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EDITORIAL © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.phiuz.de 1/2012 (43) Phys. Unserer Zeit 3 Z u den spektakulärsten Aussagen der modernen Kos- mologie gehört ohne Zweifel die, dass sich das Univer- sum in einem Zustand steter Ausdehnung befindet.Zur Ver- anschaulichung wird oft folgendes Beispiel zitiert: Ange- nommen der Raum wäre nur zweidimensional, repräsen- tiert durch die Oberfläche eines Luftballons, den man auf- bläst. In diesem Bild ist die physikalische Welt nur auf die Oberfläche des Ballons beschränkt. Sein mit Luft gefülltes Innere ist lediglich eine Metapher für den die Expansion treibenden Mechanismus und entspricht keiner weiteren physikalischen Raumdimension. R epräsentiert man auf der Ballonoberfläche kosmische Objekte wie Galaxien oder Galaxienhaufen dadurch, dass man kleine Münzen aufklebt oder nur mit dem Filzstift aufmalt, so wer- den sich diese Strukturen durch das Aufblasen gegenseitig voneinander entfernen. Aus Sicht einer jeden Mün- ze entfernen sich alle anderen in ra- dialer Richtung von einem fort, und man meint, sich im Zen- trum der Expansionsbewegung zu befinden.Doch wie wirkt sich die globale Expansion auf lokale Systeme aus? Z unächst ist klar,dass die aufgemalten Münzen selbst ex- pandieren, während die aufgeklebten Münzen ihre Grö- ße beibehalten. Auch die Gummipartikel unter dem Kleb- stoff werden durch dessen bindende Wirkung ihre gegen- seitigen Abstände nicht verändern. Aber wie steht es dann mit realen Systemen? Sind diese im wirklichen Raum wie aufgemalt oder eher wie aufgeklebt? Und was entspräche im letzteren Fall dem Klebstoff, der die globale Expansion lokal stoppen kann? Expandieren Atome, wir selbst, unser Sonnensystem, unsere Milchstraße, die lokale Galaxien- gruppe oder erst der Virgo-Superhaufen? Wo ist der Über- gang? E s ist relativ einfach, eine erste orientierende Antwort auf diese Frage innerhalb einer plausiblen Näherung der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) zu geben. In dieser Näherung gelten die bekannten Newtonschen Gleichun- gen, allerdings modifiziert durch eine Zusatzkraft, die zwi- schen je zwei räumlich getrennten Systemen entlang ihrer Verbindungslinie wirkt. Ist die Expansion exponentiell be- schleunigt, so ist die Kraft abstoßend, zeitlich konstant und proportional zum Abstand der Systeme. Hinreichend kleine oder stark gebundene Systeme würden auf das Einschalten einer solchen Kraft lediglich durch eine leichte Neueinstellung der Gleichgewichtskonfiguration wie einer Verkleinerung des Bahn- radius reagieren. K ommt die Stärke der Zusatzkraft jedoch in die Nähe der Bin- dungskraft, so können Systeme auch zerrissen werden. Für ein Wasserstoffatom würde dies erst dann passieren, wenn der Ab- stand des Elektrons zum Kern aberwitzig groß würde, vergleich- bar dem Abstand der Sonne zum Planeten Neptun. Für gravitativ gebundene Systeme tritt dieses Zerreißen erst jenseits der Grö- ßenskala großer Galaxienhaufen ein. Damit bleiben die Ausdeh- nungen aller bekannten kosmischen Körper bis auf Galaxien-Su- perhaufen von der Expansion unbeeinflusst. E ine strenge mathematische Begründung obiger Näherung im Rahmen der ART ist keineswegs einfach. Auch sind nur wenige exakte Lösungen explizit bekannt,die zur Mo- dellierung einfacher lokaler Systeme in einem umgebenden expandierenden Universum herangezogen werden können. Darüber hinaus erstreckt sich der mögliche lokale Ein- fluss einer globalen Expansion nicht nur auf die Dynamik der lo- kalen Systeme, sondern auch auf die Ausbreitung von Licht. Misst man etwa die Distanz zweier Körper, wie der Erde und einem Raumschiff durch die Lichtlaufzeit ausgetauschter Signale, so hat dies einen Einfluss auf die Bestimmung kinematischer Größen, wie relative Abstände,Geschwindigkeiten und Beschleunigungen. E s kam deshalb vor einigen Jahren die Vermutung auf, eine bis dahin unerklärliche,winzige Abbremsung der beiden Pioneer- Sonden ließe sich beispielsweise durch die Expansion des Rau- mes erklären. Die Anwendung dieser Betrachtungen auf die Pio- neer-Anomalie bestätigte indes klar,dass hier keine beobachtbaren kosmologischen Effekte vorliegen. Es ist jedoch dieser Anomalie zu verdanken, dass man sich erneut und ernsthafter als zuvor mit diesen Fragen auseinandersetzte und wertvolle Einsichten über Größenordnungen und analytische Methoden erhielt. Damit hat sich die Pioneer-Anomalie ein erstklassiges Begräbnis verdient,das sie in diesem Heft mit dem Beitrag von Claus Lämmerzahl und Benny Rievers nun auch bekommt. Zerreißprobe im expandierenden Universum Domenico Giulini ist Professor am Institut für Theoretische Physik der Leibniz- Universität Hannover und Mitarbeiter am ZARM in Bremen. Er beschäftigt sich ins- besondere mit der Relativitätstheorie. EIN ERSTKLASSIGES BEGRÄBNIS FÜR DIE PIONEER-ANOMALIE

Zerreißprobe im expandierenden Universum

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E D I TO R I A L

© 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.phiuz.de 1/2012 (43) Phys. Unserer Zeit 3

Zu den spektakulärsten Aussagen der modernen Kos-mologie gehört ohne Zweifel die, dass sich das Univer-

sum in einem Zustand steter Ausdehnung befindet.Zur Ver-anschaulichung wird oft folgendes Beispiel zitiert: Ange-nommen der Raum wäre nur zweidimensional, repräsen-tiert durch die Oberfläche eines Luftballons, den man auf-bläst. In diesem Bild ist die physikalische Welt nur auf dieOberfläche des Ballons beschränkt. Sein mit Luft gefülltesInnere ist lediglich eine Metapher für den die Expansiontreibenden Mechanismus und entspricht keiner weiterenphysikalischen Raumdimension.

Repräsentiert man auf der Ballonoberfläche kosmischeObjekte wie Galaxien oder Galaxienhaufen dadurch,

dass man kleine Münzen aufklebt odernur mit dem Filzstift aufmalt, so wer-den sich diese Strukturen durch dasAufblasen gegenseitig voneinanderentfernen. Aus Sicht einer jeden Mün-ze entfernen sich alle anderen in ra-dialer Richtung von einem fort,und man meint,sich im Zen-trum der Expansionsbewegung zu befinden.Doch wie wirktsich die globale Expansion auf lokale Systeme aus?

Zunächst ist klar,dass die aufgemalten Münzen selbst ex-pandieren,während die aufgeklebten Münzen ihre Grö-

ße beibehalten. Auch die Gummipartikel unter dem Kleb-stoff werden durch dessen bindende Wirkung ihre gegen-seitigen Abstände nicht verändern. Aber wie steht es dannmit realen Systemen? Sind diese im wirklichen Raum wieaufgemalt oder eher wie aufgeklebt? Und was entsprächeim letzteren Fall dem Klebstoff, der die globale Expansionlokal stoppen kann? Expandieren Atome, wir selbst, unserSonnensystem, unsere Milchstraße, die lokale Galaxien-gruppe oder erst der Virgo-Superhaufen? Wo ist der Über-gang?

Es ist relativ einfach, eine erste orientierende Antwortauf diese Frage innerhalb einer plausiblen Näherung der

Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) zu geben. In dieserNäherung gelten die bekannten Newtonschen Gleichun-gen, allerdings modifiziert durch eine Zusatzkraft, die zwi-schen je zwei räumlich getrennten Systemen entlang ihrerVerbindungslinie wirkt. Ist die Expansion exponentiell be-schleunigt, so ist die Kraft abstoßend, zeitlich konstant undproportional zum Abstand der Systeme.Hinreichend kleine

oder stark gebundene Systeme würden auf das Einschalten einersolchen Kraft lediglich durch eine leichte Neueinstellung derGleichgewichtskonfiguration wie einer Verkleinerung des Bahn-radius reagieren.

Kommt die Stärke der Zusatzkraft jedoch in die Nähe der Bin-dungskraft,so können Systeme auch zerrissen werden.Für ein

Wasserstoffatom würde dies erst dann passieren, wenn der Ab-stand des Elektrons zum Kern aberwitzig groß würde, vergleich-bar dem Abstand der Sonne zum Planeten Neptun. Für gravitativgebundene Systeme tritt dieses Zerreißen erst jenseits der Grö-ßenskala großer Galaxienhaufen ein. Damit bleiben die Ausdeh-nungen aller bekannten kosmischen Körper bis auf Galaxien-Su-perhaufen von der Expansion unbeeinflusst.

Eine strenge mathematische Begründungobiger Näherung im Rahmen der ART ist

keineswegs einfach. Auch sind nur wenigeexakte Lösungen explizit bekannt,die zur Mo-dellierung einfacher lokaler Systeme in einem

umgebenden expandierenden Universum herangezogen werdenkönnen. Darüber hinaus erstreckt sich der mögliche lokale Ein-fluss einer globalen Expansion nicht nur auf die Dynamik der lo-kalen Systeme, sondern auch auf die Ausbreitung von Licht. Misstman etwa die Distanz zweier Körper, wie der Erde und einemRaumschiff durch die Lichtlaufzeit ausgetauschter Signale, so hatdies einen Einfluss auf die Bestimmung kinematischer Größen,wie relative Abstände,Geschwindigkeiten und Beschleunigungen.

Es kam deshalb vor einigen Jahren die Vermutung auf, eine bisdahin unerklärliche,winzige Abbremsung der beiden Pioneer-

Sonden ließe sich beispielsweise durch die Expansion des Rau-mes erklären. Die Anwendung dieser Betrachtungen auf die Pio-neer-Anomalie bestätigte indes klar,dass hier keine beobachtbarenkosmologischen Effekte vorliegen. Es ist jedoch dieser Anomaliezu verdanken, dass man sich erneut und ernsthafter als zuvor mitdiesen Fragen auseinandersetzte und wertvolle Einsichten überGrößenordnungen und analytische Methoden erhielt. Damit hatsich die Pioneer-Anomalie ein erstklassiges Begräbnis verdient,dassie in diesem Heft mit dem Beitrag von Claus Lämmerzahl undBenny Rievers nun auch bekommt.

Zerreißprobe im expandierendenUniversum

Domenico Giulini istProfessor am Institutfür TheoretischePhysik der Leibniz-Universität Hannoverund Mitarbeiter amZARM in Bremen. Erbeschäftigt sich ins-besondere mit derRelativitätstheorie.

EIN ERSTKLASSIGES

BEGRÄBNIS FÜR DIE

PIONEER-ANOMALIE