkörper anzündeten und Flugblätter auf den Newski Prospekt hi-nunter warfen.

Abramowitsch übernimmt “Neu-Holland”- Baustelle

Was der “Tag der Einheit” soll - darüber ist man sich uneinig. Bild: Eugen von Arb/SPB-Herold

Stadtnachrichten Seite 8

November 2010 (Nr. 21)

Wirtschaft Seite 9

Kurz nachdem sich Ex-Lenta-Chef Jan Dunning seinen Pos-ten mit Waffengewalt zurück erobert hatte, verliess er ihn freiwil-lig wieder.

eva.- Jan Dunning, der im September mit einem be-waffneten Kommando das Petersburger Hauptquar-tier der Lenta-Supermarkt-kette gestürmt und seinen Rivalen Sergei Juschenko vertrieben hatte, hat gekün-

digt und vermutlich bereits das Land verlassen, schreibt Fontanka.ru.Offiziell hat Dunning, der die Aktionäre TGP Capital und WTB Kapital vertrat, seinen Posten verlassen, weil sein Anstellungsver-trag verlängert werden musste. Gemäss Recher-chen ergab sich jedoch, dass Dunning sich rechtlich in einer Sackgasse befand und darum das Feld geräumt hat.Ganz abgesehen vom be-

waffneten Überfall, wegen dem er von seinem Konkur-renten Juschenko bereits verklagt wurde, schien sich Dunning auch in anderen Punkten auf dünnem Eis zu bewegen. Als Ausländer scheint er nicht einmal über eine Arbeitsgenehmigung verfügt zu haben – ein Busi-ness-Visum reicht dafür nicht aus.Ausserdem drohte ihm ein Strafverfahren von Seiten des Arbeitsamtes, dass durch die kurzfristige Ent-

lassung von sechs Lenta-Mitarbeiter durch Dun-ning ins Rollen gebracht wurde. Unter ihnen befan-den sich der Top-Manager Dmitri Kostygin sowie die PR-Verantwortliche Ka-thrin Linn, die Dunning wegen ungerechtfertigter Kündigung verklagten. Nach dem “Sturm” des Lenta-Headoffice startete zudem die amerikanische Lenta-Aktionärin TGP-Ca-pital eine Untersuchung der Vorgänge.

Lenta-Direktorenstreit: Dunning räumt Chefsessel

Der Flughafen Pulkovo hat zum Ende Oktober die Sieben-Millionen-Passagiergrenze erreicht und damit einen Rekord aufgestellt. Dennoch wird St. Petersburg im Winterflugplan der Lufthansatochter Ger-manwings nicht mehr aufgeführt. Markus Müller sprach mit An-dreas Engel, Pressespre-cher International von Germanwings über die Gründe.

SPB-Herold: Die German-wings Strecke nach Köln war eine der günstigsten Möglichkeiten, von St. Pe-tersburg nach Deutschland zu fliegen. Warum wurde sie eingestellt?

Andreas Engel: Russland ist für Germanwings ein wichtiger Markt und St. Petersburg eine reizvolle Destination. Die Strecke wurde von uns dieses Jahr trotz Krise und Vulkana-schen-Zwangspause gut bedient, aber sie hat unsere hohen Erwarten an den Yield (Durchschnittserlös pro Passagier) nicht ganz erfüllt. Daher haben wir sie jetzt eingestellt. Sehr er-folgreich angelaufen ist seit diesem Sommer die neue Germanwings Destination Hannover-Moskau.

SPB-Herold: Gab es noch andere Gründe für diesen Schritt? Hat die Mutter Lufthansa in diese Ent-scheidung mithinein-regiert? Mit Swiss und Lufthansa fliegen ja zwei weitere Schwesterfirmen Pulkovo an.

Andreas Engel: German-wings trifft diese Entschei-dungen unabhängig und ohne Einmischung durch Dritte, der wichtigste Grund ist das Ertragsma-nagement. Die Auslastung der Flugroute Köln – Peters-burg ist erheblich stärkeren saisonalen Schwankungen unterworfen als die Strecke nach Moskau. In die russi-sche Hauptstadt fliegen das ganze Jahr viele Geschäfts-reisende, nach St. Peters-

burg nicht. VW etwa hat in Kaluga ein großes Werk, und es gibt in Hannover auch sehr viele Bürger mit russischem Migrationshin-tergrund. Diese Tatsachen machen die neue Verbin-dung sehr erfolgreich. Die für uns wichtige Kennzahl von 42% Geschäftsreisende haben wir nach St. Peters-burg selten erreicht.

SPB-Herold: Der Flugha-fen Pulkovo wird ja seit April von einem Deutsch-Russischen Konsortium gemanagt. Im Rahmen der vorhandenen baulichen Möglichkeiten hat sich schon viel im Service zum Guten gewendet. Hat bei der Entscheidung der Flug-hafenbetreiber eine Rolle gespielt?

Andreas Engel: Die Gründe haben nichts mit dem Flug-hafen und dem Service zu tun. Das ist in erster Linie eine wirtschaftliche Ent-scheidung gewesen, der Optimierung unseres Ruß-land-Programms.

SPB-Herold: Werden sie 2011 Petersburg wieder anfliegen ?

Andreas Engel: German-wings hat dieses Jahr acht neue Flugzeuge vom Typ Airbus A 319 bestellt, die in den kommenden Jahren nach und nach ausgeliefert werden. Ob die Flugroute wieder auf-genommen wird, kann zum aktuellen Zeitpunkt nicht gesagt werden. Auch sind die Auswirkungen der neuen deutschen Luftverkehrsab-gabe noch nicht absehbar.

Germanwings stellt Flüge nach St. Petersburg ein

Abgeflogen - Germanwings stellt seine Flüge nach Petersburg ein und verstärkt die Verbindun-gen nach Moskau. Bild: Wikimedia Commons

Vom TickerSapsan beschert

Millionenumsatz - ICE-Produktion

künftig in Russland möglich

rian.- Der Kassenerlös aus dem ICE-Verkehr Mos-kau-Sankt Petersburg und Moskau-Nischni Nowgorod hat in knapp einem Jahr umgerechnet fast 108,5 Millionen Euro erreicht. Das teilte der RZD-Präsident Wladimir Jakunin mit.Die in Deutschland ge-bauten Sapsan-Züge pendeln seit dem 17. Dezember 2009 zwischen Moskau und Petersburg. Seit dem 30. Juli verkeh-ren auch Hochgeschwin-digkeitszüge zwischen Moskau und Nischni Nowgorod. Jakunin zu-folge haben die „Wander-falken“ bisher insgesamt 1,5 Millionen Fahrgäste befördert.Der russische Minis-terpräsident Wladimir Putin äusserte beim Be-such des Lokomotivwer-kes Werchnaja Pyschma am Ural, der aus der Produktion der Siemens AG stammende erste ICE-Zug werde mögli-cherweise künftig nicht mehr in Deutschland, sondern in Russland ge-baut werden.„Die Verfügbarkeit guter Zulieferer erlaubt es, nicht nur die Produk-tion hier zu lokalisie-ren”, sagte Putin. Auch der Vizepräsident der russischen Staatsbahn RZD, Valentin Gapanow-itsch, schloss nicht aus, dass die Sapsans künftig in Russland gefertigt werden. Gegenwärtig sei aber die Infrastruktur hi-erzulande noch nicht fit genug.Gegenwärtig werden die Sapsans (Wander-falke) in Krefeld gebaut. Beim Lastotschka-Zug (Schwalbe) handelt es sich um einen weiteren Schnellzug, der während der Olympischen und der Paralympischen Winter-spiele 2014 in Sotschi mit 160 km/h verkehren soll.

November 2010 (Nr. 21)

Nachbarn Seite 10

Norwegen und Finn- land haben die Bestim-mungen für den Gren-zverkehr mit Russland deutlich gelockert. Zwischen Deutschland und Russland hingegen hat sich das Regime für deutsche Besucher deut-lich erschwert – eine unerwartete Wende.

Der November war ein wichtiger Monat für die unterschiedlichen Visa-formalitäten der Schen-gen-Staaten. Am 31. Ok-tober reiste der deutsche Aussenminister nach Moskau und führte dort Gespräche mit seinem rus-sischen Kollegen Lawrow. An erster Stelle standen, wie nicht anders zu erwar-ten, Kommentare zu dem laufenden Gerichtsver-fahren gegen den früheren russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski.Die russische Zivilgesell-schaft habe bezüglich des Verfahrens gewisse Ängste und Verunsicherung zum Ausdruck gebracht, sagte Westerwelle am Montag dem 1. November bei einer Pressekonferenz mit sei-nem russischen Kollegen Sergej Lawrow. Es sei im Interesse Russlands, dass diese Sorgen ernst genom-men würden.Was Herr Westerwelle und sein Ministerium, im Übereifer dem ehemali-gen Oligarchen Chodor-kowski helfen zu wollen, vollkommen aus dem Auge verloren, war eine Änderung der Visaregeln für deutsche Besucher, die nach Russland wollen. Seit Jahren drängt Russland darauf, dass sich Europa bewegt. Seit Jahren pas-siert nichts. Russische Bürger müssen ein teil-weise erniedrigendes Ver-fahren in der deutschen Botschaft in Moskau über sich ergehen lassen. Von Erleichterung kaum eine Spur.

Jetzt hat Russland sich den deutschen Verfahren angepasst. Seit dem 1. No-vember, also zum Besuch Westerwelles in Moskau, hat Russland die Bedin-gungen angeglichen. Deutsche Urlauber und Geschäftsreisende müs-sten bei der Beantragung von russischen Visa nun “ihre Rückkehrwillig-keit nachweisen und dem Visumsantrag Einkom-mens- oder Gehaltsnach-weise beifügen”. Damit gleicht Russland die Ein-reisebestimmungen an die geltenden Regelungen für Reisen russischer Bürger nach Deutschland an.

Vereinfachung der Visap-flicht aktuell wie nieErst vier Tage später wach-te das deutsche Aussenmi-nisterium auf. Für Reisen nach Russland gelten seit Anfang November ver-schärfte Einreisebestim-mungen. Die russische Seite wünsche gleiche Be-dingungen für Reisen in beide Richtungen, sagte die Sprecherin. “Wir sind weiter im Gespräch und bemühen uns um eine einvernehmliche Lösung”, fügte sie hinzu.Ein paar Tage später war

dann die finnische Präsi-dentin Tarja Halonen in Moskau und sprach neben wirtschaftlichen und wis-senschaftlichen Themen auch über das Problem der Visafreiheit mit ihrem russischen Kollegen Dimi-try Medwedew.Alle diese Kontakte set-zen die Bewegungsfreiheit voraus – für Geschäftsleu-te als auch für die einfa-chen Bürger beider Län-der. Die Vereinfachung der Visamodalitäten und die Aufhebung der Visap-flicht sind deshalb aktuell wie nie zuvor. Finnland, so Präsidentin Tarja Ha-lonen, sei bereit, die Ent-scheidung dieses Problems in der EU voranzubrin-gen. Vorerst aber erwartet Helsinki von Moskau eine Vereinfachung der Regi-strierung von Migranten. „Somit stimmen die In-teressen der Partner hier vollkommen überein“, be-merkte auf der Pressekon-ferenz Dmitri Medwedjew und fuhr fort:

Finnland will Visaausga-be maximieren„Wir sind insgesamt daran interessiert, dass die Mi-granten-Registr ierung vereinfacht wird, dass sie

weniger bürokratisch und loyaler gegenüber den Ausländern ist.“ Finnland verspricht seinerseits, die Ausgabe von Visa an Bür-ger Russlands maximal zu vereinfachen – und das solange, bis die Visapflicht endgültig aufgehoben werden wird. Medwedew nährte auf der Pressekon-ferenz die Hoffnung, dass die Registrierungspflicht für EU-Bürger abgeschafft werden könnte.

Auch Norwegen macht vorwärts im NordenAm 2. November unter-zeichneten die Aussenmi-nister aus Russland und Norwegen ein Abkom-men, welches den Bewoh-nern der Grenzgebiete zwischen den beiden Län-dern die Möglichkeit gibt, in das Nachbarland ohne Visum zu reisen. „Dies ist ein kleiner Schritt, der zu einer großen Bewegung führt. Es zeigt, dass wir uns eine Zukunft ohne Visum vorstellen kön-nen. Jetzt haben wir es den Menschen leichter gemacht über die Gren-zen im Norden zu reisen “, sagte Außenminister Jonas Gahr Store.„Norwegen ist ein Teil

der Schengen-Staaten und seit der Auflösung der Sowjetunion hat auch Russland seinen eisernen Vorhang ausgehoben. Die gesetzlosen Bedingungen in Russland zu Beginn der 1990er Jahre sind nun vorbei. Und dann kann man beginnen, die An-forderungen für Visa zu lockern“, so der norwegi-sche Minister. „Ich hoffe, Norwegen wird die volle Befreiung von der Vi-sumpflicht für alle Bürger von Russland und Norwe-gen diskutieren, und nicht nur in den Grenzregionen “, sagte der russische Aus-senminister Lawrow.

Länderspezifische Einzel- abkommen sind möglichDie Vereinbarung stellt sicher, dass 40.000 Russen frei in die Süd-Varanger Gemeinde reisen können, während 9000 Bewohner der norwegischen Grenz-Gemeinde in der gleichen Weise nach Russland rei-sen können. Auf russischer Seite wird auch Nikel, Pec-henga und Zapoljanry und auf der norwegischen Seite ist Kirkenes und Umge-bung abgedeckt.Somit haben die nor-dischen Länder weitere große Schritte für ein ver-einfachtes Visaregieme unternommen, während Deutschland mit seinem Aussenminister Guido Westerwelle sich eher um russische Interna gekümmert hat und eine Verschärfung der Visabe-dingungen für Deutsche anscheinend verpasst hat.Die Schengenabkommen erlauben ausdrücklich auch länderspezifische Einzelabkommen, wie man am Beispiel Norwe-gen sehen kann. Die jet-zige Regierung von Deut-schland scheint aber nicht das geringste Interesse zu haben, dass Bewegung in die Visamodalitäten kommt. (russland.ru)

Schengen-Grenze bekommt Löcher und höhere Zäune

Russland-Schengen wohin? Vorerst scheinen nur Finnland und Norwegen zu einer weiteren Öffnung der Grenzen bereit zu ein. Bild: Wikimedia Commons

November 2010 (Nr. 21)

Vermischtes Seite 11

mm.- Der St. Petersburger Herold (Online) ist aus dem Bedürfnis entstanden, ein Internet- und Informati-onsportal für die deutsch-sprachige Gemeinde von St. Petersburg zu betreiben.Um nicht mit der altehrwür-digen St. Petersburgischen Zeitung verwechselt zu wer-den, wurde unsere Online Zeitung “St. Petersburger Herold” genannt. Die gleich-namige politische Zeitung

wurde 1871 als religiös und politisch unabhängiges Me-dium von St. Petersburger

Bürgern deutscher Sprache gegründet. Der St. Petersbur-ger Herold wurde in Folge

eine bedeutende überregio-nal Zeitung und wurde von den damaligen Leitmedien im Westeuropäischen Raum stark beachtet und rege zit-iert. In der liberalen, kriti-schen und politisch akzentui-erten Tradition des “alten St. Petersburger Herold” finden wir das Leitbild für unsere neue Zeitung. Der Herold ist auch ein „Mitmach-Portal“ – sie können eigene Beiträge online veröffentlichen.

Der St. Petersburger Herold

So sah das Original des “St. Petersburger Herold” aus.Bild: Ausstellung “Deutsche in St. Petersburg”.

Von Eugen von Arb

Die schwere Holztür der Metrostation schwingt sich auf, und kalte Spätherbstluft bläst mir ins Gesicht. Mit heruntergeklappten Ohren-schützern und gesenktem Kopf ziehe ich in Richtung Büro. Nur mit kurzen Blic-ken nehme ich wahr, was sich um mich herum abspielt – ansonsten beschränkt sich meine Wahrnehmung auf mögliche Kollisionobjekte auf meinem Weg.Doch dann lässt mich eine Szene stehen bleiben: Eine junge Frau im Jeanskostüme trägt Leim aus einer Plas-tikflasche auf kleine gelbe Papierzettel und klebt sie an einem der grossen Chrom-stahl-Regenrohren fest. Sie tut es mit erstaunlicher Gleichmütigkeit, und ihr Freund – ebenfalls sommer-lich gekleidet – hilft ihr da-bei, indem er eine Tasche mit dem Material schleppt.Da bemerke ich, dass das Regenrohr zu einer Kaserne gehört – etwas weiter vorne lümmelt sogar ein Soldat he-rum, der sich aber nur für sei-ne Zigarette und seine kalten Hände interessiert. Ich bin gleichzeitig belustigt und ge-schockt, denn ich weiss: Die kleinen Zettel kleben wie die Pest und verschandeln Fas-saden in der ganzen Stadt auf üblere Weise als jede Spray-erei. Die Wände bekommen einen Anblick als wären sie von einem Pilz befallen

und würden von Grund her langsam verfaulen.Im Weitergehen, denke ich darüber nach, warum sich die Leute ihr Brot mit der verdammten Kleberei ver-dienen und wieviel sie dafür bekommen? Eine lächerli-che Summe wohl. Es ist eine ganz eigene gesellschaftliche Gruppe, die sich mit dieser Form von Arbeit beschäftigt: Reklame kleben, Reklame verteilen, Reklame tragen oder Ramsch in Metrozügen verkaufen. Die Arbeit scheint sie irgendwie über Wasser zu halten, zu einer anderen wären sie nicht fähig, entwe-der psychisch oder physisch, oder weil sie keine gültigen Dokumente besitzen. Sie können mit dem Verdienst gewisse Ausgaben decken, entweder die Miete eines Zimmers oder andere drin-gende Kosten, für Alkohol zum Beispiel. Für Studenten ist es wohl ein Taschengeld.

Die Klebereklame ist eine ganz eigene – was angebo-ten wird “klebt” ebenso wie das Papier auf dem sie ge-druckt ist. Was reklamiert wird, tönt süss wie klebri-ger Honig: “Gut bezahlter Nebenverdienst”, “Zim-mer in Studentenheimen für weniger als 100 Rubel”, “Aufenthaltsgenehmigung, Staatsbürgerschaft, Arbeits-genehmigung, Diplome kurz- fristig ausgestellt”, “Kaufe Datschengrundstück zu gutem Preis”. Kurz: alles Un-mögliche wird möglich – ein Idiot, wer den Versprechun-gen auf den Leim geht.Mindestens ebenso perfid wie ihr Inhalt ist auch der Ort, an der die Reklame klebt. Sie flattert nicht nur wie Konfetti an Regenroh-ren, Hauseingängen und Bushaltestellen – an gewissen Hausmauern sind die Zettel gut lesbar aber unerreichbar in einer Höhe etwa zwei-

einhalb Metern angebracht. Man braucht Fantasie, um sich vorzustellen, wie das vor sich geht. Die Reklamefetzen werden wohl in einen Kübel voller Kleister getunkt und nachts schnell im Vorbeige-hen mit einem Stock oder Besen an die Fassade geklat-scht.Ein zwei Tage später erlebe ich die umgekehrte Prozedur – das Säubern der Wände und Regenrohre vom Zettel-salat. Zwei Rekruten kratzen mit Blechstücken die Zettel vom Regenrohr. Ihre stoische Gleichgültigkeit erinnern mich frappant an jene der beiden Kleber. “Ein richtiger Idiotenjob für Rekruten!” So geht es mir durch den Kopf. Wie international doch die stupide Zeit-Totschlagerei in allen Armeen ist! Zentime-ter für Zentimeter fährt ihr primitiver Spachtel über den Chromstahl, im Schnecken-tempo, es klebt …

Was klebt am zähesten im ganzen Land? Die Wandreklame!

Verloren im Zettelsalat: Privatannoncen an einer Strassenampel. Bild: Eugen von Arb/SPB-Herold

Vom TickerAktivisten an

erster genehmigter Gay-Demo mit Eiern beworfen

eva.- 15 Aktivisten ve-ranstalteten am Sam-stagnachmittag bei der Wladimir-Kathedrale eine Kundgebung für Toleranz und Gleichberechtigung gegenüber Homosexuel-len – die erste offiziell genehmigte in Petersburg. Während einer Stunde verlief alles ruhig, dan-ach störte eine Gruppe von rund zehn Personen die Demonstranten mit Zwischenrufen “Sodom kommt nicht durch”. Ausserdem wurden die Gay-Aktivisten mit Ei-ern beworfen. Die Polizei griff ein und nahm vier Ruhestörer fest, sagte Maria Jefremenkowa ge-genüber Fontanka.ru. Ein von ihnen Teil lief darauf weg, andere warfen wie-derum Eier und drohten den Demonstranten, zer-rissen Plakate und zer-brachen die regenbogen-farbige Flagge. Auf Bitte von Polizei und Behörden wurde die Kundgebung frühzeitig abgebrochen.

November 2010 (Nr. 21)

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