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Zerrspiegel

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Nr. 1848

Zerrspiegel

Die Lehren des Philosophen -Milliarden Menschen folgen ihnen

von Susan Schwartz

Während sich Perry Rhodan und Reginald Bull in der fremden Galaxis Plantagoobehaupten müssen und Alaska Saedelaere in Tolkandir grauenvolle Erkenntnisse er-langt, wird die Lage in der Menschheitsgalaxis im Frühjahr 1289 Neuer GalaktischerZeitrechnung noch unübersichtlicher.

Nachdem die Völker der Tolkander, wie sie nach wie vor in Ermangelung einesbesseren Ausdrucks genannt werden, rund 300 Planeten erobert und von der restli-chen Galaxis abgeriegelt hatten, kam es auf 52 besiedelten Welten zu einem myste-riösen Massensterben. Danach zogen sich die Tolkander mit Hunderttausenden vonRaumschiffen an den Rand der Galaxis zurück, wo sie im Sektor 47 Tucani eineOperationsbasis schufen.

Die großen Machtblöcke in der Galaxis belauern sich trotz der großen Gefahr wei-terhin, als sei nichts geschehen. Die Versuche Atlans, die galaktischen Völker gegendie Gefahr zu einigen, blieben bisher weitgehend erfolglos nicht zuletzt deshalb, weiles bei einer geplanten Friedenskonferenz in einem Raumschiff der Chaeroder zu ei-nem Massaker an den Delegationen kam.

Es scheint als hielten alle die Luft an. Auf einigen Welten bahnen sich merkwürdigeEreignisse an - ein seltsames Wesen zieht anscheinend seine Kreise und bringt dieMenschen sowie andere Intelligenzen dazu, wie wild zu kritzeln.

Sie stehen im Bann des Philosophen, wie es scheint. Als sich die Mutanten Milaund Nadja Vandemar des Problems annehmen, stellen sie fest, daß noch mehr da-hintersteckt - der ZERRSPIEGEL …

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Die Hautpersonen des Romans:Caljono Yal - Die Mahnerin der Herreach erlebt ihre ersten Alpträume.Atlan - Der Arkonide steckt voller Sorge um die Galaxis.Homer G. Adams - Der ehemalige Hanse-Chef meldet unwillkommenen Besuch.Presto Go - Die oberste Künderin versucht ihr Volk vor neuen Gefahren zu bewahren.Mila und Nadja Vandemar - Die Mutanten-Zwillinge schicken einen Notruf an die Außenwelt …

Prolog

Da ist viel Dunkelheit, und irgendwoglimmt ein Licht. Ein schmaler Streifen amHorizont, der sich rasch verbreitert. AusDunkelheit wird Licht, matt schimmernd und… farbig: rosa-orange-türkis.

Ich kann nun bereits Konturen erkennen,ja, da ist Land. Ist das meine Welt? Wie siesich inzwischen verändert hat! Inzwischengibt es Wasser, Regen, und ein feines Grünbreitet sich überall aus. Es gibt sogar schondie erste Ernte, schnellwachsendes Gemüseund Getreide.

Sogar an das grelle Licht gewöhne ichmich langsam, mit der Brille geht es rechtgut …

Es wird wieder dunkel. Irgend etwas ver-dunkelt die Welt, ein seltsamer Schatten. AmHimmel? Das kann doch nicht sein … derHimmel ist klar und ohne Schatten.

Nein! Das ist etwas. Etwas Riesengroßes,das sich dort von der Horizontlinie erhebtund vom Erdboden abhebt.

Das ist nicht möglich! Ich muß etwas un-ternehmen! Nichts, aber auch gar nichtskann sich auf dieser Welt vom Erdbeben er-heben und fliegen …

Caljono Yai fand sich selbst schwer at-mend aufrecht auf dem Lager sitzend. Ihrnoch träger Verstand registrierte den Nach-hall des gurgelnden Schreis, der aus ihremschmalen Mundschlitz gedrungen war.

Ihre vierfingrigen Hände preßten sich andie gewölbte Stirn.

»Das kann nicht sein«, flüsterte sie in dieDunkelheit hinein. »Das ist einfach nichtwahr. Nichts kann fliegen …«

Wieder spürte sie, wie ihr Herzschlagschneller ging, als sie das Wort laut aus-

sprach Wie konnte ein harmloses Wort, vorallem, wenn es nicht im Sprachschatz derHerreach existierte, einen solchen Schreckenin ihr auslösen?

Die Mahnerin des Cleros hatte zum erstenMal in ihrem Leben, vielleicht als erste Her-reach überhaupt, einen Alptraut gehabt.

Am liebsten wäre sie sofort zu Vej Ikoradgegangen, um ihm von ihrem schrecklichenErlebnis zu berichten. Sie wagte es nicht. Erwürde sie nicht ernst nehmen, zu stark be-einflußt von den Terranern.

Wie war es möglich, einen Alptraum zuhaben? Hatte sie sich die Erzählungen derMenschen inzwischen so sehr zu Herzen ge-nommen?

Nein, es war etwas anderes. Immer nochverspürte sie die Schrecken der Erinnerungund wußte, daß das nicht das letzte Mal seinwürde. Wie in einer Vision erkannte sie, daßeine große Veränderung auf alle Herreachzukommen würde …

1.Die 52. Welt

Die Zeit verging rasend schnell. Schonwar der 10. Juni 1289 NGZ angebrochen,die Mitte des Jahres war bald erreicht -unddie Bedrohung wurde immer unheimlicher.

Auf Topsid, Olymp, Ferrol und weiterenPlaneten, insgesamt 51 Hauptwelten derMilchstraße, hatten die Einwohner das Krit-zel-Syndrom entwickelt: Sobald sie denKreis entdeckt hatten, standen sie völlig imBann unheimlicher Psi-Wesen.

Für die Cameloter war es ein Schock ge-wesen, als sie erfuhren, daß die 52. Weltsich im Solsystem befand Terra. Obwohleingehüllt in das Antitemporale Gezeiten-feld, war Terra der Gefahr nicht entronnen.

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Mila und Nadja Vandemar hatten Atlaneinen Hilferuf geschickt -auf Merkur, Ve-nus, Trokan und Terra waren die Menschenbereits gänzlich dem Kritzel-Syndrom erle-gen. Das gesamte öffentliche Leben war zu-sammengebrochen, das Ausmaß der Kata-strophe nicht mehr überschaubar.

Der Sitz der fremden Entität wurde aufder Erde im Gebiet des Kilimandscharo aus-gemacht, aber es war den beiden unsterbli-chen Gäa-Geborenen bisher nicht möglichgewesen, an ihn heranzukommen und ihrsauszuschalten.

Atlan war den Isolierten mit der GILGA-MESCH durch eine Temporalschleuse zuHilfe geeilt, hatte jedoch nichts erreichenkönnen: Auch die Mannschaft der GILGA-MESCH verfiel nach und nach dem Kritzel-wahn.

Dem Arkoniden war nichts anderes übrig-geblieben, als den Haupt-Gezeitenwandlerfür das ATG-Feld auf Merkur zu zerstörenund das Solsystem in die Realzeit zurückzu-versetzen. So konnte er wenigstens die Iso-lation aufheben und der GILGAMESCH dieFlucht ermöglichen.

Homer G. Adams zog das Modulschiffaus dem Solsystem zurück, um die Mann-schaft dem Einfloß des Philosophen zu ent-ziehen. Zusammen mit der GILGAMESCHflohen alle stationierten Raumschiffe, derenBesatzungen dem Wahn noch nicht vollstän-dig erlegen waren.

Der Versuch, die unheimliche Geistes-macht zu vernichten, war kurz vor derFlucht der GILGAMESCH gescheitert derPhilosoph war dem konzentrierten Feuerbe-schuß entkommen und hatte sich fünfzig Ki-lometer von seinem letzten Standort entferntam Fuß des Kilimandscharo erneut nieder-gelassen. Sein Einfloß reichte inzwischenbereits bis zum Neptun.

Atlan und die Zwillingsschwestern blie-ben am 12. Juni mit einer Space-Jet und mitzehn Moduln-Robotern zurück.

»Atlan, ihr müßt euch beeilen«, meldetesich Homer G. Adams von der GILGAME-SCH. »Der Einfloß breitet sich in rasender

Geschwindigkeit aus. Ich habe eine Nach-richt aus dem Wegasystem bekommen: Dorthat der Philosoph seine Kreise von Ferrolaus bereits über alle 42 Planeten ausgewei-tet.«

»Das ist weiter keine Überraschung«, ent-gegnete der Arkonide.

Atlan wirkte äußerlich völlig gelassen,nur an dem rötlichen Flakkern seiner Augenund dem Absondern des salzigen Sekretswar der Kampf der Gefühle zu erkennen, derin ihm tobte. Terra war für gut zehntausendJahre seine Heimat gewesen, er hatte ent-scheidend an ihrer Entwicklung teilgehabtund mehr als einmal für sie gekämpft. Erhatte nie aufgehört, sich als Arkonide zufühlen, aber diese Welt bedeutete ihm mehrals alles andere.

»Nein«, stimmte Adams zu. »Nach dem,was ich hier mit eigenen Augen erlebt habe,ist es wahrhaftig keine Überraschung. Daßwir Aktivatorträger als einzige immun sind,macht es nicht gerade leichter. Seht zu, daßihr so schnell wie möglich herausfindet, wiewir diesen Horrorwesen beikommen kön-nen. Sonst sehe ich schwarz für uns alle.«

»Das sagst du so leicht«, brummte Atlan,nachdem die Verbindung beendet war.

Eine Weile starrte er auf den rasch größerwerdenden, blau schimmernden und vonWolkenbändern weiß marmorierten Planetenhinab. Zum wiederholten Mal war er froh,daß Perry Rhodan, sein Freund und Wegge-fährte seit langer Zeit, dies nicht miterlebenmußte.

So viele Tote, ausgelöscht wie nichts.Durch keine Waffe, sondern durch un-

glaublich starke geistige Kräfte, deren para-mentale Macht bisher noch nicht ergründetwerden konnte, war millionenfaches Lebenerloschen.

Und dann kommen auch noch die Chae-roder und Physander mit ihren 23 Kilometerlangen Gliederschiffen und behaupten ingrausamer Ironie, es sei alles nur ein Irrtumgewesen. Dabei hatten sie nur Zeit gewinnenwollen, um alle Philosophen schlüpfen zulassen, bevor wir begreifen, was das bedeu-

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tet!Die Philosophen waren mit hoher Wahr-

scheinlichkeit ebenso wie die Gazkar undAlazar aus der Vivoc entstanden, in diesemFall wohl aus dem »Absolutum«, einem vonden Eloundar geprägten Begriff.

Im Verlauf der Geburt, was je einmal auf52 besiedelten Welten der Milchstraße ge-schehen war, hatten die Philosophen die Le-bensenergie aller Intelligenzwesen in sichaufgesogen, die sich zu diesem Zeitpunktauf ihrer jeweiligen Geburtswelt befundenhatten.

Das bedeutete den millionenfachen Tod!Nach dem erfolgreich beendeten Aufsau-

gen der Lebensenergie war jeder neugebore-ne Philosoph, wie es schien, zu einer ande-ren Welt mit sehr hoher Resonanz telepor-tiert. Resonanz bedeutete: dicht besiedelt mitIntelligenzwesen - sozusagen eine hoheKonzentration von Intelligenz.

Die Philosophen hatten sich folglich aufden dichtest besiedelten Ballungszentren derMilchstraße niedergelassen: Ferrol, Olymp,Topsid und so weiter.

51 Welten waren rasch bekannt gewor-den, die 52. Welt - Terra - war erst durchden Hilferuf der Vandemar-Zwillinge ent-deckt worden. Eingehüllt in ein Gezeiten-feld, versetzt in die Zukunft - und doch nichtsicher.

Auf jeder dieser 52 Welten wuchsen Phi-losophen heran, zogen immer größere Krei-se, die immer mehr Einwohner unter ihrenEinfluß brachten; zuerst nur in ihrer Nähe,dann der ganze Planet, dann die Nachbarpla-neten und schließlich das gesamte System.

Wozu?Das ist jetzt nicht wichtig, mahnte der Ex-

trasinn. Dieses Wesen muß gestellt und aus-geschaltet werden, bevor es seinen Standortwieder wechselt!

»Aber es ist wichtig«, murmelte Atlan zusich selbst. »Wir müssen die Ursache, nichtdie Symptome ausschalten, sonst kämpfenwir gegen Windmühlen.«

Die Ursache kannst du nur dort finden,wo der Philosoph seinen Sitz hat. Nur er

kann dir die Mittel in die Hand geben, ihn zubekämpfen!

*

»Wir landen gleich«, meldete Mila vonden Kontrollen. »Der Philosoph hat schonwieder eine neue Position bezogen, doch esist nicht schwer, seinen Einflußbereich aus-zumachen.«

Sie deutete auf mehrere nebeneinanderaufgebaute Holos.

Ein befremdender, grotesker Anblickzeigte sich den Unsterblichen aus verschie-denen von Kleinsonden übermittelten Per-spektiven: In einem Umkreis von etwa zehnKilometern bewegten sich zwischen 5000und 10.000 Menschen um den Mittelpunkt -entweder zu Fuß oder mit allen möglichenfahrbaren Untersätzen. Wie die Motten dasLicht umkreisten sie eine flimmernde Flächevon rund hundert Metern, in der sich seltsa-me Luftspiegelungen und -brechungen zeig-ten. Der Philosoph selbst war nicht sichtbar,nur ein gestaltloser Schemen, ein flimmern-der Wirbel ohne scharfe Umrisse.

Um dieses Zentrum kreiste eine Spiraleaus Leibern und Vehikeln, die sich in ständi-ger Drehung befanden. Die Betroffenen, die- durch Zufall oder was auch immer - überdie Peripherie der lebenden Spirale hinaus-gerieten, unterlagen danach nicht mehr demunmittelbaren Einfluß des Philosophen. Siekamen zum Stillstand, beruhigten sich undgingen wieder ihrer »normalen« Beschäfti-gung - dem Kreisemalen nach. Sie zeigtenkeinerlei Verlangen, wieder in den Kreis desPhilosophen zurückzukehren.

Dafür nahmen andere ihre Stelle ein, diedem Rotationsdrang verfielen, sich in demunentwirrbaren Strudel aus Menschenleibernverloren und das Zentrum wie Satelliten um-schwirrten.

Die Jet setzte einen knappen Kilometervon dem Kreis des Philosophen entfernt auf.Keiner der vom Kritzelsyndrom befallenenMenschen interessierte sich für die An-kömmlinge.

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Um die Jet herum herrschte lebhaftesTreiben: Menschen trafen von außerhalb ein,die dem Ruf des Philosophen gefolgt waren,andere irrten scheinbar ziellos umher.Manchmal sprachen sie miteinander, aber eswar nicht sicher, ob sie einander verstanden.

Die meisten verbrachten die Zeit damit,mit Stift und Folie - so vorhanden -, aberauch Ästen, Stecken oder Stäben auf denBoden oder in Baumrinde Kreise zu malenund zu ritzen. Kreise, die ineinander über-gingen, Kreise, aus denen sich Kreise herau-sentwickelten, einzelne Kreise in allen Grö-ßen.

Manche, die schon länger dabei waren,wirkten verstört. Speichel lief aus ihremMund, der Blick irrte unstet umher, unfähig,einen bestimmten Punkt zu fixieren; die Be-wegungen konnten nicht mehr richtig koor-diniert werden. Sie waren teilweise er-schöpft vor Mangel an Nahrung, dennochkritzelten sie unbeirrbar weiter.

»Furchtbar«, flüsterte Nadja.»Besessenheit«, sagte Atlan. »So ähnlich

war es damals in Hirdobaan in EndreddesBezirk. Es konnte nicht abgestellt werden…«

»Wir werden es abstellen«, behaupteteMila fest. »Der Philosoph kann durch seinePara-Macht Einfluß nehmen, aber diesekann ja nicht unbegrenzt sein! Wir müssenherausfinden, worauf seine Macht beruht,oder ihm die Energiequelle entziehen, die erbenötigt, um pausenlos Kreise zu ziehen undseinen Bereich auszubreiten. Jeder hat eineschwache Stelle!«

»Zumindest muß es einen Grund haben,weswegen wir Aktivatorträger immun sind«,fügte Nadja hinzu. »Das ist schon die erste,entscheidende Schwäche. Die Tolkanderrechnen sicherlich nicht mit einem wirksa-men Widerstand, vor allem, da bisher alleunsere Bemühungen fehlgeschlagen sind.«

Der Arkonide nickte. »Wir sollten als er-stes herausfinden, was diese Menschen über-haupt in den Kreis hineintreibt. Nur so kön-nen wir einen Anhaltspunkt finden. Undvielleicht eine Antwort darauf, was die Phi-

losophen als nächstes tun werden.«

2.Anita und George

Mila wies die Medos-Roboter unter denModulas an, sich um die geschwächtenMenschen zu kümmern und auch die übri-gen so gut wie möglich mit den mitgebrach-ten Nahrungsmitteln zu versorgen, unter-stützt von den beiden Allround-Robotern.

Die übrigen Modula-Roboter sollten dieGegend sichern und den Kreis des Philoso-phen mit den Ortern erforschen.

Die beiden Schwestern und Atlan näher-ten sich vorsichtig der kreisenden Spirale;auch hier, so nahe am Einflußbereich desPhilosophen, blieben sie völlig immun, jataub gegenüber den Einflüsterungen, die dieanderen Menschen hier wohl empfingen.

Den restlichen Tag bewegten sie sich ander Peripherie der wimmelnden Menschen-spirale entlang, ohne beachtet zu werden.Die Gesichter aller Beeinflußten zeigten gei-stige Abwesenheit, sie schienen pausenlosnach innen zu lauschen. Sie waren der Reali-tät völlig entrückt, befanden sich hoffentlichin einer schönen Traumwelt. Zumindestwirkten sie so.

Es war unmöglich, sie abzulenken, anzu-sprechen oder bewußt aus der»Umlaufbahn« herauszuholen.

Zwei Tage vergingen sehr schnell, ohnedaß sie etwas erreichen konnten - allerdingserfolgte auch kein Angriff gegen sie, wedervon den menschlichen »Satelliten« noch vonseiten des Philosophen. Möglicherweise warer gegen ihre Anwesenheit ebenso taub wiesie gegen ihn, und nur direkte Angriffe mitWaffengewalt konnten ihn dazu veranlassen,die Stellung zu ändern.

Wenn es zu dunkel wurde, mußten sieschließlich jedesmal aufgeben. Atlan erstat-tete Homer G. Adams auf der GILGAME-SCH regelmäßig Bericht, ohne Vorkomm-nisse, und erhielt ebensowenig aufregendeNeuigkeiten. Danach sah der Arkonide sichdie automatisch gesendeten Spätnachrichten

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an, die seine Stimmung nicht gerade hoben.Nichts Neues - außer der rasenden Auswei-tung der Kreise der Philosophen in allen 52Systemen.

Lediglich NATHAN sowie das gesamtesolare Robot- und Syntronsystem funktio-nierten weiterhin einwandfrei. Live-Sendungen mit menschlichen Moderatorengab es natürlich keine mehr. Obwohl es auchkeine - oder fast keine Zuschauer mehr gab,wurden die verschiedenen Stationen weiter-hin betrieben und sendeten gemäß Plan.

Am 15. Juni machten sich die drei Un-sterblichen wieder auf den Weg zu dermenschlichen Spirale - und hatten diesmalgegen Mittag Glück.

»Dort!« Nadja deutete auf zwei Menschenin etwa 15 Metern Entfernung, die soebenlangsam aus der wogenden Masse drifteten:ein kleines Mädchen und ein älterer Mann.

Ihre Gesichter zeigten Erstaunen, sie blie-ben stehen und sahen sich um. Als sie dieUnsterblichen bemerkten, lächelten sieschüchtern und ein wenig neugierig.

»Hallo«, sagte Nadja, die die beiden alserste erreichte.

»Hallo«, gaben sie im Chor zurück.»Warst du auch drin?« fragte das kleine

Mädchen.»Nein«, antwortete Nadja. »Willst du mir

und meinen Freunden darüber erzählen?«Sie kehrten zur Jet zurück, wo die Medos

ein kleines Lager errichtet hatten, und ver-sorgten die beiden Anhänger des Philoso-phen. Sie wirkten sehr erschöpft, aber über-glücklich und verklärt.

George, der 165 Jahre alte Mann, zeigtesich nicht im geringsten erstaunt, unerwartetden legendären Unsterblichen - deren Coma-Expeditionen und anschließenes »Exil« erselbst als aktiver Medien-Zuschauer miter-lebt hatte - persönlich zu begegnen. Er hatteetwas weitaus Bedeutsameres erlebt und warnoch davon erfüllt.

Die achtjährige Anita zeigte sich nochweniger beeindruckt; sie hatte von den Ca-melotern und ihrer jahrtausendelangen Ver-gangenheit bisher nichts gehört. Und sie war

ebenso entrückt wie George.Beide hatten sich bereitwillig gezeigt, ihre

Eindrücke zu berichten; es erschien ihnensogar auf eine missionarische Weise wich-tig. Sie zeigten während der Berichte hinund wieder Mitleid und Bedauern darüber,daß die Unsterblichen bisher nicht den Leh-ren des Philosophen hatten lauschen dürfen.

»Warum seid ihr noch nicht im Kreis ge-wesen?« fragte Anita direkt.

»Wir sind gerade erst angekommen«, ant-wortete Nadja. »Wir möchten gern verste-hen, was hier geschieht.«

*

»Ich habe lange nach dem Kreis suchenmüssen«, begann Anita ihren Bericht.

Sie hatte bis vor kurzem mit ihren Elternin der Tasei-Stadt Rabaul-Tas gelebt, als siezum ersten Mal die Kreise gespürt hatte. Ur-plötzlich war etwas in ihrem Kopf andersgewesen, sie wußte es noch genau: Sie warin der Nacht aus einem Traum hochge-schreckt, aber der Traum hatte nicht wirk-lich aufgehört.

Etwas hatte Kontakt zur ihr gesucht undsie auserwählt. In ihrem Traum hatten Krei-se eine zentrale Bedeutung eingenommen,und sie wußte, daß sie diese nicht für sichbehalten durfte.

Sie mußte sie anderen mitteilen. Also be-gann sie zu zeichnen, Kreise und immerwieder Kreise, und keiner war wie der ande-re.

Die Eltern, die ihr zunächst skeptisch da-bei zugesehen hatten, begannen schließlichzu verstehen, was sie ausdrücken wollte. EinMädchen mit nur acht Jahren verstand es,sich den Erwachsenen verständlich zu ma-chen!

»Bisher haben sie mir nicht einmal richtigzugehört, wenn ich ihnen von meinen Aben-teuern erzählen wollte«, berichtete Anita.»Immer sagten sie, später, Schatz, ich habejetzt keine Zeit, und all so was. Und beimEssen, wenn wir mal alle ruhig am Tisch sa-ßen, redeten sie die meiste Zeit. Ich war ih-

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nen doch gar nicht so wichtig. Aber alles hatsich mit meinem Traum, der nicht mehr auf-hörte, geändert.«

Es dauerte nicht lange, bis auch die Elternanfingen, Kreise zu malen. Sie blieben vonda an fast die ganze Zeit zu Hause, obwohlsie sonst immer so viel unterwegs waren undso viel zu tun hatten. Doch jetzt wollten sielieber bei Anita bleiben und mit ihr Kreisezeichnen.

Niemandem schien aufzufallen, daß dieFamilie ihr Heim nicht mehr verließ - höch-stens zu Einkäufen, wenn der Hunger gar zusehr quälte. Anitas Mutter hatte es sich nienehmen lassen, selbst einkaufen zu gehen;keinesfalls wollte sie automatisch beliefertund bekocht werden. Das ließ sie sich auchjetzt nicht nehmen, und Anita begleitete siejedesmal. Ihr Vater blieb zu Hause undzeichnete; er wollte es nicht riskieren, wo-möglich die Eingebung des vollkommenenKreises zu versäumen.

Anita und ihre Mutter waren stets so ver-tieft in den Austausch ihrer Kreis-Imaginationen, daß sie die Einkäufe schnellerledigten.

»War auf den Märkten viel los?« fragteNadja dazwischen. »Oder hatte sich etwasverändert?«

Anita dachte einen Moment nach, sie riebsich die Nase und bohrte schließlich selbst-vergessen darin herum.

Diese Geste rührte Nadja besonders, dasie selbst die Angewohnheit hatte, immer inangespannten Situationen den rechten Na-senflügel zu reiben.

»Es stimmt«, sagte Anita schließlich. »Eswar schon alles irgendwie anders, aber ichhabe nicht so darauf geachtet. Der Traumvom Kreis war viel wichtiger, verstehst du?Mama hat sich auch nicht so drum geküm-mert, wir haben uns immer viel unterhal-ten.«

»Waren weniger Menschen als sonst un-terwegs?« hakte Mila gleich nach.

Der Arkonide hielt sich die ganze Zeitstill beobachtend im Hintergrund. Georgehatte sich hingelegt und döste vor sich hin.

»Ja schon, aber auch wieder nicht«, laute-te Anitas Antwort. »Ich habe Leute getrof-fen, und sie malten auch Kreise, einfach soauf den Boden oder an die Wände. Das habeich nie gemacht!«

»Hast du sie gefragt, warum sie das ma-chen?«

»Nein, ich habe es ja gesehen. Sie mußtenalle denselben Traum haben wie ich. Ichglaube, daß einfach andere Kinder genausogeträumt haben wie ich und es ihren Elterngezeigt haben. Wie meine Eltern haben diees irgendwann begriffen und nachgemachtund so. Mehr weiß ich nicht darüber.«

Jedenfalls wurde der Gang auf den Marktimmer seltener, denn Anita und ihre Elternhatten unglaublich viel zu tun.

Das Mädchen hatte manchmal ein wenigSchwierigkeiten, sich auszudrücken. Einer-seits war ihr alles völlig klar, andererseitsaber fand sie nicht die rechten Worte dafür.

Es rief auch niemand bei der Familie an,weder die Großmutter noch Anitas Freun-dinnen.

»Hast du dich darüber nicht gewundert?«»Nein! Ich habe ja auf dem Markt gese-

hen, daß die anderen ebenfalls viel zu tunhatten.«

»Warum erschien es dir so wichtig, Krei-se zu zeichnen?«

»Wegen des Kreises - des vollkommenenKreises«, erklärte Anita stolz. »Das, was ichdas erstemal in meinem Traum gesehen ha-be, war nur ein Ausläufer des Kreises. Des-halb haben wir immer versucht, den Kreisdarzustellen, also nach innen zu kommen!«

»Das mußt du mir genauer erklären«, batNadja.

»Wie meine Eltern«, seufzte Anita.»Aber deine Eltern haben es doch verstan-

den, nachdem du es ihnen erklärt hast, nichtwahr?«

»Ja … schon. Aber das ist doch so ein-fach, ich meine, ein Kreis …«

»Du hast versucht, den Kreis darzustellen.Ist es dir gelungen?«

»Den kann man doch gar nicht darstel-len!« Anita seufzte erneut über die Begriffs-

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stutzigkeit der beiden Frauen.»Die Kreise pflanzen sich fort, so von in-

nen nach außen, versteht ihr?«»Von innen nach außen?«»Ja. Also, das ist so wie beim Wasser.«

Anita hob ein Steinehen vom Boden auf undzeigte es den Schwestern. »Du wirfst denStein hinein, und dann gibt's so Ringe, vonder Stelle aus, wo der Stein hineingefallenist. Und die Ringe pflanzen sich fort, nachaußen hin, in immer größeren Wellen. Dassind also die Kreise, und die äußeren Kreisesind die aus meinem Traum, und die innerenKreise habe ich dargestellt, um den Weg zudem Kreis zu finden!« Sie atmete tief ein.

Die Schwestern sahen sich an, als könntensie durch Augenkontakt Anitas verwirrendenWortschwall in etwas Verständliches über-setzen.

»Der Kreis ist also der innerste Ring, dererste Kreis, den, wie in deinem Beispiel, dergeworfene und eingetauchte Stein aus-schickt?« fragte Mila.

Anita strahlte. »Ja, genau so! Der Kreis istder schönste von allen. Ihn wollten wir fin-den. Deshalb habe ich meinen Traum darge-stellt, und dann haben die Eltern geträumt.«

*

Anitas Begeisterung war nun nicht mehraufzuhalten. Ihre Worte wurden zusehendsverklärter und blumiger; sie stand noch im-mer gänzlich unter dem Einfluß des Philoso-phen immerhin war das Kritzelsyndromnicht wieder ausgebrochen.

Das Mädchen benutzte erneut den Ver-gleich mit dem ins Wässer geworfenenStein. »Die Kreise des Philosophen pflanzensich wie Ringwellen im Wasser fort, von in-nen nach außen.«

»Aber das geht nur über eine bestimmteReichweite, bevor sich die Wellen verlau-fen«, gab Nadja zu bedenken.

»Dafür sind die Erwählten da, die es ge-schafft haben, den Inneren Kreis zu betre-ten«, sagte Anita. »Sie werfen wiederumSteine, um die Wellen in Bewegung zu hal-

ten. Das geschieht ständig. Jeder von uns imInneren Kreis hat das getan, damit auch vie-le andere das Wunder erfahren.«

»Was für ein Gefühl hattest du im InnerenKreis?«

»Alle meine Wünsche haben sich erfüllt,ich konnte fliegen. Ich war frei, zu tun, wasich will, und ich wußte auf einmal viele Din-ge, die ich gar nicht gelernt hatte!«

Anita redete sich immer mehr in Begeiste-rung hinein.

»Während ich zu Hause die Kreise ge-zeichnet hatte, hat trotzdem etwas gefehlt, sowie die Schokoladensoße zum Eis, wenn ihrversteht, was ich meine. Es war so ein Ge-fühl, als müßte ich irgendwohin … denKreis zu finden. Mein Vater hat die bestenKreise gezeichnet, aber trotzdem waren sienicht ganz vollkommen. Wir sind zu ande-ren Leuten gegangen, um ihre Kreise zu se-hen, aber das war auch nicht genug. Da ha-ben wir einen Gleiter genommen und unsauf die Suche gemacht.«

»Hast du gewußt, in welche Richtung?«»Ich hatte so ein Gefühl … Meine Träu-

me veränderten sich, je nachdem, in welcheRichtung wir uns wandten. Die Kreiseleuchteten mehr und weniger, und es zogmich schließlich immer mehr hierher.«

»Ihr habt also von selbst hierhergefun-den?«

»Allerdings. Aber wir waren natürlichnicht die einzigen, da kamen noch viel mehrdazu. Manche hatten kein Fahrzeug undmußten zu Fuß gehen, bis sie von anderenmitgenommen wurden. Ich habe da bereitsdie Stimme gehört …«

»Die Stimme des Philosophen?«»Ja. Aber nicht laut, verstehst du, sondern

da drin.« Sie tippte an ihren Kopf. »Fast wiein den Träumen von den Kreisen, aber ebeneine Stimme. Sie sagte, daß ich im InnerenKreis erwartet werde. Na ja, und dann …war ich drin!«

»Und deine Eltern?« hakte Mila nach.»Keine Ahnung.« Anita zuckte gleichgül-

tig mit den Achseln. »Ich denke, sie sind im-mer noch drin. Wir sind alle eine große Fa-

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milie, wir müssen uns nicht immer sehen.Aber das könnt ihr nicht verstehen, ihr wartnie drin.«

Nadja nickte. »Ja, deshalb ist es sehrschön, daß du uns alles erzählst. Als du imInneren Kreis warst … was hast du dort er-fahren?«

»Der Philosoph hat uns immer Anleitun-gen gegeben, wie zum Zusammenbau vonmehreren Teilen, die richtig zusammenge-sucht werden müssen. Erst wenn alle Teilezusammengesetzt sind, ist das Werk vollen-det. Daran müssen wir alle teilhaben, sonstkann es nicht gelingen.«

»Wen meinst du mit alle?«»Alle eben.«»Hier auf Terra?«»Nein. Mehr.« Anita deutete zum Him-

mel. »Die dort auch.«»Das gesamte Solsystem?«Anita nickte.Atlan runzelte die Stirn, mischte sich je-

doch nicht ein. Das war nichts Neues; dasKritzelsyndrom dürfte inzwischen ohnehinfast alle Planeten des Solsystems erfaßt ha-ben.

»Wie könnt ihr alle daran teilhaben?«»Wir müssen den Inneren Kreis ent-

decken, das Wissen des Philosophen erfah-ren und weitergeben an andere, die nichtkommen können. Jeder von uns muß ein be-stimmtes Teil zum Werk beitragen.«

»Was bedeutet dieses Werk genau?«Das war die alles entscheidende Frage.

Die Haltung der drei Unsterblichen war ent-sprechend angespannt.

»Ich bin doch erst acht!« sagte Anitaplötzlich entrüstet. »Der Philosoph kann esgenau erklären, aber ich nicht!«

»Entschuldige«, bat Nadja sanft. »Kannstdu das Werk mit etwas vergleichen?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.»Es ist unvorstellbar schön, einmalig,

groß. Ich hab's schon vor mir gesehen, aberich kann es nicht beschreiben, es geht ein-fach nicht. Es ist so … wunderbar!«

»Also, du denkst, daß es etwas Gutesist?« fragte Mila.

Anita starrte sie verwundert an.»Selbstverständlich«, antwortete sie. »Der

Philosoph ist sehr gut, er hat Frieden ge-bracht, hat mein Vater gesagt. Wir habenfrüher oft gestritten, aber das ist vorbei, seitwir den Philosophen gehört haben. Ich binsehr glücklich!«

»Möchtest du wieder in den Inneren Kreiszurück?« wollte Mila wissen.

»Nein, ich weiß jetzt alles. Ich muß esweitergeben und Kreise darstellen, das istmeine Aufgabe. Der Philosoph vertraut mir,und ich darf ihn nicht enttäuschen. Ihr wer-det doch auch hineingehen, nicht wahr?«

Anitas Augen blickten groß und verklärtvon einem zum andern. Es war unmöglich,sie behutsam in die Realität zurückzuführen;ihr kleiner Geist war vollkommen von denEinflüsterungen der fremden Geistesmachterfüllt. Sie fühlte sich als Missionarin, alsVerkünderin einer neuen Lehre; genausowie die Erwachsenen, auch wenn sie sichnoch nicht ganz so präzise ausdrücken konn-te.

Nachdem sie ihrer Ansicht nach alles ge-sagt hatte, verlor sie rasch das Interesse anden Aktivatorträgern. Leise vor sich hin sin-gend, ging sie einfach davon.

»Soll ich sie aufhalten?« fragte Nadja denArkoniden.

Atlan schüttelte den Kopf.»Es hat keinen Sinn. Sie würde sich nur

bedroht fühlen. Ich kenne das Verhalten.Wir können nichts dagegen tun.«

»Aber die Hörigkeit gegenüber dem Phi-losophen erfolgte doch nicht freiwillig!«

»Das ist es nie«, sagte Atlan ruhig.

*

Nachdem Anita gegangen war, weckteAtlan den älteren Mann, um von ihm Genau-eres zu erfahren.

George berichtete im wesentlichen dassel-be wie das kleine Mädchen, nur wenigerblumig. Doch auch seine Euphorie war un-gehemmt.

»Es ist eine Gnade, in den Inneren Kreis

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zu gelangen!« erzählte er. »Niemand kannsich vorstellen, was es bedeutet, direkt inden Bereich des Philosophen zu kommen. Erist so … gütig, seine Lehren sind so unend-lich weise und harmonisch. Eine große Zu-kunft steht uns bevor, wenn wir ihm alle fol-gen! Glücklicherweise sind die meisten inder Lage, dieses Wissen zu erfühlen und er-fahren zu können. Auch euch wird es so er-gehen, wenn ihr erst lange genug hier seid.Der Philosoph weist niemanden ab, ermöchte jedem helfen.«

»Kannst du uns seine Lehren näherbrin-gen?« forderte der Arkonide ihn auf.

»Diese Lehren muß man selbst erfahren«,antwortete George.

Es klang wie das Echo der Worte einesanderen. Auch seine Miene drückte das aus,er lächelte hingebungsvoll und in glühenderVerehrung - halb verblödet.

»Ich kann es nicht so gut in Worte fassen.Ich kann nur soviel sagen, daß der Philosophdie Güte selbst ist und uns zu absolutemFrieden verhelfen will. Es ist wichtig, dieLehren durch ihn zu erfahren, alles anderewäre nur müder Abklatsch und kann nichtdiese Weisheit enthalten, die er besitzt. Ihrmüßt euch dem Philosophen anschließen,das ist der einzige Weg. Unsere einzige undwahre Zukunft.«

Atlan hatte für einen Moment Mühe, sei-ne Gefühle unter Kontrolle zu halten. Amliebsten hätte er George so lange geschüttelt,bis alle »Weisheiten« aus ihm herausgefal-len wären und ihn wieder zu einem norma-len vernunftbegabten Menschen gemachthätten. Aber es hatte keinen Sinn; zu oftschon hatte er ähnliches erlebt.

»Anita hat von dem Werk berichtet, andem ihr alle teilhaben sollt«, fuhr er fort.

George nickte. »Jeder von uns muß seinTeil dazu beitragen. Der Philosoph kann esnicht allein vollenden. Es hätte andererseitsauch keinen Sinn, denn das Werk soll füruns alle entstehen.«

»Was bedeutet das Werk? Woraus bestehtes?«

»Oh, es ist ein Bauwerk von unvorstellba-

rer Größe, mindestens planetengroß, viel-leicht sogar so groß wie die Erde … nein,größer wahrscheinlich noch«, antworteteGeorge begeistert. »Es ist das höchste Ziel!Unser einziges und wahres Ziel, an dem wiralle arbeiten, und die Vollendung des Werkswird gleichzeitig auch unsere Vollendungsein!«

»Woraus wird es gebaut? Kann man essehen?«

»Der Philosoph stellt uns das Material zurVerfügung, denn das Monument wird alleDimensionen sprengen, so groß wird es sein.Sehen … nun ja, ich sehe es bereits jetztganz deutlich vor mir, aber so wie normalesSehen ist das nicht … es ist irgendwie, wiesoll ich sagen, in sich gestülpt.«

Die Unsterblichen blickten sich an. Daswar die erste konkrete Aussage, ein Hinweis… worauf?

»Ist es so etwas wie ein Mikrokosmos?«forschte Atlan. »Außen winzig, innen rie-sig?«

»Davon verstehe ich nichts«, bedauerteGeorge. »Es ist etwas Riesiges, das nicht aufTerra steht, jedoch eng mit ihm verbundenist. Das vollendete Werk ist nebenan.«

»In einer anderen Dimension?«»Nebenan eben.«George zeigte ein breites, lückenhaftes

Grinsen. Der Blick seiner Augen verschlei-erte sich, und seine Hände kramten in denTaschen seiner Kleidung. Schließlich zog erstrahlend einen Stift und den winzigen Resteiner Schreibfolie hervor. Ohne die Camelo-ter eines Blickes zu würdigen, stand er aufund ging davon, genau wie Anita. Nur sanger nicht, sondern begann Kreise auf die Foliezu kritzeln.

Intermezzo

Der Schatten wächst, seine Gestalt weitetsich nun schon nahezu über den ganzen Ho-rizont aus. Er ist mit nichts vergleichbar,was wir je erschaffen haben. Und reit nichts,was jemals auf dieser Welt gelebt hat.

Woher weiß ich das nur?

Zerrspiegel 11

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Es ist vollkommen egal, woher ich dasweiß. Tatsache ist, daß der Schatten wächst,und er ist bedrohlich. Alles, was vom Him-mel kommt, ist bedrohlich und eine Gefahrfür die Bodenbewohner. Dort oben kann derSchatten uns alle sehen, kann sich auf weni-ge von uns konzentrieren und sich daraufstürzen …

Ein Terraner hat mir erzählt, daß fliegen-de Wesen auf anderen Welten ganz normalseien. Aber das ist nicht so bei uns. Mir wur-de auch erzählt, daß die Intelligenzen dieserWelten sich ein Beispiel an diesen Fliegen-den genommen und den Luftraum eroberthatten. Mir wurde sogar von Kriegen er-zählt, Kämpfen zwischen Völkern.

All das gibt es bei uns nicht, denn wir ha-ben keine Fliegenden.

Das ist jetzt anders …Der Fliegende nimmt allmählich Gestalt

an. Aus einem formlosen Schatten wird eineGestalt, ein Körper, riesenhaft und weiter-hin bedrohlich. Wächst immer noch. StrecktArme aus, an denen dünne Haut flattert.Breitet diese Arme nahezu über die Weltaus, schlägt mit ihnen auf und nieder …fliegt bewußt, bewegt sich leicht und schwe-relos durch die Luft. Dem kann ich nie ent-kommen.

Er fliegt direkt auf mich zu. Ich will fort-laufen, aber meine Beine sind schwer wieBlei. Ich kann mich nicht einmal umdrehen.Ich will um Hilfe rufen, aber es ist niemandda, der mich hören könnte. Und ich bringeauch keinen Laut hervor …

Er öffnet seinen Rachen, heißer Atemschlägt mir ins Gesicht. Rote Flammen zün-geln aus den Winkeln seiner unförmigenSchnauze. Und seine riesigen Flügelarmeschlagen immer schneller; Wind erfaßtmich, und nun muß ich mich festhalten, umnicht fortgerissen zu werden, eingesaugt inden teuflischen Rachen, verloren auf immerin einer alles verschlingenden Finsternis …

»Nein!«Caljono Yai war sich diesmal rasch be-

wußt, daß sie geschrien hatte. Nicht nur, daßder Alptraum wiederkehrte; er entwickelte

sich weiter, wie eine Fortsetzungsgeschich-te. Und das jede Nacht.

Die Mahnerin entdeckte an sich schon dieersten Zeichen der Verwirrung: Sie warständig müde, reagierte gereizt auf Anfragenund schaute immer wieder über die Schulter,weil sie das Gefühl hatte, sie würde beob-achtet.

Vej Ikorad hatte sie schon einmal auf ihrnervöses Verhalten angesprochen, aber siehatte ihm nicht geantwortet. Was sollte sieihm auch sagen? Wie sollte sie ihm erklären,daß sie die Nächte fürchtete, nicht mehr gernschlafen ging und stets das schattenverdrän-gende Sonnenlicht herbeisehnte?

Er konnte es nicht verstehen, sie begriff esja selbst nicht. Sie versuchte, sich selbst zuanalysieren, der Ursache auf den Grund zugehen. Aber sie fand keine …

Sie versuchte, die Alpträume zu ignorie-ren und so zu tun, als wäre da in Wirklich-keit gar nichts. Um so mehr wurde sie danngequält, wenn sie schließlich doch, entkräf-tet und übermüdet, in den Schlaf sank. DieTräume setzten ihre eigene Geschichte fort,entwickelten immer mehr Schrecken undstreckten ihre Fühler zusehends auch in dasWachen, in die heile Welt unter dem Son-nenlicht aus …

3.Der Innere Kreis

Atlan konnte seine Enttäuschung nichtverhehlen. Viele Fragen, aber außer blumi-gen Worten keine Antworten.

»Zumindest wissen wir jetzt, daß der Phi-losoph dabei ist, etwas Gewaltiges zu er-schaffen«, versuchte Nadja ihn zu trösten.»Damit ahnen wir wenigstens, wo wir anset-zen müssen.«

»Die Fertigstellung dieses Bauwerks zuverhindern«, äußerte der Arkonide sarka-stisch. »Das ist nicht besonders viel, meintihr nicht? Wir wissen weder, was das für einominöses Monument sein soll, noch wo undwie es erbaut wird - und welchen Zweck eserfüllen soll. Wir haben nicht die geringste

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Chance, den Menschen zu helfen. Ihr habt esselbst erlebt.«

»Der Philosoph hier auf Terra handelt be-stimmt nicht als einziger so«, meldete sichMila zu Wort. »Der Einflußbereich eines je-den Philosophen ist gewaltig, und jeder vonihnen ist vermutlich dabei, etwas zu erschaf-fen.«

»Ja«, stimmte Atlan zu. »Möglicherweisewird dieses in sich gestülpte, nebenan lie-gende Monument sogar im Zusammenwir-ken aller 52 Philosophen erbaut - jeder trägtseinen bestimmten Teil dazu bei. Wenn mei-ne Behauptung stimmt, dann wird das aller-dings ein gigantisches Bauwerk. Im Kollek-tiv erfaßt der Einflußbereich der Philoso-phen einen Umkreis von gut und gern 5000Lichtjahren.«

Die Schwestern starrten ihn mit er-schrockenen Gesichtern an. »Das … dassagst du so gelassen?« stieß Nadja hervor.

»Soll ich mir dabei die Haare raufen?«gab er zurück. »Ich habe gerade das Sterbenvon 52 Welten miterlebt! Und nun wirkendiese Menschen hier so verklärt und glück-lich und halten den Philosophen für ein gu-tes Wesen!«

»Wir brauchen so schnell wie möglichAntworten«, unterbrach Mila. »Und die be-kommen wir nur an der Quelle.«

Atlan nickte. »Die Roboter werden unsbegleiten.«

Da der Tag fast vorüber war, entschlossensie sich, erst am nächsten Morgen aufzubre-chen. Die Roboter errichteten ein Lager undversorgten die drei Menschen mit Getränkenund Essen, während diese sich eine Strategieüberlegten.

»Wir sollten es zu Fuß angehen, das istam unauffälligsten«, plante der Arkonide.»Wachen oder ähnliches wird es nicht ge-ben, aber ein störender Einfluß wird denPhilosophen möglicherweise vertreiben. Erdarf uns nicht bemerken.«

Mila stimmte zu. »Wir müssen uns unterdie Menge mischen und uns langsam demZentrum nähern. Wir sollten versuchen, demPhilosophen so nahe wie möglich zu kom-

men vielleicht sehen unsere Augen mehr, alsdie Technik uns übermitteln kann.«

»Und vielleicht können wir seine Strukturerfassen und durchleuchten«, fügte Nadjahinzu. »Wobei ich dir nicht allzuviel Hoff-nung machen will, Atlan. Bei allem, was mitden Tolkandern zusammenhing, haben wiruns bisher ziemlich die Zähne ausgebissen.«

»Du meinst den Pilzdom auf Trokan?«»Allerdings. Es kostet uns mehr als die

übliche Energieaufwendung. Aber natürlichwerden wir nichts unversucht lassen … ichmöchte dich nur vor einer Enttäuschung be-wahren.«

»Unsinn«, brummte er. »Selbst wenn ihrnur die Oberfläche erfassen könnt, ist dasimmer noch mehr, als wir bisher mit derTechnik ermitteln konnten. Aber um einesmöchte ich euch bitten: Sobald die Sache füreuch zu anstrengend und damit gefährlichwird, brecht ihr sofort ab.«

»Das ist selbstverständlich«, sagte Mila.»Wir haben aus den letzten Malen viel ge-

lernt und wissen, wie wir vorgehen müs-sen«, setzte Nadja fort »Wir müssen uns mitunserer Gabe den Gegebenheiten anpassen,so merkwürdig das klingt. Wir haben mitden Tolkandern inzwischen einige Erfahrun-gen gesammelt und werden diese anwenden.Nur so haben wir überhaupt eine Chance, anden Philosophen heranzukommen.«

»Hoffen wir das Beste«, seufzte Atlan.Er richtete den Blick auf die kreisende

Spirale aus Menschenleibern. An diesen An-blick mochte er sich nicht gewöhnen, er jag-te ihm immer wieder von neuem Schauerden Rücken hinunter.

Das Kreisen hörte auch während derNacht nicht auf; entweder brauchten die Be-einflußten keinen Schlaf, oder sie nicktenimmer wieder während des Gehens ein, oh-ne daß ihr Bewegungsablauf stoppte. So ge-sehen war es ein Wunder, daß Anita und Ge-orge nicht sofort zusammengebrochen wa-ren, als sie aus dem Inneren Kreis entlassenworden waren. Sie hatten jegliches Zeitge-fühl verloren, also war es schwer zu sagen,wie lange sich die Menschen im Inneren

Zerrspiegel 13

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Kreis aufhielten.Es war fast beängstigend, auch in der

Nacht das unaufhörliche, von schwachemLicht und leisem Summen begleitete Rotie-ren zu beobachten. Die Konturen verwisch-ten sich in der Dunkelheit, so daß man denEindruck eines gigantischen Wurms ohneKopf und Ende bekommen konnte, der sichum sich selbst wand.

Als der Arkonide am anderen Morgen er-wachte, war die kreisende Spirale ver-schwunden.

*

»Der Philosoph hat seinen Standort schonwieder gewechselt«, meldete Mila, die alserste aufgestanden war. »Ich habe ihn be-reits aufgespürt. Er hat sich zwanzig Kilo-meter weiter um den Berg herum bewegt.«

»Scheint fast so, als ob das Kilimandscha-ro-Massiv eine wichtige Rolle spielt«, sin-nierte Atlan. »Der Philosoph sieht mögli-cherweise in dem Berg einen besonderenBezugspunkt.«

»Vielleicht gefällt er ihm«, meinte Milaleichthin.

»Du meinst, er hat keine besondere Be-deutung?«

Mila hob die Schultern. »Nicht der Bergan sich, aber vielleicht dieser Standort. Wirwissen nicht, wofür sich dieses fremde We-sen interessiert und ob es die Umgebungebenso wahrnimmt wie wir.«

Sie brachen das Lager ab und flogen mitder Jet zu dem neuen Standort des Philoso-phen. Die Situation dort war unverändert,nur das Landschaftspanorama hatte sich einwenig verändert.

In Begleitung der zehn Modulas machtensich die drei Aktivatorträger auf den Wegins Flimmerzentrum. Die Roboter schirmtensie dabei gegen die unaufhörlich kreisendenMenschen ab.

Es war merkwürdig, in die Menschenmas-se einzutauchen, durch sie hindurchzugehen.Die Versuchung, sich der wirbelnden Bewe-gung anzuschließen, war sehr hoch, trotz der

Abschirmung durch die Roboter, die einengewissen Abstand garantierten.

Diesem gewaltigen Ansturm an Euphorie,an völlig hingegebener Begeisterung, wärekein empfindungsfähiges Intelligenzwesenauf Dauer gewachsen gewesen. Die Unsterb-lichen spürten es deutlich, wie es sie selbstaufputschte, obwohl sie für die Sendungenund »Lehren« des Philosophen selbst weiter-hin absolut unempfänglich waren - nicht nurimmun, sondern taub.

»Sie wirken alle so … unendlich glück-lich!« meldete sich Nadja, die am weitestenvorn war.

»Wir müssen uns ganz langsam und vor-sichtig zum Zentrum vorarbeiten, damit derPhilosoph nicht auf uns aufmerksam wird«,mahnte Atlan per Funk. »Bleib in unsererNähe, Nadja. Diese Massenhysterie ist an-steckend; selbst mir macht sie zu schaffen.«

Die Beeinflußten beachteten sie überhauptnicht. Es schien sie auch nicht zu stören, vonden Robotern umgeleitet zu werden.

Nach einigen Kilometern konnten sie daswirbelnde Flimmerzentrum deutlich erken-nen; die hörigen Menschen machten - be-wußt oder unbewußt -einen Bogen darumherum und hielten einen ehrfürchtigen Ab-stand. Das Zentrum hatte rund hundert Me-ter Durchmesser, scharf abgegrenzt zudemBannkreis.

Atlan wies die Modulas an, vor dem Zen-trum zu warten. Er hoffte, daß durch denPhilosophen keine aggressive Abwehr er-folgte, sobald sie das flimmernde Zentrumbetraten. Dann hatte er die Grenze bereitsüberschritten.

Der Arkonide maßte schnell einsehen, daßer nicht mehr weiterkonnte. Die flimmern-den, verwirrenden Muster und Strukturenmachten es ihm unmöglich, eine klare Sichtzu bekommen oder sich zu orientieren. Nachden ersten Schritten kehrte er um.

»Ich kann euch nicht weiterbegleiten«,gab er den Zwillingen über Funk bekannt.

»Warte nur«, kam es von Mila zurück.»Wir werden versuchen, ihn zu erfassen.«

»Seid ihr sicher da drin?«

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»Keine Sorge. Das Flimmern ist rein op-tisch. Es beeinträchtigt uns weder körperlichnoch geistig. Von hier aus können wir denbesten Zugriff bekommen - falls er sichnicht sofort wieder verdünnisiert.«

*

Die Gäa-Geborenen tasteten sich behut-sam weiter durch das flimmernde Chaos, bissie noch ungefähr dreißig Meter vom Mittel-punkt entfernt waren. Hier war auch für siedie Grenze erreicht, an der sie anfingen, dieOrientierung zu verlieren.

Jetzt, Schwester!Wortlos kamen sie überein, ein kurzer

Blickkontakt genügte.Sie ergriffen sich wie gewohnt an den

Händen und konzentrierten sich. Per Struk-turformen und -sehen maßte dieses unheim-liche Wesen doch zu fassen sein!

Schon nach kurzer Zeit spürten beide, wieihnen der Schweiß ausbrach. Sie waren nochnicht einmal ganz ins Zentrum vorgedrun-gen, spürten aber zugleich Widerstand undeinen Vorstoß ins Leere. Innerhalb des Flim-merns, das auch in den Strukturen noch er-halten blieb, war es unmöglich, den Körperdes Philosophen zu erfassen.

Was ist das nur, Schwester?Keine Barriere und dennoch undurch-

dringlich.Ein … Spiegel. Es ist ein Spiegel!Und noch viel mehr, Schwester. Ein gan-

zes Spiegelkabinett, das noch dazu alles ver-zerrt.

In diesem Flimmern spiegelte sich derPhilosoph vielfach, aber so verzerrt, daß sei-ne Gestalt nicht einmal annähernd erkennbarwar. Er war und blieb ein Irrwisch, ein ra-sender Schemen, der überall zugleich undnirgends war. Sie konnten ihn nicht erken-nen, nicht einmal eine annähernde Struktur.

Wo befand er sich wirklich? Woraus be-stand er? Was war er?

Das Spiegelsehen der Schwestern ging insLeere. Trotz ihrer Gabe waren sie ebenso»blind« wie die Technik, wie ihre eigenen

Augen.Enttäuscht mußten sie sich in dieser Run-

de geschlagen geben und sich zurückziehen.Ihre Kräfte waren bereits weitgehend aufge-braucht. Sie mußten die Situation erst analy-sieren und sich eine Strategie überlegen, be-vor sie einen zweiten Versuch starten konn-ten.

Denn daß es einen zweiten Versuch gebenwürde, bezweifelten sie keine Sekunde. Siewaren weit davon entfernt aufzugeben.

Atlan empfing die beiden Erschöpftenund brachte sie im Schutz der Modulas zu-rück zur Jet, zum neu aufgeschlagenen La-ger. Er schien sehr besorgt, da die beidenkreidebleich, schweißgebadet und zittrig wa-ren, bestürmte sie jedoch nicht mit Fragen.

Nach einer Stunde kamen die Zwillingegeduscht und frisch gekleidet zu ihm zurückund stürzten sich auf das vorbereitete Essenzwar nur aus Nahrungskonzentraten, aberdas störte sie in diesem Moment nicht.

Der Arkonide wartete geduldig, bis sieihm endlich Bericht erstatteten. Dieser wardann frustrierend genug. Damit hatte er auchgerechnet, denn im Fall eines Erfolgs hättensie ihm sicherlich sofort das Wichtigste mit-geteilt.

»Es ist wie in einem Labyrinth, du verirrstdich ständig auf immer neuen, sich weiterverschlingenden Pfaden«, sagte Nadja.»Eine Orientierung war nicht möglich, einekonstante Struktur zu erfassen ebenfallsnicht. Wir tasteten uns ständig ins Leere, injeder Richtung, als ob das einfach - nichtswäre, ein Abgrund ohne Anfang und Ende!«

»Dann habt ihr den Philosophen nicht ge-funden?«

»Der Philosoph ist da, obwohl er sichständig verflüchtigt. Es war sehr irritierend,diese ständige Hinund Hergerissenheit zwi-schen Nichts und Da. Es ist kein Trugbild, errast in seinem eigenen Zentrum umher …«

»… wie ein Derwisch«, warf Atlan ein.»Ja, was immer das auch sein mag, und ist

sowenig zu erfassen wie ein Schemen, einIrrwisch, der dich ewig narrt«, beendete Mi-la den Satz.

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»Ich möchte einen Vergleich zu einerAussage von George ziehen«, sagte Nadja.»Er sprach von dem Bauwerk, das nebenanexistieren würde. Irgendwie ist es so auchmit dem Philosophen. Er hält sich meinerAnsicht nach gleichzeitig in zwei verschie-den dimensionalen Räumen auf: hier am Fußdes Kilimandscharo, wo die beeinflußtenMenschen seine Lehren erfahren können,und - irgendwo nebenan.«

»Daran habe ich auch schon gedacht«,gab Atlan zu. »Während ihr ins Zentrumvorgedrungen seid, habe ich über GeorgesAussage nachgedacht und mir überlegt,wenn der Philosoph zusammen mit seinenKumpanen das Bauwerk nebenan errichtet,dann muß er sich auf irgendeine Weise auchdort befinden. Und gleichzeitig hier, um sei-nen Kreis so weit zu ziehen, bis er genügendMacht und Einfluß besitzt - wofür auch im-mer. Die Ortung hat bisher stets aufgrunddes Flimmerns versagt, auch von hier aus.Allerdings hat sich noch keiner von uns bis-her innerhalb des Kreises befunden. Ich ließdie Modulas daher von innen heraus den ge-samten Inneren Kreis und das Zentrum ortenund Analysen vornehmen. Die Ortungser-gebnisse decken sich genau mit eurer Ver-mutung: Der Philosoph ist nicht als Masse,als Körper zu orten, sondern als Energiege-bilde aus fünfdimensionalen Komponenten.Ich hatte gehofft, daß ihr diese Komponen-ten genauer analysieren könntet.«

»Das ist uns beim ersten Mal mißlungen,aber jetzt wissen wir, worauf es ankommt«,erwiderte Mila. »Wir können es abhaken,seine Gestalt zu erfassen. Aber da ist immernoch das Flimmern, das ihn umgibt und daser wohl selbst produziert. Wir könnten ver-suchen, darüber an den Philosophen heran-zukommen!«

»Das Phänomen ist für uns die am bestenfaßbare Kraft«, stimmte Nadja zu. »Es rastnicht herum und ist auch nicht nebenan ver-ankert. Wenn wir es irgendwie in den Griffbekommen könnten, müßte es doch möglichsein, es für uns nutzbar zu machen und denPhilosophen auf mentaler Ebene zu errei-

chen!«»Das klingt einleuchtend«, gab Atlan zö-

gernd von sich.Mila musterte den Arkoniden. »Du klingst

nicht sehr begeistert, obwohl wir zum erstenMal so etwas wie einen Anhaltspunkt undeinen Hoffnungsschimmer haben.«

»Ich gebe zu, daß es mir nicht gefällt. Ihrzwei solltet euch mal im Spiegel anschau-en.«

»Von jemandem mit deiner Erfahrunghätten wir eigentlich bessere Komplimenteerwartet.«

»Ich meine es ernst.«Die beiden jungen Frauen lächelten. In

diesem Moment sahen sie sich mehr denn jeähnlich, jede wie die Ausgabe der anderen.Sie hatten Atlan das Auseinanderhalten in-sofern erleichtert, als Nadja ihr Haar rechtsgescheitelt trug und Mila links. Das einzigeUnterscheidungsmerkmal, ansonsten tratensie wie eine Einheit auf, in Gestik und Ton-fall und zumeist - wenn es nicht zu privatwurde - auch mit denselben Ansichten.

»Ich weiß, wir sehen nicht besondersfrisch aus«, sagte Nadja besänftigend. »Aberdas ist nunmal kein Spaziergang, sondern ei-ne gewaltige Aufgabe. Du kannst uns ver-trauen, Atlan, wir wissen genau, was zu tunist und wie weit wir gehen können. Wir sindjetzt erschöpft, aber eine ruhige Nacht undunser Aktivator stellen unsere Kräfte bismorgen wieder vollends her.«

»Und - du hast gar keine Wahl«, fügteMila hinzu. »Genau wie Myles auf Trokan.Unsere Gabe wäre Verschwendung, wennwir sie nie einsetzen würden, aus Angst, un-ser Leben zu verlieren. Ich weiß, was duempfindest, denn du kannst nur dabeistehenund zusehen. Wir aber müssen tun, was zutun ist.«

Intermezzo

Und wieder diese Alpträume, fortlaufend,sich ergänzend und wiederholend wie einunendliches, in sich selbst verschlungenesBand, das die Mahnerin, an sich gefesselt,

16 Susan Schwartz

Page 17: Zerrspiegel

unaufhörlich mit sich riß! Seit wie vielen Ta-gen schon?

Caljono Yai hielt es in ihrer kleinen Kam-mer nicht mehr aus. Sie warf sich die violet-te Kutte über und verließ mit eiligen Stelz-schritten das Bethaus.

Moond lag weitgehend in Finsternis. Daswar nicht natürlich. Es gab inzwischen wie-der Elektrizität und Straßenbeleuchtung. Nurfernes Sternenlicht warf einen kümmerlichschwachen Schein herab, das den Winkelnder Häuser gespenstische Schatten verlieh.

Die Mahnerin war ganz allein. Niemandaußer ihr war unterwegs, alle Herreach sch-liefen friedlich und traumlos?

Was ist los reit mir? dachte Caljono Yaivoller Schrecken. Bin ich nun verrückt ge-worden? Nicht mehr normal? Wenn ich nurmit jemandem sprechen könnte …

Nein, sie konnte mit niemandem spre-chen: Die anderen könnten sie nicht verste-hen, und sie würde ihre erst vor wenigenMonaten erworbene Achtung und ihren Ein-fluß wieder verlieren.

Aber einen Grund mußte es haben, wes-wegen sie sich so seltsam benahm und sichso ungewöhnlich fühlte.

Sie konnte nicht darüber nachdenken, siemußte fort. Egal, wohin.

Nur weiter, nicht stehenbleiben!Sie brauchte sich nicht zu verstecken, es

war ohnehin niemand unterwegs. Außerdemwaren ihr die dunklen Winkel und Schlag-schatten der Häuser nicht geheuer.

Einige Zeit irrte sie durch die Straßen, oh-ne einen klaren Gedanken fassen zu können.Dabei sah sie immer häufiger über dieSchulter. Und dann entdeckte sie zum erstenMal, weshalb sie das die ganze Zeit tat.

Zuerst hielt sie es für eine optische Täu-schung, doch es war real: Die Schatten hin-ter ihr begannen sich langsam zusammenzu-ziehen und zu ballen, aus allen Ecken undWinkeln heraus. Diese vereinigten Schattenkrochen über den Boden, ohne Scheu vordem schwachen Sternenlicht, mitten auf derStraße entlang.

Caljono Yai konnte sie jetzt deutlich se-

hen. Und sie sah auch, daß die schleichen-den Schatten weiter aufeinander zustrebtenund sich wiederum vereinigten, zu immergrößeren Gebilden, bis nur noch ein einzigerriesiger schwarzer Schattenfleck hinter ihrwar. Der nun seine bisher auseinanderstre-benden Extremitäten zusammenzog und sichlangsam aufrichtete. Er nahm keine Gestaltan, blieb ein undefinierbares, schlieriges, ab-solut finsteres Etwas, das wuchs und wuchs.Und es hatte ein wirbelndes, alles verschlin-gendes Zentrum, von dem sie ihre Augennur mit Mühe losreißen konnte. Sie hatte dasGefühl, als würde ihr Geist unwiderstehlichdavon angezogen, während ihre Füße auto-matisch weiter Reißaus nahmen. Was würdegeschehen, wenn sie sich dem Sog nichtmehr widersetzen konnte?

Caljono Yai lief weiter, doch das Schwar-ze blieb hinter ihr. Es wuchs immer nochweiter, wie jener Fliegende aus dem Traum,und bald begriff sie, daß sie nicht entkom-men konnte. Sie spürte, wie dieses Unbe-kannte, Unheimliche sie überholte, an bei-den Seiten und über ihren Kopf hinweg, eshüllte sie geradezu ein, überall umgebend,und peinigte sie mit Furcht und Schrecken.

Dann hörte sie den Schrei eines Herreachaus einer schmalen Seitengasse vor ihr, undsie wandte sich sofort dorthin. Der Schreihatte angstvoll geklungen, aber wenigstenswar sie nicht mehr allein. Vielleicht konntensie gemeinsam diesem fremden Schreckenentkommen?

Sie sah einen Herreach am Boden liegen,er stieß einen zweiten Schrei aus, und überihn gebeugt stand ein anderer Herreach, einlanges, scharfes, besudeltes Messer in derHand, mit dem er wieder und wieder auf denWehrlosen einstach …

Caljono Yai fuhr auf, sie war fast dem Er-sticken nahe. Einige Zeit konzentrierte siesich nur auf ihren Atem und ignorierte dasHämmern ihres Herzens. Schließlich wurdesie ruhiger, und sie sah durch den schmalenFensterspalt das beruhigende künstlicheLicht einer Lampe.

Wieder nur ein Traum; ein Traum, der in

Zerrspiegel 17

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einen anderen übergegangen war. Und im-mer realistischer wurde. Wann würde derZeitpunkt kommen, zu dem sie nicht mehrzwischen Wachen und Träumen unterschei-den konnte? Zu dem es tatsächlich keinenUnterschied mehr gab?

So ging es nicht mehr weiter.Sie stand auf und machte sich auf den

Weg zu Vej Ikorads Kammer in dem vonden Neuen Realisten vor kurzem bezogenenHaus am Rand von Moond. Aber auf demWeg war sie nicht sicher, ob sie nicht dochnoch träumte. Nach wie vor lastete etwasUnbekanntes, Unheimliches schwer auf ihr,das sie fast wie ein körperliches Gewichtniederdrückte.

Es war nicht in ihr, aber um sie herum,umgab sie wie eine Hülle, die sich zusam-menzog und wieder aufblähte. Es war nichtgut, es flößte ihr Furcht ein. Und es warenkeine Reste eines Alptraums, sondern etwas,das sie aus dem letzten Alptraum mit in diereale Welt hinübergezogen hatte, so wirklichwie das Gefühl ihres eigenen Körpers, derzitternden Glieder, der Müdigkeit …

Vej Ikorad zeigte sich keineswegs erfreutüber die Störung. Er tadelte die junge Mah-nerin.

»Benimm dich gefälligst nicht wie einMensch, Yai!«

»Ikorad, hier gehen unglaubliche Dingevor!« Sie ließ sich nicht beirren und berich-tete von den Schrecken der vergangenen Ta-ge. »Diese Alpträume … das ist etwas ganzNeues, doch es hört auch im Wachen nichtauf! Ich bin sicher, daß ich inzwischen nichtmehr die einzige bin, die das spürt. Wirmüssen etwas unternehmen!«

»Was macht dich so sicher, daß du nichtverrückt geworden bist wie diese Terraner?«fragte der Sprecher der Neuen Realisten.

»Weil ich angefangen habe, die anderenzu beobachten. Schon seit Tagen benehmensich viele Clerea und auch unsere eigenenLeute eigenartig … Sie schauen sich beivollkommen unpassenden Gelegenheitenimmer wiederum, als hätten sie das Gefühl,verfolgt zu werden. Sie schrecken bei uner-

warteten Geräuschen zusammen. Sie wirkenerschöpft, jedoch gehen wir alle in der Dun-kelheit schlafen, und wir haben uns darangewöhnt. Spürst du es denn nicht, Ikorad?«

Sie starrte fast flehend in die schmalenAugen des Sprechers.

»Die Lage könnte tatsächlich ernst wer-den«, sagte der Ältere schließlich.

4.Nachrichten

Den Beginn des zweiten Versuchs mußtendie beiden Esper jedoch verschieben, als dieerste Nachricht eintraf.

Homer G. Adams meldete sich von derGILGAMESCH zu einer ungewohnten Zeit- am Morgen.

»Ich weiß, daß ich euch damit überrasche,aber es gibt Neuigkeiten, und die will ichnicht vorenthalten«, begrüßte er seine Freun-de. »Im Kugelsternhaufen 47 Tucani, in demdie Tolkander sozusagen ihr ›Lager aufge-schlagen‹ haben, sind weitere 19 Glieder-schiffe eingetroffen.«

Bei den Gliederschiffen handelte es sichum eine Art gigantischer Fragmentraumermit bis zu 23 Kilometern im Durchmesser.Sie bestanden aus teilweise über hundertFragmenten, die durch eine Art Kettenglie-der aneinandergekoppelt waren. Diese Glie-derschiffe konnten sich des weiteren wie einBandwurm aneinanderreihen; das Komman-doschiff setzte sich aus einer solchen Mehr-fachverbindung von beachtlichen 42 Kilo-metern zusammen. Der Durchmesser betrugbei diesem Giganten an der dicksten Stelleimmerhin fünf Kilometer.

Bei den Fragmenten handelte es sichhauptsächlich um Maschinenanlagen, dieausgekoppelt, auf Planeten stationiert unddort zu Fabrikanlagen zusammengebautwerden konnten. Kein Bauteil glich dem an-deren.

Nur sieben bis vierzehn Fragmente bilde-ten das eigentliche Raumschiff.

Die Raumschiffe standen den Chaerodern- den Koordinatoren und den Physandern -

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den Ingenieuren - zur Verfügung. Auf einenChaeroder kamen rund fünfzig Physander.

Dies waren die ersten Tolkander gewesen,die mit den Galaktikern aktiv Kontakt aufge-nommen hatten - um zu behaupten, daß allesbisher Geschehene nur ein bedauerlicher Irr-tum gewesen sei. Bald darauf war auf 52Welten alles intelligente Leben erloschen.

60 Gliederschiffe waren am 25. März inder Milchstraße erschienen, und nun, dreiMonate später, hatten die Tolkander dasAufgebot nochmals um rund 30 Prozent er-höht.

»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, sag-te Atlan alarmiert.

»Das ist noch nicht alles«, meinte Adams.»Eines kommt direkt auf uns zu.«

»Solsystem?« war die knappe Frage.»Korrekt«, lautete die ebenso knappe Ant-

wort.»Verdammt!« Atlan ballte eine Hand zur

Faust, und er spürte, wie seine Augen vorErregung feucht wurden. »Kein Zweifel?«

»Tut mir leid, Atlan. Es hat bereits die er-ste kurze Überlichtetappe in Richtung Solsy-stem hinter sich gebracht. Wenn es diesenKurs beibehält, wird es das Solsystem dem-nächst erreichen. Natürlich wäre eine plötz-liche Änderung möglich, ich frage mich nur,wozu. Und schließlich … befindet sich aufTerra ein Philosoph.«

»Demnach könnte das Werk oder Bau-werk unseres Philosophen hier in eine ent-scheidende Phase getreten sein?« mutmaßteNadja.

»Oder das Gesamtwerk aller Philoso-phen«, ergänzte der Arkonide in grimmigerWut.

»Aber wie?« rief Mila. »Es hat sich hierabsolut nichts verändert. Auch während un-seres gestrigen Einsatzes ist nichts Auffälli-ges geschehen!«

Als sie Atlans Blick auffing, verstummtesie. Ihre Frage war unbeantwortbar und da-her überflüssig.

Der Arkonide war zornig, weil die Situati-on völlig außer Kontrolle geriet - nicht nur,daß sie nichts dagegen unternehmen konn-

ten, sie bekamen überhaupt nichts mit, ob-wohl alles sich vor ihren Augen abspielte!

»Wir - wir müssen so schnell wie möglichwieder an den Philosophen ran«, stotterteNadja. »Homer, du mußt mit der GILGA-MESCH weiterhin auf Sicherheitsabstandbleiben, nicht wahr?«

»Es hat sich hier nichts geändert, der Ein-flußbereich des Philosophen breitet sich mitrasender Geschwindigkeit aus«, antworteteder ehemalige Hanse-Chef. »Soll ich versu-chen, das Gliederschiff abzufangen?« Atlanstieß ein bitteres Lachen aus. »Und wiewillst du es aufhalten? Mit einem Steinwurf,wie David gegen Goliath? Oder eine Ampelauf Rot stellen?«

»Ich könnte versuchen, mit den Chaero-dern zu reden.«

»Ich verstehe dich ja, alter Freund, aberdas wird nichts nützen. Die Tolkander gehennach einem langfristigen Plan vor und lassensich durch nichts aufhalten. Ihre Beschwich-tigungstaktik gehörte ebenso dazu wie dieAufstockung ihrer Flotte. Du wirst ihnennicht mehr bedeuten als eine summendeMücke - wenn du zu lästig wirst, werden siedich platt drücken.«

Auf der hohen Stirn des kleinen Mannesbildeten sich Runzeln. »Pessimismus undMelancholie gehören eher zu meinem Cha-rakterbild.«

»Wahrheit bleibt Wahrheit, und zum Be-schönigen ist es zu spät.« Atlan hatte sichwieder gefangen, seine Stimme war kühlund gelassen, die Haltung entspannt. »Bittebeobachte das Gliederschiff, aber aus siche-rer Entfernung, und misch dich in nichts ein.Wenn wir etwas bewirken können, dann nurhier vor Ort - mit Mila und Nadja. Meldedich wieder, sobald du etwas Neues weißt.«

*

»Mila und ich sollten uns auf den Wegmachen«, drang Nadjas ruhige Stimme anAtlans Ohr.

Er schüttelte den Kopf. »Wartet noch«,bat er. »Wir sollten uns zuerst die übrigen

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Nachrichten ansehen, vielleicht gibt es wei-tere Hiobsbotschaften. Das kann für euchvon Bedeutung sein.«

»Es ist ohnehin besser, wenn wir nocheinen Tag warten«, sagte Mila plötzlich undfing sich einen verwundertwütenden Blickihrer Schwester ein. »Sei ehrlich, Nadja!Vielleicht fühlst du dich topfit, aber ichnicht. Die erste Begegnung mit dem Philo-sophen hat mich total ausgelaugt. Ich möch-te mich auf die zweite Begegnung intensivvorbereiten. Vielleicht können wir vorhernoch mal mit ein paar aus dem Kreis Ausge-schiedenen sprechen, außerdem gibt es hierjede Menge zu tun.«

»Ist schon in Ordnung«, unterbrach sieNadja. »Ich habe nur Angst, daß uns die Zeitdavonläuft.«

»Das Schiff ist noch nicht hier«, wandteAtlan ein. »Und selbst wenn -das Monumentoder Bauwerk in eine entscheidende Phasegetreten ist, gibt es im Augenblick keineVeränderung. Der Philosoph verkündet wei-terhin seine Lehren und zieht seine Kreise.Wenn ihr seine Lehren und damit vielleichtdie Hintergründe für sein Verhalten erfahrenwollt, müßt ihr wirklich sehr gut vorbereitetsein und euch absolut stark fühlen. Wir dür-fen kein Risiko eingehen.«

»Keine Lebensgefahr, keinen Fehl-schlag.« Mila lächelte. »Ich gebe es nichtgern zu, aber ich habe schon ein bißchenAngst, nach allem, was hier so geschieht.Ich möchte nicht vorzeitig aufgeben müssen,nur weil ich keine Kraft mehr habe. Ich den-ke, wir haben nur noch diesen einen Ver-such.«

Der seltsame Nachhall in ihrer Stimmeentging dem Arkoniden nicht, aber er stelltekeine Frage.

Atlan ließ mehrere Nachrichtensendungenüber verschiedene Kanäle laufen, um soschnell wie möglich informiert zu sein.Adams' Mitteilung über das Eintreffen wei-terer Gliederschiffe wurde von mehrerenTrivid-Sendern gebracht, ebenso der Hin-weis eines Raumers, der Kurs auf das Solsy-stem genommen hatte.

Mehr gab es dazu nicht, der Zeitpunktschien noch zu verfrüht. Die Nachrichtenaus anderen Bereichen der Milchstraße wa-ren unverändert schlecht, aber wenigstensnoch nicht absolut katastrophal: Das Kritzel-syndrom breitete sich immer weiter aus, dieUrsache dafür war nicht bekannt.

Es gab keine Garantie, diesem Wahn ent-kommen zu können; auch viele Raumschif-fe, die zum Frachttransport oder für Passa-giertransfers zu den befallenen Systemenunterwegs waren, meldeten Notrufe und dieÜbernahme der Automatik bis zum Eintref-fen von Hilfe. Aber welcher Hilfe? Es be-stand zwar keine unmittelbare Absturzge-fahr, da die Syntroniken die Raumschiffeauf eine Umlaufbahn um die nächstgelege-nen Planeten lenkten, und für die Passagierewurde ebenfalls automatisch gesorgt - aberwie lange würden sie dort ziellos herumtrei-ben müssen?

Nach und nach brach das öffentliche Le-ben zusammen. Es machte Atlan halb wahn-sinnig, nichts, aber auch überhaupt nichtsunternehmen zu können.

Auch Adams konnte mit der GILGAME-SCH keine Hilfe bringen, da die Besatzungnicht wie er immun war. Ein Gefangenerund hilfloser Zuschauer, ebenso wie der Ar-konide.

Ronald Tekener lag immer noch im Ko-ma; Julian Tifflor und Michael G. Rhodanwaren schon vor Jahrzehnten verschwunden;Perry Rhodan, Reginald Bull, Alaska Saede-laere, Icho Tolot und Gucky galten als ver-schollen …

Die Gruppe der Unsterblichen war auf einwinziges Häuflein zusammengeschrumpft,das ohne Strategie und eher von verzweifel-ter Panik getrieben herauszufinden versuch-te, was vor sich ging. Millionen Tote, vieleMilliarden an einem aberwitzigen Wahn Er-krankte, die Invasion eines fremden Geg-ners, dessen genaue Absichten und Zielenach wie vor im dunkeln verborgen lagen.

Und immer dieselbe Frage: Warum?Ein öffentlicher Kanal beschäftigte sich

ausschließlich mit den Vorgängen im Solsy-

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stem und brachte stündlich Nachrichten, vorallem von den Entwicklungen auf Trokan;aufgrund der Abschaltung des Zeitfeldes,des Erscheinens der Herreach auf der kosmi-schen Bühne und der Geheimnisse des Pilz-doms war der Planet nach wie vor derHauptträger des öffentlichen Interesses -wenn es noch eines gegeben hätte.

Die Automatiken brauchten sich darumnicht zu kümmern. Sie arbeiteten exakt nachden lange vorgegebenen Eingaben und über-trugen regelmäßig die neuesten Bilder.

Dafür interessierten sich auch die Zwillin-ge.

»Ich wünschte, ich wüßte, wie es CaljonoYai geht!« sagte Nadja. »Ob sich inzwi-schen die Verhältnisse wohl verbessert ha-ben? Und wie mögen sich die Herreach anihre neue Welt gewöhnt haben?«

»Wie werden sie mit den Menschen um-gehen, die vom Kritzelsyndrom befallensind?« setzte Mila die Gedanken laut fort.»Vor allem Presto Go, die uns alles andereals wohlgesinnt ist.«

»Die Nachrichten sind leider nicht sehrausführlich, da sie nur automatisch und nichtdurch Menschen produziert werden«, bedau-erte der Arkonide.

»Wir bekommen also immer nur einenÜberblick von den Vorgängen am Pilzdom.«

»Besser als nichts.«Das würde sich bald mehr als bewahrhei-

ten …

*

Die Bilder zeigten den Pilzdom, die Frei-fläche davor und die Ruinen der StadtMoond aus verschiedenen Perspektiven.

Auf den ersten Blick sah alles aus wie im-mer, aber darauf achteten die Zuschauernicht.

Einige tausend Herreach waren auf demgroßen Platz versammelt und in Gebetstran-ce versunken.

»Daß es wieder so viele sind!« sagte Nad-ja erstaunt.

»Das sind nicht nur Neue Realisten!« Mi-

la deutete auf verschiedene Herreach, die indie traditionellen Gewänder des Cleros ge-kleidet waren. Sie suchte fieberhaft nachCaljono Yais violetter Kutte, aber die vielenGesichter in weißen, violetten und buntenGewändern verschwammen zu einer einzi-gen gleichförmigen Masse ohne Unterschie-de. »Sie alle zusammen … was hat das zubedeuten?«

Der leise, gleichmäßige Gesang der beten-den Herreach zeigte ihre tiefe Versunkenheitan.

»Bald erschaffen sie die Mythen … diesemimateriellen Gestalten«, murmelte Mila.»Hast du das schon mal gesehen, Atlan? Au-ßer in Aufzeichnungen?«

Der Arkonide verneinte. »Nicht so unmit-telbar.«

»Es ist ein faszinierender Anblick. Derweise Sucher Ekrir hat uns damals gerettet -das Abbild eines riesigen, uralten Herreach,der uns an den Händen nahm und aus derEndlosschleife führte. Es ist eine einmaligePsi-Begabung«, erzählte die Gäa-Geborene.

»Diese Gestalten sind sehr wichtig für ih-re Religion, und sie bewirken auch eineMenge«, fügte Nadja hinzu.

»Die Geschichte des Riesen Schimbaakenne ich natürlich.«

»Ich bin gespannt, was dieses Aufgebotan Betenden zu bedeuten hat«, meinte Mila.

Die Aufmerksamkeit aller wandte sichwieder der Sendung zu.

Der Gesang steigerte sich zu einem inten-siven Summen, viele Gestalten der Herreachsanken in sich zusammen. Atlan erkannteauf einmal ein Flimmern in der Luft, ein dif-fuses Leuchten, das sich rasch verdichteteund zu gewaltiger Größe anwuchs.

Und dann wurde es zu einem Ungeheuer;einem gigantischen, unbeschreiblichen Mon-ster, das brüllend und tobend in die Gebets-reihen der Herreach einbrach, die Betendenwie Puppen durch die Gegend schleuderteund schrie. Nicht einfach irgendein Schrei-en; sondern so grauenvoll und furchtbar, daßAtlan sich die Ohren zuhielt. Die Zwillingebrachen wimmernd zusammen. Das unbe-

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schreibliche Schreien steigerte sich zu einemungeheuren Crescendo …

… dann brach die Übertragung ab, und esfolgte für ein paar Sekunden eine Bildstö-rung. Kurz darauf wurde zu einer aufge-zeichneten Gameshow umgeblendet.

5.Trokan

Vor drei Monaten

Die Änderungen kamen plötzlich und oh-ne Warnung. Nach Presto Gos Weigerung,mit den Terranern zusammenzuarbeiten, wardie Station am Pilzdom abgebaut und in ei-nigen Kilometern entfernt in der Ebene wie-der errichtet worden.

Die Psi-Begabten und einige Wissen-schaftler waren abgereist, so daß nur nocheine Handvoll übrigblieb, die an der Erkun-dung des Kummerog-Tempels weiterarbeite-te. Dies konnte auch aus der Entfernung ge-schehen, mit immer neuen technischen Meß-reihen, Versuchen, Berechnungen und Dis-kussionen.

Für Caljono Yai gab es nichts mehr zutun. Der unmittelbaren Nähe des Doms be-raubt, war sie einige Zeit ziellos in den Rui-nen von Moond umhergewandert und hatteüber sich selbst nachgedacht. Trotz des end-gültigen Bruchs mit der obersten Künderinhatte die 33jährige Mahnerin die violetteKutte behalten, als Zeichen ihres unerschüt-terlichen Glaubens - und ihres festen Wil-lens, dem Volk der Herreach zu dienen.

Der Sprecher der Neuen Realisten, VejIkorad, und sein Assistent Tandar Sel trafensich weiterhin regelmäßig mit den Terra-nern, um über die Zukunft ihres Volkes zusprechen. Eines der nächsten Schiffe sollteeine ausgewählte Gruppe der Neuen Reali-sten nach Terra zu einer umfassenden Schu-lung bringen.

Caljono Yai hatte sich als Mitglied dieserGruppe eintragen lassen; daran hielt sie wei-terhin fest. Sie erbat sich nur eine Pause undzog sich nach dem Abflug der Zwillinge Mi-la und Nadja Vandemar zurück.

Vej Ikorad hatte Verständnis gezeigt; zu-viel ging in der jungen Mahnerin vor, vor al-lem nach dem furchtbaren Streit mit PrestoGo.

»Ich hätte dich lieber bei mir«, sagte derSprecher der Neuen Realisten, »aber ichweiß, was in dir vorgeht.«

»Es ist im Augenblick nicht so einfach«,entgegnete Caljono Yai. »Vorher haben wiralle am Pilzdom gearbeitet, und es gab einenSinn. Nun sind wir wieder allein, das Volkder Herreach ist zerspalten, und Kummerogist uns nach wie vor fern. Ich muß über dasnachdenken, was Presto Go gesagt hat. Ich -habe sie sehr beschimpft, Ikorad.«

»Ich weiß. Du nanntest sie eine fanatischealte Frau. Aber das war im Zorn.«

»Zorn. Das ist es eben, was mich er-schreckt. Wieder so ein fremdes Wort, dasdie Veränderung der Herreach so deutlichmacht. War ein Herreach früher jemals zor-nig? Vielleicht einmal außer Fassung ge-bracht, aber so, daß ich mir …« Caljono Yaiunterbrach sich, ihr Nas-Organ fiel in sichzusammen. »Ich habe mir gewünscht, daßsie tot umfiele«, flüsterte sie.

»Es lag an der Situation. Presto Go hatdich beleidigt.«

»Etwas geht mit uns vor«, fuhr die Mah-nerin fort. »Wir übernehmen die Emotionender Terraner, wie die oberste Künderin esvorhergesagt hat. Verstehst du, was das be-deutet?«

Sie nahm die verspiegelte Sonnenbrille abund richtete ihre geschlitzten, leuchtendgrü-nen Augen auf den Sprecher.

»Was hat diese kurze Zeit des Zusammen-seins mit den Terranern bereits aus uns ge-macht? Aus dir und mir, obwohl wir gebil-deter sind als die gewöhnlichen Herreach?«

Vej Ikorad sah sich unwillkürlich in dieRolle des Verteidigers gedrängt.

»Daran liegt es nicht, Yai. Unsere ganzeWelt hat sich verändert. Es gibt keineGleichförmigkeit mehr, sondern Licht undSchatten, Hell und Dunkel. Es gibt nur zweiSeiten, und entsprechend verändern wir uns.Wir sind nicht mehr die Herreach der Früh-

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zeit. Presto Go hat das als erste erkannt, abersie kämpft dagegen an, und das ist derfalsche Weg.«

»Meinst du?«»Ganz sicher! Fortschritt und Verände-

rungen lassen sich nicht aufhalten. Wir dür-fen uns nicht dagegen wehren, sondern wirmüssen es annehmen und uns anpassen. Nurso können wir überleben - als einiges Volk.Wir brauchen den Terranern nicht die Fehlerihrer Frühzeit nachzumachen, indem wir an-fangen, uns untereinander zu bekämpfen,nur weil wir nicht alle der gleichen Ansichtsind. Unser großes Ziel, Kummerog zu fin-den, ist uns genommen worden. Nicht aberdie Prophezeiung, die wahr geworden ist.Wir haben sie herbeigesehnt - nun leben wirdamit!«

»So einfach ist es nicht.« Caljono YaisNas-Organ blieb weiterhin eingefallen. »Dubist schon so sehr mit den Terranern ver-traut, daß dir die elementaren Grundgedan-ken der Herreach entfallen sind. Du plap-perst alles nach, scheint mir. Aber ist esauch wirklich deine Überzeugung? Kannstdu das alles so leicht überwinden, ohne daßes Spuren hinterläßt?«

Vej Ikorad hob seine proportional über-langen Arme und legte seine vierfingrigenHände behutsam auf Yais schmale Schul-tern.

»Jeden Augenblick tobt in mir einSturm«, sagte er sanft. »Jeder Augenblick,glaube mir, in dem ich mich frage, wohindas führt. Ich verfluche die Prophezeiungund die Terraner, denn ich bin nicht sicher,ob die Zukunft der Herreach nun gut seinwird. Aber ich weiß, Mahnerin, daß wirnicht mehr zurückkönnen. Du und ich amwenigsten, denn wir wissen bereits zuviel.Ich kann nicht davonlaufen und mich ver-stecken; ich muß dem Volk als Sprecher die-nen und Wege suchen, um unsere Welt wie-deraufzubauen. Nichts kann wichtiger sein.Das ist meine Aufgabe seit Anbeginn, sonstwäre ich Bauer geblieben.«

Yais Nas-Organ gewann allmählich wie-der an Volumen, ganz leicht plusterte es sich

auf, doch nur zögernd, zitternd.»Denkst du, daß wir einst auch wieder

einen Zyklus und Kinder haben werden?«fragte sie.

»Ich glaube fest daran«, behauptete Iko-rad. »Die Prophezeiung hat sich nicht erfüllt,um unser Volk in den Untergang zu führen.Wir haben noch eine Aufgabe. Es geht ebennicht so schnell, aber wir müssen Geduld ha-ben.« Er ließ Yais Schultern los. »Nimm dirZeit, Yai, um über dich nachzudenken undüber das, was du künftig tun willst. Ich wer-de auf dich warten, denn ich brauche dich.Du bist sehr wichtig für unsere Sache ge-worden. Auch Tandar Sel hält große Stückeauf dich:«

*

Caljono Yai hatte sich von allen Herreachferngehalten, um ganz allein und ohne Ab-lenkung mit sich ins reine zu kommen.

Immer wieder mußte sie an den letztenStreit mit Presto Go denken, an die Eigen-sinnigkeit der obersten Künderin und ihre ei-gene Unfähigkeit, ihr die Gedanken derNeuen Realisten näherzubringen. Presto Gohatte in vielen Argumenten recht gehabt, diesie gegen die Terraner vorgebracht hatte,aber ihre Ansicht war natürlich nur einseitigund überzogen gewesen.

Dennoch - sie war weder blind nochdumm. Sie hatte sogar die Sprache derFremden perfekt gelernt, um sie genau er-gründen und ihre Auffassung untermauernzu können.

Die junge Mahnerin hätte niemals ge-dacht, daß sie weiterhin unter der Trennungleiden würde, obwohl sie deutlich gemachthatte, die oberste Künderin nie mehr sehenoder sprechen zu wollen.

Aber Vej Ikorad hatte recht. Die Unter-stützung der Terraner war lebensnotwendigfür die Herreach. Nur mit deren Hilfe gelanges wahrscheinlich auch, das Geheimnis desPilzdoms zu lüften.

Doch welchen Preis würde das fordern?Würden die Herreach ihre Identität vollstän-

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dig aufgeben müssen, um zu überleben undsich dem »kosmischen Leben« anzupassen?Welche Traditionen würden erhalten blei-ben? Würde es in Zukunft Unterschiede zwi-schen ihnen geben? Würden sie mit den neu-en Gefühlen umgehen lernen und sie kon-trollieren können?

Was kann ich tun?Als die junge Mahnerin an diesem Punkt

angekommen war, wurde sie plötzlich ruhig.Eine Last löste sich von ihren düsteren Ge-danken.

Vej Ikorad hat es gesagt. Meine Aufgabeist, die Herreach in ihr neues Leben zu be-gleiten. Die Religion spielt immer noch einesehr wichtige Rolle. Nur besonders Begabtekönnen in der Gebetstrance Geschöpfe wieden Riesen Schimbaa und den weisen SucherEkrir erschaffen. Wir werden die Gebeteauch in Zukunft brauchen, um Herreach zubleiben und das Leben der Herreach zu füh-ren.

Mag das Geheimnis des Doms eines Ta-ges gelüftet und seine Tore geöffnet sein, soentbindet uns das nicht von der Pflicht undnimmt nicht unser Ziel: Harmonie, Frieden,Glück. Danach sehnt sich das Volk seit An-beginn, und die Prophezeiung hat uns denersten Schritt dazu ermöglicht.

Nun liegt es an mir, den übrigen Teil derProphezeiung wahr zu machen. Ich weißnicht, ob ich Kummerog eines Tages findenwerde, aber in meinem Herzen wird er im-mer sein und mich leiten.

Vor kurzem Und dann begannen die Ver-änderungen bei den Terranern. NachdemCaljono Yai zu den Neuen Realisten zurück-gekehrt war, schien alles wie gewohnt sei-nen Gang zu gehen.

Die Mahnerin hielt sich ein wenig auf Di-stanz; mehr aus der Sicht einer Beobachterinheraus nahm sie weiterhin an den For-schungsarbeiten teil. Sie versuchte, das Ver-halten der Terraner besser kennenzulernenund zu verstehen.

In dieser Zeit fanden keine Gebetsrundenstatt; die bisher gesammelten Erkenntnissewurden zusammengetragen und diskutiert.

Vej Ikorad und Tandar Sel nahmen daranlebhaften Anteil. Sie konnten nicht genugWissen in sich hineinbekommen, um ihrWeltbild zu erweitern.

Von einem baldigen Abflug nach Terrazur Ausbildung der bereits zusammenge-stellten Herreach-Gruppe war zu diesemZeitpunkt keine Rede; momentan war keinSchiff angekündigt.

»Wenn, dann solltet ihr Myles Kantor be-gleiten, er kann euch unterwegs schon dasProgramm und alles Weitere mitteilen«, sag-te Jeromy »Jerry« Argent, der Leiter der Sta-tion. »Er ist der Initiator dieses Vorhabensund damit euer Ansprechpartner. Derzeit ister mit anderen Projekten beschäftigt, und ichbitte euch noch um Geduld. Ich hoffe, das istkein Problem für euch.«

»Nicht das geringste«, versicherten dieHerreach. Es war ihnen relativ gleichgültig,wann die Ausbildung stattfinden würde; mitder ihnen eigenen stoischen Ruhe wartetensie gelassen ab. Alle Dinge ergaben sich vonselbst, nachdem sie den ersten Anstoß erhal-ten hatten.

Im weiteren Verlauf der Forschungsarbei-ten sprachen sie nicht mehr von dem Besuchauf Terra, wenn sie ihn nicht sogar schonganz vergessen hatten.

Auf einmal schienen auch die Menschendas Interesse zu verlieren. Sie wurden un-aufmerksam, zeigten sich an Unterhaltungendesinteressiert, gaben keine oder falscheAntworten und wirkten ganz und gar abwe-send.

Dies war ein völlig neuer Wesenszug, dendie Herreach nicht kannten. Deshalb wußtensie nicht, wie sie sich verhalten sollten. Esregte die meisten nicht besonders auf, dennsie zeigten von sich aus kein lebhaftes Inter-esse an etwas, wenn es keinen äußeren Reizdazu gab. Als die Terraner ihnen keine Auf-gaben mehr zuteilten, gingen sie ihrer eige-nen Wege.

Vej Ikorad und der enge Kreis der NeuenRealisten aber standen dem so plötzlich ver-änderten Verhalten ratlos gegenüber. AlleVersuche, die Terraner darauf anzusprechen,

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schlugen fehl.Die Antworten lauteten entweder, daß al-

les so sei wie immer - oder es gab gar keine.Die Herreach mußten also selbst nach Ant-worten suchen. Dabei suchten sie vor allembei Caljono Yai um Rat, denn sie hatte bis-her, abgesehen von den beiden Sprechern,den intensivsten Kontakt gepflegt, unter an-derem mit den beiden Psi-Begabten.

Diese konnte auch nur mit Vermutungenaufwarten:

Vielleicht hatten die Terraner von Zeit zuZeit einen Zyklus, in dem sich ihr Bewußt-sein vorübergehend veränderte? Dieser Zy-klus konnte zwar nicht der Fortpflanzungdienen, darüber waren die Herreach bereitsinformiert, aber vielleicht gab es dafür ande-re Gründe?

Immerhin waren die Menschen für dieEinwohner von Trokan vollkommen fremdeWesen, deren biologischer Aufbau und so-ziale Verhaltensweisen den Herreach weit-gehend unbekannt waren.

Möglicherweise übte sogar Trokan eineArt Beeinflussung auf das Wesen der Terra-ner aus; ein Anteil in der Nahrung, der Luftoder der Sonnenstrahlung. Oder die menta-len Ströme der Herreach!

Caljono Yai wußte, daß die Terraner mitihrer Technik diese Psi-Strömungen anmes-sen konnten. Und auf Trokan gab es zu jederZeit an vielen Orten mindestens zwölf Her-reach, die sich zu einer Gebetsrunde zusam-menfandenjetzt vermutlich sogar häufigerdenn je.

Welche Gründe es auch immer gebenmußte: Weder Caljono Yai noch die beidenSprecher der Neuen Realisten wußten einenRat, wie sie dem seltsamen Treiben der Ter-raner begegnen sollten. Alle Versuche, denKontakt aufrechtzuerhalten, scheiterten.

Auch die Hoffnung der Herreach, daßsich dieses merkwürdige Verhalten wiederändern würde, erfüllte sich nicht.

Es wurde noch schlimmer. Die Terranerschienen völlig zu vergessen, wie sie ihre ei-gene Technik bedienen mußten. Sie ließenzusehends alles verwahrlosen, kümmerten

sich um nichts mehr und begannen seltsameKreise zu malen - auf ihre eigenen Schreib-mittel oder auf den Boden, auf Steine, wassie gerade erwischen konnten.

Versunken in ihre eigene Welt, hocktenoder stolperten sie herum und malten Kreise.

Zu diesem Zeitpunkt waren sie überhauptnicht mehr ansprechbar. Caljono Yai mußtesogar Gruppen zur Unterstützung zusam-menstellen, um größere Unfälle zu vermei-den und die Terraner wenigstens in denGrundbedürfnissen zu versorgen. Sie tat daseinfach, ohne lange nachzudenken oder sichverantwortlich zu fühlen.

Zu diesem Zeitpunkt hätte Presto Go tri-umphieren können …

*

Die Veränderungen zeigten sich jedochnicht nur bei den Terranern.

Auch die Herreach begannen mit der Zeitzu spüren, daß etwas ganz und gar nicht inOrdnung war. Das lag nicht nur an der Ver-änderung ihrer Welt, das konnten sie sehrgenau unterscheiden.

Vor allem diejenigen wie Caljono Yai,deren paramentale Fähigkeiten besondersausgeprägt waren, begannen unter unerklär-lichen Alpträumen zu leiden.

Die Alpträume endeten bald nicht mehrnicht mit dem Erwachen, sondern gingenweiter. Es war nichts Greifbares, Deutliches,Artikulierbares.

Doch es war da.Nach einem besonders beängstigenden

Wachtraum, in dem Yai einen fiktiven Mordbeobachtet hatte, war sie zu Vej Ikorad ge-gangen. Am nächsten Morgen rief der Spre-cher der Neuen Realisten Caljono Yai, Tan-dar Sel und einige weitere Vertreter zu ei-nem Gespräch zusammen.

Wie sich herausstellte, berichteten alle na-hezu übereinstimmend von ähnlichen Alp-träumen, wie sie auch Yai quälten.

»Ich vermute, daß das mit dem seltsamenVerhalten der Terraner zusammenhängt«,äußerte sich Vej Ikorad. »Vielleicht eine

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seltsame Strahlung, die uns bisher nicht auf-gefallen ist. Womöglich durch die geänder-ten Umweltbedingungen verursacht.«

»Wir müssen herausfinden, was es ist«,sagte Tandar Sel ernst. »Vielleicht liegt es janur an der Nähe zum Dom und dem ehema-ligen Lager der Terraner; immerhin habenwir uns alle in der letzten Zeit nicht fortbe-wegt und wissen nicht, ob die anderen Her-reach ebenso empfinden wie wir. Ich schla-ge daher vor, daß wir verschiedene Gruppenbilden. Wir müssen nicht alle hierbleiben,um die Terraner zu versorgen und diesesGefühl zu erforschen. Vielleicht beeinflußtes uns bald und verändert uns ebenso wiedie Terraner. Dieses … Etwas dürfen wirnicht auf die leichte Schulter nehmen!«

»Wenn es lokal begrenzt ist«, wandte VejIkorad ein, »dann können wir auch heraus-finden, was es ist.«

»Ja, wenn«, sagte Caljono Yai nicht über-zeugt.

Diese Frage sollte bald beantwortet wer-den. Aus dem unversehrten Teil der StadtMoond erschien ein Bote und brachte eineunerwartete Nachricht: »Presto Go wünschteuch zu sehen.«

Caljono Yai merkte, wie ihr Herzschlagschneller ging. Damit hätte sie zuletzt ge-rechnet!

»Uns alle drei?«»Ja. Ihr sollt mich sofort begleiten.«Vej Ikorads Nas-Organ plusterte sich auf

doppelte Größe auf.»Es ist ernster, als wir dachten«, sagte er.

6.Trokan: Das unsichtbare Grauen

»Die Lage ist sehr ernst und nicht zuletztdurch euch verursacht«, eröffnete die ober-ste Künderin das Gespräch.

Tandar Sel fuhr auf: »Wollen wir unserenStreit fort …«

»Unsere persönlichen Auseinandersetzun-gen spielen überhaupt keine Rolle«, schnittPresto Go ihm das Wort ab. »Es geht hierum viel wichtigere Dinge. Daß ich euch für

verantwortlich halte, bedeutet nicht, daß ichmich nun an Beschimpfungen ergötze undalles andere vergesse. Bedingt durch die Ex-perimente der Terraner und eure mentaleUnterstützung ist irgend etwas erweckt wor-den, was nicht hierhergehört. Und ich meinenicht hierher.«

Caljono Yai starrte die oberste Künderinfassungslos an: Was hatte dieses Verhaltenzu bedeuten? Sie war noch zu jung, um die-se plötzliche Wandlung so leicht hinzuneh-men und die Gründe dafür zu erkennen.

Presto Go ließ sich durch nichts mehr an-merken, wie unversöhnlich sie das letztemalauseinandergegangen waren. Sie wirkte un-verändert energiegeladen und voller Taten-drang.

Keineswegs war sie eine starrsinnige alteFrau, die sich in überholte Phrasen verrannthatte.

Die junge Mahnerin war verunsichert.Wie sollte sie sich nun verhalten? Konnte essein, daß sie sich in ihren Ansichten so geirrthatte, nach all den Streitigkeiten, die sie seitErfüllung der Prophezeiung gehabt hatten?

»Du spürst es also auch?« fragte sie dann,als sie sich wieder einigermaßen unter, Kon-trolle hatte.

Der beste Weg war, einfach darüber hin-wegzugehen wie Presto Go und so zu tun,als wäre nichts geschehen.

»Selbstverständlich.« Es klang fast ärger-lich. »Seid ihr tatsächlich so naiv anzuneh-men, daß ihr die Ausnahme bildet?«

Wie bereits vor Monaten vermischte Pre-sto Go das Hoch-Herrod und das Interkos-mo. Das beherrschte sie nunmehr perfekt.

»Wie empfindest du es?« wollte Vej Iko-rad interessiert wissen.

Presto Go gab unverzüglich Antwort: »Esfing mit Alpträumen an, die sich schließlichin die Wachperiode übertrugen. Es ist einenicht faßbare, unsichtbare, fremde Macht.Bedrohlicher, als wir es uns bis jetzt vorstel-len können. Man hat immer das Gefühl, überdie Schulter schauen zu müssen. Doch es istnichts zu entdecken, nicht einmal ein winzi-ger Schatten oder eine Luftbewegung. Und

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trotzdem ist es da.«»Das empfinden auch wir. Dann ist es al-

so nicht lokal begrenzt«, stellte Tandar Seldüster fest.

»Trotzdem haben wir nichts damit zutun«, verwahrte sich Vej Ikorad gegen Pre-sto Gos Vorwurf. »Wir haben dieses Fremdenicht erweckt, die Terraner auch nicht. Diesind seit einiger Zeit nicht mehr handlungs-fähig.«

Er berichtete in kurzen Worten, was inden vergangenen Wochen vorgefallen war.»Ich sehe allerdings einen zeitlichen Zusam-menhang zwischen dem merkwürdigen Ver-halten der Terraner und dem ersten Alp-traum.«

»Den sehe ich auch, und das entkräftetnicht meinen Vorwurf.« Presto Go ver-schränkte die Hände mit den beiden kräfti-gen Daumen und den zwei langen Greiffin-gern ineinander.

»Warum dann erst jetzt?« warf CaljonoYai ein. »Warum tritt dieses Etwas erst jetztin Erscheinung? Wir haben seit längerer Zeitnichts Außergewöhnliches unternommen.Auch die Terraner haben ihre Technik seitdem Umzug in das neue Lager sehr viel we-niger eingesetzt. Es haben sich, so behaup-ten sie zumindest, keine besonderen Mes-sungen ergeben. Vom Tempel geht nach wievor nichts aus, er ist verschlossen wie stets.«

Sie machte eine kurze Pause, um PrestoGos Reaktion abzuwarten. Die oberste Kün-derin schien ihr aufmerksam zuzuhören.

»Ich glaube, daß die Ursache anderswoliegen muß. Auf Terra, da bin ich sicher.«

»Warum gerade dort?« warf Presto Goauf diese Behauptung sofort ein.

Caljono Yai gab sich nicht geschlagen.»Weswegen sollten die Terraner sonst aufeinmal so merkwürdig sein? Diese Bedro-hung muß von dort kommen, von ihrer Hei-matwelt. Es muß etwas auf mentaler Ebenesein, etwas, das sie beeinflußt, ohne daß siees bewußt merken, und das mit Psi zu tunhat. Und deswegen bekommen auch wir eszu spüren.«

Presto Gos Nas-Organ schnüffelte nach-

denklich. »Zeigen die Terraner in ihremVerhalten denn Angst?« wandte sie sich anVej Ikorad.

»Ganz im Gegenteil«, lautete die Ant-wort. »Sie wirken sogar sehr zufrieden, voll-kommen abwesend, versunken in ein Spieloder ähnliches. Sie malen andauernd Kreiseund sind nicht mehr ansprechbar. Auf dasStadium der frühen Kindheit zurückgefallen.Wenn wir uns nicht um sie kümmerten, wür-den sie wahrscheinlich verhungern.«

»Ich wiederhole: Worauf begründest dualso deinen Verdacht?« richtete die obersteKünderin die nächste Frage wieder an Caljo-no Yai.

»Es bleibt nur diese Möglichkeit«, sagtedie junge Mahnerin, nun doch verunsichert.»Am Pilzdom ist nichts verändert, und seitdas Lager davon entfernt neu aufgeschlagenwurde, sind die Forschungen in theoretischeDiskussionen übergegangen. Wir haben keinGebet mehr einberufen. Die Heimatwelt derTerraner ist nach ihrer Auskunft aber nichtweit entfernt, es muß also irgend etwas vondort sein!«

»Ich teile Caljono Yais Ansicht nicht soganz. Ich denke, es liegt schon an Trokan«,warf Tandar Sel zögernd ein. Der von denTerranern eingebrachte Name der Heimat-welt der Herreach war inzwischen in den all-gemeinen Sprachgebrauch übergegangen.»Bedingt durch die Sonnenstrahlung oderdie veränderten Umweltbedingungtn …«

»Die Umweltbedingungen könnt ihr strei-chen«, unterbrach Presto Go ablehnend.»Die Terraner regulieren das Wetter mit ih-rer ach so bewundernswerten Technik. DieBeeinflussung durch Sonnenstrahlung kannich mir ebensowenig vorstellen, denn im-merhin ist es dieselbe Sonne wie auf Terraauch!«

»Es bleibt noch die letzte Möglichkeit,daß die Terraner einen Zyklus durchmachen,der uns unbekannt ist«, meldete sich CaljonoYai wieder zu Wort. »Aber das erklärt nachwie vor nicht das gleichzeitige Auftreten un-seres Gefühls einer unsichtbaren Bedro-hung.«

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Die oberste Künderin stimmte ihr zu. »Esbleiben also die beiden ersten Möglichkei-ten: Ihr habt unbeabsichtigt etwas geweckt,oder von Terra geht tatsächlich eine Bedro-hung aus, die auf uns unbekannte technischeWeise hierher abgestrahlt werden kann. Wasist mit der Technik der Terraner?«

»Stillgelegt. Zumindest kümmert sich kei-ner mehr darum. Funkempfänger könnennoch geschaltet sein.«

Caljono Yai sagte dies nicht ohne Stolz;sie hatte schon eine Menge gelernt.

»Also eine fremde mentale Macht.« Pre-sto Gos Nas-Organ plusterte sich auf, ihreEntscheidung war gefallen. Die Schuld aufdie Technik zu schieben erschien ihr zu vageund zu lächerlich; sie konnte sich nichts dar-unter vorstellen, das drückte sie ihren Ge-sprächspartnern gegenüber deutlich durchGesten aus. »Aber die kommt nicht von Ter-ra, sondern vom Pilzdom. Ich denke, daß beiden letzten Gebeten, als ihr Ekrir erschaffenhabt, etwas im Dom geweckt wurdeeineroder mehrere Wächter, die nun aktiv gegenuns vorgehen.«

Caljono Yai erstarrte. »Diesen Vorwurfhast du uns von Anfang an gemacht und dieganze Zeit an nichts anderes geglaubt, nichtwahr?«

»Selbstverständlich. Ich mag eine fanati-sche alte Frau sein, aber ich habe das Den-ken nicht verlernt.« Presto Go hatte dieseBemerkung gezielt angebracht, kümmertesich jedoch nicht um deren Wirkung, son-dern sprach ohne Pause weiter: »Ich wolltealle Möglichkeiten durchspielen, um meineMeinung bestätigt zu bekommen. Es nütztnichts, dich und deine Anhänger zu verteidi-gen, Vej Ikorad, ich sehe meine Ansichtnunmehr als erwiesen. Wir haben nachein-ander alle Varianten durchgespielt und ver-worfen. Irgendwelche diffusen Vermutun-gen sind mir zu wenig, um darauf unsereStrategie aufzubauen.«

Presto Go hob die leeren Handflächen.»Der Einfluß dieser fremden Macht ist be-reits so groß, daß es während einiger Gebetezu Fehlinterpretationen kam - auch bei mir.

Das war der Grund, weswegen ich euch ru-fen ließ.«

Caljono Yai war wiederum sprachlos. Siewar auf eine erneute zähe Diskussion mitunversöhnlichem Ausgang eingestellt, aberdas Gegenteil zeigte sich!

Sicher, Presto Go konnte sich einiger spit-zer Bemerkungen nicht enthalten, um deut-lich zu machen, daß sie nichts vergessen hat-te. Aber das hieß nicht, daß sie nicht bereitwar, einen neuen Anfang zu versuchen.

Yai wußte nicht mehr, was sie von derobersten Künderin halten sollte. Vorsichtigkeimte in ihr die alte Bewunderung wiederauf. Der vergangene Bruch trat mehr undmehr in die nach der Prophezeiung neu ent-standenen Schatten zurück.

Es war vielleicht doch nicht so schlecht,daß mittlerweile alles zwei Seiten hatte, einehelle und eine dunkle.

Presto Go klammerte sich nicht an Vor-würfen und Schuldzuweisungen fest. Dasmachte sie nun deutlich.

»Unsere unterschiedlichen Auslegungensind unbedeutend. Die Terraner sind deswe-gen nicht meine Freunde, aber es ist unwich-tig, ob sie mit ihrer Technik Schuld darantragen oder ihr mit euren Gebeten. UnserVolk ist bedroht, das steht fest. Wir müssenuns gegen das Fremde wehren - gemeinsam.Dazu gehört ihr ebenso wie alle anderen,Seid ihr dazu bereit?«

Die drei anderen legten ihre Nas-Organein verblüffte Falten; das ging ihnen fast zuschnell. Aber Presto Go hatte recht, es galt,keine Zeit zu verlieren - und es galt, an ei-nem Strang zu ziehen.

»Was sollen wir tun?« fragte Vej Ikorad.

*

Die oberste Künderin verlor keine Zeit.So kam es zu einem einzigartigen, nie dage-wesenen Zusammentreffen.

Presto Go hatte zahlreiche Clerea zu sichgerufen, die bereits seit Tagen aus allenRichtungen eintrafen und die Ruinen derStadt Moond belebten. Mit ihnen kamen die

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Anhänger der beiden anderen Glaubensrich-tungen, die Neuen Realisten und die Herra-chischen Freiatmer.

Zum ersten Mal trafen sich alle Sprecherund Hauptvertreter der verschiedenen Glau-bensgruppen an einem Tisch, friedlich ver-sammelt und zur Zusammenarbeit bereit.

Presto Go verstand es ausgezeichnet, denVorsitz zu führen. Sie berührte keinen kriti-schen Punkt, seien es religiöse Auffassungenoder Verhaltensweisen. Sie griff niemandenverbal an, weder eine Person noch eineGruppe, behandelte alle gleich.

Ihre »Gegner« stellten ihre Standpunktehintenan; sie hatten einen Weg gefunden,einander näherzukommen, ohne die eigenePosition aufgeben zu müssen. Sie alle zeig-ten sich selbstbewußt und ausgeglichen, ver-mieden jedoch jede persönliche Äußerung.

Es ging nur darum, der immer offensicht-licher werdenden Bedrohung zu begegnen.Sie hatten alle erkannt, daß es sich nicht umeine vorübergehende Störung handelte, ver-ursacht durch die veränderten Lebensver-hältnisse. Es war etwas ganz anderes, etwasabsolut Fremdes, das von außen kam und dieHerreach in irgendeiner Weise zu beeinflus-sen suchte.

Daher brauchten sie nicht lange, um einigzu werden. Sie konnten dem unbekanntenFeind nur gemeinsam, mit den Kräften aller,begegnen.

Caljono Yai war es, die einen ungewöhn-lichen Vorschlag aufbrachte. »Sollten wirnicht versuchen, mit den Psi-Begabten Kon-takt aufzunehmen?« Sie meinte die Schwe-stern Mila und Nadja Vandemar, die vorMonaten auf mentale Weise versucht hatten,in den Pilzdom vorzudringen. »Ihre Unter-stützung wäre für uns bestimmt sehr wert-voll.«

Die Mahnerin in der violetten Kutte warsich darüber im klaren, daß sie sich auf sehrgefährlichen Boden begab. Sie stieß dieoberste Künderin geradezu mit dem Nas-Organ auf den »Beweis«, wer tatsächlichschuld an den unheilvollen, sich stetig stei-gernden Vorgängen sein könnte.

Aber sie hoffte auf die Vernunft, die seitBeginn der Verhandlungen herrschte; undsie suchte nach jeder Möglichkeit. Die Her-reach brauchten Hilfe, und jedes Mittel dazumochte ihr recht sein.

Presto Go schwieg einige Zeit. Mögli-cherweise sah sie einen Zusammenhangzwischen dem Handeln der Schwestern unddem Auftreten der Ängste, aber sie sprachdas nicht aus.

»Das wäre eine Möglichkeit«, sagte siebesonnen, »aber wie sollen wir das bewerk-stelligen? Nach deinen Aussagen ist mit denhiesigen Terranern nicht das geringste anzu-fangen. Mit ihrer Technik können wir nichtumgehen, wir können also keinen zielgerich-teten Funkspruch absetzen. Und wohin soll-ten wir den absetzen? Du weißt nicht, wosich diese beiden Menschen befinden.«

»Das ist ein Problem«, gab Caljono Yaienttäuscht zu.

»Ich denke, das ist auch besser so«, mein-te Presto Go. »Es ist nicht die Art der Herre-ach.«

Sie musterte die Anwesenden der Reihenach.

»Die Terraner benehmen sich seltsam,aber ich denke nicht, daß sie in unmittelba-rer Gefahr sind«, fuhr sie laut fort.

Selbstverständlich wäre es ihr vollkom-men gleichgültig gewesen, wenn die uner-wünschten »Besucher« allesamt gestorbenwären. Aber sie war klug genug, um zu wis-sen, daß das nur noch mehr Terraner hier-herbringen würde, die jede Menge Fragenstellten und den Herreach Vorwürfe machenwürden. Auf diese Weise würde sie dieFremden keinesfalls loswerden. Deshalbhatte sie auch nichts dagegen, daß CaljonoYai sich um deren Versorgung kümmerte.

»Es ist also allein Sache unseres Volkes.So sollten wir der Gefahr auch begegnen:nur wir Herreach und gemeinsam, wie es un-sere Art ist. Dies ist unsere Welt, die es zuverteidigen gilt. Niemand hat einen An-spruch darauf, und dementsprechend könnenwir auch keine Hilfe erwarten. Wir sindnicht hilflos, wir verfügen über Fähigkeiten,

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die weit über jede Technik erhaben sind.Wir müssen daher gemeinsam unsere Fähig-keiten stärken und erweitern, um das unfaß-bare Unbekannte sichtbar zu machen undfestzusetzen. Nur so können wir erfahren,wer oder was dahintersteckt; und unsere Si-cherheit wiederherstellen.«

Presto Go hob die Arme.»Ich bin mir dessen bewußt, daß wir da-

mit ein großes Risiko eingehen, aber wir ha-ben keine andere Wahl. So viel ist unsererWelt innerhalb kurzer Zeit zugemutet wor-den, aber wir haben gelernt, damit umzuge-hen und uns anzupassen.«

Sie erwähnte nicht, daß sie letztlich nurdank der Hilfe der Terraner überlebt hatten,aber das spielte in diesem Zusammenhangauch keine Rolle. Es wußte ohnehin jeder,außerdem wollte sie das Zusammengehörig-keitsgefühl stärken.

»Wenn wir überleben wollen, müssen wiralle Kräfte einsetzen. Wenn wir in Friedenleben wollen, müssen wir uns gegen jedefremde Macht zur Wehr setzen und sie in ih-re Schranken weisen. - Das ist unsere Auf-gabe.«

»Laßt uns beginnen!« rief Vej Ikorad.Kein Herreach sprach sich dagegen aus.

*

Bereits die ersten Sitzungen zeigten, daßdas Fremde ein Volumen besaß, von demdie Herreach sich keinerlei Vorstellungenmachen konnten. Das Unheilvolle ließ sichweder in der Größe noch in der Form ermes-sen. Uferlos wie eine unüberschaubareSandfläche erstreckte es sich über das men-tale Bewußtsein aller Herreach und rieseltestaubfein in alle Gedanken. Es war und bliebnicht faßbar, dennoch nahm sein Einfloß ste-tig zu.

Die Herreach lernten, was es bedeutete,Angst zu haben. Ihre natürlichen Feinde wa-ren im Lauf der Evolution ausgestorben, undsie hatten seit sehr langer Zeit nichts mehrzu fürchten gehabt. Angst jedoch war einUrinstinkt, der sich nur zurückdrängen, nie-

mals aber gänzlich auslöschen ließ.Diese Erfahrung maßten die Bewohner

Trokans nun machen.Immer mehr Herreach in den Städten oder

auf dem Land erfuhren, daß sie nicht alleinmit dem Gefühl der Bedrohung waren, daßjeder von ihnen einen ähnlichen Alptraumhatte. Sie zogen in Scharen nach Moond, umden Reden der obersten Sünderin zu lau-schen und sich von ihr leiten zu lassen, die-ses Unheimliche zu bekämpfen.

Bald nahmen Tausende von Herreach anden Gebetsrunden teil.

Aber auch das Unheimliche zog weitereKreise. Je größer das Aufgebot an Herreachwurde, desto größer schien es zu werden undsich in die mentalen Bereiche des Volkesauszudehnen. Bis in die Trance hinein!

Die Herreach hatten sich zu den größtenGebetsrunden aller Zeiten zusammengefun-den, entschlossen, alles nur mögliche zu tun,um dem Fremden Einhalt zu gebieten.

Es zeigte sich, daß das Fremde einen star-ken Einfloß auf die geistigen Kräfte der Her-neach ausübte: Es war ihnen nicht mehrmöglich, den vielgestaltigen Brodik oderden Zwerg Pallomin zu erschaffen, erst rechtnicht den Riesen Schimbaa, obwohl die Zahlder Betenden eigentlich mehr als ausreichte.

Und gerade diese mythischen Wesen wa-ren notwendig, um Rätsel zu lösen! Sie exi-stierten schon so lange in der Erinnerung derHerreach, daß sie zu einem Teil von ihnengeworden waren, die Sichtbarmachung einesgemeinsamen Willens.

Diesen Wesen war es möglich, alles zutun, sie waren so stark wie alle Herreach zu-sammen und handelten nach dem Willen al-ler. Nichts konnte sie überwinden …

… bis auf das Grauen, das von irgendwo-her den Weg nach Trokan gefunden und sichhier niedergelassen hatte. Statt gebannt zuwerden, bannte es seinerseits die guten We-sen, nämlich Brodik, Pallomin und Schim-baa.

An ihrer Stelle erschienen ganz neue, niedagewesene Gestalten, die kein Herreach je-mals bewußt von sich aus erschaffen hätte.

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Die Herreach gaben sich alle Mühe; Cal-jono Yai war eine der eifrigsten Betenden.Doch anscheinend war die Erinnerung an dieständigen Alpträume zu lebendig und trübteihre Willenskraft.

Vor ihren Augen und gegen ihren Willenentstanden kleine Schreckgespenster undQuälgeister, die später die schwirrendenEnacho genannt wurden.

Voller Schrecken versuchte die Mahnerin,diese Schöpfung rückgängig zu machen, ge-zielt die schwirrenden Enacho zum Erlö-schen zu bringen und statt dessen die gutenWesen hervorzubringen.

Sie war hoch begabt, und es war nicht ihrerstes Gebet! Es maßte ihr doch gelingen!

Aber sie schaffte es nicht, sie konnte dieTrance nicht mehr steuern - sie nicht und al-le anderen Herreach auch nicht; nicht einmalPresto Go.

Die schwirrenden Enacho entstanden zuHunderten, in unkontrollierbarer Zahl. Eben-so unkontrolliert suchten sie die Herreachheim. Sie schienen nur aus Feuer und Rauchzu bestehen, sie besaßen keine Gesichteroder genaue Körperformen.

Wie glühende Braadstückchen sausten siedurch die Luft, fielen schrill pfeifend überdie Betenden her. Sie zwickten in die durch-scheinende Haut, zogen und zerrten an ihrenGewändern, rissen sie nahezu in Fetzen undtrommelten mit feurigen Fäustchen auf diehaarlosen Köpfe ein.

Die Herreach konnten sich nicht gegen siewehren; sie versuchten sie mit den Händenwegzuschlagen, doch die schwirrenden Ena-cho bissen sich an ihnen fest, hingen in Klet-ten zu zehn oder zwanzig an fliehenden Her-reach, schlugen ihnen die Füße weg und ris-sen sie zu Boden.

Die Gebetsrunden wurden abrupt unter-brochen. Zahlreiche Herreach rannten umherund versuchten, der kleinen Quälgeister Herrzu werden. Glücklicherweise lösten sie sichnach dem Abbruch der Trance relativschnell auf, aber Schrecken und leichtereVerletzungen blieben als Erinnerung zurück.

Und die beginnende Furcht vor neuen Sit-

zungen …Presto Go wurde mit Fragen bestürmt:

»Was ist das? Was ist nur mit uns gesche-hen? Wo kommen diese Biester her?« Siewußte keinen Rat.

Ihr war im Verlauf des Gebets bewußt ge-worden, daß diese winzigen Plagen von denHerreach selbst geschaffen wurden, nichtvon jener fremden Macht. Diese Entwick-lung machte ihr große Sorge.

Das Wesen der Herreach veränderte sich,und es schien, als ob verborgene Ängste ausder Urzeit, dem Beginn der Entwicklung,wieder erwachten.

Sie konnte das ihren Anhängern nicht sa-gen, um ihre Ängste nicht noch mehr anzu-schüren - nicht zu diesem Zeitpunkt. Siewußte, daß die schwirrenden Enacho aus derUnsicherheit geboren worden waren auchaus ihrer eigenen Unsicherheit. Das Unter-bewußte kämpfte sich frei an die Oberflä-che, übernahm die Herrschaft über den sach-lichen Verstand.

Sie selbst hatte zu der Erschaffung dieserGeschöpfe beigetragen, hatte sich selbstnicht mehr unter Kontrolle. Obwohl sie dieUrsache kannte, konnte sie sie nicht be-kämpfen.

Das zermürbte Presto Go am allermeisten:daß sie nicht besser, stärker oder erhabenerals die anderen Herreach war. Sie war viel-leicht klüger als die anderen, konnte Zusam-menhänge rascher und schneller erkennenund übergreifende Dinge besser verstehen.

Ihr Verstand konnte sich schnell den Ge-gebenheiten anpassen und sein Begriffsver-mögen stetig erweitern. Doch trotzdem be-herrschte ihr Verstand nicht vollständig ih-ren Körper, ihre Instinkte.

Das Bedrohliche, das immer mehr von ih-rem Volk Besitz ergriff, war stärker als sie,ihr noch weit überlegen. Es blieb weiterhinnicht zu fassen, weil es seinen Herausforde-rern nie begegnete, sich ihnen niemals stell-te.

Es griff sie weder direkt mit Waffen annoch auf mentaler Ebene. Das hatte es garnicht nötig. Was immer es auch war, es ver-

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stand es, Zusammenhänge auf einer Ebenezu begreifen, die Presto Gos Verständnisüberstieg, und für sich nutzbar zu machen.

In diesem Fall nutzte es das Wesen derHerreach, so daß sie sich selbst bekämpftenstatt das Grauen.

Der fremde Feind weckte einfach dieUrängste der Herreach, stachelte ihre begin-nende Panik an. Er hatte leichtes Spiel, da ermit den Alpträumen und dem ständigen Ge-fühl, von etwas Unheilvollem beobachtet zuwerden, gute Vorarbeit geleistet hatte.

Das unsichtbare Grauen hatte die Herre-ach voll und ganz in der Hand.

7.Trokan: Schrecken ohne Ende

Presto Go war weit entfernt davon, ein-fach aufzugeben. Sie verstand, worum esging, auch wenn sie nicht dagegen angehenkonnte.

Sie bemerkte wohl die aufsteigendeFurcht der Herreach vor neuen Gebetsrun-den, durfte aber nicht nachgeben. Wenn siejetzt nicht weitermachten, würden sie viel-leicht nie wieder zu einer Gebetsrunde zu-sammenfinden. Ihre Fähigkeiten würdenverkümmern.

Die oberste Künderin hatte aber noch ih-ren Glauben, und sie wußte, daß es auch an-dere Herreach gab, die mit Leidenschaft ih-rer Aufgabe nachgingen. Wenn sie es nichtallein schaffte, dann vielleicht mit vereintenKräften.

»Sprich mit deinen Freunden, Yai, undhalte sie zusammen. Wir sind Tausende vonHerreach, die gegen einen einzigen, unfaß-baren Feind vorgehen! Wir können es schaf-fen, aber wir brauchen Mut dazu. Wir müs-sen uns jetzt beweisen. Wenn wir das nichttun, wird es kein Volk der Herreach mehrgeben.«

Caljono Yai versprach, alles zu tun. Pre-sto Gos letzter Satz hatte sie getroffen.

Sie mußten ihre Identität bewahren. Vonniemandem war Hilfe zu erwarten; die hierstationierten Terraner waren verrückt gewor-

den, und von draußen, von Raumschiffen,kam keine Anfrage, keine Botschaft. Sie wa-ren auf sich gestellt.

Presto Gos Entschlossenheit übertrug sichauf sie. Diese gab sie weiter an Vej Ikorad,Tandar Sel und alle anderen.

Die Vertreter der Neuen Realisten und derHerrachischen Freiatmer sprachen daraufhinzu ihren Anhängern, ebenso wie Presto Gozu den Clerea.

Bisher war noch nichts allzu Erschüttern-des geschehen; es gab keinen Grund, bereitsaufzugeben. Sie Mußten weitermachen undsich dem Unbekannten stellen.

Wenn es sie nicht direkt angriff, dannmußten sie es eben herausfordern und ausder Reserve locken. Dann konnten sie dasFremde erfassen und es bannen!

*

Die Herreach setzten die Gebetsrundenfort. Die schwirrenden Enacho konnten ih-nen tatsächlich nichts mehr antun. Sie er-schienen noch einmal, sausten durch dieReihen der Betenden, aber ohne Spuren zuhinterlassen. Ihr Piesacken wurde nicht mehrgespürt, kein Stoff ging in Fetzen. Schließ-lich lösten sie sich auf, noch bevor die Tran-ce beendet war.

Nach diesem ersten kleinen Sieg schöpf-ten die Herreach leise Hoffnung, aber PrestoGo warnte vor einer verfrühten Euphorie.

Damit sollte sie nur allzu recht haben, wiesich bald zeigte. Das Fremde ließ sich da-durch weder entmutigen noch aus der Reser-ve locken; es besaß mehr Macht als ange-nommen, und die spielte es jetzt aus.

Die schwirrenden Enacho waren nur dasVorspiel gewesen, gleichsam eine letzteWarnung für die Herreach, was auf sie zu-kommen würde, wenn sie nicht aufgebenwollten.

Es wurde schlimmer, als jeder Herreaches sich jemals hätte ausmalen können. Siespürten die Bedrohung täglich wachsen. Dasgrauenvolle Fremde nahm von ihnen Besitz,rührte an ihrem tiefsten Inneren und nahm

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ihnen jede Möglichkeit zur Flucht.In den Nächten fanden sich häufig ganze

Gruppen zusammen, darunter war oft Caljo-no Yai. Obwohl sie sich selbst ständig Mutmachte und vorhatte, mit Verstand gegen ih-re Alpträume anzugehen, wurde sie trotzdemheimgesucht. Sie konnte ihrer Angst nichtHerr werden.

Viele Herreach liefen nachts verstörtdurch die Straßen. Von anderen Schlaflosen,die sich rechtzeitig aus dem Grauen geflüch-tet hatten, wurden sie aufgegriffen und beru-higt. Nirgendwo mehr ging das Licht aus,und viele bemühten sich, noch die kleinstenWinkel auszuleuchten. Der Blick über dieSchulter, das Zusammenzucken über plötzli-che Geräusche wurde zum normalen Bild.Tagsüber verließen viele Herreach schreck-erfüllt die Gebetsrunden, nur um in immergrößere Panik zu geraten.

Boten berichteten Presto Go, daß sie meh-rere tote Herreach außerhalb der Ruinen ge-funden hätten, die Gesichter in furchtbaremGrauen verzerrt. Waren sie an ihrer eigenenAngst gestorben, oder hatten sie sich gegen-seitig umgebracht? Es war nicht mehr fest-zustellen.

»Wir können nicht mehr fliehen«, verkün-dete die oberste Künderin daraufhin allenAnhängern. Noch immer waren es fast10.000. »Wir müssen uns jetzt dem Fremdenstellen, aber nicht allein, sondern gemein-sam. Wir müssen uns weiterhin in Tranceversammeln und unsere vertrauten Gefähr-ten erschaffen, vor allem den Riesen Schim-baa! Sein Mut und seine Kraft werden unsbeschützen und dem Fremden beweisen, daßes keine Macht über uns hat!«

Aber die Angst saß bereits zu tief. Jederbeobachtete den anderen, ob er als nächsterdie Nerven verlieren würde. Sie zögerten,sich die Hände zu reichen, denn sie wußtennicht, was dann mit ihnen geschehen würde.Presto Go rüttelte sie immer wieder auf, er-mahnte sie, nicht nachzugeben, befahl ihnen,sich in Trance zu versetzen und an die gutenWesen zu denken!

Doch erneut verloren die Betenden die

Kontrolle; mit jeder neuen Versenkung inTrance nahmen die Schreckgestalten extre-mere Formen und Gestalten an. Sie wurdenimmer größer und mächtiger - und gefährli-cher.

Schemenhaft wurden anfangs Pallominund Brodik und Schimbaa erschaffen. Dochbevor diese ganz ihre semimaterielle Gestaltannehmen konnten, veränderten und verzerr-ten sie sich zu gräßlichen Abbildern ihrerselbst, zu fauchenden und zischenden Unge-heuern mit glühenden Augen und zähnestar-renden, weit aufgerissenen Rachen.

Je mehr die Herreach versuchten, dieseWesen zu bannen, desto schlimmer wurdees. Die Lage spitzte sich zu; Übermüdungund Gereiztheit machten sich breit.

Und dann, gleichsam als Höhepunkt, wur-de der angstgeborene Axamit erschaffen: ei-ne kugelige Gestalt mit vielen gleichzeiti-gen, ständig wechselnden schrecklichen Ge-sichtern. Mit diesen wimmelnden, mit vielenStimmen klagenden, schreienden, stöhnen-den und jaulenden Gesichtern fuhr Axamitwie ein Dämon durch die Reihen der Herre-ach. Furchtbarer Gestank ging von ihm aus,und seine vielen hervorquellenden, wie Pfei-le herausschießenden, brennenden oder eisi-gen Augen verbrannten die Haut oder ließendie Gliedmaßen der Betenden in Kälte er-starren.

Die Herreach waren so entsetzt, daß sienicht einmal mehr schreien oder weglaufenkonnten: Schreckerstarrt blieben sie auf ih-ren Plätzen, die Hände ineinander ver-krampft, und versuchten das wirbelnde Cha-os vor ihnen auszulöschen.

Presto Go konnte nur mit Mühe eine aus-brechende Panik abwenden: Unter Aufbie-tung aller Kräfte jagte sie den angstgebore-nen Axamit aus der Gebetsrunde hinaus, ließihn gegen die Ruinen von Moond anrennenund vertrieb ihn schließlich weiter hinaus indie Ebene.

Caljono Yai befürchtete einen Moment,sie würde das Wesen gegen die Terranerschicken, damit es sich dort verausgabte,aber so weit ging Presto Go nicht. Als das

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Wesen weit genug entfernt war, beendete siedie Gebetsrunde. Die Herreach konnten zu-sehen, wie sich Axamit allmählich auflöste.

Nach dieser Sitzung war die oberste Kün-derin so erschöpft, daß sie auf ihrem Platzzusammenbrach und in ihr Gemach im Bet-haus gebracht werden mußte.

Caljono Yai blieb bei ihr, bis sie wiederzu sich gekommen war, und half ihr, einigeKräuterkuchen zu sich zu nehmen.

»Wir müssen aufhören«, bat sie. »Nochnie habe ich eine Schwäche bei dir erlebt; dubist die Mächtigste von uns allen. Ohne dichhätte Axamit einen nicht absehbaren Scha-den anrichten können. Aber wie ist es dasnächstemal? Kannst du ihn erneut beherr-schen?«

»Es ist zu spät«, flüsterte Presto Go. »Wirkönnen nicht mehr zurück. Wir müssen wei-termachen, Yai, egal wie viele Opfer es ko-sten mag. Das … Böse will uns vernichten.«

Sie richtete sich auf, in ihre Augen tratwieder das vertraute elektrisierende grüneLeuchten.

»Aber noch ist es nicht soweit. Du hastselbst gesehen, daß diese Geschöpfe nochimmer ausschließlich von uns geboren wer-den, nicht von dem Fremden. Es hat keinewirkliche Macht über uns, nur über unsereAngst! Der angstgeborene Axamit ist die In-karnation all unserer Ängste, die beständiganwachsen. Mir ist das ganz genau bewußt,genauso aber, daß diese Wesen ohne unsnicht existieren können und sich auflösen,wenn wir unsere Verbindung unterbrechen!Wir sind es, wir selbst, die das verursa-chen!«

»Aber wir können dieser Angst nicht Herrwerden, sie nimmt noch jeden Tag zu. Duselbst bist davon nicht ausgenommen. DasGrauen um uns …«

»Laß mich nur ein wenig ruhen«, unter-brach die oberste Künderin. »Morgen ma-chen wir weiter.«

»In Ordnung«, gab die junge Mahnerinwiderstrebend nach.

Sie erhob sich, um die oberste Künderinallein zu lassen, und verharrte an der Tür

noch einmal.»Wer wird den Aufbau weiterleiten?«

fragte sie.»Das ist doch jetzt nicht wichtig!«»Aber es wird wichtig sein, wenn alles

vorbei ist, Presto Go. Du mußt einen Nach-folger bestimmen, wenn dir etwas zustoßensollte.«

Presto Gos Nas-Organ zog sich nachoben.

»Was willst du damit sagen?« fragte siescharf.

»Wie ich es sage«, antwortete CaljonoYai leichthin. »Du hast alle Fäden in derHand, aber wer soll sie aufnehmen, wenn dunicht mehr bist?«

»Das wird nicht geschehen.« Das Nas-Organ wurde nach unten gedrückt und zitter-te leicht. Presto Go war amüsiert. »Nochnicht, kleine Mahnerin. Nicht so schnell.«

Yai glaubte es oder nicht, jedenfalls gingsie. Ein Zeichen von Schwäche war immerder Beginn des Abstiegs. Nachfolger würdensich bereit machen, Presto Gos Stelle einzu-nehmen, sie vielleicht sogar töten.

*

Am Morgen zeigte sich die oberste Kün-derin energiegeladen und entscheidungsfreu-dig wie immer. Die gläubigen Herreach wa-ren anwesend und nahmen die erforderlichePosition für die Sitzung ein.

Presto Go glaubte zu wissen, wie sie nunvorgehen mußte; ein Wesen wie der angst-geborene Axamit durfte nicht noch einmalerschaffen werden!

Wieder übernahm sie die Regie der Ge-betstrance, leitete die Herreach langsam hin-ab und führte sie behutsam auf den Weg. Sievertraute voll auf ihre jahrzehntelange Er-fahrung und ihr hochentwickeltes Talent. Siewar sicher, daß sie diese vielen tausend Her-reach allein anleiten konnte.

Und versagte, weil sie ebenfalls eine Her-reach war und keine Maschine. Ihr Verstandund ihr Wissen waren eine Sache, ihr In-stinkt aber eine andere. Im Wachzustand

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konnte sie alle Emotionen unterdrücken,aber in der Trance war ihr mentales Bewußt-sein frei, und Gefühle konnten ungehinderthineinfließen.

Die fremde Macht hatte in ihrenSchrecken nun vermutlich den Höhepunkterreicht und zeigte den Herreach, daß sie siefest im Griff hatte.

Während dieser Sitzung wurde das furcht-barste aller Wesen geboren, der schreck-schreiende Gumbuda.

Die Trance der Herreach war bereits sehrtief, der leise Gesang vieler steigerte sich zueinem intensiven Summen, viele Gestaltensanken in sich zusammen.

Ein Flimmern entstand in der Luft, eindiffuses Leuchten, das sich rasch verdichteteund zu gewaltiger Größe anwuchs.

Und dann wurde es zu einem Ungeheuer:einem gigantischen, unbeschreiblichen Mon-ster, sechsmal größer als der Riese Schim-baa, grauenvoller als der angstgeboreneAxamit.

Wie ein rasender Sturm brach es brüllendund tobend in die Gebetsreihen der Herreachein, schleuderte die Betenden wie Puppendurch die Gegend und schrie. Nicht einfachirgendein Schreien, sondern so grausam wiedie Zusammenfassung aller Foltern, die Ver-körperung aller Schrecken. Das unbe-schreibliche Schreien steigerte sich zu einemungeheuren Crescendo, grauenvoll und ver-nichtend.

Herreach starben unter konvulsivischenZuckungen, Blut schoß aus Augen, ge-schwollenem Nas-Organ und schlitzförmi-gem Mund. Manche wurden förmlich voninnen her zerrissen.

Die übrigen Betenden, die diesemschrecklichen Sterben zusehen mußten, wa-ren so entsetzt, daß ihre Konzentration un-terbrochen wurde.

Erst dann erlosch das furchtbare Wesennach und nach …

*

»Presto Go, ich werde nie mehr an einer

Gebetsrunde teilnehmen, solange das Frem-de um uns ist!«

Caljono Yai war in das Gemach der ober-sten Künderin gestürmt, ohne sich angemel-det zu haben.

Die Gebetsrunde der Herreach hatte sichin Chaos aufgelöst. Viele waren vor Er-schöpfung zusammengebrochen; die meistenliefen verwirrt herum. Sie wußten nicht, wassie tun sollten. Bedingt durch die Katastro-phe waren sie heftigen Emotionen ausge-setzt, die sie in dieser Intensität nie zuvor er-fahren hatten.

Der Tod anderer Herreach machte sienicht so sehr betroffen, schließlich endetedas Leben stets. Aber nicht auf diese Weise!Das Sterben war es, das ihnen solches Ent-setzen bereitete, dieses Sterben, verursachtdurch ihre eigenen Gebete! Diese Gebete derHerreach waren immer für etwas Gutes ge-wesen, um Kummerog zu sehen, um zu ver-suchen, den Tempel zu öffnen, um für Frie-den und Ausgeglichenheit zu sorgen …

Seitdem das Unbekannte um sie herumwar, hatten sie nur noch Alptraumgeschöpfeerschaffen, die sich nun sogar gegen ihre ei-genen Schöpfer gewandt und sie getötet hat-ten.

Caljono Yai, durch die Zugehörigkeit zuden Neuen Realisten und die Kontakte zuden Terranern sensibler als andere, wolltesich keinem neuerlichen Schrecken mehraussetzen. Es war nicht Angst allein, son-dern das Entsetzen um die furchtbaren Din-ge, die um sie herum passierten.

»Red keinen Unsinn!« sagte die obersteKünderin scharf. »Benimm dich nicht wieein Kind!«

»Aber …«»Kein Aber, Mahnerin! Es geht hier um

Wichtigeres als um deine lächerlichen Ge-fühle. Oder bist du schon so zur Terraneringeworden, daß du davonläufst wie sie?«

»Warum sagst du das?«»Um dich auf den Boden der Tatsachen

zurückzubringen und dir bewußt zu machen,wer du bist!«

Die junge Mahnerin schwieg verwirrt.

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Dann flüsterte sie: »Wie sollte ich das je-mals wieder können, wenn er dort draußenist …«

»Närrisches Kind!« Presto Gos Nas-Or-gan zog sich freundlich nach unten. »Du bistimmer die Beste von allen gewesen, aberman muß dich in die Schranken weisen.Komm, wir gehen ins Betfeld! Die anderenmüßten inzwischen alle dasein.«

Caljono Yai folgte der obersten Künderin;sie wußte nicht mehr, was sie denken odersagen sollte.

»Ich habe eine Ankündigung zu machen«,eröffnete Presto Go ihre Rede, kaum daß sieauf dem ovalen, nicht überdachten Platz in-nerhalb des Bethauses erschienen war.

»Ich weiß, wie es euch geht. Ich sehe eseuch an, ich spüre und rieche eure Angstförmlich. Aber wir dürfen jetzt nicht aufge-ben! Ich weiß, daß ihr verunsichert seid undan keiner weiteren Sitzung mehr teilnehmenwollt. Caljono Yai hat es mir selbst gesagt.Aber das ist der falsche Weg, und das wißtihr genau! Wir dürfen uns davon nicht ein-schüchtern lassen! - Das, was uns umgibt, istabsolut böse. Dieses Wort ist uns fremd, esstammt aus dem Wortschatz der Sprache derTerraner. Aber wir müssen lernen, damitumzugehen. Unsere Welt ist nun hell unddunkel, es gibt keine Gleichförmigkeitmehr.«

Caljono Yai erinnerte sich daran, daß VejIkorad einst fast dieselben Worte gebrauchthatte. Und langsam begann sich in ihremHerzen Bewunderung zu regen. Presto Gokonnte offensichtlich mit allen Lebenslagenfertig werden; sie verstand es zudem, ihre ei-gene Selbstsicherheit an andere weiterzuge-ben.

Das schreckliche Erlebnis wich undmachte einer neuen, zaghaften HoffnungPlatz. In jedem Krieg gab es Opfer, das hattedie junge Mahnerin aus Erzählungen derTerraner gelernt; aber diese Opfer warenmanchmal nicht umsonst. Aus Niederlagenerwuchsen Siege. Sie hatten einen Rück-schlag erlitten, es hatte Tote gegeben, abersie waren noch nicht vollends geschlagen.

Mit wachsender Begeisterung lauschte siePresto Gos Rede.

»Wir müssen uns der Bedrohung stellen,sonst wird sie uns überwältigen. Was dannvon uns übrigbleibt, mag ich mir nicht aus-malen. Ihr habt gesehen, wozu das führenkann: Wir haben den schreckschreiendenGumbuda geschaffen und ungewollt denTod von Herreach verursacht. Dazu dürfenwir es nicht mehr kommen lassen … abernicht, indem wir nun kneifen und uns in alleWinde zerstreuen, um uns in allen Winkelnder Welt zu verstecken und nie wieder her-auszukommen.

Wir müssen unter allen Umständen dieSitzungen fortsetzen! Was wir erschaffenhaben, entstand nur aus uns selbst!

Die schwirrenden Enacho waren das ersteAbbild unserer Ängste. Der angstgeboreneAxamit war bereits die Inkarnation unsererÄngste.

Der schreckschreiende Gumbuda jedochwar die Verkörperung aller unsererSchrecken und unseres Entsetzens, wie sieseit Anbeginn der Zeit in uns lauern! UnsereVorfahren haben gelernt, sie zu kontrollie-ren, und deshalb - nur deshalb - ist es unsgelungen, eine Zivilisation aufzubauen.Städte wie Moond, Galanter oder Pröoonwären sonst nie entstanden!

Ich weiß, daß unsere alte Welt vernichtetist. Wir sind nunmehr einer Umwelt ausge-setzt, die uns quält, Tag und Nacht. Wir sindin unserem Gleichgewicht so gestört, daßwir bis heute keinen Zyklus zur Erhaltungunserer Art mehr gehabt haben. Um so mehrmüssen wir jetzt um unsere Identität kämp-fen! Wir dürfen nicht aufgeben, und wir dür-fen uns nicht in allem anpassen! Wir sinddie Herreach, und wir haben die Macht, unsdem Unbekannten entgegenzustellen.

Wie soll das gehen?Ich sehe euch die Frage an, jeder stellt sie.Es geht, glaubt mir. Mir selbst, und zwar

mir allein, ist es gelungen, den angstgebore-nen Axamit zu vertreiben, ehe er sich in derEbene auflöste - nachdem wir das Gebet be-endet hatten. Das können wir auch mit dem

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schreckschreienden Gumbuda tun!Wir müssen lernen, unsere Ängste zu un-

terdrücken. Wir dürfen unser Entsetzen nichtnochmals unkontrolliert ausbrechen lassen.Nur das war der Grund für die ErweckungGumbudas!

Ich habe den Weg genau vor mir gesehen!Ich weiß, was wir zur Erforschung und Be-nennung dieses Bösen tun müssen. Ich habees deutlich erkannt, bevor euer Entsetzenmich mitgerissen hat und Gumbuda dazubrachte, einige von uns zu töten.

Wir müssen uns auf das Wesentliche kon-zentrieren! Diese Alptraumgeschöpfe sindaus unseren eigenen Angsten geboren wor-den - geben wir ihnen keine zweite Chance!Ohne unsere Angst und unser Entsetzenkönnen sie nicht existieren. Wenn wir unse-rer Furcht offen ins Gesicht sehen und unsfest darauf konzentrieren, nie wieder unsereÄngste die Herrschaft übernehmen zu las-sen, wird auch so etwas wie heute nie wie-der geschehen!

Ich fordere von euch, daß ihr euch mor-gen wieder auf dem Platz einfindet. Alle!Gebt es an die anderen Herreach weiter, diejetzt nicht hier sind. Wir müssen Tausendesein, um soviel Macht wie möglich zu sam-meln. Bereitet euch darauf vor, erneut inTrance zu versinken, aber laßt euch nichtwillenlos treiben!

Konzentriert euch auf das Wesentlicheund nur auf das: Wir müssen dem Namenlo-sen einen Namen geben und dem Bösen dieMacht nehmen!

Wir werden es schaffen, alle zusammen.Es spielt keine Rolle, woran der einzelnewirklich glaubt, wenn wir nur ein gemeinsa-mes Ziel haben. Ich bitte euch nicht darum,ich fordere und verlange es, weil wir sonstnicht mehr das Volk der Herreach sein wer-den!«

Als die Stimme der obersten Künderinverhallte, herrschte Schweigen. Die Herre-ach verließen nacheinander das Betfeld. VejIkorad und Tandar Sel warteten auf CaljonoYai, aber sie gab ihnen durch ein Zeichen zuverstehen, daß sie später nachkommen woll-

te.Die beiden Herreach-Frauen blieben al-

lein zurück.»Ich wollte dir noch etwas sagen«, be-

gann die Jüngere. »Es tut mir leid, daß ichdich jemals eine fanatische alte Frau nannte.Du bist weder eine alte Frau noch fanatisch.Du bist eine Große unseres Volkes, und ichwill mich gern von dir auf der Suche nachdem wahren Namen für das Unbekannte lei-ten lassen. Und ich glaube, daß das auch alleanderen wollen. Sie werden morgen vollzäh-lig erscheinen, und vielleicht stoßen sogarnoch weitere dazu.«

»Es werden unter Umständen weitere Op-fer gefordert werden, Yai«, dämpfte die Äl-tere ihre Begeisterung.

»Aber vielleicht können wir so endlichzum wahren Kummerog vorstoßen.«

»Verrenne dich nicht!« warnte Presto Go.»Was ich brauche, ist dein klarer Verstand.Keine Träume oder Wunschvorstellungen!Du besitzt ein sehr ausgeprägtes Talent, alsoverschwende es nicht mit irgendwelchenSentimentalitäten!«

*

Presto Go ließ es sich nicht nehmen, imAnschluß an ihre Rede das Lager der Terra-ner aufzusuchen, um sich persönlich von ih-rem Zustand zu überzeugen.

Caljono Yai, die Sprecher der Neuen Rea-listen und der Herrachischen Freiatmer be-gleiteten sie. Weitere Herreach waren bereitsdort, die sich manche Einrichtungsgegen-stände zur Erleichterung der Bequemlichkeitzusammensuchten und einfach mitnahmen.Andere, von Caljono Yai beauftragt, brach-ten den hilflosen Menschen etwas zu essen.

Viele Terraner waren nicht mehr da. Diemeisten hatten sich bereits in alle Windeverstreut.

»Ein trauriger Anblick«, verkündete Pre-sto Go nicht ohne Triumph. »Da seht ihr,wohin ihre Technik sie gebracht hat. Siesind verrückt geworden und haben es ver-säumt, vorsorglich zur Heilung Maschinen

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zu bauen. Was für ein lächerlicher Haufen -und wie sehr haben sie sich uns gegenübereinst aufgespielt! Nichts als Schein, ein Ver-stecken hinter ihren Maschinen, die ihnendie Selbständigkeit genommen haben.

So weit werden wir es niemals kommenlassen, das verspreche ich euch. Wir werdendie Technik nur für das Notwendigste ein-setzen, wie unsere Moond-Bahn, den Tele-grafen oder das elektrische Licht. Dochabenteuerlichen Firlefanz wie die Terranerbrauchen wir nicht, davon habt ihr euch jetztselbst überzeugen können!«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als etwasMerkwürdiges geschah. Die Anlagen warenverwaist, schienen aber wohl zu funktionie-ren. Plötzlich begann über einer Station dieLuft zu flimmern und zu flackern, ähnlichwie bei der Gebetstrance.

Dann baute sich allmählich ein seltsames,farbiges Muster auf, das rasch in die Höhewuchs, bis es leicht die Ruinen von Moondüberragte und die im Lager anwesendenHerreach erstaunt innehalten ließ.

Es war ähnlich wie ein Spiegel, nur daßnicht die Herreach abgebildet wurden, son-dern zwei ganz andere Gestalten, die lang-sam an Konturen und Schärfe gewannen undschließlich überlebensgroß und wie leibhaf-tig wirkten.

Caljono Yai setzte vor Verwunderung dieverspiegelte Brille ab, ihre geschlitzten Au-gen öffneten sich.

»Mila! Nadja!« rief sie. »Ich bin es, Cal-jono Yai! Könnt ihr mich verstehen?«

»Bist du verrückt?« zischte Presto Go.»Was ist das für ein Teufelswerk?«

»Ist das das Namenlose Fremde?« wurdenandere Stimmen laut.

Die technikscheuen Herreach ducktensich; selbst Vej Ikorad und Tandar Sel bliebdie Sprache weg.

»Es ist die terranische Technik, ich habedas schon mal gesehen«, versicherte CaljonoYai eifrig, »sie nennen es holo … holoproji-zische Grafion!«

»Wir grüßen dich, Caljono Yai«, erschollNadja Vandemars vertraute Stimme.

»Hoffentlich haben wir dich nicht zu sehrerschreckt, aber es ist sehr wichtig, mit dirzu sprechen!«

Das Summen und Murmeln der anderenHerreach schwoll zusehends an. Caljono Yaihatte es nicht leicht, sich verständlich zuma-chen.

»Laß mich mit ihnen reden, bitte!« bat siedie oberste Künderin. »Das ist kein Teufels-werk, und es hat auch nichts mit dem Na-menlosen zu tun, glaub mir! Das sind diebeiden Psi-Begabten Mila und Nadja, derenHilfe ich erbitten wollte!«

»Die das Namenlose geweckt haben, nichtwahr?« kam es von Presto Go hart zurück.»Ihnen habt ihr den weisen Sucher Ekrir ge-schickt und damit das Leid über uns ge-bracht!«

»Das ist nicht wahr!« rief Yai verzweifelt.»Bitte, vielleicht können sie uns helfen!«

Presto Go richtete ihre schmalen grünenAugen auf das Abbild der beiden Schwe-stern. Natürlich war sie über alles informiert,was sich damals während deren Anwesen-heit abgespielt hatte; es hatte zum - bis vorkurzem endgültigen - Bruch geführt.

Wiederum gab sie nach; die Beseitigungder Bedrohung war wichtiger als ihr eigenerZorn auf die Fremden. Mochten sie daranschuld gewesen sein, es zählte jetzt nicht.Vielleicht hatten sie eine Lösung!

»Gut«, sagte sie. »Sprich mit ihnen! Fragsie, was sie tun wollen, um uns von der Ge-fahr zu befreien, die sie heraufbeschworenhaben!«

Sie bedeutete den anderen Herreach mitZeichen, sich ruhig zu verhalten. Diese beru-higten sich rasch, als sie die oberste Künde-rin so gelassen sahen.

»Ich wollte euch schon um Hilfe bitten,aber ich wußte nicht, wie!« setzte CaljonoYai das Gespräch mit den Schwestern fort.

»Erzähl uns, was geschehen ist.«Die junge Mahnerin berichtete in kurzen

Worten.»Den, den du schreckschreienden Gum-

buda genannt hast, haben wir in einer Über-tragung hier auf Terra gesehen, deswegen

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haben wir uns gemeldet«, sagte Mila nachBeendigung des Berichts. »Es ist tragisch,daß dabei Herreach den Tod gefunden ha-ben. Aber das hat nichts mit uns oder demPilzdom zu tun!«

Sie sah dabei die oberste Künderin an.»Es fällt mir ziemlich schwer, das zu

glauben«, erwiderte Presto Go. »Die zeitli-chen Zusammenhänge legen den Verdachtschließlich nahe. Ihr wißt, wie ich zu euchTerranern stehe.«

»Das wissen wir, und wir danken dir fürdeine Bereitschaft, mit uns zu sprechen«,entgegnete Nadja. »Du weißt, daß CaljonoYai uns Vertrauen entgegenbringt. Deshalbwiederhole ich: Dieses furchtbare Gesche-hen hat nichts mit unseren Arbeiten am Pilz-dom zu tun. Es hängt vielmehr mit dem Ver-halten der auf Trokan stationierten Terranerzusammen.«

Die Schwestern berichteten nun ihrerseitsin leicht verständlichen Worten, was es mitdem Kritzelsyndrom und den Kreisen desPhilosophen auf sich hatte.

»Ich hatte den Ursprung auf Terra bereitseinmal vermutet«, versicherte Caljono Yainicht ohne Freude in der Stimme.

Möglicherweise hatte Presto Go sich dochgeirrt! Allerdings hatte sie in den letzten Ta-gen sehr viel von der obersten Künderin ge-lernt und klammerte sich nun nicht daranfest, sondern bezog deutlich Position gegendie Menschen:

»Ich sehe aber nun keine Gefahr mehr, dawir - letztendlich dank euch - wissen, wiewir vorgehen müssen. Das Namenlose Grau-en hat einen Namen bekommen. Wir werdenlernen, es zu erfassen und zu bannen. UnterPresto Gos Führung werden wir denschreckschreienden Gumbuda kein zweitesMal erschaffen. Sie kann uns leiten und die-ses Unheil von uns abwenden. Ihr brauchteuch um uns nicht zu sorgen, und um diekranken Terraner kümmern wir uns.«

»Dann gebt gut auf euch acht!« sagte Mi-la. »Wir werden hier auf Terra unser best-mögliches tun, um den Philosophen auszu-schalten. Damit wäre die Gefahr auch für

euch gebannt. Wir werden uns wieder mel-den, wenn es etwas Neues gibt.«

Das Abbild erlosch, und Caljono Yaiwandte sich an Presto Go.

»Hältst du mich jetzt immer noch für eineVerräterin?« fragte sie.

Damit bezog sie sich erneut auf jenen ver-gangenen Streit, indem sie sich gegenseitigdie schwersten Vorwürfe gemacht hatten.

»Das ist Vergangenheit«, antwortete Pre-sto Go ruhig. »Wir sind alle Herreach. Allesandere ist unwichtig.«

8.Terra: Spiegel der Wahrheit

19. Juni, 4:05 Uhr Ortszeit Kiliman-dscharo

»Es tut mir leid, dich so früh zu wecken«,meldete sich Homer G. Adams von der GIL-GAMESCH.

»Was ist geschehen?« fragte Atlan alar-miert; er war sofort hellwach.

»Die Frage lautet: Was wird geschehen?Nichts Gutes, fürchte ich. Das Gliederschiffhat das Solsystem inzwischen erreicht undmit deutlich reduzierter Geschwindigkeit di-rekten Kurs auf Terra genommen.«

»Auf Terra? Kein Zweifel?«»Natürlich nicht.«»Entschuldige. Wann wird es hier sein?«»In einem, spätestens zwei Tagen. Je

nachdem, wie stark es verlangsamt. Es siehtnicht gut aus, Atlan.«

Der Arkonide nickte. »Hast du versucht,Kontakt aufzunehmen?«

»Ich versuche es ständig«, lautete dieAntwort. »Natürlich keine Reaktion. Wirwerden nicht beachtet. Als wären wir über-haupt nicht da. Ich weiß nicht, was gesche-hen wird, wenn es die Erde erreicht hat.«

»Wir werden hier nicht wie Schafe her-umsitzen und warten.« Atlan drehte sich umund schaute in die Gesichter der beidenFrauen. »Seid ihr noch immer entschlos-sen?«

»Jetzt erst recht! Wir haben keine Zeitmehr zu verlieren, Atlan. Alternativen gibt

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es nicht.«Es gefiel ihm nicht, aber sie hatten recht.Zum zweiten Mal drangen sie zusammen

mit den Robotern zum Zentrum des InnerenKreises vor; diesmal jedoch mit einer um-fangreichen Ausrüstung und SERUNS aus-gestattet.

Der Philosoph hatte seine Position in denletzten Tagen nicht verändert. Die Schwe-stern hatten sich eine lange Erholungspausegegönnt und sich mit intensivem Konzentra-tionstraining auf die bevorstehende Arbeitvorbereitet. Sie fühlten sich nun absolut fit.

Die Vorgänge auf Trokan und das Ge-spräch mit Caljono Yai hatten sie in ihremEntschluß nur noch bestärkt.

Die Menschen umkreisten den Philoso-phen nach wie vor wie Satelliten und achte-ten auch jetzt nicht auf die seltsamen Ein-dringlinge, deren Roboter ihre Wege kreuz-ten und sie umleiteten. Im Bannkreis vordem wirbelnden Zentrum blieben die beidenSchwestern stehen.

»Wir werden es diesmal besser von hieraus versuchen«, sagte Mila. »Zur Vorsichtsolltest du uns auf alle Fälle an die Meßgerä-te der beiden Medos anschließen, und wirwerden uns auf die Schwebetragen legen.Unsere SERUNS werden uns zwar mit demNötigsten versorgen; aber man weiß ja nie.Wir wissen vor allem nicht, wie lange dieseSitzung dauern wird. Du solltest dich alsovorsorglich ›häuslich‹ einrichten. Der Ab-stand zu den kreisenden Menschen ist hiergroß genug, wir werden sie keinesfalls be-hindern, und sie werden nicht über uns stol-pern.«

Atlan nickte. Es fiel ihm schwer, sich dieBesorgnis nicht anmerken zu lassen. DerFunkkontakt zur GILGAMESCH blieb auf-rechterhalten, damit Adams regelmäßigNachrichten über das sich allmählich be-drohlich nähernde Gliederschiff geben konn-te. Er sollte außerdem alle Vorgänge aufTerra aus der Distanz beobachten und be-deutende Veränderungen sofort melden.

Niemand konnte wissen, was geschehenwürde, wenn Mila und Nadja den Philoso-

phen »zu fassen« bekamen.»Aber wenn ihr merkt, daß es zuviel wird,

brecht ihr sofort ab«, bat der Arkonide zumwiederholten Male.

Die beiden Frauen lächelten ihn beruhi-gend an.

»Es ist nicht das erste Mal, wir schaffendas schon. Vertrau uns!«

»Ich weiß eben nicht, was ich tun sollte,wenn es … dramatisch wird.«

»Du kannst gar nichts tun. Das spielt sichalles auf mentaler Ebene ab. Wir müssen al-lein damit fertig werden. Deine Aufgabe istes, als Beobachter über alles zu wachen undnotfalls irgendwelche Aktionen für Terraeinzuleiten. Adams soll auch Trokan genaubeobachten, falls die Herreach mit dem Ein-fluß des Philosophen nicht mehr fertig wer-den können.«

»Gut. Ich wünsche euch viel Erfolg.«

*

19. Juni, 6:12 Uhr Ortszeit Kiliman-dscharo

Mila: Bereit, Schwester?Nadja: Bereit.Die Einleitung des Rituals war abge-

schlossen. Die Schwestern lächelten sich zu,legten sich entspannt zurück und schlossendie Augen.

Die Meßgeräte der Medos zeigten kurzdarauf, daß sie mit ihrer Arbeit bereits be-gonnen hatten; ihre Körpertemperatur sankum ein halbes Grad, ebenso verlangsamtensich die Herzschläge und die Körperfunktio-nen. Es war, als ob ihre Körper in einen tie-fen Winterschlaf versänken. Die EEG je-doch zeigten eine heftige Aktivität ihrer Ge-hirne an.

Während die Medos sich auf die beidenEsper konzentrierten, war die Aufmerksam-keit der Allround-Modulas auf alle Verände-rungen der fünfdimensionalen energetischenKomponenten des Philosophen gerichtet.

Die übrigen Modulas schirmten den Platzvor »Eindringlingen« ab, die sich eventuellversehentlich aus der Spirale lösen könnten.

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Atlan war die Aufgabe des allgemeinenBeobachters und Mittlers zugewiesen; et-was, das ihn zum Nichtstun verdammte undseine Geduld auf eine sehr harte Probe stell-te. Nur die regelmäßigen Funkkontakte mitHomer G. Adams konnten ihn über die Zeitdes bangen Wartens hinwegtrösten.

Wie verabredet sollten die Zwillinge ihreParasinne diesmal nicht auf den Philoso-phen, sondern auf das Flimmern konzentrie-ren. Es dauerte jedoch mehrere Stunden, bisAtlan zum ersten Mal eine Veränderung be-merkte.

Er war bereits unruhig geworden; er kann-te die Fähigkeiten der beiden Esper nichthinreichend, um den genauen Ablauf zu wis-sen.

Immer wieder kontrollierte er die Mes-sungen der Medos und betrachtete vollerSorge die eingefallenen, grünlichfahlen Ge-sichter der Frauen. Bisher gab es keinenGrund einzuschreiten; die beiden sahen zwarnicht gut aus, aber laut den Medo-Roboternhielt sich alles gut im Rahmen.

Ihre sämtlichen Körperfunktionen warenzwar stark herabgesetzt, aber weiterhin ein-wandfrei. Blutdruck und Pulsfrequenz hattensich auf einen -zwar mit 7 0:30 sehr niedri-gen regelmäßigen Wert eingependelt.

Der Arkonide konnte sich nicht vorstel-len, wo sich ihre Geister nun befindenmochten, wie sie vorgingen, um den Philo-sophen zu erkennen. Der Begriff Spiegelse-hen war hier durchaus angebracht, stelltedoch das Flimmerzentrum ein einziges Spie-gelkabinett aus Illusionen und Realitätendar.

Ob es ihnen möglich werden würde, hin-ter die Spiegel zu sehen?

*

Warten und beobachten, beobachten undwarten.

Endlich, nach Stunden, eine Veränderung,für den Beobachter außen sichtbar. DasFlimmern änderte sich.

War es zuvor nur ein chaotisches Durch-

einander gewesen, begann es sich nun zuformieren und zu verändern. Es zog sich zu-sammen und gestaltete sich neu zu einer rie-sigen kugelförmigen Erscheinung, ähnlicheiner flimmernden, transparenten Projekti-onswand.

Innerhalb dieser Projektionswand began-nen Bilder zu entstehen, jedoch sehr undeut-lich. Sie fielen immer wieder in sich zusam-men, um sich neu zu formieren.

Atlan konnte keine Einzelheiten erken-nen, sosehr er sich auch bemühte. Die Or-tungen der Allrounder ergaben keine sinn-vollen Erklärungen …

Ein Summton scheuchte den Arkonidenzu den Schwestern. Ihr Herz-Kreis-lauf-System drohte zu kollabieren, Puls- undHerzfrequenzen stiegen und fielen chao-tisch. Die Frauen wurden von Krämpfen ge-schüttelt, ihre Augen waren weit geöffnetund so stark verdreht, daß nur noch das Wei-ße zu erkennen war. Ihre Gesichter warenschweißüberströmt, die Lider flatterten, undsie atmeten stoßweise.

Die Medos injizierten ihnen Mittel, umihren Kreislauf zu stabilisieren; nach einigerZeit beruhigten sie sich tatsächlich etwas. Esbestand zumindest keine unmittelbare Ge-fahr mehr.

Die Krämpfe lösten sich zu einem anhal-tenden leichten Muskelzittern wie nach einerkörperlichen Überanstrengung, die Augenschlossen sich wieder. Die Bewegung derAugäpfel reduzierte sich auf ein normalesMaß.

»Weckt sie auf!« befahl der Arkonide.»Das ist leider nicht möglich«, sagte einer

der Medos.»Was heißt das, es ist, nicht möglich?«»Wir haben bereits alles Nötige dazu ge-

tan, aber wir können sie nicht zu Bewußtseinbringen. Die paramentale Verbindung kön-nen nur sie selbst abbrechen.«

Atlan schlug die Fäuste aneinander.»Hätte ich nur Ärzte mitgenommen!«

»Auch Ärzte können hier nichts ausrich-ten«, widersprach der Medo unerbittlich.»Die biologische Versorgung kann ebenso

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durch uns erfolgen. Der mentale Bereich je-doch ist uns verschlossen.«

»Versucht es trotzdem weiter!« schnappteAtlan.

Er wußte, daß die Schwestern medizinischbestens versorgt wurden und ausreichendEnergie zugeführt bekamen. Dennoch gab ernicht auf. Mit immer größerer Verzweiflungversuchte er selbst, die Vandemar-Zwillingezu sich zu bringen - natürlich ohne Erfolg.

Nur eine einzige Möglichkeit gab es: Auseiner ähnlichen Situation hatten seinerzeitdie Herreach die Gäa-Geborenen herausge-holt, doch war hier nicht Trokan. Atlankonnte sie nicht einmal hierherbringen las-sen, da jeder, der in den Kreis des Philoso-phen geriet, sofort dem Kritzelwahn verfiel…

Und er selbst wollte sich keine Sekundewegrühren. Abgesehen davon hatte er keineErfahrung mit den Herreach; er bezweifelte,daß er Freiwillige gefunden hätte angesichtsder immensen Probleme, die dieses Volkderzeit ebenfalls hatte …

Wieder in die Rolle des. Beobachters ge-drängt, mußte er hilflos dem Leid der Zwil-linge zusehen. Er konnte sich nur dadurchablenken, daß er versuchte, die Bilder derProjektionswand zu erkennen und zu deuten.Diese waren nach wie vor zu verschwom-men und wechselten zu schnell.

Spät in der Nacht fiel Atlan schließlich ineinen unruhigen Schlummer, aus dem ermehrmals hochschreckte. Der Zustand derZwillinge war unverändert schlecht; derVerfall ihrer körperlichen Kräfte wurde nurdurch die ständige Wachsamkeit der Medosverhindert.

Der Arkonide hatte keine Vorstellung,wie lange sie das noch durchhalten konnten;es machte ihn fast rasend, weil er nichts un-ternehmen konnte. Er hatte schon überlegt,sie aus dem unmittelbaren Einflußbereichdes Philosophen bringen zu lassen, aber da-vor hatten die Medos ausdrücklich gewarnt.

Es war gefährlich, in dieser Situation zustarken Einfluß zu nehmen. Niemand wußte,was dann geschehen würde vielleicht fanden

sie den Weg nicht mehr zurück.Der Marathon setzte sich auch am näch-

sten Tag fort; es waren nun schon mehr als24 Stunden. Atlan wußte in seiner Not nichtmehr, was er tun sollte.

Wie lange konnten die Schwestern dasnoch durchhalten? Gab es überhaupt eineChance für sie, die paramentale Verbindungabzubrechen und mit gesundem Geist in ih-ren Körpern wieder zu erwachen?

Er verfluchte sich, weil er sich darauf ein-gelassen hatte; er hatte keinerlei Ahnung ge-habt, wie so ein Versuch aussehen würde. Erwar - wie beim ersten Mal - von einigen Mi-nuten, höchstens zwei oder drei Stundenausgegangen, aber nicht mehr!

Weshalb hatten sie die Verbindung nichtabgebrochen, als es zu anstrengend gewor-den war? War es ihnen nicht mehr möglichgewesen, hatte der Philosoph sie paramentalgefangengenommen? Warum hatten sie At-lan nicht gesagt, was zu tun war, um dieVerbindung von außen abzubrechen?

Vielleicht konnte Adams für ihn Verbin-dung mit Myles Kantor aufnehmen; derWissenschaftler hatte schließlich schon öftermit den Frauen zusammengearbeitet. Atlanverwarf die Überlegung gleich wieder. Demletzten Bericht über Trokan nach zu urteilen,konnte Kantor ihm sicherlich auch nicht hel-fen. Er durfte jetzt nicht alle kopfscheu ma-chen, sie hatten noch genügend andere Pro-bleme.

Vertrau uns, hatten sie zu ihm gesagt.Leicht gesagt, aber schwer durchzuhalten,

wenn man tatenlos herumsitzen und demLeid anderer zusehen mußte.

Die Flimmerwand zeigte unverändert ver-waschene, schnell zerfallende Bilder, dieVerbindung mußte also immer noch beste-hen.

So wichtig kann es nicht sein, dachte At-lan. Bitte, kommt zurück! Brecht das Experi-ment ab, es hat keinen Sinn. Ich habe euchvertraut, aber jetzt ist meine Angst größer.Was soll ich tun, um euch zu helfen?

In der kreisenden Spirale aus Menschenhatte sich nichts geändert.

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Alles war unverändert, bis auf den Zu-stand der Zwillinge und das Fortbestehender flimmernden Projektionswand.

Und …

*

20. Juni, 15:40 Uhr Standardzeit»Atlan, es wird zur Katastrophe kom-

men!«Der Arkonide reagierte nicht aufgeregt

oder erschüttert, als er Adams' aufgeregtenAnruf empfing. Er war durch die pausenloseSorge um die Schwestern bereits so ausge-laugt, daß es auf eine Katastrophenmeldungmehr oder weniger auch nicht mehr anzu-kommen schien.

Er hatte seine Position zwischen den bei-den Frauen bezogen und hielt ihre Hände.

»Was ist los?« fragte er müde zurück.»Ich glaube, das sollte ich eher dich fra-

gen«, kam es erschrocken von Adams. »Wasist geschehen?«

Atlan berichtete; viel gab es nicht zusa-gen.

»Es macht einen allmählich verrückt, die-se kreisenden Menschen hier pausenlos umeinen, das Flimmern dieser Projektionswandund die beiden Frauen …«

»Es tut mir leid, Atlan«, sagte Adams auf-richtig. »Um so mehr, da ich deinen Sorgennoch eine hinzufügen muß … eine ziemlichgroße sogar.«

»Das Gliederschiff?«»Ja. Es hat weiterhin direkten Kurs auf

Terra.«Atlan horchte auf. Etwas in der Stimme

des alten Freundes gefiel ihm nicht.»Und? Wird es uns angreifen?«»Nun … nicht direkt«, antwortete der

ehemalige Hanse-Chef etwas zögernd.»Was dann?« Atlan war endlich alarmiert

und blickte zum klaren Himmel hoch.Dort war ein winziger dunkler Punkt zu

sehen, doch das konnte auch eine optischeTäuschung sein. Nein. Der Punkt wurdeziemlich schnell größer. Also bewegte ersich mit hoher Geschwindigkeit direkt auf

die Erde zu.Seine ohnehin helle Gesichtshaut wurde

kalkweiß.»Hat es inzwischen abgebremst?« flüster-

te er.»Für ein Bremsmanöver ist es längst zu

spät«, sagte Adams. Schonungslos zählte ergenau die Reihenfolge auf, in der sich dieKatastrophe abspielen würde: »Es wird mitder Erde kollidieren, wie ein Meteor auf derOberfläche einschlagen und eine planeten-weit vernichtende Katastrophe auslösen …«

»Großer …«, begann Atlan und ver-stummte.

Sein Blick, der unverwandt auf den Him-mel gerichtet war, verschleierte sich. Derdunkle Punkt wurde rasch größer; er kam inunheimlicher Geschwindigkeit näher.

»Wir können tatsächlich nichts mehrtun?«

»Nein.« Adams hatte deutlich Mühe, Fas-sung zu wahren. »Es kommt genau über dirrunter, Atlan. Ich habe versucht, es aufzu-halten, aber mein Beschuß hinterließ nichteinmal minimale Schäden, und jetzt kannich gar nichts mehr tun. Es tut mir leid …«

Der Punkt wurde zu einem Stab, währendAdams noch redete, einem unförmigen Ge-bilde, dessen Ausmaße in rasender Ge-schwindigkeit gigantische Werte annahmen.

»Es fällt uns tatsächlich genau auf denKopf …«

Mehr fiel dem Arkoniden nicht mehr einzu sagen. Er hatte nicht einmal mehr die Zeitfür Furcht oder ein letztes Bedauern, soschnell ging es.

*

20. Juni 1289 NGZ, 15:43 Uhr Standard-zeit

Es wurde dämmrig, dann beinahe Nacht.Ein gigantischer Körper brachte die Sonnezum Erlöschen und senkte sich auf die Erdeherab, bedeckte den Himmel, so weit Atlanschauen konnte.

Eine halbe Sekunde wunderte er sich dar-über, daß dieser Sturz so völlig geräuschlos

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vor sich ging, aber vielleicht war er durchden ungeheuren Lärm bereits taub gewor-den. Vielleicht war er auch schon längst ver-brannt und tot, und nur sein Geist sah demInferno zu.

Das Gliederschiff kam immer weiter her-unter, Atlan konnte bereits einzelne Frag-mente unterscheiden. Er wußte, daß ihm nungar keine Zeit mehr blieb, für nichts mehr,nicht einmal einen letzten Gedanken odereinen Gruß an Adams.

In einer Sekunde war alles vorbei, seinLeben, Terra, der Philosoph, nichts gab esmehr, alles nur noch ein bedeutungslosesStaubkörnchen im All.

Und dann verschwand der Raumer.Ohne die geringste Erschütterung, den lei-

sesten Laut, ohne Stürme, Donnern undBrausen, ohne alles versengendes Feuer undzerschmetternde Vernichtung durch Druck-wellen verschmolz der Koloß mit dem Kili-mandscharo-Massiv und war fort.

Atlan stand einige Minuten völlig verstei-nert da und starrte mit offenem Mund, dieAugen ungläubig geweitet.

»Was …«, krächzte er schließlich.»Was …« kam es auch leise aus dem Fun-

kempfänger.Dann begann der Arkonide einfach zu la-

chen.

*

»War es eine Vision?« fragte er späterAdams, als er sich wieder gefangen hatte.

»Keinesfalls«, widersprach ihm Adams.»Ich habe das Gliederschiff selbst gesehenund beschossen, ich habe gesehen, wie esauf die Erde hinabgestürzt ist …«

»Und trotzdem ist es verschwunden«, un-terbrach Atlan. »Es ist überhaupt nichts pas-siert, verstehst du, nicht das leiseste Lüft-chen hat sich geregt! Und das paßt auch ge-nau zu den Ortungen der Roboter: nichts.Sie haben überhaupt nichts geortet, ist dirdas klar?«

»Aber ich hatte ihn doch geortet!«»Bis zuletzt?«

»Ja … nein … ich weiß nicht.« Adamsunterbrach sich verblüfft. »Es ging alles soschnell, und ich habe nicht mehr darauf ge-achtet, Atlan. Denkst du, in so einem Au-genblick bewahrt man noch einen kühlenKopf?«

»Natürlich nicht, entschuldige. Ich willnur den Grund herausfinden, weshalb wirbeide dasselbe gesehen haben, obwohl es of-fensichtlich nicht da war!«

»Aber es war da, Kreuzdonnerwetter!Kannst du dich damit nicht zufriedengeben,daß du noch lebst? Dieses Schiff war ganzdeutlich zu orten, als es aus dem Verbandder anderen ausgeschert ist und Kurs auf dieErde genommen hat!«

Atlan war nicht nach einem befreiendenLachen zumute.

»Du hast ja recht, Homer, ich freue michja selbst, daß ich noch in der Lage bin, dar-über nachzudenken. Aber ich bitte dichtrotzdem, nachzuforschen, was hier passiertist! Es muß irgendwie mit dem Philosophenund seinem Monument zusammenhängen!«

»Das mache ich, alter Freund. Wie geht esMila und Nadja?«

»Leider noch keine Veränderung. Ichwerde mich jetzt wieder um sie kümmern.Wir sprechen uns dann später, einverstan-den?«

»Alles Gute«, wünschte Adams.

9.Die Vision

Ungefähr eine halbe Stunde nachdem dieVerbindung zur GILGAMESCH beendetwar, kamen Mila und Nadja allmählich zusich.

Atlan konnte es kaum fassen, als die Ge-hirnströme plötzlich auf ein nahezu norma-les Niveau zurückgingen und die Körper-funktionen wieder ihre Arbeit aufnahmen.Der Blutdruck stieg, ebenso die Körpertem-peratur. In die eingefallenen Wangen kehrteallmählich Farbe zurück, das Muskelzitternhörte auf, die Atmung normalisierte sich.

Die Freude war jedoch nur kurz. Das ku-

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gelförmige Projektionsfeld fiel nicht in sichzusammen, sondern blieb weiterhin beste-hen. Das bedeutete, daß die Zwillinge dieVerbindung entweder nicht lösen konnten -oder nicht wollten.

Es kam noch schlimmer. Als die beidendas Bewußtsein wiedererlangten, wurden sievon Krämpfen geschüttelt. Einige Minutenlang waren sie nicht in der Lage zu spre-chen.

Atlan saß still bei ihnen, hielt ihre zittern-den Hände und streichelte sie behutsam.

Schließlich faßte sich Mila langsam; ihrverschleierter Blick glitt zu der Projektions-wand.

Atlan wagte nicht zu sprechen, beide wa-ren weiterhin nicht recht bei sich. Er konntesich nicht ausmalen, was sie Furchtbares ge-sehen haben mochten, um derart zerrüttet zusein.

Mila war die erste, die zu reden anfing;jedoch ohne Einleitung. Wie eine Maschineratterte sie eine Reihe von Sätzen herunter,ohne Erläuterung oder Klärung dessen, wassie tatsächlich erlebt hatte.

»Die Lehren des Philosophen sind«, be-gann sie mit stockender, völlig fremder undabwesender Stimme, »erstens:

Alle Bewohner eines Sonnensystems sol-len unter der Führung des Philosophen zueiner geistigen Einheit verschmelzen.

Zweitens:Jeder Jünger ist ein Kreis innerhalb des

großen Ganzen, des großen, das gesamteSonnensystem umspannenden Kreises.

Drittens:Im Zentrum des systemumfassenden Krei-

ses agiert der Philosoph, das st der InnereKreis. Viertens:

Alle sich im Inneren Kreis befindlichenIntelligenzen tragen unmittelbar zur Entste-hung des Bauwerks bei.

Fünftens:Alle Jünger eines ganzen Systems sollen

unter der Leitung des Philosophen ihre gan-zen Kräfte zur Erhaltung des Bauwerkes bei-tragen.

Sechstens:

Ist das Bauwerk erst einmal festgestellt,dann sollen die Jünger dem Augenblick ent-gegenfiebern, da sie … da sie … für dieSchmückung des Bauwerks … darbringen …ein … ein Opfer …«

Milas Erzählung war ins Stocken geraten,sie konnte die Worte nicht mehr in die rich-tige Reihenfolge bringen; wie ein Schau-spieler, der seinen Text vergessen hatte.

Sie konnte nicht mehr weitersprechen,schluchzend vergrub sie das Gesicht in denHänden, von einem Weinkrampf geschüttelt.

»Mein Gott, was habt ihr nur gesehen?«flüsterte Atlan.

Er drückte Mila an sich, die das vermut-lich nicht einmal spürte.

»Wir haben es gesehen«, stieß Nadja zit-ternd hervor. »Die Zukunft … Tod und Ver-nichtung … und es kann jeden Augenblickwahr werden …« Ihr brach die Stimme.»Vielleicht ist es schon wahr geworden?Niemand kennt mehr die Zeit …«

Sie streckte die Arme nach ihrer Schwe-ster aus und zog sie an sich. Die beiden um-schlangen einander und weinten lautlos.

*

Die Medos gaben dem Arkoniden Aus-kunft, daß mit den Zwillingen abgesehenvon einer völligen Erschöpfung körperlichalles in Ordnung sei. Sie verabreichten ihnenjedoch ein Beruhigungsmittel.

Danach würden die Vandemars schlafen,ihre Kräfte konnten sich regenerieren, undauch ihr seelischer Zustand würde sich da-durch bessern.

Atlan hoffte, daß er daran glauben konnte.Die Zwillinge waren nicht nur übermüdet,sie hatten offenbar etwas Furchtbares gese-hen. Er hoffte, daß sie keinen Schockzustanderleiden würden.

Viel hatten sie nicht berichten können.Atlan hatte nun die Lehren des Philosophenerfahren, aber er wußte nicht, um was für einWesen es sich handelte. Auch was das Bau-werk darstellen sollte, war nicht klar, eben-sowenig, welchen Weg letztlich all die Jün-

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ger des Philosophen nehmen würden.Ob es sich bei dem, was die Schwestern

gesehen hatten, »nur« um eine Vision oderum einen Blick in eine tatsächlich stattfin-dende - unabwendbare? -Zukunft handelte,war nicht klar. Das bereitete dem Arkonidenmehr Angst als alles andere.

Lagen die Fäden noch in ihren eigenenHänden, oder waren sie bereits von anderen,den Tolkandern, übernommen worden?

Es kann jeden Augenblick wahr werden.Das war der schlimmste Ausspruch gewe-

sen. Er erinnerte Atlan an das Warten aufden Tod, als das Gliederschiff auf die Erdegestürzt war.

War auch dies nur eine Vision gewesenoder ein Blick auf eine Zukunft, die unaus-weichlich war? Konnte er noch etwas unter-

nehmen, oder war es bereits für alles zuspät?

Und nach wie vor bestand das kugelför-mige Flimmerfeld. Die Verbindung zu denEspern blieb weiterhin aufrechterhalten, ob-wohl sie inzwischen ruhig schliefen.

Und noch etwas sehr Seltsames geschah:Allmählich begannen sich in dem Flim-

merfeld die Bilder zu festigen und deutliche-re Konturen anzunehmen. Sie wechseltennun nicht mehr so rasch.

Unruhig stellte der Arkonide sich vor dasFeld und sah hinein.

Was würden ihm die Bilder zeigen?

E N D E

Nadja und Mila Vandemar bot sich offensichtlich ein grauenvoller Ausblick - und auch At-lan sieht in den Spiegelungen des Philosophen etwas, das ihn Unruhe verschaffen wird. Sovielist schon sicher.

Der PERRY RHODAN-Band der nächsten Woche blendet um: zu Alaska Saedelaere, derzuletzt in der Galaxis Tolkandir unterwegs war. Seine weiteren Abenteuer beschreibt RobertFeldhoff, sein Roman trägt den Titel:

DIE MITTAGSWELT

46 Susan Schwartz