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Paul Zindel Tote reisen gern zu Wasser die detektive #5 s&c 07/2008 Lautlos gleitet die Inca Princess über die gefährlichen Gewäs- ser des Amazonas. Mit dem alten Schiff reisen nicht nur Quentin und India, sondern auch die Mumie eines Inka- Mädchens, das vor hunderten von Jahren grausam geopfert wurde. Aber bald gibt es noch einen Toten unter den Pas- sagieren. Für die beiden Detektive beginnt ein gnadenloser Wettlauf mit der Zeit, denn der Mörder ist an Bord … ISBN: 3-7855-4648-3 Original: Hawke mysteries #6: Death on the Amazon Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitta Merschmann Verlag: Loewe Erscheinungsjahr: 2003 Umschlaggestaltung: Silvia Christoph & Andreas Henze Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Zindel, Paul - Die Detektive - 05 - Tote Reisen Gern Zu Wasser

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Paul Zindel

Tote reisen gern zu Wasser

die detektive #5

s&c 07/2008

Lautlos gleitet die Inca Princess über die gefährlichen Gewäs-ser des Amazonas. Mit dem alten Schiff reisen nicht nur Quentin und India, sondern auch die Mumie eines Inka-Mädchens, das vor hunderten von Jahren grausam geopfert wurde. Aber bald gibt es noch einen Toten unter den Pas-sagieren. Für die beiden Detektive beginnt ein gnadenloser Wettlauf mit der Zeit, denn der Mörder ist an Bord …

ISBN: 3-7855-4648-3 Original: Hawke mysteries #6: Death on the Amazon

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitta Merschmann Verlag: Loewe

Erscheinungsjahr: 2003 Umschlaggestaltung: Silvia Christoph & Andreas Henze

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Paul Zindel

Tote reisen gern zu Wasser

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitta Merschmann

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Die Deutsche Bibliothek-CIP-Einheitsaufnahme Zindel, Paul:

Tote reisen gern zu Wasser / Paul Zindel. Aus dem Amerikan. übers, von Brigitta Merschmann.

-1. Aufl.. – Bindlach: Loewe, 2002

(Die Detektive) Einheitssacht.: Death on the Amazon ‚dt.‘

ISBN 3-7855-4648-3

Der Umwelt zuliebe ist dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.

ISBN 3-7855-4648-3 -1. Auflage 2003 ©2002 by Paul Zindel

Die Originalausgabe ist in den USA und Kanada bei Hyperion unter dem Titel P.C. Hawke mysteries #6: Death on the Amazon erschienen.

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung von Hyperion. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitta Merschmann.

© für die deutsche Ausgabe 2003 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Umschlagillustration: Silvia Christoph

Umschlaggestaltung: Andreas Henze Gesamtherstellung: GGP Media, Pößneck

Printed in Germany

www.loewe-verlag.de

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Für Susan Chang, die sich so geschickt auf dem Gebiet der Spürnasen und Bösewichter bewegt.

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Inhalt

Ein höllischer Flug ....................... 9 Der Fluch der Mumie ................ 24 Ein Schiff mit Charakter ............ 39 Bestien im Wasser ...................... 55 Auf Eis gelegt ............................. 65 Beweisaufnahme ........................ 77 Ein blutiger Dolch ..................... 84 Mumie auf Abwegen ................. 96 Gauner oder Mörder? .............. 104 Rettung in letzter Sekunde ...... 113 Geschäftspartner ....................... 123 Rätselhafte Zeichen ................. 130 Entlarvt .................................... 139 So ist das Leben! ....................... 157

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Aus den Akten des Schreckens von Quentin Marlon:

Tote reisen gern zu Wasser Fall #5

FALL #5 BEGANN UNGEFÄHR SO:

Der Schrei eines Brüllaffen zer-riss die morgendliche Stille des peruanischen Tieflands. Wenige Au-genblicke später ertönte ein zwei-ter Schrei – doch dieser kam aus den Tiefen der Inca Princess, eines schrottreifen alten Kahns, auf dem meine Freundin India Riggs und ich den Amazonas hinabfuhren.

Im Kühlraum der Inca Princess saß der fette Mr William Donnehy, ein Multimillionär aus Texas und ein unerträgliches Großmaul. Er sammel-te alle möglichen und unmöglichen Dinge und war zum Beispiel auf die sehr alte und ziemlich gruselige Mumie scharf, die India und ich für meinen Vater nach Iquitos brachten. Die nackte Brust des Ermordeten hatte durch die Kälte eine blauwei-ße Färbung angenommen, und er sah nicht mehr aus wie ein Großindust-rieller – eher wie ein tiefgefrore-ner Thanksgiving-Truthahn. Aber das lässt sich wohl nicht vermeiden, wenn einem jemand einen Dolch ins

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Herz stößt und man danach stunden-lang in einem Kühlraum sitzt.

India und ich ließen unseren Blick über die wenig Vertrauen er-weckenden Passagiere und Besat-zungsmitglieder schweifen. Einer von ihnen war ein brutaler Mörder. Der Dschungel, in dem es von Tod bringenden Anakondas, tückischen Kaimanen und blutrünstigen Jaguaren nur so wimmelte, erstreckte sich an beiden Ufern bis ins Unendliche. Wir waren hunderte von Kilometern vom nächsten Polizeiposten ent-fernt. Es würde also an India und mir hängen bleiben, den Mörder von Mr Donnehy ausfindig zu machen – und das möglichst, bevor der Mörder uns in die Finger bekam. Das ist wie immer die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, euer Quentin Marlon

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Ein höllischer Flug

Was zwei eingefleischte New Yorker wie India und ich fernab der Zivilisation auf dem Amazonas zu suchen hatten? Um das zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen.

India und ich waren mit dem üblichen nervigen Schulkram beschäftigt. In diesem Augenblick nah-men wir an einem Treffen des Ausschusses teil, der für die Planung des großen Frühjahrs-Schulfestes zuständig war.

Die Westside Highschool, die India und ich be-suchen, ist eine Privatschule für Kids, die entweder privilegiert (sprich: reich), begabt (sprich: die tota-len Genies) oder vollkommen ausgeflippte Freaks sind (hier sind die Möglichkeiten natürlich unbeg-renzt). Auf einige der Schüler treffen sogar alle drei Merkmale zu, wie zum Beispiel auf Lola Thread-gill, deren Vater mit Internet-Auktionen ein Ver-mögen gemacht hat. An den Wochenenden be-treibt Lola nur zum Spaß Forschungen am Institut für Künstliche Intelligenz der Columbia-Universität, und sie trägt ständig eine Handpuppe

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mit sich herum, die das Sprechen für sie über-nimmt.

Natürlich gibt es an der Westside Highschool auch ein paar Schüler, die in keine der drei Kate-gorien fallen. Zu ihnen gehören zum Beispiel India und ich. Unsere Eltern verdienen zwar ganz gut, aber mit denen von Lola sind sie nicht zu verglei-chen. Wir sind beide nicht gerade auf den Kopf gefallen, aber alles andere als kleine Einsteins. Au-ßerdem sind wir beide durchaus in der Lage, uns mit jemandem zu unterhalten, ohne so zu tun, als wäre es eine alberne Puppe, die für uns spricht.

Das Treffen des Festausschusses war eine Katast-rophe. Als unsere Mitschüler darüber berieten, un-ter welchem Motto das Schulfest in diesem Jahr stehen sollte, konnten India und ich nur fassungslos den Kopf schütteln.

„Da das Schulfest Ende März stattfindet, könnte das Motto doch ‚Fest der Tag-und-Nacht-Gleiche‘ lauten“, schlug der unerträgliche Streber und Alles-wisser Albert Nubb vor. „Ihr müsst wissen, dass vie-le unserer heutigen Feiertage ihren Ursprung in heidnischen Ritualen haben. Und was ist ein Schul-fest letztlich anderes als ein ritueller Balztanz?“

Er bedachte Joanie Trimble, die mindestens ge-nauso bekloppt ist wie er, mit einem schmachten-den Blick und einem viel sagenden Lächeln. Joanie wurde rot.

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„Wie ekelhaft!“, murmelte ich vor mich hin. „Oder was haltet ihr von ‚Persephone erhebt

sich‘?“, fuhr der Möchtegern-Casanova in beleh-rendem Tonfall fort. „In der griechischen Mytho-logie verbringt Persephone den Winter in der Un-terwelt und kommt im Frühjahr wieder an die Erdoberfläche zurück, was natürlich nur ein Gleichnis ist für –“

India fiel ihm ins Wort. „Vielleicht sollten wir ein einfacheres, romantischeres Motto wählen. Et-was wie ‚Tropisches Paradies‘ oder ‚Ein unvergess-licher Abend‘. Wir könnten auch ein Kostümfest daraus machen, zum Beispiel ‚Berühmte Paare‘. Dann könnten sich die Kids als Romeo und Julia verkleiden oder als Marcus Antonius und Kleopatra oder –“

„Als Micky und Minnie Maus“, schlug ich vor. „Halt die Klappe“, knurrte India und rammte

mir ihren Ellbogen in die Seite. „Autsch!“ Genau in diesem Moment klingelte

mein Handy. Ich holte es aus dem Rucksack und schaute aufs Display. Es war mein Vater.

„Was gibt’s?“, fragte ich. „Du rätst nie, wo ich bin“, sagte mein Dad. Mein Vater ist leitender Archäologe am Mu-

seum für Naturgeschichte und viel auf Reisen. Er konnte überall stecken. Madagaskar. Borneo. Li-tauen. Ich beschloss zu raten. „In Timbuktu?“

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„Kalt, ganz kalt“, antwortete mein Vater. „Also gut, ich gebe es auf. Wo bist du?“ „Ich bin am Flughafen von Miami und werde

gleich in ein Flugzeug steigen, das mich nach Peru bringt. Das Museum hat heute Morgen einen An-ruf von einem Forschungsteam bekommen, das Ausgrabungen in den Anden vornimmt. Wie es aussieht, ist dort eine Mumie gefunden worden – ein außerordentlich wichtiger Fund. Ich werde hinfliegen und die Mumie nach New York beglei-ten, wo wir sie untersuchen werden, bevor sie dem peruanischen Nationalmuseum in Lima übergeben wird.“

„Klingt toll, Dad.“ Das meinte ich ernst. Ich war froh, dass mein Vater seinen Job so liebte und immer wieder die Gelegenheit bekam, Hals über Kopf in ferne Länder zu düsen. „Ich schätze, solan-ge du weg bist, wird Tante Doris dafür sorgen, dass ich nicht verhungre?“

Tante Doris ist Vaters Schwester. Sie lebt fünf Stockwerke über uns in dem Apartmenthaus an der Ecke 63. Straße und Broadway, und wenn mein Dad auf Reisen ist, achtet sie gewöhnlich darauf, dass ich jeden Tag eine ordentliche Mahlzeit be-komme. Meistens gibt es bei ihr zwar Fertiggerich-te, aber im Umgang mit der Mikrowelle ist sie wirklich unschlagbar.

„Nein, das wird sie nicht“, sagte mein Dad.

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Das war allerdings eine Überraschung. „Okay. Kein Problem“, erklärte ich. „Dann schieb ich halt eine Pizza in den Ofen.“

„Tante Doris wird nicht für dich kochen, weil du mit mir nach Peru kommst“, kündigte mein Dad an. „India auch. Ich habe schon alles mit ihren Eltern und der Schule abgesprochen. Fahrt nach Hause, packt genug Sachen für eine Woche im Regenwald, und seid am Flughafen, so schnell es geht. Am Delta-Schalter liegen zwei Tickets für euch. Sie sind für den 17-Uhr-15-Flug nach Lima. Alles klar?“

Ich war ein wenig überrumpelt, brachte aber trotzdem ein „Alles klar, Dad“ heraus.

„Ich treffe euch dann am Flughafen in Lima. Vergesst eure Pässe nicht. Noch Fragen?“

„Nein“, erwiderte ich. „Alles verstanden. 17 Uhr 15, Delta-Schalter, Lima, Peru. Eindeutiger geht’s kaum.“

„Gut. Dann sehe ich dich und India heute Abend.“

„Warte, Dad, ich habe doch noch eine Frage.“ „Welche denn?“ „Fällt dir ein geniales Motto für unser Schulfest

ein? Ich fürchte, ‚Cowboys und Indianer‘ ist nicht mehr so ganz in.“

Mein Dad prustete ins Telefon. „Wir sehen uns heute Abend“, sagte er und legte auf. Das störte

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mich nicht. Er war an meine plötzlichen Themen-wechsel gewöhnt und ich daran, dass er sie grund-sätzlich ignorierte. Auf diese Weise kamen wir prima miteinander aus.

Ich berichtete India von dieser unerwarteten Änderung unserer Pläne für den Tag, und wir überließen die anderen Mitglieder des Ausschusses ihrem Schicksal – nicht ohne ihnen vorher zu ra-ten, die Entscheidung über das Motto des Festes aufzuschieben, bis wir wieder da waren. Eigentlich war es eher ein Befehl als ein Rat. Wir wollten nicht riskieren, dass das Motto schließlich „Eier-köpfe unter sich“ lautete, oder was immer unsere Nervensägen Albert und Joanie sonst ausbrüten mochten.

Wir verließen die Schule und rasten die neun Blocks stadteinwärts zu unserem Apartment, wo ich wahllos meine ältesten und schäbigsten Kla-motten in eine Sporttasche stopfte. Nach einem ebenso kurzen Aufenthalt bei India waren wir startbereit.

Draußen, an der Ecke 86. Straße und Columbus Avenue, steckte India zwei Finger in den Mund und stieß einen so lauten und schrillen Pfiff aus, dass garantiert jeder einzelne Hund der New Yor-ker Westside vor Schreck aus seinem Körbchen fiel. Ein Taxi kam mit quietschenden Reifen vor uns zum Stehen. Wir sprangen hinein.

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„Zum Flughafen – und geben Sie Gas.“ Ich lie-be es, das zu Taxifahrern zu sagen. Wenn sich ir-gendwann einmal die Gelegenheit ergäbe, „Folgen Sie diesem Wagen“ zu sagen, wäre das natürlich noch besser.

Das Taxi fuhr los, und unsere Reise begann. Ich nutzte das Kriechtempo auf dem wie üblich

völlig verstopften Long Island Expressway, um ei-nen Blick in die New York Post zu werfen, die ich von zu Hause mitgenommen hatte. Feuer. Morde. Entführungen. Ein ganz normaler Tag in New York, der Stadt, die niemals schläft. Kein Wunder, dass sie niemals schläft, bei all den Verbrechen, die andauernd geschehen.

Verbrechen faszinieren mich, und umgekehrt scheine auch ich eine fast magische Anziehungs-kraft auf Verbrechen auszuüben, da ich ständig über welche stolpere. India und ich haben schon mehr als einen Fall gemeinsam gelöst.

Wir sind Amateurdetektive. Das bedeutet, dass wir für unsere Arbeit nicht bezahlt werden, wenn wir auch schon einige ganz beachtliche Belohnun-gen kassiert haben. Irgendwie leide ich unter dem Zwang, Kriminalfälle aufklären zu müssen. Seit meine Mutter letztes Jahr an Krebs gestorben ist, ist mir bewusst geworden, wie kostbar das Leben ist. Und wenn ich höre, dass jemand einen anderen Menschen getötet hat, habe ich keine ruhige Mi-

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nute, bevor der Schuldige entlarvt ist und vor Ge-richt steht.

Ich las gerade einen Artikel über Drogenfahnder des FBI, die es endlich geschafft hatten, die nördli-che Schmuggelroute der kolumbianischen Drogen-bosse abzuriegeln, als das Taxi abrupt zum Stehen kam. Vor uns auf der Straße lag ein umgekippter Lastwagen mit weit offener Heckklappe. Hunderte von tiefgefrorenen Hähnchen hatten sich über die ganze Fahrbahn verteilt. Rund herum sprangen die Leute aus ihren Autos und schnappten sich, was sie kriegen konnten. Selbst auf der anderen Fahrbahn hielten sie schon, kletterten über die Leitplanke und stürzten sich auf die Tüten mit den Hühner-schenkeln.

Die Hühnerbanditen hatten es geschafft, den Verkehr auf dem Highway vollkommen zum Er-liegen zu bringen.

Ich stieß ein angewidertes Stöhnen aus. „Wenn wir deswegen unseren Flug verpassen, werde ich für den Rest meines Lebens nie wieder Huhn es-sen.“

India kurbelte das Fenster herunter, streckte den Kopf nach draußen und schrie: „Aus dem Weg! Eine Schwangere auf dem Weg ins Krankenhaus!“

Selbst der hart gesottenste New Yorker Hüh-nerdieb macht einer Frau, die in den Wehen liegt, Platz. Unser Fahrer steuerte das Taxi durch die

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Lücke in der Menschenmenge, wobei er mit einem hässlichen Knirschen ein paar tote Hühner über-fuhr.

Fünf Minuten später schleppten wir unser Ge-päck im Eiltempo durch die Abflughalle zum Del-ta-Schalter. Wir schafften es gerade noch ins Flug-zeug, bevor die Maschine anrollte.

Nach einer kurzen Zwischenlandung in Miami, die ich nutzte, um meinen Vorrat an Schokoriegeln aufzustocken, flugen wir weiter und landeten schließlich auf dem Jorge-Chavez-Flughafen von Lima. Bei Passkontrollen fühle ich mich immer wie ein Krimineller. Ich bemühte mich also, harmlos und möglichst unschuldig auszusehen. Der Kont-rolleur verzog keine Miene, als er mir den Einrei-sestempel in den Pass drückte. India, die nach mir an der Reihe war, schenkte er weit mehr Beach-tung als mir. Er strahlte sie an und begrüßte sie mit einem freundlichen „Bienvenidos, señorita“, bevor er zackig den Stempel in ihren Pass donnerte.

„Bienvenidos, señorita“, knurrte ich auf dem Weg zum Gepäckkreisel.

„Nur kein Neid, Quentin“, lachte India und warf ihr langes blondes Haar zurück.

„Hallo, ihr beiden, willkommen in Lima“, rief mein Dad, der plötzlich in der Menschenmenge rund um den Kreisel aufgetaucht war. Er drückte uns beide kurz und sagte dann: „Schnappt euch

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euer Gepäck. Ich habe uns Zimmer in einem Hotel am Flughafen gebucht. Gleich morgen Früh fliegen wir weiter nach Tarapoto. Ich hoffe, ihr hattet ei-nen angenehmen Flug, denn für den, der uns mor-gen bevorsteht, kann ich keine Garantie überneh-men.“

Als ich am nächsten Morgen das Flugzeug sah, das uns nach Tarapoto bringen sollte, wünschte ich mir, dass mein Vater uns wenigstens eine Garantie gegeben hätte – nämlich die, dass wir lebend dort ankommen würden. Bei dem Flieger handelte es sich um einen dieser sechssitzigen Pfützenhüpfer, bei deren Anblick man sofort das Schlimmste be-fürchtet.

Lima liegt an der Westküste von Peru, und Ta-rapoto ist ein kleines Kaff im Landesinnern. Was dazwischen liegt? Die verdammten Anden! Genau das Gebirge, in dem dieser Film von der Rugby-mannschaft spielt, deren Flugzeug abstürzt, und die, weil sie keiner findet, anfangen, ihre toten Mitspie-ler aufzuessen.

„Egal, was passiert“, sagte ich zu India, „ich verbiete dir hiermit, mich zu Gulasch zu verarbei-ten.“

„Du bestehst doch sowieso nur aus Knorpeln und Sehnen“, konterte India und klappte ihre neongrüne Sonnenbrille herunter.

Bevor ich die Möglichkeit hatte, mir die Sache

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mit dem Flug noch mal zu überlegen, waren wir auch schon in der Luft und flogen in nordöstlicher Richtung auf die Anden zu. Dem Piloten zufolge betrug unsere Flughöhe 3000 Meter – das Höchste, was die kleine Maschine schaffte. Das Problem war nur, dass etliche der Andengipfel mehr als 4500 Meter hoch sind und ein paar sogar über 6000 Me-ter. Und so kam es, dass wir trotz maximaler Flug-höhe immer noch hochschauen mussten – ziemlich hoch – zu den eisbedeckten Granitwänden, die uns um mehr als einen Kilometer überragten.

Während ich unter Horrorvisionen von unmit-telbar bevorstehendem Kannibalismus litt und mich an dem Plastiksitz vor mir festkrallte, suchte sich der Pilot seinen Weg durch Täler und Pässe, jedes Mal, wenn wir über eine Kuppe flogen und das Land dahinter steil abfiel, schoss das Flugzeug ein paar hundert Meter in die Höhe oder, was noch schlimmer war, sackte wie ein Stein nach unten.

Mein Dad, der schon früher über die Anden ge-flogen war, erklärte uns, dass diese irren Windver-hältnisse „Der Atem Gottes“ genannt werden. Sie machen Flugreisen in Peru zu einer riskanten und ziemlich holprigen Angelegenheit. Als ich das fünf-te Mal unsanft gegen die Kabinenwand knallte, entschied ich, dass es weitaus passender wäre, diese Winde „Die Blähungen Satans“ zu nennen.

Ich warf einen Blick zu India hinüber und muss-

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te feststellen, dass sie grinste, als würde sie diesen Wahnsinnsflug tatsächlich genießen. Wenn es zum Schlimmsten kam und sie Lust auf einen Snack bekommen sollte – meine Leber kriegte sie nur über meine Leiche.

Endlich wurden die Berge niedriger, bis sie uns nicht mehr überragten, die Turbulenzen ließen nach, und wir steuerten eine an einem Abhang liegende Landebahn an – den Flughafen von Tara-poto. Das Flugzeug setzte unsanft auf, und die Erde hatte uns wieder. Mir tat der Rücken weh von all dem Gerüttel.

„Das war super!“, jubelte India begeistert. „Viel besser als die Achterbahn auf Coney Island!“

„Ja. Irre.“ Ich stieg mit zitternden Knien aus. Es war kein anderes Flugzeug zu sehen. Auch kein Gebäude für die Fluglotsen und keine Ankunftshal-le. Der Flughafen von Tarapoto bestand nur aus einem langen Asphaltstreifen.

Ein Mann mittleren Alters in einem Khakianzug und mit einem riesigen Schnurrbart erwartete uns. Er war mit einem schlammverkrusteten Landrover vorgefahren.

„Willkommen, Dr. Marlon“, sagte er, packte die Hand meines Vaters und schüttelte sie heftig. „Ich bin so froh, dass Sie hier sind. Hatten Sie ei-nen angenehmen Flug?“

„Natürlich, Professor Oteri“, antwortete mein

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Dad und schaffte es, seine Hand aus dem Klam-mergriff des Professors zu befreien. „Er hätte nicht besser sein können.“

Meiner Ansicht nach hätte er viel besser sein können, aber ich beschränkte mich darauf, meinen Unmut durch ein abschätziges Schnauben zum Ausdruck zu bringen. India hörte es und zwinkerte mir zu. Es war offensichtlich, dass sie meine Reak-tion für kindisch hielt.

Mein Vater stellte uns Professor Marco Oteri vor, dem Leiter der Expedition, die die Mumie entdeckt hatte. Oteri sagte kaum „Hallo“, bevor er sich wieder meinem Dad zuwandte.

„Dieser Fund ist von enormer Bedeutung“, erklärte der Professor. „Die tadellos erhaltene Mumie eines jungen Mädchens. Allein die Umstände seines Todes könnten unsere Kenntnisse der präkolumbianischen Andenkultur ein ganzes Stück voranbringen.“

„Wie ist sie denn gestorben?“, fragte ich, denn jetzt war meine Neugier geweckt.

Professor Oteri fixierte mich mit seinen schwar-zen Augen. „Alles deutet darauf hin, dass sie kern-gesund war. Ihr Körper weist nur eine einzige Ver-letzung auf.“

„Eine einzige Verletzung?“, wiederholte ich und starrte den Professor an. Er machte einen leicht verrückten Eindruck.

„Was für eine Verletzung?“, fragte India.

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„Es scheint, als wäre sie auf grausame Art und Weise geopfert worden.“ Der Professor verstumm-te kurz und fuhr dann fort. „Man hat ihr einen Dolch ins Herz gestoßen.“

India schauderte. „Was für ein schrecklicher Tod.“ Professor Oteri drehte sich zu ihr um. „In der

Tat. Die verkrampfte Körperhaltung und das angst-verzerrte Gesicht lassen vermuten, dass sie unter großen Schmerzen gestorben ist.“

Wahnsinn. Das musste ich sehen. „Sehr interessant, Professor Oteri“, sagte mein

Dad. „Sie sind zweifellos vollkommen überwältigt von dem Fund. Ehrlich gesagt, kann auch ich es kaum erwarten, die Mumie zu sehen.“

Mittlerweile hatten wir unser Gepäck in Profes-sor Oteris Landrover verstaut.

„Wie laufen die Ausgrabungen sonst so?“, er-kundigte sich mein Vater.

Professor Oteri wirkte plötzlich sehr besorgt. „Leider hat es einen schweren Unfall gegeben. Ein Teil der Höhle, in der wir die Mumie gefunden haben, ist eingestürzt. Die wochenlangen Arbeiten müssen die Decke geschwächt haben. Es wurde niemand verletzt, aber einige der Arbeiter waren für kurze Zeit in der Höhle eingeschlossen.“

„Das muss furchtbar für sie gewesen sein“, sagte mein Dad.

„Das war es, Dr. Marlon“, bestätigte der Profes-

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sor und zupfte nervös an seinem Bart. „Wir wuss-ten nicht, ob noch weitere Teile der Höhle ein-stürzen würden. Im Camp brach Panik aus. Die schlimmsten Befürchtungen der Arbeiter hatten sich bewahrheitet. Heutzutage ist das kaum vor-stellbar, aber die Männer – gebildete Männer noch dazu – glauben tatsächlich –“

Der Professor verstummte abrupt, als wäre ihm aufgefallen, dass er uns beinahe etwas erzählt hätte, was er lieber für sich behalten wollte. Hastig fuhr er mit seinem Bericht über den Unfall fort. „Un-glücklicherweise erlitt einer unserer Mitarbeiter bei dem Versuch, sich selbst aus der eingestürzten Höhle zu befreien, einen schweren Herzanfall. Wir wissen nicht, ob die körperliche Anstrengung der Auslöser war, oder die Angst davor, lebendig be-graben zu werden. Möglicherweise war es eine Kombination von beidem. Auf jeden Fall war der Mann sofort tot.“

„Wie schrecklich“, rief India aus. „Der Arme!“ Professor Oteri fuhr fort, ohne Indias Beileids-

bekundung zur Kenntnis zu nehmen. „Beide Herzkammern waren geplatzt. Sein Herz ist buch-stäblich in seiner Brust explodiert.“

Automatisch griff ich mir an die Brust und stellte überrascht fest, dass mein eigenes Herz schlug wie eine Trommel. Warum war ich auf einmal davon überzeugt, dass uns etwas Schreckliches bevorstand?

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Der Fluch der Mumie

Professor Oteri stieg in den Landrover. Mein Dad setzte sich zu ihm nach vorn, und India und ich ließen uns auf dem Rücksitz nieder. Die Straße führte uns durch Tarapoto, das aus einem Gewirr von bunt bemalten Betonwänden und verwitterten Blechdächern bestand. Straßenhändler boten auf kaputten Karren alle möglichen Früchte, Kokos-nüsse und Kürbisse an. Andere feilschten mit den Kunden um den Preis für ihre selbst geschnitzten Löffel, Schüsseln und Geistermasken, die sie vor sich auf Decken ausgebreitet hatten. An jeder Ecke wuchsen Palmen, als wären sie Unkraut. Soldaten mit Maschinengewehren bevölkerten die Straßen-cafés und tranken Kaffee aus kleinen Tassen. Spä-testens bei ihrem Anblick wurde mir klar, dass die Vereinigten Staaten weit weg waren. Die Stadt ging nahtlos in viereckige Felder mit Kaffeesträu-chern über, doch irgendwann endeten auch diese, und der Urwald begann. Obwohl die Regenzeit gerade erst anfing, wie uns der Professor versicher-te, war die Schotterstraße schon jetzt voller ausge-

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waschener Schlaglöcher. Wir fuhren immer höher in die Berge hinauf. Streckenweise war die Straße kaum mehr als ein schmaler Trampelpfad, der di-rekt am Abgrund entlangführte.

Nachdem wir fast den ganzen Tag gefahren waren, ließen wir den Dschungel endlich hinter uns und gelangten in eine Gegend, die mit Ge-strüpp bewachsen war. Professor Oteri rief uns zu, dass wir uns in etwa 3000 Meter Höhe befänden. Als wir in Tarapoto losgefahren waren, hatte es noch 25 Grad gehabt, doch hier im Gebirge herrschten höchstens noch fünf Grad. Als die Son-ne im Westen hinter den Bergen verschwand, er-reichten wir endlich das kleine Dorf Jalca. Auf ei-ner Lichtung am Ende der Dorfstraße lag das Camp der Archäologen – im Kreis aufgestellte Zelte, Lastwagen, ein Verpflegungswagen, diverse Ausrüs-tungsgegenstände und ein Wohnwagen.

Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen, und India und ich waren vollkommen erledigt. India hatte auf der Fahrt ein wenig geschlafen. Das hätte ich auch gerne getan, aber ich hatte zu viel Angst gehabt, dass der Landrover in eine der hun-derte von Metern tiefen Schluchten stürzen würde. Wenn ich schon eines schrecklichen Todes sterben musste, wollte ich dabei wenigstens wach sein.

Professor Oteri führte Dad, India und mich zu einem Zelt in der Mitte der Lichtung. Auf einem

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Klapptisch stand eine Holzkiste von der Größe eines kleinen Sargs. In der Nähe lungerten ein paar Arbeiter herum, rauchten und unterhielten sich halblaut. Sie machten keinen besonders glücklichen Eindruck.

Professor Oteri hob den Deckel der Kiste an und sagte: „Darf ich Sie mit Maggie bekannt ma-chen? Wir nennen sie Maggie, weil auf dem CD-Player gerade das Lied Maggie May von Rod Ste-wart lief, als sie entdeckt wurde.“

„Maggie, die Mumie“, wiederholte India. „Klingt irgendwie gut.“

Wir alle spähten in die Kiste. Die Mumie lag auf einer Schicht sauberer weißer Styroporkugeln, die als Polstermaterial dienten. Der größte Teil ihrer Kleidung war verrottet, aber was von dem dünnen braunen Material noch übrig war, ließ vermuten, dass es ursprünglich eine Art Kittel gewesen sein musste. Ihr dickes schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und erstaunlicherweise war sogar die Haarklammer aus Jade an ihrem Hin-terkopf noch vorhanden.

„Ausgesprochen gut erhalten“, bemerkte mein Dad, „vor allem, wenn man bedenkt, dass sie fast tausend Jahre alt ist.“

„Wir glauben, dass sie etwa dreizehn oder vier-zehn Jahre alt war, als sie geopfert wurde“, sagte Professor Oteri.

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„Aber sie ist so klein“, stellte India fest. „Sie sieht aus, als wäre sie höchstens acht oder neun gewesen.“

Ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Maggies nussbraune Haut, die aussah wie poliertes Leder, überzog straff ihr Gesicht. Mund und Augen waren weit aufgerissen, und die Hände waren vor der Brust erstarrt, als hätte sie versucht, den tödli-chen Angriff abzuwehren. Es gab keinen Zweifel daran, dass ihr Tod entsetzlich gewesen war.

„Es sieht aus, als wäre sie schreiend gestorben“, murmelte India. Sie schien den Tränen nahe.

Ich muss zugeben, dass Maggies Anblick auch mir ein wenig an die Nieren ging. „Was für eine furchtbare Art, das Zeitliche zu segnen.“

Während wir wie gebannt in die Kiste starrten, war ein Arbeiter neben mir aufgetaucht und mur-melte etwas in mein Ohr.

„Tut mir Leid“, unterbrach ich ihn. „Ich ver-stehe Sie nicht.“

Der Mann wiederholte das, was er gesagt hatte, noch einmal lauter und in einer Sprache, die ich nicht verstand. Es war kein Spanisch.

„Was sagt er?“, fragte ich Professor Oteri. „Er spricht Quechua, die Sprache der Einheimi-

schen“, erklärte der Professor. „Beachte ihn gar nicht. Er ist nur ein ungebildeter Bauer.“

Obwohl der Arbeiter kein Englisch sprechen

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konnte oder wollte, hatte er den Professor anschei-nend verstanden. Er wiederholte seine Botschaft ein drittes Mal, und diesmal brüllte er sie beinahe. Dann warf er wütend seine Zigarettenkippe auf den Boden und verließ mit seinen Kumpanen das Zelt.

India und ich tauschten einen Blick. Hier ging etwas Merkwürdiges vor sich.

„Was hatte das zu bedeuten, Professor?“, fragte mein Vater.

„Einige meiner Arbeiter sind abergläubische Dummköpfe“, antwortete Professor Oteri gereizt. „Um die Mumien der Anden ranken sich einige Legenden … Sie sollen verflucht sein. Der Mann hat versucht, Sie zu warnen. Das ist nichts anderes als lächerlicher Unsinn.“

„Wovor wollte er uns warnen, Professor?“, hak-te ich nach, obwohl mir klar war, dass er keine Lust hatte, es uns zu sagen.

Professor Oteri funkelte mich an. Am liebsten hätte er wohl auch mich als ungebildeten Bauern-trampel bezeichnet, aber da mein Dad neben mir stand, antwortete er schließlich doch. „Sinngemäß übersetzt hat er gesagt: ‚Wer das heilige Grab der Mumie schändet, wird dasselbe Schicksal erleiden wie sie.‘“

Ich sah India an und sie mich. Das war ein Schicksal, auf das wir gut verzichten konnten.

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Wir übernachteten auf Feldbetten in einem der Zelte. Obwohl die ganze Nacht hindurch Insekten von draußen an die Zeltleinwand donnerten, die ungefähr die Größe von Zwergkaninchen hatten, schlief ich wie ein Stein. Bei Sonnenaufgang luden Dad und ich Maggies Kiste in den Landrover und sicherten sie mit Seilen und Riemen.

Dann verabschiedeten wir uns von Professor Oteri. Das wurde auch Zeit, fand ich, denn der Typ war mir unheimlich. Außerdem gefiel mir nicht, wie er über die „ungebildeten Bauern“ sprach, die für ihn arbeiteten. Natürlich glaube ich nicht an alte Legenden und an Mumien, die mit einem Fluch behaftet sind. Im Grunde meines Her-zens bin ich einer von denen, die zunächst einmal gar nichts glauben. Aber wo Rauch ist, ist auch Feuer. Hinter fast jeder Legende, jedem Mythos und jedem Aberglauben verbirgt sich ein Körnchen Wahrheit, auch wenn es sich noch so albern an-hört. Und niemand konnte bestreiten, dass die Mumie bereits ein Todesopfer gefordert hatte. Vielleicht wussten Professor Oteris „abergläubische Dummköpfe“ ja etwas, das wir nicht wussten.

Als wir in den Landrover stiegen, fiel mir auf, dass India dunkle Ringe unter den Augen hatte, als hätte sie schlecht geschlafen.

„Was ist los?“, fragte ich besorgt. Ich hatte sie noch nie so niedergeschlagen gesehen.

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„Ich hatte einen Albtraum von Maggie. Es ist so furchtbar, was mit ihr passiert ist.“

„Sicher, aber sie ist doch schon seit tausend Jah-ren tot.“

„Das weiß ich. Ich sehe nur ständig ihr Gesicht vor mir.“ Und damit verstummte sie und sprach auf der ganzen Fahrt kein Wort mehr.

Die Rückfahrt nach Tarapoto dauerte noch län-ger als die Hinfahrt, denn dieses Mal fuhr mein Dad. Da er die tückische Straße nicht kannte, wag-te er es nicht, schneller als im Schritttempo zu fah-ren. Und obwohl die Mumie durch die Styropor-kugeln gut gepolstert war, wollte Dad jede Er-schütterung vermeiden. Also krochen wir voran, entlang an Felswänden und tiefen Abgründen und ließen erst nach neun Stunden Kriechfahrt endlich die Berge hinter uns.

Das einzig Gute war, dass wir uns unmöglich in der Wildnis verirren konnten, denn unsere Straße war die einzige weit und breit.

Als wir in Tarapoto ankamen, erklärte Dad uns, wie die Reise weitergehen sollte.

„Professor Oteri und ich hatten ursprünglich ge-plant, die Mumie von Tarapoto aus nach Lima zu fliegen“, sagte er. „Aber wir haben entschieden, dass der Flug über die Anden zu holprig ist. Wenn der Rückflug genauso ist wie der Hinflug, würde das Gerüttel Maggie in ihre Einzelteile zerfallen lassen.“

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„He, der Hinflug hat sogar mich beinahe in mei-ne Einzelteile zerfallen lassen“, gab ich vom Rück-sitz aus zum Besten.

„Wie sieht Ihr Plan aus, Dr. Marlon?“, fragte India. Sie saß vorn neben meinem Vater. „Wie sollen wir denn sonst von hier wegkommen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es zwischen Tarapo-to und Lima eine schöne glatte Autobahn gibt.“

„Nein, eine Autobahn nach Lima gibt es nicht“, bestätigte mein Vater. „Aber es gibt etwas anderes Schönes, Glattes, das uns von Tarapoto fortbringen wird.“

India drehte sich um und sah mich fragend an. Ich zuckte die Achseln.

„Wir fahren den Amazonas hinunter“, verkün-dete mein Dad. „Professor Oteri hat Plätze für uns auf einem Schiff gebucht, das den Fluss Huallaga befährt. Der Huallaga ist einer der Nebenflüsse des Amazonas und nur zwei oder drei Kilometer von Tarapoto entfernt. Rund 150 Kilometer flussab-wärts vereint sich der Huallaga mit dem Maranon, und dort beginnt dann der eigentliche Amazonas.“

Das kapierte ich nicht. Ich bin zwar keine Leuchte in Erdkunde, aber sogar ich wusste, dass der Amazonas von den Anden – und damit auch von Lima – weg in Richtung Brasilien fließt und schließlich in den Atlantischen Ozean mündet.

„Äh, Dad“, erkundigte ich mich also, „bringt

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uns das nicht weiter weg von Lima, statt näher he-ran?“

„Natürlich“, gab er mir Recht. „Aber wenn man dem Amazonas ein paar hundert Kilometer weit folgt, kommt man nach Iquitos. Das ist die größte peruanische Stadt am Amazonas. Sie hat fast eine Million Einwohner und, was noch wichtiger ist, einen richtigen Flughafen statt nur einer Lande-bahn im Dschungel. Dort werden wir die Mumie in einen Jumbo laden und dann ohne die geringste Erschütterung in 9000 Metern Höhe über die An-den nach Lima zurückfliegen. Und außerdem kommen wir auf diese Weise in den Genuss einer tollen Fahrt auf dem Amazonas.“

„Super, Dad!“, rief ich und schlug ihm begeis-tert auf die Schulter. Der Landrover kam mit ei-nem Ruck fast zum Stillstand. Erst nach einigen Sekunden gab mein Vater wieder Gas.

„Sind Sie in Ordnung, Dr. Marlon?“, fragte In-dia.

„Aber klar“, antwortete mein Dad. „Nur mein Rücken macht ein bisschen Probleme. Das muss an diesem Geholper liegen. Ganz zu schweigen von der Art, wie mein Sohn seine Dankbarkeit aus-drückt.“

„Komm schon, Dad, so hart habe ich nicht zu-geschlagen.“

Mein Dad lächelte mir im Rückspiegel zu. Un-

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sere Blicke trafen sich. Ich sagte nichts, aber etwas beunruhigte mich: Wenn ihm der Rücken wehtat, warum rieb er sich dann die Brust?

Die Nacht verbrachten wir in einer kleinen Pensi-on in Tarapoto. Dort gab es Strom und heißes Wasser, aber keine Klimaanlage. Im Aufenthalts-raum stand ein Fernseher mit dreizehn Program-men, die alle dasselbe zeigten – dichtes Schneetrei-ben. Die Wirtin, Señora Lomas, eine mollige, großmütterliche Dame, erklärte uns auf Englisch mit starkem Akzent, dass jedes unserer Zimmer mit einer eigenen Eidechse ausgestattet war. Diese Tierchen hatten die Aufgabe, alle Insekten zu ver-tilgen, die durch die offenen Fenster hereinkamen. Anscheinend war Señora Lomas der Ansicht, dass dieser Luxus ihrer Pension eine gewisse Klasse ver-lieh.

Ich war fast geneigt, ihr zuzustimmen. Die Pen-sion war wirklich wesentlich komfortabler als das Zelt, in dem wir die letzte Nacht verbracht hatten. Zumindest gab es hier richtige Betten. Die Matrat-ze sah ich mir allerdings nicht genauer an. Ich wollte gar nicht wissen, was darin hauste und nur daraufwartete, sich in der Nacht über mich herzu-machen.

„Was mich nicht umbringt, macht mich stark“, sagte ich zu der 40 Zentimeter langen leuchtend

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grünen Eidechse, die über meinem Kopf an der Wand hing.

Mitten in der Nacht kam Dad in mein Zimmer und weckte mich.

„Mir geht’s nicht gut“, keuchte er. Er stand zu-sammengekrümmt am Fußende meines Bettes.

Ich war sofort hellwach und schaltete die Nachttischlampe ein. „Was ist los?“, fragte ich.

„Ich weiß nicht.“ Seine Haut war kalkweiß und schweißüberströmt. Er verzog schmerzerfüllt das Gesicht und sagte mit zusammengebissenen Zäh-nen: „Ich habe furchtbare Schmerzen in der Brust und in den Seiten. Ich glaube, ich brauche einen Arzt.“

„Bleib hier, Dad. Ich sage der Wirtin Bescheid.“ Señora Lomas war nicht gerade begeistert, als

ich nachts um drei an ihre Tür hämmerte. Sie brüllte mich zornig an, bis es mir endlich gelang, ihr mit meinen lausigen Spanischkenntnissen be-greiflich zu machen, dass mein Vater krank war und einen Arzt brauchte. Als sie mich verstanden hatte, verwandelte sie sich in Sekundenschnelle vom Feuer speienden Drachen in einen Engel der Barmherzigkeit, rief den örtlichen Arzt an und überredete ihn, sofort zu kommen.

Ich ging zurück in mein Zimmer, wo mein Dad zusammengekrümmt in meinem Bett lag. India, die von all dem Trubel aufgewacht war, saß bei ihm

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und kühlte ihm die Stirn mit einem feuchten Tuch.

Nachdem ich meinem Vater versichert hatte, dass Hilfe unterwegs war, zog ich India zur Seite. „Was ist los mit ihm?“ Natürlich erwartete ich nicht, dass sie die Antwort kannte, aber ich musste einfach mit jemandem reden.

„Keine Ahnung“, antwortete sie. „Es kann nicht nur Montezumas Rache sein. Immerhin hat dein Dad die ganze Welt bereist. Er würde die Anzei-chen erkennen, wenn es nur ein Magenproblem wäre.“

Ich nickte. „Warum hält er sich die Brust?“ India schüttelte den Kopf. „Daran darfst du

nicht einmal denken.“ Aber ich konnte nicht anders. Es sah tatsächlich

aus, als hätte mein Dad einen Herzanfall – genau wie der Arbeiter an der Fundstelle der Mumie. Mein Magen krampfte sich zusammen.

Endlich tauchte der Arzt mit Señora Lomas im Gefolge auf. Er stellte sich Dad in recht gutem Englisch vor. Mein Vater war nicht in der Verfas-sung, ihm die Hand zu geben, doch das schien Dr. Villanueva ihm nicht übel zu nehmen. Er fühl-te ihm den Puls, maß seinen Blutdruck und redete ruhig mit ihm. Mein Dad sagte ihm, dass der Schmerz abwärts Richtung Bauch gewandert war und sich nun auf die rechte Seite konzentrierte.

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„Ist das Herz nicht auf der linken Seite?“, flüs-terte ich India zu.

Sie nickte. „Bei den meisten Leuten schon“, sagte sie. „Mom hat mir erzählt, dass nur bei einem von 8000 Leuten das Herz rechts sitzt.“

„Aaaargh!“, stöhnte mein Dad, als der Arzt ihm direkt über der rechten Hüfte auf den Bauch drückte.

Der Doktor richtete sich auf. „Apendicitis“, sagte er entschieden.

Das verstand ich trotz meiner mickrigen Spa-nischkenntnisse. Mein Vater hatte Appendizitis – eine Blinddarmentzündung.

Doktor Villanueva erklärte uns, dass der Blind-darm meines Vaters entfernt werden musste. Er empfahl, die Operation in Iquitos durchführen zu lassen, weil es dort ein großes, modern ausgestatte-tes Krankenhaus gab. Sofern mein Vater dieses Krankenhaus innerhalb der nächsten 24 Stunden erreichte, dürfte es keine weiteren Probleme ge-ben.

„Siehst du, Quentin? Es ist gar nicht sein Herz. Er wird wieder gesund.“ India klopfte mir aufmun-ternd auf die Schulter.

Ich atmete erleichtert auf. Wenigstens würde Dads Herz nicht explodieren.

Als die Sonne aufging, fuhr Dr. Villanueva Dad, India und mich mit seinem Wagen zur Landebahn,

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wo bereits eine winzige viersitzige Maschine darauf wartete, Dad nach Iquitos zu fliegen.

„Wir sehen uns dann in ein paar Tagen in Iqui-tos“, sagte Dad, als der Arzt ihm ins Flugzeug half.

„Was meinst du damit?“, fragte ich. „Wir flie-gen natürlich mit dir.“

„Nein, das dürft ihr nicht“, widersprach er. „Die Mumie ist immer noch hinten im Wagen. Ich brauche euch, um sie über den Amazonas nach Iquitos zu schaffen, wie wir es besprochen haben. Der Doktor sagt, dass ich wieder in Ordnung komme. In ein paar Stunden werde ich schon in Iquitos sein.“

„Aber …“, begann ich. „Quentin“, unterbrach mein Vater mich. „Du

kannst jetzt nichts mehr für mich tun. Ich komme schon zurecht, glaub mir. Und ich brauche dich, um auf die Mumie aufzupassen. Ich verlasse mich auf dich und India, verstehst du das?“

Obwohl ich ihn nicht gerne allein gehen ließ, gab ich schließlich nach.

„Klar, Dad. Mach dir um uns keine Sorgen.“ Ich umarmte ihn vorsichtig und trat zurück.

„Pass auf ihn auf, India“, rief Dad. „Und du pass auf sie auf“, ermahnte er mich, bevor Dr. Villanueva die Tür zuschlug.

Der Pilot startete die Maschine, und wenige Minuten später war das kleine Flugzeug in dem

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Frühnebel verschwunden, der über den Hügeln der Umgebung lag. Dr. Villanueva brachte uns zurück zur Pension, wo wir unsere Sachen packten und uns von Señora Lomas verabschiedeten. Dann fuhr uns der Doktor zu dem Bootsanleger am Huallaga.

Dort konnten wir den ersten Blick auf die Inca Princess werfen, das so genannte „Kreuzfahrtschiff“, das uns hunderte von Kilometern durch unbe-wohntes Dschungelgebiet transportieren sollte.

„Findest du, dass wir es wirklich riskieren soll-ten, einen Fuß auf diesen vergammelten Kahn zu setzen?“, fragte India.

„Maggie scheint keine Einwände dagegen zu haben“, alberte ich und kassierte dafür eine Kopf-nuss.

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Ein Schiff mit Charakter

Wenn ich das Wort „Kreuzfahrtschiff“ höre, denke ich an einen Ozeandampfer, an Büffets, an denen man so viel essen kann, bis man platzt, an Swim-mingpools, Bars und unglaublichen Luxus. Woran ich nicht denke, ist ein schäbiger, halb verrotteter Kahn, aus dessen rostigem Schornstein schwarze Rauchwolken quellen.

„Inca Princess?“, sagte ich und betrachtete das heruntergekommene Schiff mit dem protzigen Namen. „Inca Todesfalle würde besser passen.“

„Wenigstens hat sie Charakter“, bemerkte India in dem verzweifelten Versuch, die Sache positiv zu sehen.

Sie hatte Recht. Das Einzige, was für die Inca Princess sprach, war, dass sie Charakter hatte. Ihre drei Decks waren von schmucken (wenn auch ver-rosteten) schmiedeeisernen Gittern umgeben. Die Teile an ihr, die gestrichen waren, waren schwarz, aber der größte Teil des Schiffes hatte eine einheit-liche rostbraune Farbe.

India und ich luden gerade unser Gepäck aus

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dem Landrover aus, als ein Mann vom Schiff auf uns zukam.

„Ich bin Maldonado“, sagte er und streckte uns die Hand entgegen. „Erster Maat auf der Inca Prin-cess.“

Während wir uns die Hand gaben, musterte ich Maldonado. Er war klein, kaum größer als India, aber er hatte die drahtige Figur eines Mannes, der an schwere körperliche Arbeit gewöhnt ist. Ihm die Hand zu schütteln war, als griffe man in eine Kneifzange. Eine Narbe verlief von seinem linken Wangenknochen über das Auge auf die Stirn, wo sie im Haaransatz verschwand. Ich war nur froh, dass er der Erste Maat war und nicht der Reiselei-ter. Ich wollte gar nicht wissen, was er unter lusti-gen Spielchen an Bord verstand.

„Würden Sie die große Kiste hinten im Wagen bitte im Laderaum verstauen?“, bat ich ihn. „Aber gehen Sie vorsichtig damit um, denn in ihr befin-det sich eine sehr empfindliche Mumie.“

„Eine Mumie?“, wiederholte Maldonado. „Ihr habt eine Mumie dabei?“

„Ja“, antwortete ich. „Sie stammt von den Aus-grabungen in Jalca. Mein Vater ist Archäologe, und wir …“

Maldonado knurrte etwas in einer Sprache, die kein Spanisch war – es hörte sich mehr nach Que-chua an –, und starrte uns missmutig an. Wie die

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Arbeiter am Ausgrabungsort hatte anscheinend auch der Erste Maat der Inca Princess großen Res-pekt vor Maggie. Einen Moment lang fürchtete ich, dass er sich weigern würde, uns an Bord zu lassen. Doch dann winkte er einige Männer heran und sagte etwas auf Quechua zu ihnen. Sie zöger-ten, kamen dann aber doch näher und begannen, die Kiste auszuladen.

India warf mir einen Blick zu. „Die sind ziem-lich nervös, findest du nicht? Und dabei haben sie Maggie noch nicht einmal gesehen.“

„Was du nicht sagst“, murmelte ich, als einer der Männer die Nerven verlor, etwas auf Quechua rief und die Flucht ergriff.

Maldonaldos Antwort auf meine Frage, ob es ein Problem gäbe, war ein schroffes „Nein!“ und weiteres unverständliches Gemurmel. Schließlich verlangte ich, den Kapitän zu sehen. Maldonado führte uns über die schmale Planke aufs Boot. Dann verzog er sich und ließ uns mit Captain Hackman allein, der am Steuer saß und die Abfahrt vorbereitete.

„Guten Tag, Kapitän. Ich bin Quentin Marlon, und das ist meine Freundin India Riggs.“

Im Gegensatz zu seinem Schiff sah der Kapitän recht gepflegt aus: schlank, glatt rasiert, mit grau meliertem Haar und einer leicht rötlichen Nase. „Marlon? Du bist doch sicher nicht Dr. Marlon?“,

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fragte er. „Die Leute vom Museum in Lima haben Plätze für drei Amerikaner reserviert, einen Dr. Marlon und zwei Kinder. Und ich habe ge-hört, dass ihr eine ganz besondere Fracht transpor-tiert. Eine Mumie, nicht wahr?“

Das Wort „Kinder“ ging mir zwar gehörig ge-gen den Strich, aber ich sagte nichts. Ich erzählte dem Kapitän nur, dass wir unsere Pläne ändern mussten, weil mein Vater plötzlich erkrankt war.

„Oh, das tut mir Leid“, sagte der Kapitän. „Aber ich kann euch versichern, dass ihr euch an Bord der Inca Princess wie zu Hause fühlen werdet. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass sich die Mannschaft um euch kümmert.“ Die blauen Au-gen des Kapitäns zuckten merkwürdig, als er uns dieses Versprechen gab, und das Lächeln auf seinem wettergegerbten Gesicht wirkte aufgesetzt. Er sah aus wie ein Autoverkäufer, der eine besonders mie-se Rostlaube an den Mann bringen will.

India ärgerte es genauso wie mich, dass der Ka-pitän uns behandelte wie Fünfjährige. „Könnten Sie sich stattdessen lieber um unsere Fracht küm-mern, Kapitän? Wir kommen schon zurecht.“

Das Grinsen verschwand vom Gesicht des Kapi-täns, und er rief nach einem Matrosen, der uns zu unseren Kabinen auf dem Oberdeck bringen sollte, wohin unser Gepäck bereits gebracht worden war.

Die Inca Princess war nur ungefähr 18 Meter

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lang. Durch das Schiff führte ein schmaler, rostiger Korridor, der die Steuerbordkabinen auf der rech-ten Seite von den Backbordkabinen auf der linken trennte. Es waren vier Kabinen auf jeder Seite. An beiden Enden des Korridors führten Treppen hi-nauf zum Promenadendeck und hinunter zum Hauptdeck, wo sich die Kabinen des Kapitäns und der Mannschaft befanden. Unsere Kabinen lagen ganz vorn auf der Steuerbordseite, direkt an den Treppen.

Als wir gerade unsere Kabinen betreten wollten, ertönte vom Hauptdeck unter uns Gebrüll. „Ich habe getrennte Kabinen für mich und meine Frau bestellt! Und jetzt sagen Sie mir, dass nichts mehr frei ist? Sehen Sie gefälligst noch einmal auf Ihre Liste, und beschaffen Sie uns eine zweite Kabine, aber zackig, wenn ich bitten darf!“

„Oh, da ist aber jemand sauer“, stellte India fest. „Und dieser jemand ist auf dem Weg hierher.“

Ich zeigte auf den riesigen weißen Cowboyhut, der am Treppenaufgang erschienen war. India und ich flitzten in meine Kabine und ließen die Tür offen, damit wir weiter zuhören konnten.

„Ich verlange, dass Sie sofort eine weitere Kabine herrichten lassen! Ist das klar, Kapitän?“ Der texa-nische Akzent des Mannes war so dick, dass man ihn mit dem Messer schneiden konnte. Ich konnte es kaum erwarten, ihn zu sehen.

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Inzwischen war er die Stufen hinaufgestürmt, wobei er die ganze Zeit lautstark über den unmög-lichen Service auf diesem Schiff schimpfte. Er war ein Riesenkerl mit einem gigantischen Bauch, ei-nem dicken Hals und einer Mähne aus weißem Haar, die unter dem Cowboyhut hervorquoll. Zwischen seinen feisten Fingern klemmte ein Zi-garrenstummel. Ihm folgte eine große, dünne Frau mit hageren Gesichtszügen und einem Kurzhaar-schnitt. Sie sah aus wie ein Model, dem die Antifal-tencreme ausgegangen ist.

Der Kapitän versuchte, den Mann zu besänfti-gen. „Bitte entschuldigen Sie vielmals, Mr Donne-hy. Die Besatzung der Inca Princess wird alles Men-schenmögliche tun, um Sie –“

„Dieser verdammte Kahn ist eine Zumutung!“ Mr Donnehy fuhr herum – für einen Mann seines Umfangs war er erstaunlich beweglich. Sein Ge-sicht war knallrot und von der Hitze und der Ans-trengung des Schreiens schweißüberströhmt. „Ka-pitän, ich bin ein großer Mann. Und wie die meis-ten großen Männer schnarche ich, und mein Schnarchen stört meine Frau. Sie braucht ihre Ru-he. Deswegen machen wir diese Fahrt. Um uns zu entspannen und ein paar ruhige Tage zu genießen. Und Sie, Kapitän, werden dafür sorgen, dass meine Frau und ich tadellose Quartiere bekommen und erstklassig versorgt werden.“

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Hinter dieser letzten Bemerkung von Mr Don-nehy versteckte sich ein unausgesprochenes andern-falls … Der Kapitän tat mir Leid. Ich sah India an und machte eine Kopfbewegung in Richtung ihrer Kabine. Sie zuckte die Achseln. Ich trat hinaus auf den Korridor und sagte zu Mr Donnehy: „Wir haben eine Kabine übrig, weil mein Vater nicht mitkommen konnte. Wenn Sie wollen, können Sie sie haben.“

„Klar – es stört uns nicht, uns eine Kabine zu teilen. Das machen wir immer“, fügte India hinzu.

Mrs Donnehy strahlte. „Oh, was für ein nettes Angebot, Bill. Lass uns annehmen.“

„Das ist sehr nett von Ihnen, junger Mann, jun-ge Dame“, sagte Mr Donnehy und lächelte so breit, dass es aussah, als hätte in seinem Mund be-quem ein Paar Turnschuhe Platz. „Recht vielen Dank.“

Er drehte sich zum Kapitän um. „Veranlassen Sie alles Nötige. Sofort!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand er mit seiner Frau in seiner Kabine und ließ den schwer atmenden Kapitän am Fuß der Treppe stehen.

Auch India und ich zogen uns zurück und schlossen unsere Tür.

„Was für ein arroganter Widerling“, bemerkte India.

„Ich vermute, dass diese Reise sehr interessant

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wird“, sagte ich. „Und das nicht nur wegen der wilden Tiere im Regenwald.“

„Ganz deiner Meinung“, erklärte India und fiel über meine Schokoriegel her. „Der Dschungel beginnt direkt vor unserer Tür.“

Die Inca Princess mochte zwar eine schwimmende Rostlaube sein, aber ich musste zugeben, dass das Abendessen fantastisch war. An einem Ende des Raums bog sich ein Tisch unter Bergen von ein-heimischen Früchten. Kleine, handgeschriebene Kärtchen informierten uns, dass es sich unter ande-rem um cherimoya, bacuri, lucuma und acerola handel-te. Der lange Esstisch stand mitten im Raum.

India und ich kamen ein wenig zu spät, und alle anderen Passagiere saßen schon am Tisch. Bei un-serem Eintritt erhob sich der Kapitän von seinem Platz am Kopfende. „Da seid ihr ja. Darf ich euch den anderen Gästen vorstellen – Quentin Marlon, India Riggs. Wir sind dieses Mal nur eine kleine Gruppe, deshalb dürft ihr am Tisch der Erwachse-nen Platz nehmen.“

Ich lächelte verkniffen. Offenbar hatte der Kapi-tän kein großes Vertrauen in unsere Umgangsfor-men. Er sollte nur abwarten, bis er India in Aktion erlebte. Wenn sie will, kann sie sich wie eine echte Lady benehmen, und ihre Tischmanieren sind sen-sationell.

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India setzte sich links neben den Kapitän, und ich belegte den Stuhl neben ihr. Auf meiner ande-ren Seite saß ein unrasierter Kerl im Armani-Anzug, der penetrant nach Kölnischwasser roch. Uns gegenüber hatte das texanische Ehepaar Platz genommen, und neben Mrs Donnehy ein mondge-sichtiger Mann in einem Tweedanzug. Er warf sich ein Stück gegrillten Kaiman in den Mund und sah mich und India neugierig an.

„Dr. Carl Pleasance. Erfreut, eure Bekanntschaft zu machen. Captain Hackman hat uns erzählt, dass ihr mit einer Mumie reist. Habe ich richtig ver-standen, dass dein Vater Archäologe ist?“

„Das stimmt“, antwortete ich. „India und ich bringen die Mumie für ihn nach Iquitos.“

„Was für ein Zufall. Ich arbeite für die Chica-goer Niederlassung des Auktionshauses Sotheby’s.“ Dr. Pleasance verstummte und tupfte sich mit ei-nem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann fuhr er fort. „Sotheby’s kann gar nicht genug Antiquitäten bekommen – sie verkaufen sich wie Karojacken in einem Holzfällerlager. Was könnt ihr mir über eure Mumie erzählen?“

„Nicht viel, fürchte ich“, wiegelte ich ab und warf India einen viel sagenden Blick zu. Sie ver-stand sofort, dass ich keine Lust hatte, über Maggie zu sprechen.

„Ist Ihnen in diesem Anzug nicht zu warm,

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Dr. Pleasance?“, wechselte sie elegant das Thema. „Er scheint mir für eine Dschungelreise nicht ideal zu sein.“

„Ich fühle mich im Anzug einfach wohler“, entgegnete er. „Selbst in dieser Hitze. Wahrschein-lich ist es einfach Gewohnheit, denn ich –“

„Wisst Ihr was? Ich würde alles dafür geben, diese Mumie einmal zu sehen, junger Mann“, fiel ihm Mr Donnehy ins Wort.

Seine Frau machte ein angewidertes Gesicht. „Bill, wie kannst du nur!“ Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Martini.

„Tut mir Leid, aber die Mumie muss in ihrem versiegelten Behälter bleiben. Mein Dad fürchtet, sie könnte beschädigt werden, wenn sie zu lange der Luftfeuchtigkeit ausgesetzt ist.“

„Mpf“, knurrte Mr Donnehy. „Willst du später auch einmal Archäologe wer-

den?“, fragte mich Dr. Pleasance. „Nein“, erwiderte ich. „Ich möchte Detektiv

werden – Verbrechen aufklären und die Täter fas-sen. Wir beide betreiben übrigens schon jetzt gele-gentlich Detektivarbeit.“

„Tatsächlich?“, spottete der Kapitän. „Doch si-cher in der Schule? Ermittelt ihr, wer die Klassen-arbeit gestohlen oder die Schulsprecherwahl mani-puliert hat?“

„Genau genommen haben India und ich zur

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Aufklärung einiger Morde beigetragen“, bemerkte ich würdevoll. „Einer wurde im Museum meines Vaters verübt. Ein anderer im Zoo der Bronx.“

„Wie interessant“, sagte Dr. Pleasance. „Wisst ihr, einige der Fähigkeiten, die einen guten Detek-tiv ausmachen, sind auch bei meiner Arbeit sehr nützlich. So muss man zum Beispiel eine gute Menschenkenntnis besitzen.“

„Darauf ist India spezialisiert“, erklärte ich und zeigte auf sie. „Sie durchschaut andere Leute, als hätte sie einen Röntgenblick.“

„Ich finde, die Körpersprache verrät viel über eine Person“, schaltete sich India ein. „Zum Bei-spiel, ob sie nervös ist oder lügt.“

„Das ist wahr“, bestätigte Dr. Pleasance. „Män-ner zum Beispiel werden oft hektisch, wenn sie lügen oder etwas verbergen wollen. Sie trommeln mit den Fingern oder wippen mit dem Fuß.“ Er sah den Kerl neben mir an. „Was halten Sie davon, Mr Alpert?“

Sofort saß der Mann, dessen Fußwipperei mir schon die ganze Zeit auf die Nerven gegangen war, stockstill. „Nicht viel, Dr. Pleasance“, sagte er. „Für mich klingt das nach pseudowissenschaftli-chem Gewäsch.“ Dann widmete er sich wieder seinem Essen. Er schien kein besonders gesprächi-ger Typ zu sein.

„Bei Frauen ist es genau umgekehrt“, fuhr

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Dr. Pleasance unbeirrt fort. „Wenn sie entspannt sind, spielen sie mit ihrem Haar und machen kleine Bewegungen. Aber wenn sie jemanden täuschen wollen, sind sie meistens regungslos.“

„Wie überaus spannend, Dr. Pleasance“, sagte Mr Donnehy. Er füllte seinen Teller bereits zum dritten Mal – und dabei waren wir noch bei der Vorspeise. „Ich selbst studiere ebenfalls die men-schliche Natur. Das muss man, wenn man es im Leben so weit bringen will, wie ich es getan habe.“

Mr Donnehy sprach weiter und ermöglichte uns dabei einen tadellosen Blick auf sein halb gekautes Essen. „Mein Vater hat sein Leben lang als Haus-meister in einer Glasfabrik in Port Arthur, Texas, gearbeitet. Manchmal hat er mich mit zur Arbeit genommen. Ich fand es toll, mit den Spiegeln zu spielen und mich darin zu betrachten – Parabols-piegel, konkave Spiegel, konvexe Spiegel, in der Fabrik gab es einfach alles. Sofort nach meinem Highschool-Abschluss habe ich einen Job in der Fabrik angenommen, und mit 23 Jahren war ich Vorarbeiter.“

Er unterbrach seinen Vortrag kurz, denn Mal-donado betrat den Speiseraum mit einem Tablett voller gegrillter Flussaale, einem stark nach Zitrone riechenden Fischgericht, und etwas, das juane de arroz hieß und sich als gelber Reis entpuppte, der in einem riesigen Blatt gekocht worden war.

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„Mit 28 kaufte ich die Firma, und sechs Jahre später war Donnehy Glas der größte Glashersteller der Vereinigten Staaten. Wir spezialisierten uns auf optische Instrumente für die NASA, das Militär, Universitäten und Forschungslabors. Laser, optische Fasern, Kommunikationseinrichtungen – sie alle bestehen aus Glas. Die Leute glauben immer, dass die modernen Wirtschaftszweige vor allem mit Silikon arbeiten. Aber soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten? Es ist gutes, altmodisches Glas, das unsere Welt regiert. Wer ist schon Bill Gates? Ich bin William Donnehy, der Glaskönig aus Port Arthur, Texas.“

Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verlei-hen, donnerte er seine Gabel auf den Tisch. Essen spritzte in alle Richtungen.

„Nimm noch etwas Butter, Liebling“, sagte Mrs Donnehy und ließ einen dicken Klumpen des Ar-terien verkalkenden Zeugs auf sein Brötchen fallen. Dann sah sie die anderen Gäste an und bemerkte: „William isst für sein Leben gern. Auf der Party zu seinem fünfzigsten Geburtstag, mit der ich ihn überrascht habe, hat er ganz allein sechs ausge-wachsene Hummer verputzt. Das Personal hatte alle Hände voll zu tun, ihn immer mit Nachschub zu versorgen.“

„Danke, Vanessa“, sagte Mr Donnehy und ver-teilte die Butter zentimeterdick auf seinem Bröt-

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chen. „Natürlich sind meine geschäftlichen Interes-sen heute breit gefächert. Wie jeder gute Texaner habe ich meine Ölquellen, meine Rinderranches und Ländereien. Öl aus Venezuela. Smaragde aus Brasilien. Zinn aus Indonesien. Donnehy Industries ist heute ein Weltkonzern.“

Mrs Donnehy butterte ein weiteres Brötchen und reichte es ihrem Mann, der es sich in den Mund stopfte, ohne ihr zu danken. Mit vollem Mund prahlte er lauthals weiter. „Außerdem bin ich Sammler. Ich habe mein eigenes Privatmuseum auf meiner Sechshundert-Hektar-Ranch westlich von Dallas. In meinem Besitz befindet sich die größte Sammlung von versteinerten Tyrannosau-rus-Kotbrocken der Welt. Mir gehört ein echtes Amputationsbesteck einschließlich Knochensäge aus dem Bürgerkrieg. Außerdem habe ich den au-topsierten Körper eines Außerirdischen und einen dreißigtausend Jahre alten Fruchtbarkeitsgötzen aus Frankreich. Anscheinend waren diese Franzmänner schon damals ein ziemlich romantischer Haufen.“

Er sah mich an. „Zu schade, dass dein Vater krank ist“, sagte er. „Was meinst du, ob ich ihn kennen lernen kann, wenn wir nach Iquitos kom-men? Diese Mumie würde ganz prima in meine Sammlung passen. Jeder wahre Amerikaner würde mir zustimmen, dass es eine Sünde wäre, sie in ei-nem so rückständigen Land wie Peru zu lassen, wo

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sie garantiert falsch behandelt und damit ruiniert wird. Ein Schatz wie dieser gehört nach Texas!“

„Ich denke, mein Vater ist da anderer Ansicht“, erwiderte ich. „Er hat sich zwar bereit erklärt, die Mumie in New York zu untersuchen, aber danach wird er sie nach Lima zurückbringen.“

„Oh, ich weiß schon, wie man Leute um-stimmt“, grinste Mr Donnehy. Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, eine Geste, die „Geld“ bedeutete. Glaubte der Kerl wirklich, dass er meinen Vater bestechen konnte? Was für ein eingebildeter Stinker!

Maldonado, der vom Tisch hinter uns das Ge-schirr abräumte, erstarrte, und sein Blick schien Mr Donnehys Hinterkopf förmlich zu durchbohren. Offenbar gefiel dem ersten Maat die Einstellung des Texaners genauso wenig wie mir. Es sah aus, als würde er dem Großkotz am liebsten an die Gurgel gehen.

Bevor etwas passieren konnte, erschien der Koch und stellte sich vor, während Maldonado verschwand, um den nächsten Gang zu holen. „Guten Abend, meine Herrschaften“, sagte er. „Mein Name ist Kyle Eastwood, und ich bin der Chefkoch der Inca Princess. Wir werden eine wun-dervolle Reise durch eine der schönsten Landschaf-ten der Erde machen, und Sie können sich jeden Tag auf neue exotische Delikatessen freuen. Unsere

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heutige Spezialität ist gebackener pirarucu, der oft als edelster Fisch der Welt bezeichnet wird. Und als besonderes Highlight wird Mr Maldonado ihn für uns tranchieren!“

Maldonaldo kam mit einem Tablett aus der Kü-che, auf dem ein großer, superhässlicher Fisch lag. Er sah aus wie ein Wels, der durch eine Reihe von radioaktiven Experimenten zu einem riesigen, scheußlichen Monster mutiert war. Maldonado stellte das Tablett auf den Tisch, zog aus einer Scheide am Gürtel einen langen Dolch und be-gann, den Fisch zu zerlegen. Er schwenkte das Messer wie ein japanischer Koch in einem Sushi-Restaurant, und die Klinge sauste mit rasender Ge-schwindigkeit durch die Luft. Nur Sekunden später hatte er den Fisch in gleich große Portionen für alle Gäste zerlegt.

Alle Anwesenden applaudierten. Maldonado verbeugte sich, wischte den Dolch an seiner Schür-ze ab und kehrte in die Küche zurück.

Der Mann wusste wirklich, wie man mit einem Dolch umging.

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Bestien im Wasser

Kyle Eastwood trat näher an den Tisch heran. „Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?“

Wir versicherten ihm, dass das Essen großartig war.

„Das freut mich“, sagte er. Er öffnete mehrere Flaschen Weißwein und verteilte sie auf dem Tisch. Dann entkorkte er noch eine Flasche Rot-wein, beugte sich über Mrs Donnehy und fragte: „Bordeaux, Madam? Chateau Lafite Rothschild, 1982.“

Mrs Donnehy nickte zustimmend, und East-wood füllte ihr Glas.

„Die Soße steht hier neben Ihnen.“ Er gab et-was davon über Mrs Donnehys Fisch.

Mrs Donnehy wurde rot. „Danke“, murmelte sie.

„Kenne ich Sie nicht von irgendwoher?“, fragte Mr Donnehy den Koch. „Haben Sie mal in der Austernbar in Dallas gearbeitet?“

„Leider nicht, Sir“, antwortete Eastwood lä-chelnd.

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„Im Maxim in Houston?“ Eastwood schüttelte den Kopf. „Ich bin ziem-

lich herumgekommen. Angefangen habe ich als Vorspeisenkoch im ‚21‘ in New York und habe mich dann hochgearbeitet zum Zweiten Chef im Spago in Los Angeles. Aber in Texas war ich noch nie.“

„Irgendwie kommen Sie mir trotzdem bekannt vor“, beharrte Mr Donnehy.

„Ja, die Leute sagen, ich hätte eines von diesen Gesichtern“, meinte Eastwood vage.

„Dies ist Mr Eastwoods erste Reise auf der Inca Princess“, sagte Captain Hackman. „Ich bin sehr froh, einen so fähigen Chefkoch für mein Schiff gefunden zu haben.“

„Vielen Dank, Sir.“ Eastwood kehrte in die Kü-che zurück.

Der Typ in dem Armani-Anzug, der neben mir saß, hatte bisher kaum etwas gesagt, und jetzt beug-te India sich vor und sah ihn an. Alles war besser, als sich noch eine von Mr Donnehys Eigenlob-Hymnen anzuhören. „Ich glaube, ich habe Ihren Namen nicht verstanden“, sprach sie ihn an.

„Bart Alpert“, antwortete er und nickte höflich. Er sah aus, als wäre er höchstens Ende zwanzig,

aber er war gekleidet wie einer von diesen reichen alten Knackern, die sich in Miami zur Ruhe setzen. Seine diamantenbesetzte Rolex hatte wahrschein-

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lich mehr gekostet als die meisten Neuwagen, und dazu trug er eine dicke Goldkette um den Hals.

„Woher kommen Sie, Mr Alpert?“, fragte ich. „Aus Denver. Ich bin Filialleiter eines Super-

markts.“ „Wie … interessant“, sagte India und warf mir

einen kurzen Blick zu. Ihrem Gesichtsausdruck konnte ich entnehmen, dass sie insgeheim dachte „Wie öde“.

„Ja, sehr“, erklärte Mr Alpert. „Eine Filiale zu leiten, bedeutet große Verantwortung. Man muss Leute anstellen und entlassen, den Warenbestand konstant halten, abrechnen und all das.“

India nickte nachdenklich. Dann sah sie Mr Donnehy an. „Ich möchte nicht unhöflich sein, Mr Donnehy, aber könnten Sie diese Zigarre bitte draußen rauchen?“

Nachdem Donnehy nicht nur alles gegessen hat-te, was auf seinem Teller gewesen war, sondern auch das, was seine Frau nicht geschafft hatte, hatte er eine 15 Zentimeter lange Zigarre aus seiner Brusttasche geholt und sie mit einem übergroßen silbernen Feuerzeug in Form eines Cowboystiefels angezündet. Jetzt paffte er munter vor sich hin, und der Rauch waberte über den ganzen Tisch.

„Mädel, wir sind hier nicht in einem vom Tier-schutzverein genehmigten Restaurant für Körner-fresser“, fuhr er India grob an. „Deshalb tue ich,

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was mir passt, und zwar so lange, bis mich jemand zwingt, damit aufzuhören. Und soweit ich weiß, gibt es in Peru noch kein Gesetz, das das Rauchen in der Öffentlichkeit verbietet.“ Er nahm einen tiefen Zug, und die Spitze seiner Zigarre glühte auf.

„Sie müssen meinen Mann entschuldigen“, warf Mrs Donnehy ein, ohne jemanden direkt anzuse-hen. „Er trägt sogar in seinem Schlafanzug Zigarren mit sich herum. Manchmal glaube ich fast, dass er seine Havannas mehr liebt als mich.“

India sah aus, als wäre sie kurz vor dem Ausflip-pen, doch sie nahm sich zusammen und lächelte gezwungen.

Inzwischen war auch der Nachtisch serviert worden. Selbst gemachtes Guaveneis auf frischen Mangoscheiben, garniert mit Limonenstückchen. Das musste man Kyle Eastwood lassen, der Mann konnte wirklich kochen. Ich war so satt wie selten.

Nach dem Essen lud Captain Hackman die Pas-sagiere auf das Promenadendeck ein. Der Himmel war tiefschwarz, und es waren tausende von Ster-nen zu sehen, die man im hell erleuchteten New York nie zu sehen bekommt. Der Fluss funkelte im Mondlicht.

„Ist das nicht wunderschön, Quentin?“, sagte India.

„Wunderschön, aber tödlich“, mischte sich der

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Kapitän ein. „Der Amazonas verbirgt vieles.“ Er trat an die Reling. „Lassen Sie es mich Ihnen zei-gen.“

Er zog eine vernickelte Pistole mit Perlmuttgrif-fen aus seinem Smoking, zielte sorgfältig und feuer-te ins Wasser. Ein großer silbriger Fisch begann, wie wild zu zappeln.

„Was Sie hier sehen, ist der Todeskampf eines arawana-Fisches“, erläuterte Captain Hackman. „Er lebt von Vögeln und Fledermäusen und kann auf der Jagd nach ihnen bis zu anderthalb Meter aus dem Wasser springen.“

Der sterbende Fisch zappelte mit aller Kraft. „Es wird gleich vorbei sein“, murmelte der Ka-

pitän. Plötzlich begann das Wasser rund um den Fisch

zu schäumen. Kleinere Fische tauchten immer wieder an der Oberfläche auf. Im Schein des Mondlichts sah ich, wie sich das Wasser rot färbte.

India schluckte. „Sind das –“ „Ja, Miss Riggs, Piranhas“, bestätigte Captain

Hackman. „Sie werden den Fisch in wenigen Se-kunden gefressen haben.“

Nur Momente später war das Wasser wieder ru-hig. Die sauber abgenagten weißen Knochen des arawana tauchten kurz an der Oberfläche auf. Dann versanken sie langsam und wurden von der Strö-mung fortgetragen.

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„Diese Demonstration soll Ihnen allen bewusst machen, dass der Dschungel ein gefährlicher Ort ist“, sagte der Kapitän. Er steckte seine Pistole wie-der ein.

„Aber wenn Sie stets die Anweisungen meiner Männer befolgen, kann Ihnen nichts passieren.“

Maldonado begann, ein kleines flaches Boot zu Wasser zu lassen, das an der Steuerbordseite des Schiffes an einem Kranhaken hing.

„Ganz in der Nähe befindet sich einer der Höhe-punkte unserer Reise“, fuhr Hackman fort. „Ein Wasserfall, den die hier heimischen Indios den ‚Rand des Himmels‘ nennen. Mr Maldonado und Mr East-wood werden Sie dorthin begleiten. Ich habe leider hier an Bord noch einiges zu erledigen. Ich hoffe, der Ausflug wird Ihnen gefallen.“ Er lächelte über-schwänglich und drehte sich dann ruckartig um und verschwand in Richtung seiner Kabine.

India und ich, aber auch die anderen Passagiere standen ein paar Minuten unschlüssig herum, wäh-rend Maldonado und Eastwood das Boot festmach-ten. Dann trotteten wir alle die Treppe hinunter zum Unterdeck. „Mitten in der Nacht in einer Nussschale durch piranhaverseuchtes Wasser zu fahren, entspricht eigentlich nicht meiner Vorstel-lung von Spaß“, flüsterte ich India zu.

„Willst du vielleicht hier bleiben und dem Kapi-tän Gesellschaft leisten?“, raunte India zurück.

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„Guter Einwand.“ Während Maldonado im Boot stand, half Kyle

Eastwood den Passagieren, die Strickleiter hinun-terzuklettern.

„Lassen Sie mich Ihnen helfen, Miss“, wandte er sich an India.

„Danke, es geht schon“, sagte India und kletter-te wie ein Affe die Leiter hinunter. Sie sah zu mir auf und verdrehte die Augen. Ich musste grinsen. India hasst es, wenn Männer, vor allem solche, die die zwanzig längst überschritten haben, sie wie ein hilfloses, zerbrechliches Wesen behandeln.

Mrs Donnehy dagegen schien die Sonderbe-handlung zu gefallen. Sie kicherte wie ein Schul-mädchen, als Eastwood ihr die Leiter hinunterhalf.

Mr Donnehy, der den Abstieg seiner Frau beo-bachtete, blökte hinter ihr her: „Viel Spaß, Schatz. Wir sehen uns, wenn ihr zurückkommt.“

„Kommen Sie denn nicht mit?“, fragte ich. „Ich?“, sagte Mr Donnehy. Er klatschte sich die

Hand auf seinen gigantischen Bauch und lachte. „Kannst du dir vorstellen, wie ich diese Strickleiter hinunterklettere und mich in das winzige Boot setze? Nein, vielen Dank. Und außerdem“, fügte er noch hinzu und zündete sich die dritte dicke Zi-garre des Abends an, „hat man einen Wasserfall ge-sehen, hat man alle gesehen.“

Ich zuckte die Achseln und stieg hinab ins Boot.

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Kaum hatte ich mich hingesetzt, als Maldonado das Boot auch schon von der Inca Princess abstieß. Als wir auf den Fluss hinaustrieben, warf ich noch einen letzten Blick auf die massige Gestalt von Mr Donnehy, die sich gegen das erleuchtete Schiff abzeichnete. Die Glut seiner Zigarre beschrieb im Dunkeln einen Halbkreis, als er uns nachwinkte.

Minuten später fuhren wir um eine Biegung und landeten in einem Nebenarm des Flusses. Im nächtlichen Dschungel herrschte ohrenbetäubender Lärm. Das Tuckern des Außenbordmotors wurde von den Schreien der Brüllaffen und dem Ge-kreisch aufgeschreckter Papageien fast übertönt. Der Seitenarm des Flusses war so schmal, dass uns die Zweige der Bäume auf beiden Uferseiten bei-nahe streiften und wir mehrmals die Köpfe einzie-hen mussten. An einer Stelle fuhren wir unter ei-nem riesigen Spinnennetz hindurch, das sich wie ein Vorhang über uns legte. Ein toter Falter fiel mir direkt in den Schoß. Ich ekelte mich zu Tode. Ich kann dieses Viehzeug nicht ausstehen – Käfer, Spinnen, einfach alles, was krabbelt. Mrs Donnehy war allerdings noch empfindlicher. Sie kreischte wie am Spieß und schlug wild um sich, bis Kyle Eastwood ihr etwas von der Schulter wischte. Ir-gendwie schaffte er es, sie zu beruhigen, bevor sie das Boot zum Kentern brachte.

Nach einer halben Stunde erreichten wir den

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„Rand des Himmels“, einen beeindruckenden, 150 Meter hohen Wasserfall. Maldonado schaltete den Scheinwerfer am Bug des Bootes an und ließ den Lichtkegel über das herabstürzende Wasser wandern. Alle Passagiere waren begeistert. In ei-ner Bucht außerhalb der Gefahrenzone des Was-serfalls stoppte Maldonado das Boot. Zu unser aller Erstaunen klappte er eine Kühlbox auf und holte einen Klumpen rohes Fleisch heraus. Er bohrte einen langen, harpunenähnlichen Holz-speer hinein und hielt das Fleisch über die Was-seroberfläche. Dann richtete er den Scheinwerfer auf das Fleisch, und wir konnten sehen, wie das Blut ins Wasser tropfte.

Niemand sagte ein Wort zu dieser merkwürdi-gen Aktion. Ich wollte ihn gerade fragen, worauf wir eigentlich warteten, als plötzlich ein drei Meter langer Alligator aus dem Wasser schoss und nach dem Fleisch schnappte. Maldonado riss die Harpu-ne blitzschnell zurück, und der Alligator klatschte wieder ins Wasser. Er peitschte wütend mit dem Schwanz, bevor er wieder im trüben Wasser ver-sank.

Im Boot brach Panik aus. Alle schrien durchei-nander, sogar Bart Alpert, der schweigsamste Typ, den ich jemals kennen gelernt habe. „Ruhe! Still-sitzen! Ihr bringt uns alle um!“, brüllte Maldonado.

Alle gehorchten augenblicklich.

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„Das war ein Kaiman, kein Alligator und auch kein Krokodil. Ich spiele mit ihm. Sehen Sie zu.“

Er hielt das Fleisch wieder übers Wasser, diesmal aber in etwa einem Meter Höhe. Auch diesmal tropfte das Blut ins Wasser, und dann … Ein zwei-ter Kaiman, noch größer als der erste, schleuderte sich aus dem Wasser. Seine todbringenden Kiefer mit den rasiermesserscharfen Zähnen schossen min-destens anderthalb Meter hoch. Er schnappte nach dem Köder, doch Maldonado war wieder schneller und riss das Fleisch weg, bevor der Kaiman zupa-cken konnte.

„Ist das grausam“, flüsterte India mir zu. „He, wenigstens verarbeitet er das Vieh nicht zu

einer Krokotasche“, wisperte ich zurück. Maldonado wiederholte seinen Trick noch drei

Mal, bis es schließlich einem Kaiman gelang, sich das Fleisch zu schnappen. Einen Moment lang fürchtete ich, dass Maldonado über Bord gerissen würde, doch der Köder löste sich von der Harpu-ne, bevor jemand ins Wasser fiel. Der Kaiman drehte sich ein paarmal um sich selbst, während er seine Beute verschlang.

„Jetzt werden Sie den Amazonas nie vergessen“, sagte Maldonado.

Ich war mir nicht sicher, ob das eine Feststel-lung oder ein Befehl war.

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Auf Eis gelegt

Auf der Rückfahrt zur Inca Princess sagte niemand ein Wort. Alle standen nach Maldonados Spielchen mit den Kaimanen noch unter Schock.

Die Flutlichter auf dem Promenadendeck waren ausgeschaltet, aber als wir uns dem Schiff näherten, entdeckte ich eine einsame Figur auf dem Kabi-nendeck. Es war Mr Donnehy, eingehüllt in einen gigantischen weißen Bademantel.

„Seht euch das an“, sagte ich. „Da ist Moby Dick, der Weiße Wal!“

„Psst!“, zischte India und zeigte unauffällig auf Mrs Donnehy.

Glücklicherweise hatte sie meine Bemerkung nicht mitbekommen. India warf mir einen viel sa-genden Blick zu. Sie dachte dasselbe wie ich, näm-lich dass Eastwood und Mrs Donnehy erstaunlich vertraut miteinander umgingen.

Auf dem Schiff verschwand Mr Donnehy auf dem Flur, der zu seiner Kabine führte. Ein paar Sekunden später sahen wir das Licht hinter seinem Fenster ausgehen. Kurz darauf drang noch einmal

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ein matter Schein aus dem Kabinenfenster. Dann war es dunkel in der Kabine. Wir legten an der Inca Princess an und gingen wieder an Bord.

Zu unserer Überraschung kam Captain Hack-man aus seiner Kabine. Alle hatten angenommen, dass er längst in seiner Koje lag. Er wies Maldonado und Eastwood an, den Passagieren auf dem Prome-nadendeck Drinks zu servieren. „Der Rest der Mannschaft hat Landurlaub und ist in dem Dorf am Ufer“, erklärte der Kapitän.

Während Eastwood und Maldonado den ande-ren Passagieren Drinks brachten, fragte uns der Kapitän über die Mumie aus. Ich seufzte. Irgend-wie schienen alle Leute besessen zu sein von dieser Mumie. Aber wenigstens war Donnehy nicht in Hörweite.

„Wir nennen sie Maggie“, erzählte ich. „Sie muss etwa dreizehn Jahre alt gewesen sein, als sie starb. Anscheinend war sie das Opfer eines Rituals –“

„Sie ist ein Menschenopfer“, unterbrach mich Maldonado. „Um die Götter gnädig zu stimmen.“

Er hatte aufgehört, den Gästen nachzuschenken, stand stocksteif da und lenkte damit die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. „Hier in den Bergen und im Dschungel“, sagte er, „sind überall böse Geister. Sie leben in den Felsen und den Bäumen, sie ergrei-fen Besitz von den Lebenden und verfolgen die To-ten. Nur ein Blutopfer kann sie gnädig stimmen.“

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Ein Affe kreischte über uns in einem Baum, und etwas klatschte ins Wasser.

„Das glauben die Menschen zumindest“, erklär-te Maldonado. „Mein Volk hat dieses Ritual schon vor Jahrtausenden praktiziert. Manche sagen, dass es noch heute geschieht – in den Bergen nicht mehr, aber hier am Amazonas. In den abgelegenen Dörfern, die keinen Kontakt zur Außenwelt haben, wird in jedem Frühjahr ein Mädchen auserwählt. Sie muss schön, jung und unberührt sein, sonst werden die Götter wütend. Mit einem einzigen Stoß seines Dolches durchbohrt der Priester ihr Herz. Die Götter nehmen das Opfer an, und das Mädchen wird mumifiziert und für alle Ewigkeit in einem Grab beigesetzt. Aber wenn das Grab ge-schändet und die Mumie geraubt wird“ – jetzt sah er mich an –, „erwacht die Mumie wieder zum Leben. Sie wird zu einer lebenden Toten und durchbohrt das Herz derjenigen, die ihre ewige Ruhe gestört haben.“

Maldonado machte eine Kunstpause und fügte dann hinzu: „So wird es zumindest erzählt.“

„Ich fürchte, dass ich heute Nacht nicht be-sonders gut schlafen werde“, flüsterte ich India zu.

„Wieso du?“, zischte sie zurück. „Vergiss bitte nicht, dass diese Irren hübsche junge Mädchen geopfert haben.“

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„Damit bist du außer Gefahr“, konterte ich und kassierte dafür einen Ellbogenstoß in die Rippen.

„Danke, Mr Maldonado“, sagte Captain Hack-man. „Das war eine sehr unterhaltsame Geschich-te.“

Dann sah der Kapitän mich an. „Quentin, ich habe über Funk die Nachricht bekommen, dass dein Vater in Iquitos angekommen ist und dass es ihm gut geht. Anscheinend besteht kaum die Ge-fahr eines Blinddarmdurchbruchs. Sein Zustand ist stabil, und er wird gleich morgen Früh operiert.“

Ich atmete erleichtert auf. Auch wenn ich auf einem Schiff inmitten von blutrünstigen Piranhas und Kaimanen festsaß, begleitet von einer verhex-ten Mumie, einer durchgeknallten Besatzung und total abgefahrenen Passagieren, so war doch we-nigstens mein Dad außer Gefahr.

„Also, ich gehe jetzt ins Bett“, verkündete ich. „Ich bin total erledigt.“

„Ich auch“, sagte India, und wir wünschten al-len eine gute Nacht. Auch die anderen Passagiere leerten ihre Gläser und sprachen davon, sich zu-rückzuziehen.

In unserer Kabine verzogen wir uns nacheinan-der in das kleine Badezimmer, um unsere Schlafsa-chen anzuziehen. Es stellte sich heraus, dass wir ganz ähnliche Outfits hatten – T-Shirts und Boxer-shorts. Auf meinen T-Shirt stand Trau keinem über

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18, und auf meinen Shorts waren gelbe Smiley-Gesichter, die im Dunkeln leuchteten, während India ein weißes T-Shirt und dezente blau gestreif-te Shorts trug. Jeder nach seinem Geschmack, kann ich dazu nur sagen.

Wir putzten uns die Zähne. Ich gehöre zu de-nen, die dabei immer über dem Waschbecken hän-gen müssen, weil die Zahnpasta sonst überallhin tropft. India dagegen kann sich die Zähne sogar im Gehen putzen und dabei noch drei andere Dinge tun, ohne dass es nur ein einziges Mal tropft. Keine Ahnung, wie sie das macht. Schließlich betrachte-ten wir uns in Indias Taschenspiegel, da der Spiegel über dem Waschbecken so altersfleckig und ver-dreckt war, dass man gar nichts mehr darin sah, dann machten wir das Licht aus.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als India an meiner Schulter rüttelte und flüsterte: „Quentin! Wach auf!“

Ich setzte mich auf. „Was ist los?“, fragte ich schlaftrunken.

„Psst!“ India legte einen Finger auf ihre Lippen. „Hör doch mal!“

Vom Heck des Bootes waren rumpelnde Geräu-sche zu hören. Ich warf einen Blick auf meinen Reisewecker – halb vier Uhr morgens. Wer polter-te um diese Zeit im Schiff herum? Der Großteil der Mannschaft war nicht einmal an Bord. Wir warte-

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ten ein paar Sekunden. Stille. Dann war wieder Gepolter zu hören.

„Ich gehe nachsehen“, beschloss ich. „Aber nicht ohne mich“, sagte India schnell. Wir schlichen durch den Korridor in Richtung

Heck und stiegen die Treppe zum Hauptdeck hi-nunter. Es war niemand zu sehen. Ich muss zuge-ben, dass ich das Ganze ziemlich unheimlich fand. Ständig fiel mir Maldonados Geschichte von der Mumie ein, die als lebende Tote zurückkehrt.

Wir drehten eine Runde ums Hauptdeck. Als wir in der Nähe des Bugs um eine Ecke bogen, sahen wir plötzlich jemanden, der in Richtung Heck verschwand. Er steckte in einem unförmigen weißen Bademantel.

„Was hat Donnehy hier mitten in der Nacht zu suchen?“, murmelte ich India zu.

„Keine Ahnung“, flüsterte India zurück. „Lass uns mal nachsehen.“

Am hintersten Ende des Schiffes befand sich eine weitere Treppe. Sie war mit einem Seil ab-gesperrt und führte hinunter in den Maschinen-raum und den Laderaum, in dem Maggies Kiste stand.

„Ich frage mich, ob Donnehy da unten war“, sagte ich. „Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass er die Frechheit besitzt …“

„Ich schon“, entgegnete India. „Denk doch dar-

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an, wie er beim Essen damit geprahlt hat, dass er immer das tut, was er will.“

„Du hast Recht. Lass uns lieber mal nach Mag-gie sehen.“ Es war so dunkel, dass ich gerade noch erkennen konnte, wie India zustimmend nickte.

Wir tauchten unter dem Seil durch, und dabei fiel mein Blick auf eine weitere Person, die in Richtung Bug unterwegs war. Diesmal war es nicht Mr Donnehy. Es war zu dunkel, um zu er-kennen, wer es war, aber der dicke texanische Multimillionär war es ganz sicher nicht. Auf jeden Fall hatte die Person irgendeinen Gegenstand bei sich.

Ich erhaschte nur einen kurzen Blick auf diese zweite Figur, bevor sie um eine Kurve bog und verschwand.

„Lass uns wieder raufgehen“, rief ich India halb-laut zu.

„Warum?“, fragte sie von der Treppe aus. „Ich habe noch jemanden gesehen“, erklärte

ich. „Nicht Donnehy, jemand anderen.“ India kam wieder herauf, und wir gingen in

Richtung Bug. Als wir um die Ecke bogen, hinter der die Treppe zum Kabinendeck lag, stießen wir mit jemand zusammen. Die Klinge eines riesigen Dolches blitzte im matten Mondlicht auf. „Aaaah!“, schrie ich.

India packte meine Schulter und riss mich von

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dem Irren mit der Waffe weg. „Quentin! Alles in Ordnung?“

Sie starrte Maldonado an, der mir die Spitze des Dolches an die Kehle hielt. „Passen Sie auf, wo Sie mit dem Ding rumfuchteln!“

„Was macht ihr hier?“, fragte Maldonado scharf. „W-w-wir haben Geräusche gehört“, stammelte

ich. „Und wir haben uns gefragt, wer um diese Zeit solchen Lärm macht.“

Maldonado senkte den Dolch. „Ich habe die Geräusche auch gehört.“

Einen Moment lang sagte keiner etwas. India und ich überlegten, ob es Maldonado gewesen sein konnte, der die Geräusche gemacht hatte, und er schien zu überlegen, ob wir es gewesen waren.

„Geht wieder in eure Kabine“, befahl er schließlich.

Da wir keine Lust hatten, mit ihm zu diskutie-ren, solange er den Dolch in der Hand hielt, ge-horchten wir. Wir gingen wieder ins Bett. Ich schaute auf den Wecker, inzwischen war es kurz nach vier. In einer Stunde würde die Sonne aufge-hen.

Draußen schrie ein Brüllaffe. „Der Typ ist mir unheimlich“, bemerkte ich. „Wem sagst du das?“ India gähnte. „Für meinen

Geschmack fuchtelt er etwas zu viel mit seinem Dolch herum.“

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„Was glaubst du, was der Lärm –?“ India schnarchte, bevor ich meine Frage been-

den konnte. Ich dagegen war hellwach. Ich gehöre nun einmal zu den Leuten, die nicht wieder ein-schlafen können, wenn man sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißt.

Ich starrte hinauf an die schmierige Metalldecke unserer Kabine und versuchte es mit meinem be-währten Einschlaftrick: Ich zählte alle 50 amerika-nischen Bundesstaaten in alphabetischer Reihenfol-ge auf. Alabama, Alaska, Arizona, Arkansas …

Als ich bei Oklahoma angekommen war, hörte ich im Heck des Schiffs wieder ein lautes Rum-peln. Ich lauschte angestrengt. Irgendjemand ru-morte schon wieder im Schiff herum. Es war mir egal, dass Maldonado vielleicht immer noch mit seinem Dolch unterwegs war. Ich musste unbe-dingt herausfinden, wer diesen Lärm machte und warum.

„India, wach auf!“ Sie schüttelte den Kopf, um wach zu werden, und folgte mir zur Tür.

Wieder schlichen wir nach hinten und stiegen die Treppe zum Unterdeck hinunter. Das Gerüm-pel kam eindeutig aus dem darunter liegenden ge-sperrten Bereich.

„Ach, was soll’s“, sagte ich, stieg über das Seil und begann, die Treppe hinunterzugehen. India folgte mir, ohne zu zögern. Das mag ich so an ihr:

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Wenn es angebracht ist, irgendwelche Regeln zu verletzen, ist sie sofort dabei.

„Vielleicht ist da unten nur eine Ratte“, meinte sie.

„Das muss aber eine ziemlich große Ratte sein“, konterte ich.

Ich bedauerte, dass wir keine Taschenlampe bei uns hatten, als wir auf Zehenspitzen die Treppe hinunterschlichen und auf einem schmalen Gang landeten. Etwa drei Meter vor uns drang Licht un-ter einer Tür durch.

„Ran an den Feind“, murmelte ich und stieß die Tür auf.

Es war der Haupt-Laderaum des Schiffs. Auf Metallregalen an allen Wänden lagen Kartons und Kisten, alte Maschinenteile, Segeltuchrollen und anderer Müll. In der Mitte des Laderaums stand die Kiste mit der Mumie. Davon abgesehen war der Raum leer.

„Jemand war hier drin“, stellte ich fest. „Glaubst du, dass es jemand auf Maggie abgese-

hen hat?“, fragte India. „Sieh dich doch um“, erwiderte ich. „Siehst du

hier sonst noch etwas, das irgendwie von Wert ist?“

Genau in diesem Moment knallte die Tür hinter uns zu. Wir hörten, wie jemand den Gang entlang- und dann die Treppe hochrannte.

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„Mir scheint, unsere Ratte hat gerade gelernt, wie man Türen schließt“, bemerkte ich.

Ich riss die Tür auf. Zum Glück waren wir nicht eingeschlossen. Wir rannten hinaus und tasteten uns in der Dunkelheit zurück zur Treppe. Als wir oben ankamen und über das Seil stiegen, hörten wir Schritte auf der nächsten Treppe zum Kabi-nendeck. Wir rannten hinterher, so schnell wir konnten, doch als wir oben ankamen, war niemand mehr zu sehen. Wer immer es gewesen war, hatte es in seine Kabine geschafft.

Entnervt kehrten wir in den Laderaum zurück. „Was meinst du, wer das war?“, fragte ich und

hockte mich neben die Kiste, um nachzusehen, ob sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Auf den ersten Blick schien sie unversehrt. Der Deckel war immer noch zugenagelt.

India stand mitten im Raum und schnupperte. „Also, einer war auf jeden Fall hier unten“, sagte sie. „Ich weiß natürlich nicht, ob es auch derjenige war, den wir verjagt haben. Aber ich rieche Köl-nischwasser von Pierre Cardin.“

Wenn es um Gerüche geht, ist India der reinste Bluthund. Für mich hingegen riecht ein Parfüm wie das andere.

„Und wer benutzt Pierre Cardin?“, fragte ich. „Nicht die Donnehys“, antwortete India. „Sie

tragen beide Parfüms von Neiman Marcus – wahr-

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scheinlich gilt das in Texas als vornehm. Der Kapi-tän ist ein Moschus-Mann, und Maldonado benutzt Florida-Rasierwasser. Aber Bart Alpert ist der typi-sche Pierre-Cardin-Kunde. Das passt am besten zu seinem Armani-Anzug.“

Warum sollte sich der Filialleiter eines Super-marktes in Denver für eine tausend Jahre alte pe-ruanische Mumie interessieren? Ich wollte India diese Frage gerade stellen, als – „Oh, mein Gott!“, schrie jemand auf dem Gang.

Wir stürmten aus dem Laderaum. Jetzt stand auf dem Gang eine zweite Tür offen, die in einen hell erleuchteten Raum führte. Wir rannten hin, um nachzusehen, was dort vor sich ging. An der Schwelle traf uns ein Schwall eiskalter Luft.

Captain Hackman stand in der Mitte des Raums, bei dem es sich, wie ich jetzt erkannte, um den Kühlraum der Inca Princess handelte.

William Donnehy saß auf dem Boden, den Rücken an die Wand gelehnt. In seiner Brust klaff-te ein blutiges Loch.

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Beweisaufnahme

Hinter uns ertönte ein schrilles Kreischen, und In-dia und ich wirbelten herum. Mrs Donnehy presste sich eine Falte ihres lila Morgenmantels an die Kehle.

„Bill! Oh, Bill!“, schluchzte sie. Danach brach das totale Chaos aus. Maldonado tauchte auf und fing an, die Leute abwechselnd auf Spanisch und auf Quechua anzuschreien. Bart Alpert und Kyle Eastwood kamen in ihren Schlafanzügen die Trep-pe heruntergestürmt, drängten sich in dem engen Gang zusammen und wollten wissen, was passiert war. Hinter ihnen tauchte Dr. Pleasance auf, voll-ständig angezogen und erstaunlich gefasst.

Gerade, als es dem Kapitän fast gelungen war, etwas Ordnung in das Chaos zu bringen, und er allen befahl, wieder nach oben zu gehen, fiel Mrs Donnehy in Ohnmacht.

„Kümmern Sie sich um Mrs Donnehy“, bat der Kapitän Eastwood, der Mrs Donnehy halb aufrich-tete und ihr sanft das Gesicht tätschelte.

Mrs Donnehy schlug die Augen auf und stöhn-

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te. Dann sagte sie: „Kyle? Ich glaube, ich muss mich übergeben.“

„Ich bringe Sie in Ihre Kabine“, sagte Eastwood und führte sie in Richtung Treppe.

„Bitte gehen Sie alle in Ihre Kabinen zurück“, wiederholte der Kapitän. „Sie können hier nichts mehr tun.“ Er schloss die Tür des Kühlraums und stellte sich mit verschränkten Armen davor. Es schien nichts mehr zu sagen zu geben, und so kehr-ten alle zurück aufs Hauptdeck – mit Ausnahme von Dr. Pleasance. Er sah den Kapitän an. „Wir sollten sofort die Polizei rufen.“

„Ich versichere Ihnen, dass ich die zuständige Behörde über Funk informieren werde, sobald sich die Gelegenheit ergibt“, antwortete Captain Hackman. „Aber wir sind mitten im Urwald. Die nächste Polizeistation befindet sich in Iquitos. Und bis wir dort ankommen, schlage ich vor, dass wir Ruhe bewahren und unsere Reise wie geplant fortsetzen.“

„Es dürfte schwer fallen, die Reise zu genießen, solange sich ein kaltblütiger Mörder an Bord befin-det“, wandte India ein.

„Mir ist klar, dass es sich um Mord handelt“, bemerkte der Kapitän. „Aber es ist keineswegs si-cher, dass sich der Mörder noch an Bord befindet. Möglicherweise ist er heimlich an Bord gekom-men, hat diese furchtbare Tat verübt und ist schon

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vor Stunden geflohen.“ „Das glaube ich nicht, Kapitän“, sagte ich. „Wir

ankern in der Mitte des Flusses. Um unbemerkt an Bord zu kommen, hätte der Täter schwimmen müssen.“ Ich erwähnte nichts von dem Gerümpel und Gepolter, das wir im Laufe der Nacht gehört hatten – zumal ohnehin diverse Passagiere und Be-satzungsmitglieder zu dieser Zeit im Schiff unter-wegs gewesen waren.

„Er hat Recht, Kapitän“, stimmte mir Dr. Pleasance zu. „Und nach allem, was ich bisher von den Piranhas und Kaimanen in diesem Fluss gesehen habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand so etwas Verrücktes tun würde.“

„Wir können Ihnen bei der Sicherung von Be-weisen helfen“, bot India an. „Meine Mutter ist Gerichtsmedizinerin in New York, und ich habe schon mehrmals bei Beweisaufnahmen zugesehen. Vielleicht finden wir irgendwelche Hinweise auf den Täter.“

Captain Hackman bedachte uns mit einem lan-gen, prüfenden Blick. „Ich nehme eure Hilfe gerne an“, sagte er schließlich. „Ich möchte nicht verse-hentlich etwas tun, was der Polizei von Iquitos ihre Arbeit erschwert.“

„Haben Sie eine Kette und ein Vorhänge-schloss?“, fragte ich. „Mir ist aufgefallen, dass dieser Kühlraum kein Schloss hat. Wir sollten den Tatort

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sichern, für den Fall, dass der Mörder zurück-kommt und versucht, irgendwelche Beweise zu vernichten.“

Captain Hackman nickte. „Ich werde persönlich dafür sorgen, dass der Kühlraum verschlossen wird.“

„Gut“, sagte ich. „Und machen Sie sich keine Sorgen, Kapitän. Wir werden den Fall schon lö-sen.“

Der Kapitän nickte wenig überzeugt. Er öffnete die Tür zum Kühlraum und blieb mit Dr. Pleasance am Eingang stehen, während India und ich uns an die Arbeit machten.

Zuerst untersuchten wir die Leiche. Mr Donne-hy saß zusammengesunken da, und sein rot-weiß gestreifter Schlafanzug war an der Brust aufgerissen und mit Blut getränkt. Die Wunde selbst war eher unscheinbar, doch sie musste stark geblutet haben, denn das Blut war ihm bis in den Schoß gelaufen.

„Sieht aus, als hätte man ihm das Herz durch-bohrt“, stellte ich fest.

„Genau wie bei Maggie“, sagte India und sprach damit aus, was ich dachte. Mir lief es eiskalt über den Rücken.

Donnehys Gesicht hatte die gelbliche Blässe ei-nes Menschen, der noch nicht lange tot ist, doch seine Haut schimmerte auch leicht bläulich. Erst wunderte mich das, doch als ich fröstelte, wurde

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mir wieder bewusst, dass wir uns in einem Kühl-raum befanden.

Mr Donnehy war nicht nur tot, er war auch schon fast tiefgefroren. In seinen weißen Haaren glitzerten Eiskristalle. Sein Mund und seine Augen standen weit offen, und auf seinem Gesicht spiegel-ten sich Angst und Entsetzen. Er musste gewusst haben, was ihm bevorstand.

„He, Quentin, sieh dir das an“, flüsterte India und zeigte auf die Wand. Offenbar wollte sie nicht, dass der Kapitän und Dr. Pleasance sie hörten. „Hier sind irgendwelche Zeichen im Eis.“

Mir schlug das Herz bis zum Hals, als ich mir die Zeichen genauer ansah. Sie waren etwa fünf Zentimeter hoch, und es waren ungefähr ein halbes Dutzend. Sie sahen aus wie die japanischen Schrift-zeichen, die auch die Lebensmittelkartons bedeck-ten, die überall im Kühlraum herumstanden. Aber was hatten japanische Schriftzeichen an der Wand zu suchen? Ich holte mein Notizbuch heraus und malte sie ab, so gut ich konnte. Leider waren sie in der Eisschicht an der Wand kaum zu erkennen.

„Da die Leiche schon halb durchgefroren ist, schätze ich, dass nicht einmal ein erfahrener Ge-richtsmediziner den genauen Zeitpunkt des Todes feststellen könnte“, sagte India.

„Gefroren hält er sich wenigstens, bis wir nach Iquitos kommen“, ergänzte ich.

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„Du erwartest doch wohl nicht, dass wir ihn hier drin lassen?“, fragte der Kapitän entsetzt. „Wir lagern hier Lebensmittel!“

„Natürlich erwarte ich das“, erwiderte ich. „Wo wollen Sie ihn denn sonst lassen, wenn nicht im Tiefkühler? Bei dieser Hitze würde er an jedem anderen Ort schon in wenigen Stunden anfangen, grauenvoll zu stinken. Hier ist er am besten aufge-hoben.“

Der Kapitän machte den Mund auf, als wollte er widersprechen, überlegte es sich dann aber doch anders. „Also gut“, gab er nach.

„Gut“, sagte ich. „India, hast du genug gese-hen?“

Sie nickte. „Vorläufig ja.“ Wir sahen zu, wie der Kapitän den Kühlraum

mit einem Vorhängeschloss absperrte, und gingen dann mit ihm und Dr. Pleasance nach oben.

Als India und ich wieder in unserer Kabine an-kamen, war mir furchtbar kalt – und das lag nicht nur daran, dass wir so lange im Kühlraum gestanden hatten. Es war auch der Gedanke daran, dass sich ein brutaler Mörder an Bord befand. Auch wenn Mr Donnehy eine Nervensäge gewesen war, den Tod hatte er nicht verdient. Bis wir nach Iquitos kamen, war es wahrscheinlich zu spät, um den Mörder zu überführen. Es sah ganz danach aus, als würde es an uns hängen bleiben, den Täter zu entlarven.

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„India, ist dir aufgefallen, dass Donnehys Schlaf-anzug zwar blutgetränkt war, der Bademantel aber nicht den kleinsten Fleck abbekommen hat?“

„Ja – und sieh dir an, was ich auf der Innenseite des Bademantels gefunden habe.“ Sie reichte es mir. Es war eine kleine weiße Daunenfeder von der Art, wie sie für Kissenfüllungen verwendet wird.

Ich gab ihr die Feder zurück und holte mein Notizbuch heraus. „Kannst du etwas mit diesen Schriftzeichen anfangen?“

India starrte sie an, bis sie beinahe schielte. „Nein.“

Die Hinweise, die wir entdeckt hatten, brachten uns im Moment nicht weiter. Wir würden erst einmal jeden an Bord unter die Lupe nehmen müs-sen.

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Ein blutiger Dolch

Am nächsten Morgen servierten Kyle Eastwood und Maldonado das Frühstück an Deck. Anschei-nend war es dem Koch gelungen, Mrs Donnehy so weit zu beruhigen, dass er seine Arbeit in der Kü-che wieder aufnehmen konnte. Nach dem Frühs-tück suchten India und ich den Kapitän in seiner Kabine auf. Er legte größten Wert darauf, dass das Schiff seine Reise wie geplant fortsetzte. „Das Le-ben muss weitergehen“, sagte er. „Es ist meine Aufgabe, für die Sicherheit von Passagieren und Besatzung zu sorgen. Sicherheit und Besonnenheit sind jetzt oberstes Gebot.“

„Wenn es Ihnen Recht ist, Kapitän“, schlug ich vor, „würden India und ich gern ein paar Nachfor-schungen anstellen – nach Beweisen suchen und Fragen stellen. Die Polizei kann den Fall erst über-nehmen, wenn wir nach Iquitos kommen, und in vier Tagen wird die Spur längst kalt sein. Dann werden die Behörden nie herausfinden, was hier passiert ist.“

Insgeheim fragte ich mich außerdem, wie fähig

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die peruanische Polizei war. Meine Erfahrungen in New York und anderswo hatten mich gelehrt, die Langsamkeit und Tölpelhaftigkeit vertrottelter Er-mittlungsbeamter nicht zu unterschätzen.

„Von mir aus gern. Ihr habt meine Erlaubnis, Passagiere und Besatzung zu befragen, vorausge-setzt, dass ihr niemanden belästigt. Wir alle haben einen schweren Schock erlitten, und ich werde nicht zulassen, dass zwei Kinder es noch schlimmer machen, als es ohnehin schon ist“, antwortete der Kapitän.

India und ich tauschten einen Blick. Seine he-rablassende Art ging uns zwar auf die Nerven, aber sie konnte sich auch als hilfreich erweisen. Aus Erfahrung wussten wir, dass den Leuten uns gege-nüber oft etwas herausrutschte, das sie der Polizei nie gesagt hätten.

Der Kapitän fuhr fort. „Mir ist sehr daran gele-gen, dass der Mörder entlarvt wird, bevor wir nach Iquitos kommen.“ Er saß an seinem großen Teak-holz-Schreibtisch und trommelte mit den Fingern auf der polierten Platte herum. „Wisst ihr, was Öko-Tourismus ist?“

„Nein. Können Sie es uns erklären?“, fragte In-dia.

„Es bedeutet, einer ganz bestimmten Zielgruppe den Regenwald zu zeigen. Reichen Amerikanern, die den Amazonas befahren wollen und zufrieden

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sind, wenn sie ein paar Affen sehen und handgear-beiteten Schnickschnack von echten Eingeborenen kaufen können. Sie wollen nicht wirklich etwas erleben, aber wenn sie dann wieder zu Hause sind, wollen sie von ihrem Abenteuerurlaub in Südame-rika erzählen. Der Öko-Tourismus ist die große Chance für die Wirtschaft am Amazonas, und ich werde diesen Trend nutzen, vorausgesetzt, ich fin-de finanzkräftige Unterstützung. In Iquitos erwar-ten mich einige Leute, die vielleicht in die Inca Princess investieren wollen, und deshalb ist eine längere polizeiliche Untersuchung das Letzte, was ich jetzt brauchen kann.“

Ich nickte. „Das verstehe ich.“ Captain Hack-man war es offenkundig egal, ob der Mörder seiner gerechten Strafe zugeführt wurde oder nicht. Ihn interessierte nur der Ruf seines Schiffes. Aber die Hauptsache war schließlich, dass er uns erlaubte, Nachforschungen anzustellen – seine Gründe dafür spielten eigentlich keine Rolle.

In unserer Kabine besprachen India und ich al-les, was der Kapitän gesagt hatte.

„Irgendetwas stimmt nicht mit dem Kapitän“, behauptete India. „Die ganze Zeit, als er uns diese Geschichte vom Öko-Tourismus erzählt hat, hat meine Kopfhaut gekribbelt wie verrückt.“

India besitzt die Fähigkeit zu spüren, wenn et-was faul ist. Ich weiß nicht, ob es Intuition oder

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ein sechster Sinn ist – auf jeden Fall macht es sich dadurch bemerkbar, dass ihre Kopfhaut zu kribbeln beginnt.

„Glaubst du, dass er in Wahrheit gar nicht am Öko-Tourismus interessiert ist?“, fragte ich.

India blinzelte mich nachdenklich an. „Nein, ich denke, dieser Teil war ernst gemeint“, sagte sie. „Es war etwas anderes. Als er über die Finanzie-rung seines Projekts sprach, hatte ich den Eindruck, dass er uns nicht die ganze Wahrheit gesagt hat.“

„Mir ist aufgefallen, wie nervös er die ganze Zeit gewirkt hat“, sagte ich.

„Stimmt“, bestätigte India. „Das Getrommel mit den Fingern und die Fußwipperei. Weißt du noch, wie Dr. Pleasance sagte, dass Männer hektisch wer-den, wenn sie lügen?“

„Wo du ihn gerade erwähnst – bei Dr. Pleasance habe ich übrigens auch ein komi-sches Gefühl“, bemerkte ich.

„Das geht mir genauso“, nickte India. „Irgen-detwas stimmt nicht mit ihm. Zur Zeit müssen wir wohl jeden als Verdächtigen ansehen.“

Wir verbrachten den Rest des Vormittags damit, die Besatzung auszufragen, aber keiner der Matro-sen hatte etwas Auffälliges gesehen oder gehört. Schließlich beschlossen wir, unser Glück noch einmal beim Kapitän zu versuchen. Wir brauchten mehr Informationen. Vor allem über Mr Donnehy.

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„Viel weiß ich nicht über ihn“, erklärte Hack-man. „Er und seine Frau haben ihre Jacht in Rio de Janeiro zurückgelassen und sind über Iquitos nach Tarapoto geflogen, wo sie an Bord der Inca Princess gekommen sind.“

„Wozu der Aufwand?“, fragte ich. „Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, Kapitän, aber wenn Mr Donnehy eine eigene Jacht hat, warum legt er dann so großen Wert darauf, mit der Inca Princess zu reisen?“

„Mr Donnehy erwähnte, dass er vor ein paar Tagen in einer Zeitung von der Mumie deines Vaters gelesen hat“, berichtete Captain Hackman. „Er schien fest entschlossen, diese Mumie für seine Sammlung zu erwerben.“

„Das erklärt aber noch nicht, warum jemand seinen Tod wollte“, bemerkte India.

„Erzählen Sie uns etwas über Ihre Mannschaft“, bat ich. „Zum Beispiel über Kyle Eastwood.“

„Leider weiß ich auch über Mr Eastwood kaum etwas“, sagte der Kapitän. „Dies ist seine erste Rei-se auf der Inca Princess. Am selben Tag, an dem ich die Reservierung der Donnehys bekam, rief mich auch Eastwood an und fragte, ob ich einen Koch brauchen könnte. Dies war tatsächlich der Fall – ihr könnt euch sicher vorstellen, wie schwierig es ist, gute Köche auf einem Schiff zu halten, das den Amazonas befährt.“

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Ich nickte. Die Arbeit auf der Inca Princess war nun wirklich nicht mit der in einem Fünf-Sterne-Restaurant in Paris zu vergleichen.

„Einen Tag vor der Ankunft der Donnehys flog Eastwood nach Tarapoto, und statt eines Vorstel-lungsgesprächs kochte er für mich. Nun, ihr habt die Kochkunst dieses Mannes erlebt und wisst, dass er gut ist.“

„Fast zu gut“, meinte ich. „Er hat doch gesagt, dass er schon im Spago in Los Angeles gekocht hat. Das ist eines der schicksten Restaurants der Stadt. Warum nimmt er dann diesen Job an? Wie kommt er dazu?“

Der Kapitän zuckte die Achseln. „Er ist auf Rei-sen. Warum sollte er dabei nicht arbeiten, wenn es sich ergibt? Wahrscheinlich nutzt er die Gelegen-heit, sich mit der südamerikanischen Küche ver-traut zu machen.“

„Kann schon sein“, sagte India zweifelnd. „Und was ist mit Mr Maldonado?“

„Javier Maldonado ist schon seit sechs Jahren bei mir“, antwortete Captain Hackman. „Er ist absolut ehrlich und vertrauenswürdig, dafür lege ich die Hand ins Feuer.“

„Hmmm. Und was wissen Sie über die anderen Passagiere, Bart Alpert und Dr. Pleasance?“

„Nicht viel“, erwiderte Captain Hackman. „Sie haben beide eine Fahrt nach Leticia gebucht. Das

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liegt an der Grenze zwischen Peru, Kolumbien und Brasilien.“

„Das hilft uns nicht weiter“, sagte ich ent-täuscht.

„Komm jetzt, Quentin“, sagte India. „Lass uns wieder an die Arbeit gehen. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben, Ka-pitän.“

„Gern geschehen“, sagte er.

„Fassen wir mal zusammenfassen“, schlug ich vor, als wir wieder in unserer Kabine waren. „Wir wis-sen, dass der Mord geschehen sein muss, kurz be-vor der Kapitän die Leiche entdeckte, weil wir Mr Donnehy mitten in der Nacht noch auf dem Flur gesehen haben.“

„Wir glauben, dass wir ihn gesehen haben“, be-tonte India. „Es war dunkel, und wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass er es war.“

„Stimmt. Welche Verdächtigen haben wir also bisher?“, fragte ich. „Captain Hackman?“

„Er scheint kein Motiv zu haben“, meinte India. „Wenn ich auch den Verdacht habe, dass er nicht ganz ehrlich war, was seine finanziellen Probleme angeht. Aber er war derjenige, der die Leiche ent-deckt hat. Wenn er der Mörder wäre, hätte er si-cher darauf gewartet, dass jemand anders Mr Don-nehy findet.“

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„Was hatte er überhaupt so früh im Kühlraum zu suchen?“

„Keine Ahnung“, sagte India. „Wir werden ihn fragen.“

„Wir müssen unbedingt herausfinden, was das Motiv für den Mord war“, überlegte ich. „Wenn wir das Motiv kennen, haben wir auch den Täter.“

„Da fällt mir als Erstes Mrs Donnehy ein“, sagte India. „Es ist fast immer der Partner, der ein Mordmotiv hat. Hast du gesehen, wie sie ihn mit Butter voll gestopft hat? Er sah aus, als könnte er jeden Moment einen Herzanfall bekommen.“

„Mord durch Cholesterin … Keine sehr wir-kungsvolle Methode. Allerdings hätte sie bei Donne-hys Gesundheitszustand vielleicht doch zum Erfolg geführt. Vielleicht stimmt es, was Donnehy dem Ka-pitän gesagt hat, und die beiden hatten getrennte Ka-binen wegen seines Schnarchens. Aber vielleicht war es auch nur, damit sie ungestört mit –“

„… Kyle Eastwood zusammen sein konnte“, beendete India den Satz für mich. „Dass zwi-schen den beiden etwas läuft, sieht sogar ein Blinder.“

„Also hatte jeder von ihnen – oder beide – ei-nen Grund, Donnehy loszuwerden“, folgerte ich. „Weil er ihrer Romanze im Weg stand.“

„Schon möglich“, erwiderte India. „Allerdings scheinen mir beide nicht der Typ zu sein, der ei-

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nem anderen einen Dolch ins Herz stößt. Butter als Waffe ist schon eher ihr Stil.“

„Das kann man nie wissen“, gab ich zu beden-ken. „Manchmal sind die, die am unschuldigsten aussehen, die brutalsten von allen. Erinnerst du dich noch an die Zeitungsberichte über die Frikas-see-Oma vor einigen Jahren? Eine liebe, weißhaa-rige alte Dame, die ihre ganze Nachbarschaft mit selbst gekochten Gerichten verwöhnt hat. Bis sich herausstellte, dass sie ihre Verwandten umgebracht und zu Frikassee verarbeitet hat. Schwiegertochter-Hackbraten, Cousin in Aspik und als besondere Spezialität Neffe in Sahnesoße.“

„Ist das eklig“, sagte India. „Hast du eigent-lich schon daran gedacht, dass es hier an Bord eine Person gibt, die bereits eindrucksvoll be-wiesen hat, wie gut sie mit dem Messer umge-hen kann?“

„Maldonado“, nickte ich. „Genau. Der Kapitän ist zwar von seiner Un-

schuld überzeugt, aber ich habe da so meine Zwei-fel. Als Donnehy behauptet hat, die Peruaner wä-ren unfähig, die Mumie richtig zu behandeln, sah Maldonado aus, als hätte er ihm am liebsten sofort die Kehle aufgeschlitzt. Und du hast gesehen, wie er diesen Fisch zerlegt hat.“

„Was hältst du davon, wenn wir Mr Maldonado ein wenig genauer unter die Lupe nehmen?“, fragte

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ich. „Ich würde sagen, dass er zurzeit unser Haupt-verdächtiger ist.“

„Ganz meine Meinung.“ Wir warteten bis kurz vor dem Abendessen,

um sicher zu gehen, dass Maldonado damit be-schäftigt war, Eastwood in der Küche zu helfen, und schlichen dann zum Mannschaftsquartier. Anders als der Kapitän, der eine eigene Kabine hatte, schlief Maldonado mit dem Rest der Besat-zung in einer Art Schlafsaal. Ein gerahmtes Bild von Maldonado und einer Frau auf einer Kiste verriet uns, welche Koje dem Ersten Maat gehör-te. Während India an der Tür Wache hielt, klapp-te ich die Kiste auf. Ich entdeckte noch weitere Fotos von Maldonado und der Frau, auf einigen war auch ein kleines Kind zu sehen. Das musste seine Familie sein. Außer den Fotos waren in der Kiste noch Kleidungsstücke, eine Bibel und Ra-sierzeug. Nichts Verdächtiges. Andererseits, wenn Maldonado irgendetwas verstecken wollte, würde er es dann in seine Kiste tun, wo man es sofort finden würde?

Ich legte alles wieder so hin, wie ich es vorge-funden hatte, und schloss den Deckel. Dann fuhr ich mit der flachen Hand unter die Matratze seiner Koje. Am Fußende stieß ich auf etwas Hartes. Ich zog es heraus.

Es war Maldonados Dolch.

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„India, sieh dir das an“, sagte ich und hielt mei-nen Fund hoch.

India verließ ihren Posten an der Tür und kam an meine Seite.

Ich zeigte ihr die Klinge. Sie war auf ganzer Länge mit einem verkrusteten roten Zeug bedeckt. Blut. Die Frage war nur, ob es Menschenblut war.

In diesem Augenblick erschien Maldonado an der Tür. Einen Moment lang starrte er uns ver-blüfft an. Dann stürzte er auf uns zu. India schrie. Ich hielt den Dolch hoch – nicht drohend, sondern mehr aus einem Reflex heraus, um uns zu verteidi-gen.

Das brachte mir eine neue Erkenntnis ein: Im Umgang mit einem Dolch bin ich eine Niete. Be-vor ich überhaupt wusste, wie mir geschah, hatte Maldonado mir das Ding auch schon aus der Hand gerissen.

India und ich wichen zurück, als Maldonado drohend den Dolch schwenkte und uns in einer Mischung aus Englisch und Quechua anschrie. Sein Gesicht war puterrot, bis auf die lange weiße Nar-be, die von der Wange bis zum Haaransatz verlief. „Was fällt euch ein? Was habt ihr hier zu suchen?“

Ich hatte keine Ahnung, wie wir uns verteidigen sollten. Immerhin hatte er uns auf frischer Tat da-bei ertappt, wie wir seine Sachen durchwühlten. Das Einzige, was mir einfiel, war eine Entschuldi-

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gung. „Äh, tut mir Leid, dass wir Ihr Zeug durch-sucht haben.“

Die Reaktion auf meine Entschuldigung war ei-ne wütende Schimpftirade. Maldonado begann, den Dolch so schnell durch die Luft zu schwenken, dass die Klinge vor unseren Augen verschwamm.

„Na, toll“, sagte India und ging hinter mir in Deckung. „Jetzt hast du ihn richtig sauer gemacht.“

Ich schloss mit meinem Leben ab, als Maldona-do kreischend auf uns zustürmte und dabei mit dem Dolch herumfuchtelte wie ein Wahnsinniger.

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Mumie auf Abwegen

„Raus!“, schrie Maldonado. „Raus hier!“ Er fuch-telte zwar immer noch mit dem Dolch herum, trat aber einen Schritt zur Seite, um uns einen Flucht-weg frei zu machen.

Wir rasten zur Tür. Sein wütendes Geschrei hörten wir noch, als wir schon am anderen Ende des Korridors waren.

Vollkommen aufgelöst, zogen wir uns in unsere Kabine zurück. Wir brauchten bis zum Abendes-sen, um uns halbwegs zu beruhigen.

Das Essen war eine trostlose Angelegenheit. Bart Alpert tauchte nicht auf, und Mrs Donnehy nahm ihr Abendessen aus dem Weinglas zu sich, das Kyle Eastwood immer wieder nachfüllte. Als Maldonado unser Essen servierte, ließ er sich nicht das Gering-ste anmerken. Mir fiel auf, dass sein Dolch jetzt wieder sauber war.

Nach dem Essen kehrten wir in unsere Kabine zurück. Durchs Fenster sahen wir das Lianengewirr des Dschungels vorbeiziehen. Am Ufer wand sich eine riesige Anakonda um einen schwarz-weißen

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Affen. Kurz darauf entschwand die Tragödie unse-rem Blick.

Obwohl wir gerade gegessen hatten, griff ich zu einem Schokoriegel. Ich kann einfach besser nach-denken, wenn ich kaue. „Also, wir haben Maldo-nado, der einen blutverschmierten Dolch unter seiner Matratze versteckt –“

„Und der eindeutig ein Problem mit seiner Selbstbeherrschung hat. Ich war mir sicher, dass er uns umbringen würde.“ India schlang sich eine Haarsträhne um den Finger. „Aber glaubst du wirklich, dass er Mr Donnehy umgebracht hat? Wegen Maggie? Immerhin sind wir diejenigen, die ihr Grab geschändet haben. Und als Maldonado die Gelegenheit dazu hatte, hat er uns nichts getan.“

„Hmmm … das stimmt“, sagte ich. „Und was ist mit Dr. Pleasance? Oder Bart Alpert?“

„Über die beiden wissen wir noch nicht genug. Aber mit Dr. Pleasance stimmt etwas nicht. Ich habe das Gefühl, dass er etwas verbirgt. Das gilt auch für Bart Alpert. Seine Klamotten sind zu teuer für einen Supermarktchef. Wie viele Filialleiter tragen Anzüge für 2500 Dollar?“

„Ganz zu schweigen von teurem Parfüm“, fügte ich hinzu.

„Apropos Parfüm – was hatte der Kerl letzte Nacht im Laderaum bei Maggie zu suchen?“, fragte India. „Er führt eindeutig etwas im Schilde.“

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„Fragen wir ihn.“ Wir gingen zu seiner Kabine und klopften an.

Nach ein paar Minuten öffnete er die Tür einen Spaltbreit und sah uns triefäugig an. „Was wollt ihr?“

„Wenn es Ihnen Recht ist, Mr Alpert, würden wir Sie gern einen Moment sprechen“, sagte India höflich und lächelte ihn gewinnend an.

Alpert zögerte kurz, ließ uns dann aber doch ein. Seine Kleidung war zerknittert. Er hatte keine Schuhe an. Sein sandfarbenes Haar war zerzaust und seine Augen, blutunterlaufen und wässrig, schienen sich nicht auf einen Punkt konzentrieren zu können. Er wankte durch den Raum und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sein Unterkiefer hing herunter. Er hatte ganz offensichtlich einen Kater. Etwa eine Minute lang sagte niemand etwas. Ange-sichts von Alperts glasigem Blick vermutete ich, dass er schon wieder vergessen hatte, dass wir bei ihm in der Kabine waren.

„Mr Alpert“, sagte ich, weil ich annahm, dass der direkte Weg am ehesten zum Ziel führen wür-de. „Ich wüsste gern, was Sie gestern Nacht im Laderaum zu suchen hatten.“

„Häh?“, lallte Alpert. „War nicht im Lade-raum.“

„Sie benutzen doch Kölnischwasser von Pierre Cardin, nicht wahr?“, fragte India, und mir fiel erst

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jetzt auf, dass die ganze Kabine nach dem Zeug stank.

Alpert nickte. „Und?“ „Gestern Nacht haben wir jemanden im Lade-

raum gesehen, direkt neben dem Kühlraum, in dem Mr Donnehy ermordet wurde“, sagte India. „Wir konnten die Person zwar nicht erkennen, aber wer immer es war, er hat Kölnischwasser von Pierre Cardin benutzt.“

Alperts Kopf ruckte hoch, und er sah India er-bost an. „Ich habe niemanden umgebracht.“

„Das behauptet ja auch keiner“, beruhigte ich ihn. „Mr Alpert, Sie erwähnten, dass Sie Südameri-ka bereisen. Waren Sie zufällig auch in Kolum-bien?“

Alpert nickte. „Kolumbien und Ekuador. Und jetzt Peru. Und dann fahre ich heim nach Miami.“

„Ich dachte, Sie kommen aus Denver“, sagte ich. „Ja, äh, jetzt lebe ich in Denver“, stotterte Al-

pert. „Ich bin in Miami aufgewachsen. Ich will da meine Mutter besuchen.“

Plötzlich sprang er auf und hielt sich die Hand vor den Mund. Er stürmte ins Badezimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Trotzdem waren die Brechgeräusche deutlich zu hören.

„Ich habe genug gehört“, flüsterte ich India zu – das war die Untertreibung des Jahres.

Wir verdrückten uns.

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„Er lügt“, stellte India fest. „Er schafft es nicht einmal, bei seiner Geschichte zu bleiben – mal stammt er aus Denver, dann aus Miami.“

„Ich glaube, er ist aus Miami“, sagte ich. „Ich vermute außerdem, dass er geschäftlich in Südame-rika ist. Sieh dir nur an, wo er schon war: Kolum-bien, Ekuador und Peru. Du weißt doch, für wel-ches Produkt diese drei Länder bekannt sind, oder?“

„Kaffee?“, riet India. „Sollte nur ein Scherz sein. Natürlich Kokain. Entweder handelt er damit, oder er nimmt es selbst.“

„Das denke ich auch“, sagte ich. „Ich finde, wir sollten noch einmal in den Laderaum gehen. Viel-leicht finden wir heraus, was er letzte Nacht dort wollte.“

In der Mordnacht hatten wir keine Zeit mehr gehabt, den Laderaum genauer zu untersuchen. Der Schrei des Kapitäns, als er die Leiche entdeck-te, hatte uns abgelenkt. Diesmal durchsuchten wir den Raum gründlich.

„He, sieh dir das mal an“, sagte ich. Im untersten Fach eines Metallregals stand ein

riesiger Überseekoffer, eines von diesen altmodi-schen Dingern mit metallverstärkten Ecken und einem großen Messingschloss. Auf dem Aufkleber über dem Verschluss stand Eigentum von Bart Alpert, 110 Loprieta Avenue, Miami, USA.

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„Ich wette, der Kerl war in seinem ganzen Le-ben noch nie in Denver“, murmelte India.

„Warum sollte jemand, der eine Urlaubsreise macht, einen Riesenkoffer mitnehmen?“, fragte ich.

„Vielleicht, weil er etwas Großes mit nach Hau-se bringen will“, schlug India vor. „Zum Beispiel eine große Menge Kokain.“

„Das dürfte Probleme beim Zoll geben“, gab ich zu bedenken. „Ein Koffer von dieser Größe wird doch sicher von Drogenspürhunden unter-sucht.“

India nickte. „Das stimmt. Ich wüsste zu gern, was der Kerl in seinem Koffer hat.“

Wir setzten unsere Suche fort. Nach etwa einer Minute rief India mich zu sich. „Quentin, sieh dir das mal an.“ Sie kniete neben der Kiste mit der Mumie und streckte mir die Hand entgegen, um mir etwas zu zeigen. Auf ihrer Handfläche lagen mehrere weiße Körner. „Polstermaterial aus der Kiste“, sagte sie.

„Also hat sich doch jemand an unserer Mumie zu schaffen gemacht“, stellte ich fest. „Entweder das, oder sie hat sich selbst befreit.“

Das sollte ein Scherz sein, aber ich hatte die Worte kaum ausgesprochen, als ich sie auch schon bereute. Was, wenn die Mumie wirklich auferstan-den war, aus ihrer ewigen Ruhe gerissen durch die

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Schändung ihres Grabes? Wer würde ihr nächstes Opfer sein?

„Reiß dich zusammen“, fuhr India mich an. „Wir müssen uns konzentrieren.“

Ich verdrängte die abergläubischen Gedanken und begann, die Mumienkiste zu untersuchen. In der vergangenen Nacht hatten wir nicht genug Zeit gehabt, um die Kiste sorgfältiger unter die Lupe zu nehmen, und auf den ersten Blick hatte sie unversehrt ausgesehen. Diesmal schaute ich ge-nauer hin.

„Sieh dir das an“, sagte ich und zeigte auf den Deckel.

Die Kiste war eindeutig geöffnet worden – und zwar von außen. Etliche der Nägel steckten locker in ihren Löchern, als wären sie herausgezogen und dann wieder eingeschlagen worden, und an der Seite der Kiste, dicht unter dem Deckel, waren ein paar flache Kerben zu sehen.

„Jemand hat eine Brechstange benutzt, um den Deckel aufzuhebeln, und ihn dann wieder zugena-gelt“, stellte India fest.

Der Deckel saß jetzt so locker, dass ich die Fin-ger darunter schieben konnte. Mit vereinten Kräf-ten gelang es uns, den Deckel hochzureißen.

Wir rechneten damit, dass uns Maggies gequäl-tes Gesicht aus ihrem Styroporbett entgegenstarren würde.

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Überraschung! Keine Mumie. „Oh-oh“, sagte India. Ich grub beide Hände in das Verpackungsmate-

rial und wühlte suchend darin herum. Vielleicht war Maggie auf der Holperfahrt von Jalca nach Tarapoto tiefer in die Polsterschicht gesunken. Ich durchwühlte die ganze Kiste – ohne Erfolg. Styro-porkugeln, sonst nichts.

Mein Blick wanderte zu Bart Alperts Koffer. Ich glaubte zu wissen, wo unsere Mumie steckte.

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Gauner oder Mörder?

Eine Viertelstunde später standen wir auf der Brü-cke und sprachen mit Captain Hackman. „Wir möchten Bart Alperts Überseekoffer öffnen“, sagte ich. „Unsere Mumie ist gestohlen worden, und wir glauben, dass sie in diesem Koffer ist.“

Wir erinnerten ihn daran, dass an Bord seines Schiffes bereits ein Mord verübt worden war. Wenn er nun auch noch zuließ, dass ein wertvolles Fundstück, ein Nationalheiligtum, von seinem Schiff verschwand, konnte er die Hoffnung aufge-ben, einen Geldgeber für sein Öko-Tourismus-Projekt zu finden.

„Ich werde tun, was ich kann, um Mr Alperts Einverständnis zu bekommen“, versprach der Kapi-tän.

Er übergab das Steuer an einen Matrosen und bestellte Maldonado per Walkie-Talkie aufs Pro-menadendeck. „Ich habe Mr Alpert vor wenigen Minuten dort hinaufgehen sehen“, erklärte er uns.

Und tatsächlich, wir fanden Alpert, immer noch in seinem verknitterten Anzug mit dem Gesicht

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nach unten auf einem Liegestuhl. Er schien zu schlafen.

Captain Hackman rüttelte nicht gerade sanft an seiner Schulter. „Wachen Sie auf, Mr Alpert“, sagte er. „Ich muss mit Ihnen reden.“

Dr. Pleasance und Mrs Donnehy, die ebenfalls auf dem Promenadendeck saßen, sahen interessiert zu uns herüber. Maldonado stand hinter India und mir, den Dolch griffbereit in einer schwarzen Le-derscheide an seinem Gürtel.

Alpert wachte allmählich auf, und Captain Hackman berichtete ihm von unserer Entdeckung, dass die Mumie verschwunden war.

„Was habe ich damit zu tun?“, knurrte er un-deutlich, wälzte sich mühsam auf den Rücken und stützte sich auf einen Ellbogen.

„Ich habe Grund zu der Annahme, dass sich die Mumie in Ihrem Reisekoffer im Laderaum befin-det“, erklärte der Kapitän.

„Sind Sie verrückt geworden?“, fauchte Alpert. „Lassen Sie mich in Ruhe, oder ich rufe meinen Anwalt an! Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie es zu tun haben!“

„Es dürfte Ihnen schwer fallen, von hier aus Ih-ren Anwalt zu erreichen, Mr Alpert.“ Captain Hackman deutete mit einer Handbewegung auf den dichten Urwald, der sich in alle Richtungen erstreckte, so weit das Auge reichte.

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Maldonado trat einen Schritt nach vorne. „Die Mumie gehört den Menschen von Peru“, sagte er drohend. „Öffnen Sie Ihren Koffer. Sofort!“ Von allen unbemerkt, hatte er den Dolch gezogen.

„Kapitän, dieser Mann bedroht mich!“, rief Al-pert, der auf einmal hellwach aussah.

Der Kapitän zuckte die Achseln. „Rufen Sie Ih-ren Anwalt an.“

Als ihm klar wurde, dass er keine Wahl hatte, erhob sich Alpert missmutig und sagte: „Dann öff-ne ich eben meinen Koffer.“

Wir warteten vor seiner Kabine, als er den Kof-ferschlüssel holte. Dann führten der Kapitän und Maldonado ihn, India und mich zum Laderaum.

Dort angekommen, übergab Alpert den Schlüs-sel an Captain Hackman, der damit den Koffer auf-schloss. Langsam klappte er den Deckel auf, und zwischen Jutesäcken, auf denen Café – Producto de Colombia stand, tauchte der ausgetrocknete nuss-braune Körper der Mumie auf.

„Genau wie ich vermutet habe, da ist sie!“, rief ich.

„Was haben Sie dazu zu sagen, Mr Alpert?“, fragte der Kapitän streng.

„Jeder, der ein Schloss knacken kann, hätte mir das Ding in den Koffer legen können“, verteidigte sich Alpert schwach.

Maldonado hob drohend seinen Dolch. „Ich

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glaube eher, Sie haben versucht, die Mumie zu stehlen.“

„Er hat meinen Mann ermordet!“, kreischte Mrs Donnehy, die plötzlich in der Tür aufgetaucht war, und zeigte auf Alpert.

„Was?“, schrie Alpert. „Lady, das ist doch lä-cherlich!“

„Er hat Sie beim Stehlen der Mumie überrascht, und Sie haben ihn umgebracht, um ihn zum Schweigen zu bringen!“

„Ich bringe Sie gleich zum Schweigen …“ Al-pert wollte sich auf Mrs Donnehy stürzen, doch Maldonado packte seinen Arm und hielt ihn fest. Als Alpert den Dolch an seinem Bauch spürte, hör-te er sofort auf, sich zu wehren.

„Anscheinend haben wir unseren Mörder“, sag-te Captain Hackman zu Maldonado. „Begleiten Sie Mr Alpert in seine Kabine. Wir werden ihn der Polizei übergeben, sobald wir Iquitos erreichen.“

„Ja, Sir.“ Maldonado nickte zackig und zerrte Alpert, der immer noch lautstark seine Unschuld beteuerte, die Treppe hoch.

Captain Hackman sah mich und India an. „Ich kann euch gar nicht genug dafür danken, dass ihr den Fall gelöst habt. Ich werde dafür sorgen, dass die peruanischen Behörden von eurer guten Arbeit erfahren.“

„Ist das nicht etwas voreilig, Kapitän?“, fragte

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ich. „Bisher wissen wir nur, dass Alpert versucht hat, die Mumie zu stehlen. Aber wir haben keinen Beweis dafür, dass er jemanden umgebracht hat.“

„Aber das ist doch offensichtlich“, erwiderte der Kapitän. „Mrs Donnehy hat sicher Recht mit ihrer Vermutung, dass er ihren Mann umgebracht hat, weil der ihn beim Diebstahl der Mumie erwischt hat. Ihr habt doch gesehen, wie er auf sie losging, als sie ihn beschuldigte.“

„Alpert ist ein Gauner und vielleicht auch ge-walttätig“, gab ich zu. „Aber ich glaube trotzdem nicht, dass er der Mörder ist. Das passt einfach nicht zusammen.“

Captain Hackman sah aus, als hätte er mich am liebsten angeschrien. Doch er riss sich zusammen und sagte ruhig: „Wie du meinst. Aber du bist doch sicher auch der Meinung, dass er wegen des Diebstahls der Mumie der Polizei in Iquitos über-geben werden sollte?“

„Natürlich“, nickte ich. „Würden Sie jetzt ei-nen Ihrer Mitarbeiter bitten, uns zu helfen, die Mumie wieder in ihre Kiste zu legen? Außerdem hätte ich die Kiste von nun an gern in unserer Ka-bine. Es würde mich beruhigen, sie dort in Sicher-heit zu wissen.“

„Kapitän, darf ich Sie um einen weiteren Gefal-len bitten?“, mischte sich India ein. „Wir machen uns Sorgen um Quentins Vater. Wir wissen bisher

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nicht, wie seine Blinddarmoperation verlaufen ist. Außerdem würden wir gern mit einem Freund in New York sprechen. Wäre es möglich, dass wir mit Ihrem Funkgerät Kontakt mit Iquitos aufneh-men und uns von dort über Telefon mit New York verbinden lassen?“

„Selbstverständlich“, sagte Captain Hackman. „Ich werde es sofort veranlassen.“ Er drehte sich um und wollte den Laderaum verlassen.

„Eine Frage noch, Kapitän“, rief ich ihm nach. „Sie haben die Leiche kurz vor Morgengrauen ge-funden. Ich frage mich, was Sie zu so früher Stunde im Kühlraum wollten.“

Captain Hackman blinzelte. Dann setzte er sein Autoverkäufer-Lächeln auf. „Dieses Schiff zu füh-ren ist ein Vollzeitjob. Die Nachtstunden sind oft die einzige Zeit, die mir für meine Kontrollgänge in weniger wichtige Bereiche bleibt. Und diesmal war eben die Bestandsaufnahme im Kühlraum an der Reihe. Befriedigt das deine Neugier, Quen-tin?“

„Natürlich, Kapitän“, antwortete ich. „Es hat mich nur gewundert.“

„Und jetzt entschuldigt mich bitte“, sagte der Kapitän und ging los, um einen Matrosen zum Helfen zu suchen. India und ich blieben allein zu-rück.

„Er lügt“, stellte India fest.

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„Jeder an Bord lügt uns etwas vor“, bestätigte ich. „Ich nehme an, dass es sich bei dem Freund, den du in New York anrufen willst, um Jesus han-delt?“

Jesus Lopez ist ein Freund von India und mir in New York. Er ist ein Computergenie und kann praktisch alles herausfinden. Wenn sich die Infor-mationen in einem Computer befinden und dieser Computer an ein Modem angeschlossen ist, kann sich Jesus überall hineinhacken. Manchmal frage ich mich, ob seine Methoden legal sind, aber diese Frage stelle ich Jesus lieber nicht. Je weniger ich weiß, desto besser.

„Ich will Jesus bitten, alles über William Don-nehy herauszufinden“, erklärte India. „Vor allem alles, was ihn möglicherweise mit Kyle Eastwood, Bart Alpert, Dr. Pleasance oder irgendjemand an-derem in Südamerika verbindet.“

Eine halbe Stunde später war immer noch nie-mand zum Helfen gekommen, und so hoben wir Maggie zu zweit aus ihrem Bett aus Kaffeesäcken und legten sie vorsichtig wieder in ihre Kiste zu-rück. Merkwürdigerweise passte sie nicht mehr hinein. Nicht in der Länge oder Breite – das war nicht das Problem. Sie nahm nur einfach zu viel Platz ein. Wir mussten Unmengen von Styropor-kugeln hinausschaufeln, bevor wir den Deckel über ihr schließen konnten.

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„Das ist doch verrückt.“ India schüttelte den Kopf. „Vorher hat sie doch perfekt hineingepasst. Entweder ist sie dicker geworden, oder jemand hat mehr Füllmaterial in die Kiste geschüttet, während sie draußen war.“

„Das ergibt doch keinen Sinn“, bemerkte ich. Wieder einmal standen wir vor einem ungelös-

ten Rätsel. Unsere Amazonasreise entwickelte sich zunehmend zu einem Ausflug ins Land der Merk-würdigkeiten.

Nachdem wir die Kiste in unsere Kabine ge-bracht und sie dort eingeschlossen hatten, gingen wir auf die Brücke, wo sich das Funkgerät befand. Der Steuermann stellte den Kontakt zu dem Kran-kenhaus her, in dem mein Vater lag, und nach vie-lem Hin und Her mit dem Steuermann der Inca Princess, der nur gebrochen Englisch sprach, dem Funkmenschen im Krankenhaus und mehreren Krankenschwestern erfuhr ich endlich, dass die Operation gut verlaufen war und dass es meinem Vater gut ging. Ich war erleichtert, als ich endlich mit ihm selbst sprechen konnte. Von dem Mord erzählte ich ihm allerdings nichts – er hätte sich nur unnötige Sorgen gemacht. Dann baten wir den Mann im Krankenhaus, das Funkgerät mit dem Telefon zu verbinden und Jesus in New York an-zurufen.

„Jesus!“, schrie ich ins Mikrofon.

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„Qu – kkrrkrkrk“, war alles, was von der Ant-wort zu verstehen war.

„Ich muss alles über einen Mr William Donne-hy aus Port Arthur, Texas, wissen“, brüllte ich. „Hier gibt es ein Faxgerät, über das du uns die In-formationen schicken kannst.“

„Kkkrkrkkrr.“ Die Verbindung war grauenhaft, aber nach etwa

hundert Wiederholungen hatte Jesus verstanden, was ich von ihm wollte. Er versprach, das Kran-kenhaus in Iquitos anzurufen, sobald er alle Infor-mationen hatte, damit das Fax dann von dort aus an uns weitergeleitet werden konnte.

„Danke, Kumpel!“, brüllte ich. „Ja, danke, Jesus!“, schrie India neben meinem

Ohr. Jesus sagte noch, dass wir uns vor den Krokodi-

len in Acht nehmen sollten. Zumindest glaube ich, dass er das sagte, denn es

hörte sich eigentlich eher nach „kkrrkrkrk“ an.

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Rettung in letzter Sekunde

„Wen nehmen wir uns als Nächstes vor?“, fragte ich am nächsten Morgen.

Ich saß auf der Mumienkiste und trank eine Dose Orangenlimo. Vielleicht war das pietätlos, aber das war mir egal – wenn wir den Zorn der Mumie auf uns gelenkt hatten, als wir ihre Ruhe gestört hatten, spielte es wahrscheinlich auch keine Rolle mehr, wenn ich jetzt ihre Kiste als Sitzgelegenheit miss-brauchte. Wennschon, dann richtig, dachte ich mir.

„Ich finde, wir sollten uns mit Dr. Pleasance un-terhalten“, sagte India. „Wir sind uns doch einig, dass Bart Alpert nicht der Mörder von Donnehy ist, oder?“

„Ja“, bestätigte ich. „Es passt nicht zu ihm. Al-pert ist ein Fiesling, vielleicht ein Drogenschmugg-ler und mit Sicherheit ein Dieb. Aber ein Mörder? Dafür scheint er mir nicht besessen genug zu sein.“

India nickte. „Den Eindruck habe ich auch.“ Wir trafen Dr. Pleasance in seiner Kabine an,

die direkt neben der von Bart Alpert lag. Er bat uns herein. Bekleidet war er mit einer hellen Hose und

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einem weißen Hemd mit offenem Kragen. Mir fiel auf, dass ich ihn zum ersten Mal ohne sein Tweed-jackett sah.

Nach dem üblichen höflichen Vorgeplänkel kam ich zur Sache.

„Kannten Sie Mr Donnehy schon vor Antritt dieser Reise?“, fragte ich.

„Nein“, erwiderte Dr. Pleasance. „Aber natür-lich hatte ich schon von ihm gehört. Er war der Besitzer eines multinationalen Unternehmens und ein exzentrischer Sammler von seltenen und unge-wöhnlichen Stücken. Bei meiner Arbeit für Sothe-by’s lerne ich viele reiche und prominente Men-schen kennen. Aber Mr Donnehy bin ich vorher nie begegnet.“

„Verstehe“, sagte India. „Und Sie sind nach Pe-ru gereist, um präkolumbianische Kunstgegenstän-de zu studieren?“

„Das stimmt“, bestätigte Dr. Pleasance. Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit einem Taschen-tuch. „Ich habe einige Zeit in Lima verbracht. Da-vor war ich in Quito in Ekuador und in Kolum-bien. Ich habe viel darüber gelernt, wie der Markt für die verschiedenen einheimischen Produkte funktioniert.“

„Produkte?“, hakte ich nach. „Kunstwerke und so etwas“, erklärte

Dr. Pleasance.

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„Als Sie in Lima waren, hatten Sie da Gelegen-heit, sich die Maya-Statuen im Nationalmuseum anzusehen?“, fragte India.

„Ja, da war ich“, nickte Dr. Pleasance und fummelte an seinem Kragen herum. „Eine faszinie-rende Sammlung. Wirklich großartig. Am liebsten wäre ich stundenlang geblieben.“

„Ja, die Statuen sind wunderschön, nicht wahr?“, fragte India ihn lächelnd. „Aber nun wol-len wir Sie nicht länger aufhalten, meinst du nicht auch, Quentin?“

„Äh, klar“, sagte ich. Wir gaben Dr. Pleasance die Hand und bedankten uns dafür, dass er sich Zeit für uns genommen hatte. Auf dem Weg nach draußen fiel mein Blick auf ein weißes Leinenja-ckett, das über der Stuhllehne hing. Unter dem Jackett ragte etwas aus schwarzem Leder und po-liertem Holz hervor. Es waren ein Schulterhalfter und der Griff einer Pistole. Anscheinend war der Kapitän nicht der Einzige an Bord, der eine Waffe trug.

Als wir Dr. Pleasance’ Tür hinter uns schlossen, stießen wir auf dem Gang beinahe mit Mrs Don-nehy zusammen.

„Hallo, Mrs Donnehy“, sprach ich sie an. „Ich weiß, dass dies eine schwere Zeit für Sie ist, aber ich wollte Sie bitten, uns ein paar Fragen zu be-antworten.“

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„Im Moment ist mir wirklich nicht nach Reden zu Mute“, lehnte Mrs Donnehy ab und wedelte matt mit der Hand vor ihrer Brust herum. „Das versteht ihr doch sicher.“

„Natürlich“, sagte ich. „Wir werden Sie auch bestimmt nicht lange belästigen.“

Mrs Donnehy stocherte mit dem Schlüssel im Schloss ihrer Kabinentür herum, „ich würde wirk-lich lieber …“

„Lassen Sie mich das machen.“ India nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und öffnete mühelos die Tür. „Sehen Sie? Das war es schon.“

„Danke, meine Liebe“, sagte Mrs Donnehy. „Also gut, aber nur eine Minute. Ich bin sehr mü-de.“

Wir betraten die Kabine und setzten uns hin. Obwohl es erst später Vormittag war, schenkte

sich Mrs Donnehy am Waschbecken einen dreifa-chen Whisky ein. Uns bot sie nichts an.

„Ich frage mich, Mrs Donnehy“, begann ich, „warum Sie und Ihr Mann die Reise auf der Inca Princess gebucht haben.“ Ich sah mich in der schä-bigen Kabine um. Genau wie jede andere auf die-sem Schiff sah auch diese aus, als wäre sie seit min-destens einem halben Jahrhundert nicht mehr ge-strichen worden.

„Bei dem Wohlstand Ihres Mannes sind Sie doch sicher etwas Besseres gewöhnt?“

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„Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, was ihn veranlasst hat, in diese gottverlassene Gegend zu kommen“, sagte sie. „Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, dem großen William Donnehy keine Fragen zu stellen – weder darüber, was er tat, noch warum er es tat. jedes Mal, wenn ich gefragt habe, habe ich nur herausgefunden, dass er wieder irgen-dein schmutziges Geschäft gemacht hat, zum Bei-spiel eine Glasfabrik in irgendeinem Teil der Welt eröffnet, in dem es keine Gesetze gegen Kinderar-beit gibt.“

Mrs Donnehy verstummte, kippte ihren Whisky hinunter und schenkte sich einen neuen ein. Ich konnte den Alkohol durch den ganzen Raum rie-chen.

„Sagt man nicht, dass die Augen der Spiegel der Seele sind? Also, wenn man in seine Augen gese-hen hat, hat man nur Spiegel gesehen. Spiegel, Lin-sen und Glasfaserkabel. Fabriken. Geschäft, Ge-schäft, Geschäft! Das war das Einzige, was ihn interessierte. Das, und das ganze Zeug, das er ge-sammelt hat. Diesen ganzen Müll – und wisst ihr was? Er hat sich die Sachen niemals angesehen! Es ging ihm nur darum, Dinge zu besitzen! Ölquellen, Ländereien, Rinder, egal was. Und sobald er etwas hatte, hat er das Interesse daran verloren. Auch an mir.“

„Aber sagten Sie nicht, dass Sie ihm letztes

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Frühjahr eine Geburtstagsparty ausgerichtet ha-ben?“, fragte India sanft. „Können Sie uns davon erzählen?“

„Warum sollte ich?“, fauchte sie. „Das geht euch nun wirklich nichts an!“

Jetzt benahm sie sich nicht mehr wie ein hilflo-ses, verlorenes Kind, sondern wie eine verzogene Göre.

„Warum stellt ihr mir überhaupt all diese Fra-gen?“, wollte sie wissen. „Wie hieß noch dieser Kerl – Albert?“

„Bart Alpert“, verbesserte ich sie. „Bart Alpert“, sagte sie. „Er hat schließlich mei-

nen Mann getötet.“ „Ich glaube, wir sollten jetzt gehen.“ Ich stand

von meinem Stuhl auf. „India?“ „Ganz meine Meinung“, sagte sie. Im Hinausgehen hörten wir, wie sich Mrs Don-

nehy den dritten Drink einschenkte. „Puh!“, schnaufte ich, als wir wieder in unserer

Kabine waren. „Für jemanden, der nicht reden wollte, hat sie aber ziemlich viel abgelassen.“

„Was für eine grässliche Person“, sagte India. „Aber weißt du was? Ich glaube ihr. Sie mag ih-rem Mann den Tod gewünscht haben, aber ich denke nicht, dass sie ihn umgebracht hat. Sie scheint wirklich überzeugt zu sein, dass es Alpert war.“

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„Trotzdem sollten wir sie noch nicht von unse-rer Liste der Verdächtigen streichen“, fand ich. „Sie hat ihren Mann gehasst, und sie hat ein Verhältnis – ein ganz gutes Motiv, findest du nicht?“

Die Inca Princess hatte inzwischen die Stelle pas-siert, an der der Huallaga in den Maranon mündet, und somit waren wir nun offiziell auf dem Amazo-nas unterwegs. Wir entdeckten ein Dreizehenfaul-tier, das mit dem Kopf nach unten an einem Ast hing. Riesige, glitzernde Schmetterlinge schwirrten am Ufer herum. Papageien und Tukane krächzten empört, als wir vorbeifuhren. Flussdelfine begleite-ten unser Schiff. Diese Reise wäre klasse gewesen, aber da wir ständig damit rechneten, von einem Irren mit einem Dolch erstochen zu werden, konnten wir sie nicht recht genießen – zumal auch die Gefahr bestand, dass der Fluch der Mumie dem Mörder vielleicht sogar zuvorkam …

Beim Abendessen herrschte auch an diesem Tag eine ziemlich gedrückte Stimmung. Mit unseren Fragen hatten wir uns fast jeden auf dem Schiff zum Feind gemacht. India und ich aßen schwei-gend und verzogen uns, so schnell es ging. In der Kabine gingen wir noch einmal die Beweise durch, die wir bisher gesammelt hatten. In den letzten zwei Tagen hatten wir zwar einiges herausgefun-den, aber der Lösung des Falles waren wir keinen Schritt näher gekommen. Als wir schließlich das

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Licht ausmachten, fühlten wir uns beide frustriert und ruhelos.

Nach einer Stunde des Herumwälzens, als ich endlich einzunicken begann, hörte ich, wie India wieder aufstand.

„Was ist los?“, fragte ich. „Hast du was gehört?“ „Ich kann nicht schlafen“, sagte sie. „Ich gehe

ein bisschen frische Luft schnappen.“ „Ist gut“, murmelte ich, und meine Augen fie-

len wieder zu. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte,

als ich plötzlich hochfuhr. Ein schriller Schrei hatte mich geweckt – und ein Platschen.

Ich hechtete aus dem Bett, raste zur Treppe am Heck und stürmte die Stufen hinunter. Ich hetzte an die Reling und sah im fahlen Mondlicht, wie India verzweifelt im Wasser herumpaddelte und um Hilfe schrie. Maldonado ließ hektisch das Bei-boot zu Wasser. Es berührte kaum die Wasserober-fläche, als er auch schon die Leiter hinunterkletterte und hineinsprang, dicht gefolgt von Dr. Pleasance.

„Wartet auf mich!“, schrie ich und turnte die Leiter hinunter, so schnell ich konnte.

Normalerweise ist India eine gute Schwimme-rin, aber sie schien Schwierigkeiten zu haben. Ich hörte, wie sie hustete und nach Luft rang. Am an-deren Ufer war ein Platschen zu hören und gleich danach ein zweites. Dann sah ich, was diese Geräu-

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sche machte – ein dritter Kaiman glitt ins Wasser, gefolgt von einem vierten und einem fünften.

„Schnell!“, flehte ich Maldonado an, der an der Starterschnur des Außenbordmotors riss. India wurde von der Strömung flussabwärts getrieben. Die Kaimane waren ungefähr genauso weit von ihr entfernt wie wir.

Endlich sprang der Motor an, und Maldonado steuerte das Boot auf India zu. Am Bug saß Dr. Pleasance mit dem harpunenähnlichen Speer, mit dem Maldonado zwei Tage zuvor die Kaimane geärgert hatte. Es sah aus, als hätte er vor, India mit der rasiermesserscharfen Klinge des Speers zu erste-chen.

Ich sprang auf ihn zu, doch Maldonado packte mich am Arm. Er riss mich zurück auf meinen Platz und hielt mich dort fest.

„He, was soll das?“, brüllte ich. „Halt den Mund!“, fuhr er mich an. Maldonado steuerte das Boot dicht an India he-

ran. Dr. Pleasance packte die Harpune vorsichtig oberhalb der Klinge und hielt India das stumpfe Ende hin. India packte zu, und Dr. Pleasance zog sie zum Boot heran.

Maldonado ließ meinen Arm los, und Dr. Pleasance und ich zerrten India gerade noch rechtzeitig ins Boot. Ein Kaiman schnappte mit seinem Riesenmaul dorthin, wo gerade noch ihre

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Beine gewesen waren. Sie sah aus wie der Köder für die Shows, die Captain Hackman und seine Besatzung so gern für ihre Passagiere abzogen.

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Geschäftspartner

India lag keuchend und hustend auf dem Boden des Boots.

Ich klopfte ihr auf den Rücken, damit sie das Wasser aus ihrer Lunge loswurde. „India! India!“

Sie hustete fürchterlich und spuckte Wasser ins Boot.

„India, ist alles in Ordnung?“, fragte ich besorgt. „Ich werde es überleben“, schnaufte sie schließ-

lich und wischte sich etwas Spucke vom Kinn. „Ich bin zwar fast ertrunken, aber ich lebe noch.“

Maldonado brachte uns zurück zur Inca Princess, und wir kletterten wieder an Bord. Der Kapitän und fast alle Passagiere und Besatzungsmitglieder standen an der Reling. Das Geschrei und Geplan-sche hatte sie geweckt.

„Ist sie in Ordnung?“, rief uns Kyle Eastwood schon von weitem zu.

„Es geht ihr gut“, antwortete ich. „Sie hätte ihr Leben zwar beinahe als Alligator-Snack beendet, aber sonst geht es ihr gut.“

„Wann ist diese furchtbare Reise endlich vor-

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bei?“, jammerte Mrs Donnehy, und Eastwood legte den Arm um sie.

„Was ist passiert?“, erkundigte sich der Kapi-tän.

„Ich habe mich zu weit über die Reling gebeugt und bin ins Wasser gefallen“, erklärte India, als Hackman ihr von der Leiter half.

„Im Amazonas kann solcher Leichtsinn schlim-me Folgen haben“, mahnte er. „Schließlich wollen wir nicht noch einen Passagier verlieren.“

Wieder in der Kabine, suchte ich ein paar Handtücher zusammen und reichte sie India.

„Was ist da draußen wirklich passiert? Du willst mir doch nicht erzählen, dass du einfach über Bord gefallen bist, oder?“

„Natürlich nicht“, sagte sie. „Jemand hat mich geschubst.“

„Hast du gesehen, wer es war?“, fragte ich. India schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Wer

immer es war, hat sich von hinten angeschlichen. Ich bin mir zwar nicht sicher, aber ich glaube, ich habe einen Hauch von Pierre-Cardin-Parfüm wahrgenommen.“

„Pierre Cardin, häh?“ Das war eindeutig. Bart Alpert hatte versucht, India Angst einzujagen, viel-leicht sogar, sie umzubringen.

In dieser Nacht fanden wir beide keine Ruhe. Es schläft sich nicht besonders gut, wenn man

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weiß, dass jemand vorhat, einen an blutrünstige Piranhas zu verfüttern.

Beim Frühstück am nächsten Morgen war Indias beinahe tödlicher Sturz ins Wasser Thema Num-mer eins.

„Ein Glück, dass Maldonado und Dr. Pleasance rechtzeitig bei dir waren“, sagte ich. „Übrigens, Dr. Pleasance, wie kam es, dass Sie so schnell an Deck waren?“

„Ich war noch wach“, erklärte Dr. Pleasance. „Ich habe in meiner Kabine gelesen. Ich konnte wegen all dieser Aufregungen nicht schlafen. Mor-de. Diebstähle. Wer weiß, was uns auf dieser Reise noch erwartet?“

Ich warf India einen unauffälligen Blick zu. Ich hätte eine Million Dollar darauf verwettet, dass sie in diesem Moment dasselbe über Dr. Pleasance dachte wie ich: Er arbeitete auf keinen Fall für So-theby’s. Er war ganz bestimmt nicht in Südamerika, um Kunstwerke zu studieren, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich den wirklichen Grund für seinen Aufenthalt kannte.

„Ich empfinde genauso“, sagte Mrs Donnehy. Sie wirkte zum ersten Mal seit Tagen vollkommen nüchtern. „Ich bin ein nervliches Wrack. Es macht mich fertig, dass mein armer Bill immer noch in diesem Kühlraum ist. Captain Hackman hat gesagt, dass er als Kapitän des Schiffes befugt ist, Bill auf

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See zu bestatten, wenn ich das will. Er würde ihn in Segeltuch hüllen, ein Gebet sprechen und ihn dann dem Fluss übergeben.“

„Davon kann ich nur abraten, Mrs Donnehy“, betonte ich. „Ihr Mann ist ermordet worden. Sein Leichnam ist ein wichtiges Beweisstück.“

„Aber wir wissen doch, wer ihn ermordet hat!“, behauptete Mrs Donnehy. „Dieser unrasierte Kerl!“

„Ich fürchte, das wissen wir eben nicht“, sagte India. „Bart Alpert mag ein Ganove sein, aber ich glaube nicht, dass er es war, der Ihren Mann getö-tet hat.“

Mrs Donnehy schniefte abfällig und machte sich wieder über ihr Frühstück her. Kyle Eastwood trat an den Tisch und schenkte ihr Guavensaft nach. Mir fiel auf, dass er keinem anderen etwas davon anbot.

Nach dem Essen beschlossen India und ich, uns Mr Donnehys Kabine anzusehen. Obwohl er an-scheinend im Kühlraum ermordet worden war, war es doch denkbar, dass in seiner Kabine irgend-welche Hinweise zu finden waren.

Glücklicherweise war die Tür nicht verschlos-sen. Die Kabine ähnelte den anderen, die wir bis-her gesehen hatten, wenn auch jeder Raum ein wenig anders möbliert war. Unsere Kabine zum Beispiel hatte ein Doppelbett, aber dafür keine

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Couch. In Donnehys stand nur ein breites Einzel-bett, aber dafür hatte er eine alte, schäbige Couch, die mit Tweed bezogen war. Merkwürdig war nur, dass eines der beiden Couchkissen fehlte. Das war das Erste, was uns beim Betreten der Kabine auffiel.

Mr Donnehys Anzüge hingen noch im Schrank. Seine Hemden und die übrige Wäsche waren or-dentlich gefaltet und in den Schubladen verstaut. Alles sah ganz normal aus, wenn man von dem fehlenden Couchkissen absah.

„Quentin, sieh dir das an“, sagte India. Sie be-trachtete die holzgetäfelte Wand über der Couch. „Sieht aus, als hätte hier jemand vor kurzem etwas aus der Wand geholt.“

„Lass mal sehen.“ Tatsächlich, in der Wand war ein etwa zwei Zentimeter großes Loch. Die Holz-späne rund um das Loch waren heller als der Rest der Täfelung, was darauf schließen ließ, dass es erst vor kurzem entstanden war.

„Fällt dir an diesem Raum sonst noch etwas auf?“, fragte India.

Ich sah mich um. „Eigentlich nicht. Sieht ge-nauso aus wie jede andere Kabine.“

„Sieh dir mal den Boden an.“ Ich schaute nach unten, und da bemerkte ich es:

Der Boden war makellos. Er war so sauber, dass man davon hätte essen können. Eigentlich wäre das nicht weiter bemerkenswert gewesen, wenn nicht

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der Rest des Schiffes so verlottert gewesen wäre. Immerhin fuhr die Inca Princess durch den Regen-wald, in dem immer eine extrem hohe Luftfeuch-tigkeit herrschte, die Schimmel und Pilze üppig wuchern ließ – ganz zu schweigen von den Mil-liarden von Insekten, die in dieser Region heimisch waren. Jede andere Oberfläche auf dem Schiff legte Zeugnis von der tropischen Umgebung ab. Nur dieser Fußboden nicht. Warum nicht?

Während ich noch über das Geheimnis des sau-beren Bodens nachgrübelte, hatte India Donnehys Laptop in einem Aktenkoffer neben dem Bett ent-deckt. Sie schaltete ihn ein und durchstöberte die Dateien auf der Suche nach seinen Geschäftsinter-essen in Südamerika.

„Hör dir das an“, sagte sie und starrte auf den Bildschirm..„Peru hat nicht nur Kaffee, Kokain und die Kunstwerke früher Kulturen zu bieten, sondern auch die letzten unberührten Ölvorkom-men der Welt.’ Anscheinend war Donnehy tatsäch-lich geschäftlich unterwegs.“

„Seine Frau sagte doch, dass seine Geschäfte al-les waren, was ihn interessiert hat“, bemerkte ich.

„Und sieh dir das an“, fuhr India fort. „Hier steht etwas über die Inca Princess – E-Mails aus den letzten sechs Monaten zwischen Donnehy und Captain Hackman, in denen es um die finanzielle Lage des Schiffes geht. Das ist etwas, das der Kapi-

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tän praktischerweise zu erwähnen vergaß. Er kann-te Donnehy schon lange, bevor dieser an Bord kam.“

Wir überflogen die Briefe. Anscheinend hatte Donnehy mehr als einen Grund für seine Reise mit der Inca Princess gehabt.

Allmählich wurde uns klar, wer Donnehy er-mordet hatte – und warum. Es gab nur noch einen einzigen, wenn auch leider ziemlich ekligen Ort, an dem wir nach Beweisen suchen mussten.

„Komm schon, India. Du weißt, was wir jetzt tun müssen.“

India seufzte. „Darauf könnte ich gut verzich-ten.“

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Rätselhafte Zeichen

Wir brauchten nicht lange, um uns einen Schlüssel für den Kühlraum zu besorgen. Maldonado war sofort bereit, uns seinen zu geben. Er fragte nicht einmal, wofür wir ihn brauchten. Wahrscheinlich spürte er, dass wir kurz davor waren, den Mörder zu entlarven.

Wir stiegen also wieder hinab in die Eingeweide der Inca Princess und folgten dem Korridor bis zum Kühlraum. Beim Anblick von Mr Donnehys Leichnam musste ich an einen tiefgekühlten Budd-ha denken.

Donnehys Gesicht hatte eine blassblaue Farbe angenommen, die einen eigenwilligen Kontrast zu den leuchtend roten Flecken auf seinem gestreifen Schlafanzug bildete. Mit spitzen Fingern zog ich den weißen Frotteebademantel von der Brustwun-de.

„Findest du es nicht auch merkwürdig, dass sein Schlafanzug mit Blut voll gesogen ist, während der Bademantel keinen einzigen Fleck hat?“, fragte India.

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„Allerdings. Ich begreife das nicht. Es ist mir vollkommen unverständlich, dass der Bademantel nichts abbekommen hat.“

„Vielleicht hat er ihn nicht getragen, als er er-mordet wurde“, sagte India.

Ich nickte. „Ich fürchte, wir müssen uns die Leiche genauer ansehen. Mir ist zwar nicht wohl bei dem Gedanken, dass wir womöglich irgend-welche Spuren vernichten, bevor die peruanische Polizei Gelegenheit hatte, sie zu sichern, aber wenn wir nicht herausfinden, wie er umgebracht wurde, kommt der Mörder vielleicht ungestraft davon.“

„Lass ihn uns ein Stück von der Wand wegrü-cken, damit wir ihn besser untersuchen können“, schlug India vor.

Es war Schwerarbeit, die Leiche zu bewegen. Donnehy war ein ziemlicher Brocken, und die Kombination von Leichenstarre und Tiefkühlung hatte seinen Körper so unbeweglich gemacht, als wäre er aus Stahl. Mit vereinten Kräften schafften wir es schließlich, ihn ein paar Zentimeter von der Wand wegzuziehen.

Verblüfft starrten wir auf den Blutfleck, der hin-ter ihm an der Wand zum Vorschein kam. Blut an der Wand, aber kein Blut auf dem Rücken des Bademantels. Wie war das möglich?

„Ziehen wir ihm den Bademantel aus“, sagte

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India. „Ich habe den Verdacht, dass er dazu dienen soll, etwas zu verbergen.“

Wir zerrten am Kragen und an den Ärmeln des Bademantels, bis es uns gelang, ihn über die steif gefrorenen Arme bis in Taillenhöhe herunterzuzie-hen. Genau in der Mitte zwischen den fleischigen Schulterblättern des Toten fanden wir den Beweis, nach dem wir gesucht hatten: einen Blutfleck auf dem Rücken der Schlafanzugjacke, in dessen Mitte sich ein kreisrundes Loch befand.

Meine Zähne fingen an zu klappern. „Austritts-wunde“, sagte ich. „Donnehy wurde erschossen. Zuerst hat ihn der Mörder erschossen und ihm danach den Dolch ins Herz gebohrt, an der Stelle, an der die Kugel eingedrungen war. Es war also doch nicht der Fluch der Mumie, der ihn das Le-ben gekostet hat.“

„Wohl nicht“, nickte India. „Und ich denke, das erklärt auch einiges von dem, was wir in Don-nehys Kabine entdeckt haben.“

Dem konnte ich nur zustimmen. „Er muss dort erschossen worden sein. Das Loch in der Wand ist die Stelle, an der die Kugel einschlug, nachdem sie seinen Körper durchdrungen hatte. Der Mörder muss den toten Donnehy in den Kühlraum ge-schleppt haben und ist dann später zurückgekehrt, um die Kugel aus der Wand zu holen.“

„Und um die Blutspuren vom Fußboden zu

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schrubben“, fügte India hinzu. „Aber was ist mit dem fehlenden Couchkissen? Ist das nun ein Hin-weis oder nicht?“

„Daran arbeite ich noch“, sagte ich. „Aber ich habe schon eine Vermutung.“

Ich setzte mich neben Donnehys Leiche und versuchte mir vorzustellen, wie er gestorben war. Hatte ihn der Schuss in seiner Kabine sofort getö-tet, oder hatte er danach noch eine Weile gelebt? Wenn er noch gelebt hatte, als der Mörder ihn hierher geschleift hatte, was hatte er gedacht? Was hatte er empfunden, als er spürte, wie ihn auf die-sem gammligen, alten Kahn mitten im Amazonas das Leben verließ?

Plötzlich schlug die Tür des Kühlraums zu, und das Licht ging aus.

„He!“, schrie ich. „Mal sehen, ob die Tür wieder aufgeht“, sagte

India. Ich hörte, wie sie nach dem Griff tastete und ihn mehrmals herunterdrückte. Die Tür bewegte sich nicht. Wer immer das Licht ausgeschaltet hat-te, hatte auch das Vorhängeschloss wieder angeb-racht. Und der Lichtschalter befand sich draußen.

„Was machen wir jetzt?“, fragte ich. „Keine Ahnung“, antwortete India. „Aber hier

drin herrschen minus vier Grad, und wir haben nur Shorts und T-Shirts an. Wenn wir hier nicht bald rauskommen, werden wir erfrieren.“

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„Oder ersticken“, ergänzte ich. „Ich vermute, dass dieser Raum luftdicht ist.“

„Ich hasse den Gedanken, in einem Raum zu ersticken, der nach Kölnischwasser von Pierre Car-din mieft“, bemerkte India. „Allmählich kann ich den Geruch nicht mehr ausstehen.“

„Riechst du ihn denn?“ „Kein Zweifel“, ertönte Indias körperlose

Stimme aus der Dunkelheit. „Bart Alpert hat wie-der zugeschlagen.“

„Lass uns nachdenken“, schlug ich vor. „Zu-nächst wäre es schön, wenn wir hier ein wenig Licht hätten. Du hast nicht zufällig auf einem der Regale eine Taschenlampe liegen sehen?“

„Nein“, sagte sie. „Keine Taschenlampe, kein Feuerzeug, keine –“

„Warte mal“, unterbrach ich sie. „Sagte Mrs Donnehy nicht, dass ihr Mann sogar im Schlafan-zug Zigarren mit sich herumträgt?“

„Sieh in seinen Taschen nach“, sagte India. Ich tastete – sehr vorsichtig – im Dunkeln he-

rum, bis ich Donnehys rechte Brusttasche gefunden hatte. Es befand sich wirklich etwas darin – sogar mehrere Dinge, darunter auch Donnehys silbernes Cowboystiefel-Feuerzeug.

„Wo Rauch ist, ist auch Feuer“, sagte ich und machte das Feuerzeug an. Die kleine Flamme ver-breitete ein flackerndes Licht.

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„Gut gemacht, Quentin!“ „Jetzt müssen wir nur noch hier herauskom-

men.“ Ich ließ meinen Blick auf der Suche nach einem Fluchtweg durch den Kühlraum wandern. Dabei fielen mir wieder die merkwürdigen Spuren in der Eisschicht an der Wand neben Donnehys Leiche ins Auge.

„Komm mal her, und sieh dir das an“, sagte ich und hielt das Feuerzeug dichter an die Zeichen. Als ich sie an dem Morgen, als Captain Hackman die Leiche entdeckte, zum ersten Mal gesehen hatte, hatte ich keinen Sinn darin erkennen können. Aber jetzt, im Schein des Feuerzeugs, wirkten sie klarer. Und sie sahen ganz anders aus als das, was ich in mein Notizbuch gemalt hatte:

„Was hat das zu bedeuten?“, flüsterte India. „Weiß ich auch nicht“, musste ich zugeben. „Es

sieht aus wie irgendein Code. Aber viel wichtiger ist jetzt, dass wir aus diesem Eiskeller kommen.“

„Warum hämmern wir nicht gegen die Wän-de?“, schlug India vor. „Irgendjemand wird uns schon hören. So groß ist die Inca Princess schließlich nicht.“

„Dann mal los.“ Wir hämmerten mit den Fäusten gegen die

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Wände und schrien aus Leibeskräften: „Hallo!“, „Wir sind im Kühlraum!“ und „Hilfe!“.

Etliche Minuten später hörten wir, wie draußen das Vorhängeschloss entfernt wurde. Dann ging die Tür auf, und das Licht vom Gang flutete herein.

Es war Maldonado. Er musste noch einen wei-teren Schlüssel für das Schloss besitzen. Hinter ihm stand Dr. Pleasance mit gezogener Waffe. Er trat vor den Ersten Maat. „Seid ihr in Ordnung?“

„Uns geht’s gut“, sagte ich. „Könnten Sie mit dem Ding woanders hinzielen?“

Dr. Pleasance nickte und verstaute die Pistole in dem Schulterhalfter, das ich am Vortag gesehen hatte.

„Was ist hier los?“, fragte Maldonado. „Das erklären wir so bald wie möglich“, ant-

wortete ich. „Aber jetzt müssen wir erst etwas überprüfen.“ Ich sah India an. „Denkst du, was ich denke?“

„Die Kiste?“ „Genau.“ Auf dem Weg zu unserer Kabine trafen wir auf

einen Matrosen, der uns mitteilte, dass ein Fax für uns eingetroffen war.

„Jesus“, sagte ich zu India. Wir rasten zur Brücke und schnappten uns das

Fax. Die Verbindung war anscheinend furchtbar gewesen, denn die Buchstaben waren kaum zu

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lesen, und der Text sah aus, als wäre er in einer Geheimsprache verfasst. Aber wir konnten genug entziffern, um zu erfahren, was wir wissen wollten.

In der Kabine öffneten wir mal wieder die Kiste, hoben Maggie vorsichtig heraus und legten sie aufs Bett. Dabei fiel einer ihrer Finger ab, aber das war nicht zu ändern. Wir glaubten, endlich zu wissen, warum auf einmal so viel Polstermaterial in der Kiste war.

Nachdem sich unser Verdacht erhärtet hatte, legten wir die Mumie und ihren Finger wieder in die Kiste, nagelten den Deckel zu und setzten uns aufs Bett. Jetzt war fast alles geklärt. Die Rätsel lösten sich eines nach dem anderen, nur das der Schriftzeichen an der Kühlraumwand hatten wir noch nicht lösen können. Ich war mir aber sicher, dass wir den Mörder haben würden, sobald es uns gelang.

Ich ging ins Badezimmer, um mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Ich finde, es gibt nichts Besseres als kaltes Wasser, wenn man mit den Nerven fertig ist. Als ich nach dem Handtuch griff, spähte ich in den schmierigen Spiegel. Ich konnte mich in dem schmutzigen, blinden Glas kaum selbst erkennen. Was dieser Kahn braucht, dachte ich, ist eine Ladung neuer Spiegel aus einer von Donnehys Fabriken …

„Das ist es!“, rief ich.

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„Was ist was?“, fragte India verständnislos. „Mr Donnehy hat Spiegel hergestellt!“, sagte

ich. „Komm schon, India! Wir müssen noch ein-mal in den Kühlraum und uns diese Zeichen an der Wand ansehen.“

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Entlarvt

Ein paar Stunden später waren alle Passagiere und Besatzungsmitglieder im Speiseraum versammelt. Mir fiel auf, dass Bart Alpert überrascht wirkte, uns zu sehen. Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass wir inzwischen steif gefroren waren.

„Tut mir Leid, Sie zu enttäuschen, Mr. Alpert“, sagte ich. „Aber so leicht wird man uns nicht los.“

„Ich weiß gar nicht, wovon du redest, Junge“, knurrte er.

Als sich alle Passagiere hingesetzt hatten, klopfte ich mit der Gabel an mein Wasserglas. Ich hatte etwas zu verkünden. Captain Hackman, der wie üblich an der Stirnseite des Tisches saß, horchte ebenso auf wie Kyle Eastwood und Maldonado.

„Wie wir alle vermuten“, begann ich, „befindet sich tatsächlich ein Mörder unter uns – und ich glaube zu wissen, wer es ist.“

Am Tisch brach allgemeines Gemurmel aus. „Zuerst möchte ich jedoch erörtern, wer es nicht

ist“, fuhr ich fort. „So bin ich zum Beispiel sicher, dass weder Mr Maldonado der Mörder ist noch ein

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anderes Mitglied der einheimischen Besatzung. Und das, obwohl Maldonado die Mordwaffe am Tag nach der Tat in seinem Besitz zu haben schien.“ Ich verstummte, als Maldonado zusam-menzuckte und etwas sagen wollte, aber er über-legte es sich dann doch anders. „Doch warum sollte Mr Maldonado Mr Donnehy umbringen? Er war überzeugt, dass das der Fluch erledigen würde, der auf der Mumie lag. Keiner von denen, die an die-sen Fluch glauben, hat Mr Donnehy ermordet. Nein, ich glaube, dass jemand den blutigen Dolch unter Mr Maldonados Matratze versteckt hat, damit er dort gefunden wurde und ihn belastete.“

„Dazu kommt, dass der Dolch, den wir unter seiner Matratze gefunden haben, gar nicht die Mordwaffe ist“, fügte India hinzu.

Erstauntes Gemurmel brach aus. „Dazu kommen wir noch“, sagte ich. „Lassen

Sie uns zunächst über Dr. Pleasance sprechen.“ „Dr. Pleasance behauptet, ein Mitarbeiter von

Sotheby’s zu sein, der südamerikanische Kunst stu-diert“, erklärte India. „Aber als ich ihn darüber aus-fragte, was er schon gesehen hat, wurde mir klar, dass er nicht die Bohne von südamerikanischer Kunst versteht. Andernfalls hätte er sofort gewusst, dass es in Peru keine Maya-Statuen gibt. Die Maya sind nur bis nach Honduras vorgedrungen, das viele hundert Kilometer nördlich von Peru liegt.“

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„Aber weshalb ist Dr. Pleasance denn nun wirk-lich an Bord der Inca Princess!“, fragte ich. „Die Antwort darauf hat etwas mit unserem allseits be-liebten Bart Alpert zu tun. Dr. Pleasance erwähnte, dass er in Kolumbien und Ekuador war, bevor er nach Peru kam. Es ist kein Zufall, dass auch Bart Alpert diese Länder bereist hat.“

„Was Dr. Pleasance anging, hatten wir von An-fang an unsere Zweifel“, übernahm India wieder. „Er trug stets ein Tweedjackett, trotz der Hitze. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Er trägt das Jackett, um die Waffe zu verbergen, die er ständig bei sich hat. Eine Waffe, die Mr Donnehy getötet haben könnte.“

„Eine Waffe?“, rief Mrs Donnehy entsetzt. „Wollt ihr damit sagen, dass er meinen Mann er-schossen hat? Aber Bill ist doch mit einem Messer ermordet worden!“

„Das ist es, was der Mörder Sie glauben machen wollte“, sagte ich. „Ihr Mann wurde zuerst er-schossen, und danach hat man ihm den Dolch ins Herz gestoßen. Aber zurück zu Dr. Pleasance: Warum trägt er eine Waffe? Was wollte er in Ko-lumbien, Ekuador und Peru, den Ländern, aus de-nen der größte Teil des Kokains der Welt kommt? Ist er ein Drogenschmuggler? Ganz im Gegenteil. Vor unserer Abreise in New York habe ich in der Zeitung zufällig gelesen, dass es der Drogenfahn-

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dung gelungen ist, die nördliche Schmuggelroute aus Kolumbien zu schließen. Nein, Dr. Pleasance ist kein Schmuggler, er ist Drogenfahnder. Seine Waffe ist ein typisches Polizeimodell. Dr. Pleasance, würden Sie bitte Ihre Waffe ziehen und sie bereithalten?“

Dr. Pleasance zog seine Pistole. „Ist das wirklich nötig?“, fragte der Kapitän. „Ich fürchte ja, Kapitän“, antwortete ich. „Das

werden Sie gleich einsehen.“ „Es ist kein Zufall, dass Dr. Pleasance und Bart

Alpert dieselbe Reiseroute gewählt haben“, erklärte India. „Seit die beiden dieses Schiff betreten haben, hat Dr. Pleasance Mr Alpert nicht aus den Augen gelassen. Es war Dr. Pleasance, der mich gerettet hat, nachdem mich Bart Alpert über Bord ge-schubst hat, und Dr. Pleasance, der uns aus dem Kühlraum befreit hat, in den Bart Alpert uns ge-sperrt hat.“

„Das ist doch eine Unverschämtheit!“, ereiferte sich Bart Alpert, doch ich ignorierte ihn.

„Wie kann sich der Filialleiter eines Supermarkts Armani-Anzüge und eine goldene Rolex leisten?“, fragte ich. „Ganz einfach: Bart Alpert ist ein Ko-kainschmuggler. Und da die nördliche Route nun geschlossen ist, wollte er seine Ware durch Peru außer Landes schaffen. Das einzige Problem war nur der Zoll in Lima.“

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„Und da kommen die Mumie und Mr Donnehy ins Spiel“, fuhr India fort. „Donnehy hat Alpert vor einem Jahr angeheuert, um seine Ölquellen in Kolumbien zu beaufsichtigen. Das haben wir von einem Freund in New York erfahren, der für uns ein wenig im Computer herumgestöbert hat.“

„Alpert konnte nicht widerstehen, nebenbei ein paar Kokaingeschäfte zu machen“, erklärte ich. „Als er von Donnehy erfuhr, dass eine Mu-mie von Lima nach Miami ausgeflogen werden sollte, witterte er eine günstige Gelegenheit. Ihm war klar: Wenn überhaupt ein Gepäckstück un-kontrolliert verladen würde, dann die Kiste mit der sehr alten und zerbrechlichen Mumie. Deshalb ist Alpert in der Nacht, in der Donnehy ermordet wurde, in den Frachtraum geschlichen, hat die Mumie aus ihrer Kiste genommen und sie in sei-nem eigenen Koffer versteckt. An Stelle der Mu-mie hat er ganz unten, unter all das Packmaterial, Pakete mit reinem, unverschnittenem Kokain ge-legt. Das war der Grund dafür, dass die Mumie nicht mehr in ihre Kiste zu passen schien, als wir später versuchten, sie wieder dort zu verstauen. Das Rauschgift auf dem Boden der Kiste nahm einfach zu viel Platz ein.“

„Wir vermuten, dass Alpert ursprünglich vor-hatte, am Flughafen von Miami jemanden zu be-stechen, um Zugang zur Kiste zu bekommen“,

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sagte India. „Er wollte die Kiste öffnen, das Kokain herausholen und sich unbemerkt verdrücken. Als kleinen Bonus hätte er dann in seinem Koffer noch die Mumie gehabt, die er an seinen Arbeitgeber Donnehy verkaufen wollte, der, wie er wusste, ein leidenschaftlicher Sammler ohne Skrupel war.

Aber hat Alpert Donnehy umgebracht?“, fragte India. „Bestimmt nicht. Die beiden waren Partner, und Donnehys unerwarteter Tod hat auch Alperts Pläne durcheinander gebracht. Alpert hat Donnehy nicht auf dem Gewissen, wenn er auch zwei Mal versucht hat, mich zu erledigen, als er merkte, dass wir ihm auf der Spur waren. Ich habe es Dr. Pleasance zu verdanken, dass ich noch lebe.“

„Wer kommt noch in Frage?“, machte ich wei-ter. „Ah, Mrs Donnehy. Sie ist eindeutig verdäch-tig. Mr Donnehy hat seine Geschäfte und seine Sammlung mehr geliebt als seine Frau. Die Don-nehys hatten getrennte Kabinen – vielleicht wegen seines Schnarchens, aber ich vermute, dass mehr dahinter steckte. Ich glaube nicht, dass es Mrs Donnehy im Geringsten gestört hat, ihren Mann tot zu sehen, aber natürlich musste sie so tun als ob. Ehrlich gesagt, fand ich die Ohnmacht etwas zu dick aufgetragen, selbst für eine trauernde Witwe. Aber sehr getrauert hat sie bestimmt nicht. Ich ha-be keinen Zweifel daran, dass sie ihm den Tod gewünscht hat.“

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Mrs Donnehy wollte widersprechen, aber India ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Keine Angst, wir glauben nicht, dass Sie ihn umgebracht haben“, sagte sie. „Natürlich haben Sie seit Jahren versucht, ihn auf die langsame Art ins Grab zu befördern – mit fettem Essen und Zigar-ren. Sie haben ihn mit Butter voll gestopft und dafür gesorgt, dass er viel zu viel aß. Aber weiter wären Sie nie gegangen. Sie sind nicht der Typ, der jemandem einen Dolch ins Herz stößt.“

„Aber wie sieht es mit Ihrem heimlichen Ge-liebten Kyle Eastwood aus?“, fragte ich.

„Mein Geliebter?“, empörte sich Mrs Donnehy. „Wie kannst du es wagen?“

Ich sah ihr direkt in die Augen. „India und ich ahnten bereits am ersten Abend, dass Sie und East-wood sich schon lange vor dieser Reise kannten. Eastwood wusste zum Beispiel, dass Sie zum Fisch Rotwein trinken, keinen Weißwein, wie die meis-ten anderen Leute. Und er wusste, dass Sie die So-ße gern neben Ihrem Teller stehen haben.“

„Sogar Mr Donnehy kam Kyle Eastwood be-kannt vor“, bemerkte India. „Er kannte ihn tat-sächlich von der Party zu seinem fünfzigsten Ge-burtstag, die Mrs Donnehy im vergangenen Früh-jahr für ihren Mann ausgerichtet hat. Unser Freund in New York hat herausgefunden, dass Eastwood die Speisen für diese Feier zubereitet hat. Die Zei-

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tung von Dallas hat ausgiebig über diese Party be-richtet. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Eastwood rein zufällig dieselbe Amazonaskreuzfahrt bucht wie sein ehemaliger Kunde? Genauso hoch, als würde man von Dallas nach Peru umziehen und feststellen, dass man immer noch denselben Postbo-ten hat.“

„Bei dieser Geburtstagsparty müssen sich Mrs Donnehy und Kyle Eastwood näher gekommen sein“, sagte ich. „Und ihr Zusammentreffen auf der Inca Princess war etwas, das Kyle sich als gewagten kleinen Scherz ausgedacht hat. Aber hat Kyle Don-nehy getötet? Nein, obwohl sich Mrs Donnehy wahrscheinlich fragt, ob er es gewesen sein könn-te.“

Eastwood und Mrs Donnehy starrten stur gera-deaus und vermieden jeden Blickkontakt.

„Aber wenn es nicht Maldonado, keiner der Matrosen, nicht Bart Alpert, Mrs Donnehy, East-wood oder ich waren“, sagte Dr. Pleasance, der immer noch seine Pistole in der Hand hatte, „wer war es dann?“

„Nun, das haben wir uns auch gefragt, bis Mr Donnehy selbst es uns gesagt hat“, bemerkte ich. „Es gibt noch jemanden, der Geschäfte mit Don-nehy gemacht hat: Captain Hackman.“

„Was?“, fragte Kyle Eastwood entgeistert. „Bevor ich weiterrede, Dr. Pleasance“, sagte

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ich, „würden Sie bitte die Waffe des Kapitäns an sich nehmen? Nach seinem Schuss auf den Fisch im Fluss wissen wir ja alle, was für ein guter Schütze er ist.“

Zuerst zögerte Dr. Pleasance, doch dann stand er auf, ging zu Captain Hackman, griff in sein Ja-ckett und zog die Waffe aus dem Halfter.

„Vielen Dank“, sagte ich. „Und jetzt kommen wir dazu, wer Mr Donnehy wirklich ermordet hat und warum. India, möchtest du beginnen?“

„Gerne, Quentin. Am ersten Tag, als die Passa-giere an Bord kamen, ist Mr Donnehy ausgespro-chen grob mit Captain Hackman umgesprungen. Zugegeben, Mr Donnehy war kein sehr angeneh-mer Zeitgenosse und sicher auch daran gewöhnt, dass seine Befehle befolgt wurden. Aber Captain Hackman ist der Boss auf diesem Schiff, und es hat mich sehr gewundert, dass er es sich gefallen ließ, von Donnehy wie irgendein Angestellter behandelt zu werden. Doch genau das war er. Sein Angestell-ter.“

„Sie müssen wissen, dass Captain Hackman uns gegenüber erwähnt hat, dass er dringend Geld braucht und darauf hofft, in Iquitos einen Geldge-ber zu finden“, fuhr ich fort. „Aus den Dateien in Mr Donnehys Laptop erfuhren wir, dass die Inca Princess tatsächlich hoch verschuldet ist, und dass Donnehy sich als Geldgeber angeboten hatte.

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Donnehy war in Südamerika, um sich über ver-schiedene Wirtschaftszweige zu informieren, dar-unter die Förderung von Erdöl und den Tourismus auf dem Amazonas. Er hatte vor, Kreuzfahrtschiffe aufzukaufen. Das war auch der Grund dafür, dass er sich auf diesem rostigen Kahn eingemietet hat. Er wollte eine Kreuzfahrt auf dem Amazonas aus ers-ter Hand erleben – und mit Bart Alperts Hilfe na-türlich die Mumie stehlen. Als Donnehy merkte, was für ein gammliger Kasten die Inca Princess ist, hat er zweifellos sofort den Geldhahn zugedreht. Wahrscheinlich wollte er Captain Hackman in den Bankrott treiben und dann ein ganz neues Schiff bauen lassen, um mit Luxuskreuzfahrten auf dem Amazonas das große Geld zu machen. Uns ist wohl allen klar, dass mit diesem alten Kahn nichts mehr zu verdienen ist.“

„Am Abend des Mordes informierte Donnehy Captain Hackman über seine Entscheidung“, sagte India, „während wir anderen zum Wasserfall un-terwegs waren.“

„Und während wir fort waren, hat Captain Hackman Donnehy erschossen“, erklärte ich.

Überall am Tisch wurden Einwände laut. „Aber Donnehy wurde nicht erschossen!“, pro-

testierte Eastwood. „Wir alle haben seine Wunde gesehen – sie stammte von einem Messer, nicht von einer Schusswaffe!“

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„Doch, Mr Donnehy ist erschossen worden“, widersprach ich. „Der Kapitän hat ihn in seiner Kabine erschossen und eines der Couchkissen als Schalldämpfer benutzt. Geräusche sind auf dem Wasser über weite Strecken zu hören, und Captain Hackman konnte nicht riskieren, dass jemand den Schuss hörte. Die Kugel durchschlug Donnehys Körper und landete in der Holztäfelung der Wand. Man sieht immer noch das Loch in der Verscha-lung.“

„Am nächsten Morgen kehrte der Kapitän zu-rück, um die Kugel aus der Wand zu holen und die Blutflecken vom Fußboden zu entfernen“, erklärte India.

„Das stimmt“, bestätigte ich. „Aber um auf die Mordnacht zurückzukommen: Der Kapitän hat Donnehy zum Kühlraum geschleppt und ihn da gelassen, weil er ihn für tot hielt. Das erklärt auch, warum der Leichnam schon so stark gefroren war, als er im Morgengrauen entdeckt wurde. Er war nicht nur ein oder zwei Stunden im Kühlraum gewesen, sondern fast zehn Stunden – das erklärt die starke Vereisung.“

„Aber was der Kapitän nicht wusste“, fuhr India fort, „war, dass Donnehy, obwohl tödlich verwun-det, noch ein paar Minuten lebte. Lange genug, um eine Botschaft zu hinterlassen.“

„Aber wir alle haben Mr Donnehy doch an

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Deck gesehen, als wir vom Wasserfall zurückka-men“, wandte Dr. Pleasance ein.

„Wir glaubten, ihn zu sehen“, erwiderte India. „Die Beleuchtung war schlecht, und wir sahen nur seinen Umriss. Captain Hackman wollte uns glau-ben machen, dass Donnehy noch am Leben war, als wir zurückkamen. Was wir gesehen haben, war der Kapitän in Donnehys Bademantel, ausgepolstert mit ebendem Kissen, das er als Schalldämpfer be-nutzt hat – was übrigens auch erklärt, wie das hier auf die Innenseite von Donnehys Bademantel ge-kommen ist.“

India holte eine kleine Plastiktüte aus der Ta-sche, in der sich eine einzelne Feder befand. „Eine Feder von einem ganz bestimmten Kissen.“

„Sie erinnern sich sicher“, sagte ich, „dass wir bei unserer Rückkehr sahen, wie Donnehy – oder vielmehr der Kapitän, als Donnehy verkleidet – in seine Kabine ging. Dann ging das Licht aus, und einen Moment später war noch einmal ein matter Lichtschein im Fenster zu sehen. Das war der Kapi-tän, der die Tür geöffnet hatte, um die Kabine wieder zu verlassen. Dabei war das Licht vom Kor-ridor einen Moment lang durchs Fenster zu sehen. Der Kapitän ist dann in seine Kabine zurückge-kehrt, um uns einige Minuten später nach unserem Ausflug in Empfang zu nehmen.“

„Was danach passierte, war reiner Zufall“, sagte

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India, „aber es kam dem Kapitän durchaus gele-gen.“

„Nach der Fahrt zum Wasserfall erzählte Mal-donado die Geschichte von dem Fluch, der auf der Mumie liegen soll“, berichtete ich. Alle Passagiere nickten. „Dem Kapitän wurde klar, dass das die perfekte Gelegenheit war, Maldonado die Schuld in die Schuhe zu schieben, zumindest aber alle so zu verwirren, dass niemand mehr herausfinden konnte, wer Donnehy ermordet hatte. Mitten in der Nacht kehrte der Kapitän in den Kühlraum zurück, wieder in Donnehys Bademantel, den er wieder mit dem Kissen ausgepolstert hatte. Wir haben ihn in dieser Nacht gesehen, nachdem wir durch ungewöhnliche Geräusche geweckt worden waren und nachschauen wollten, woher sie kamen. Auch dieses Mal hielten wir den Kapitän für Mr Donnehy. Im Kühlraum hat der Kapitän dann Mr Donnehy den Dolch ins Herz gestoßen.“

Mrs Donnehy stieß einen erstickten Laut aus, aber wenigstens täuschte sie diesmal keine Ohn-macht vor. Das hielt sie wohl für unnötig, seit sie wusste, dass sie nicht mehr zu den Verdächtigen zählte.

„Der Kapitän hat Donnehy den Bademantel an-gezogen, um die Austrittswunde der Kugel zu ver-bergen. Das erklärt, warum der Bademantel am Rücken kein Loch hat und warum er nicht blutig

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ist. Donnehy hatte ihn nicht an, als er erschossen wurde, und auch nicht, als ihm das Herz durch-bohrt wurde. Er wurde gewissermaßen zweimal ermordet. Einmal mit einer Kugel und einmal mit dem Dolch.“

Ich verstummte, um zu sehen, welche Wirkung meine Worte auf Captain Hackman hatten. Er spielte den Coolen und lächelte herablassend. Aber sein Blick bohrte sich in mich, als wollte er mich damit erstechen.

„Nachdem er das Herz durchbohrt und Donne-hy den Bademantel angezogen hatte“, sagte ich, „kehrte der Kapitän ohne Verkleidung in sein Quartier zurück und nahm das Kissen mit. Später verließ Mr Maldonado seine Kabine, um den näch-tlichen Geräuschen nachzugehen, und stieß dabei auf India und mich. Diese Gelegenheit nutzte der Kapitän, um den blutigen Dolch unter Maldonados Matratze zu verstecken. Er wollte, dass es so aussah, als hätte Maldonado Donnehy umgebracht, um den Fluch der Mumie zu erfüllen.“

Maldonado sah seinen Chef an. „Ist das wahr, Kapitän?“

„Natürlich nicht“, murmelte Captain Hackman unbehaglich.

„Captain Hackman blieb nichts anderes übrig, als zuzustimmen, als wir ihn baten, das Verbrechen untersuchen zu dürfen“, sagte India. „Eine Weige-

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rung hätte ihn verdächtig gemacht, obwohl er spä-ter versucht hat, den Beweis seiner Schuld ver-schwinden zu lassen. Er war es doch, der die See-bestattung vorgeschlagen hat, nicht wahr, Mrs Donnehy?“

„Ja“, antwortete sie leise. „Wenn es ihm gelungen wäre, die Leiche los-

zuwerden, wäre er nie gefasst worden“, sagte ich. „Das hat er zumindest angenommen.“

„Eine sehr interessante Theorie“, sagte Captain Hackman. „Aber wohl kaum mehr als das. Damit könnt ihr keinen der Anwesenden überzeugen und die Polizei schon gar nicht. Ihr habt keinerlei Be-weise dafür, dass ich oder sonst jemand der Mörder war.“

„Oh doch, Captain Hackman, die haben wir“, widersprach ich. „Sie müssen wissen, dass Donnehy nicht tot war, als Sie ihn in den Kühlraum geschafft haben. Er hat ohne jeden Zweifel noch ein paar Minuten gelebt, lange genug, um uns einen Hin-weis auf die Identität seines Mörders zu hinterlas-sen.“

„Mrs Donnehy hat erwähnt, dass ihr Mann so-gar in seinem Schlafanzug Zigarren hatte“, sagte India. „Und was nützt einem eine Zigarre ohne ein Feuerzeug?“

„Als Mr Donnehy im Sterben lag, holte er sein Feuerzeug heraus und schmolz damit eine Bot-

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schaft in die Eisschicht an der Wand des Kühl-raums“, erklärte ich. „Sie fiel mir schon an dem Morgen auf, an dem die Leiche entdeckt wurde, aber zu diesem Zeitpunkt konnte ich die Zeichen nicht genau genug erkennen. Erst als Bart Alpert uns im Kühlraum einsperrte und wir die Schriftzei-chen so sahen, wie Donnehy sie gesehen hatte – im Schein seines Feuerzeugs –, konnten wir erkennen, was sie bedeuteten. Das hier hat Donnehy an die Wand geschrieben.“

Ich hielt ein Blatt Papier hoch, auf das ich die Zeichen gemalt hatte:

„Wenn Sie in den Kühlraum gehen, werden Sie neben der Leiche von Mr Donnehy genau diese Zeichen sehen“, sagte ich.

„Na und?“, fragte Captain Hackman. „Das sind doch nur Kritzeleien. Das beweist gar nichts.“

„Donnehy muss gewusst haben, dass es wahr-scheinlich Captain Hackman ist, der am nächsten Morgen seine Leiche ‚entdecken‘ würde“, fuhr ich fort. „Ihm war klar, dass er einen Hinweis hinter-lassen musste, mit dem der Kapitän nichts anfangen konnte, den aber jemand anders, jemand, der an Detektivarbeit gewöhnt ist, entschlüsseln konnte. Sein Plan funktionierte, nur leider fast zu gut. An-

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fangs wussten wir nicht, was die Zeichen bedeuten sollten, doch dann fiel uns wieder ein, dass Donne-hy sein Vermögen mit Spiegeln gemacht hat. Er liebte sie schon als Kind und war von ihnen faszi-niert. Also benutzte er einen alten Trick, eine Art Geheimschrift, die als Spiegelschrift bekannt ist. Dabei ist die linke Hälfte jedes Zeichens das Spie-gelbild der rechten – des tatsächlich gemeinten Buchstabens.“

„Sobald man den Code geknackt hat“, über-nahm India wieder, „ist deutlich zu sehen, welche Botschaft Donnehy uns hinterlassen hat: Es sind die Buchstaben C, A, P, T – die Anfangsbuchstaben des Wortes ‚Captain‘, womit natürlich Captain Hackman gemeint ist. Ein besserer Beweis als die Anschuldigung des Toten dürfte schwerlich zu fin-den sein.“

Maldonado kochte vor Wut. „Sie haben ver-sucht, mir das anzuhängen!“ Dr. Pleasance richtete seine Waffe auf Captain Hackman.

Einen Moment lang schien der Kapitän unter Schock zu stehen. „Donnehy hatte den Tod ver-dient“, stieß er dann hervor. „Er hatte es verdient, dass man ihm das Herz durchbohrte, genau wie er mir meines durchbohrt hat. Ich konnte meine Schulden nicht mehr bezahlen, und da ist Donnehy gekommen und hat versprochen, mir zu helfen. Seine Vorstellung von Hilfe war, mich untergehen

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zu lassen, damit er mein Schiff übernehmen und es verschrotten lassen konnte. Er wollte es durch ein neues Schiff mit einem neuen Kapitän ersetzen. Ich fahre jetzt seit zwanzig Jahren auf der Inca Princess, und er wollte mir alles wegnehmen, was ich aufge-baut habe. Er war ein gewissenloses, profitgieriges Schwein. Wenn man mit ihm Geschäfte macht, muss man ihn hinterher noch anbetteln, dass er einem wenigstens die Kleider lässt, die man am Leib trägt!“

„Ich frage mich, wie Sie Donnehy als gewissen-los bezeichnen können, Captain Hackman“, sagte ich, „nachdem Sie versucht haben, Ihrem Ersten Maat einen Mord anzuhängen.“

Der Kapitän antwortete nicht. „Mr Donnehy mag ein gewissenloser Mensch

gewesen sein“, sagte ich. „Auf jeden Fall hat er es fertig gebracht, dass Sie Ihre Schuld bezahlen wer-den – zwar nicht an Ihre Gläubiger, aber an die Gesellschaft.“

Dr. Pleasance gab ihm einen Wink mit der Pis-tole, und als Captain Hackman daraufhin die Hän-de ausstreckte, fesselte Maldonado sie mit einem Strick.

Der Mord auf dem Amazonas war aufgeklärt.

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So ist das Leben!

„Hallo, ihr beiden!“, begrüßte uns mein Vater am nächsten Tag am Flughafen von Iquitos. Auf einem Gepäckwagen neben uns stand die Kiste mit der gut verpackten Mumie. Überall wimmelten Arbei-ter herum und tankten den Jumbojet auf, der uns und Maggie über die Anden nach Lima befördern sollte.

India und ich drückten meinen Dad vorsichtig. „Die Ärzte sagen, dass alles gut heilt“, berichtete

er. „Es tut aber immer noch ein bisschen weh. Die Operationswunde ist nicht genäht, sondern ge-klammert, aber in ein paar Wochen werde ich wieder der Alte sein.“

„Ein Glück, dass alles so gut abgelaufen ist“, sag-te India.

„Wie ich hörte, war eure Flussfahrt ziemlich aufregend“, meinte mein Dad.

„Ach, es geht“, sagte ich grinsend und erzählte ihm vom Mord an Mr Donnehy und davon, wie India und ich den Mörder entlarvt hatten. „Der verdeckte Ermittler, Dr. Pleasance, hat dafür ge-

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sorgt, dass sich der Kapitän nicht aus dem Staub machen konnte, und ihn dann gleich nach unserer Ankunft der Polizei von Iquitos übergeben. Bei der Gelegenheit hat er auch Bart Alpert abgeliefert, den Drogenschmuggler, der versucht hat, unsere Mu-mie zu stehlen.“

„Ich habe das Gefühl, dass Alpert wesentlich länger in Peru bleiben wird als geplant“, stellte In-dia fest.

„Da bin ich nicht so sicher“, entgegnete ich. „Ich habe gehört, wie er Dr. Pleasance angeboten hat, der Drogenfahndung alle möglichen Namen, Orte und Verbindungen zu nennen. Anscheinend zieht Alpert es vor, seinen Partnern in den Rücken zu fallen, statt seine Zeit in einem zweifellos sehr ungemütlichen peruanischen Knast abzusitzen.“

„Und ich hatte den Eindruck, dass auch Mrs Donnehy und Kyle Eastwood es gar nicht abwarten konnten, aus Peru wegzukommen“, bemerkte In-dia lachend. „Das Schiff hatte kaum angelegt, da saßen die beiden schon in einem Taxi zum Flugha-fen. Ich habe sie etwas über Skilaufen in der Schweiz sagen hören. Ich schätze, für den Rest ihres Lebens haben sie vom Dschungel die Nase voll.“

„Und was ist mit euch beiden?“, fragte mein Dad. „Was haltet ihr von Peru?“

Darüber hatte ich bisher nicht nachgedacht. Seit

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wir nach Peru gekommen waren, war so viel pas-siert, dass ich kaum Zeit zum Luftholen gehabt hatte.

„Tja“, sagte ich gedehnt. „Ich muss gerade an den ersten Abend auf der Inca Princess denken. Maldonado hat mit uns einen Ausflug zu einem Wasserfall gemacht und einen Brocken rohes Fleisch über die Wasseroberfläche gehalten. Das Wasser war vollkommen ruhig. Man wäre nie auf die Idee gekommen, dass direkt unter der Oberflä-che ein drei Meter langer Kaiman lauerte, der plötzlich hochsprang. Ich habe das Gefühl, als wäre unsere ganze Zeit auf dem Amazonas so gewesen. Nichts war so, wie es auf den ersten Blick aussah. Dr. Pleasance war ein verdeckter Ermittler. Mrs Donnehy hat ihren Mann mit Kyle Eastwood be-trogen. Bart Alpert war ein Drogen schmuggeln-der, Mumien stehlender Lügner. Und der Kapitän ein Mörder, der versucht hat, seinen Ersten Maat zu belasten. Irgendwie lauerte unter jeder Oberflä-che etwas Böses.“

„So ist nicht der Amazonas, Quentin“, bemerk-te India. „So ist das Leben.“

„He!“, rief mein Dad aus. „Das ist aber sehr weise für jemanden, der gerade erst 15 ist.“

„Wenn man mit 15 nicht weise sein kann“, sag-te ich nur halb im Scherz, „wann soll man es dann sein?“

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„Das stimmt allerdings“, gab mein Dad zu. „Wenn man erst einmal ein alter Knacker ist wie ich, merkt man plötzlich, dass man doch wieder an alles Mögliche glaubt, auch wenn alle Beweise da-gegen sprechen.“

„Oh, ich glaube auch an vieles“, betonte ich. „Ich glaube an Gerechtigkeit. Ich glaube an die New York Yankees. Und ich glaube, dass Erdnuss-butter und Marmelade die ekligste Zusammenstel-lung ist, die Menschen jemals für essbar erklärt ha-ben.“

„Und ich glaube, ich habe allmählich genug von dir, Quentin“, sagte India und boxte mir gegen die Schulter.

„Also, ich kann euch beiden gar nicht genug da-für danken, dass ihr den Diebstahl der Mumie ver-hindert habt“, sagte mein Vater. „Ich fürchte, dass es die Beziehung unserer beiden Länder stark belastet hätte, wenn dieser unbezahlbare Fund verschwun-den wäre, solange er sich in meiner Obhut befand. Und dann hätte es auch keine Rolle gespielt, dass ich zur fraglichen Zeit im Krankenhaus lag.“

„Ach, wir haben nur unseren Job gemacht“, bemerkte India bescheiden. „Und wissen Sie was? Maggie ist mir inzwischen richtig ans Herz ge-wachsen. Für eine Mumie ist sie gar nicht so übel.“

„Logisch, dass du sie magst. Endlich jemand, der nicht widerspricht“, stichelte ich.

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„Sehr witzig.“ Ich kassierte den nächsten Box-hieb.

Während wir darauf warteten, an Bord des Flugzeugs gehen zu dürfen, dachte ich über Maggie nach. Sie war jünger als ich gewesen, als man sie getötet hatte. Ich fragte mich, ob sie freiwillig ge-gangen war. Ihrer Körperhaltung nach zu urteilen, war das nicht der Fall gewesen. Aber wer konnte das wissen? Vielleicht hatte sie es als Ehre empfun-den, für ihr Volk zu sterben. Glaubte sie, dass sie im Frühjahr wieder auferstehen würde wie Perse-phone? Natürlich nicht buchstäblich, aber doch irgendwann und irgendwo. Ich hoffte für sie, dass ihre Seele weiterlebte.

Der Gedanke an Persephone brachte mich auf etwas anderes. „Ich kann es kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen und die Vorbereitungen für unser Schulfest wieder aufzunehmen“, sagte ich.

„Ist dir inzwischen ein Motto eingefallen?“, fragte mein Dad.

Bis jetzt war das nicht der Fall gewesen, aber plötzlich hatte ich eine Eingebung. „Wie wär’s mit ‚Romanze im Regenwald‘?“, grinste ich und wappnete mich gegen die unvermeidlichen Schlä-ge, die ich dafür von India kassieren würde.

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Bereits in der Highschool begann Paul Zindel, kleine Geschichten und Theaterstücke zu schreiben. Trotzdem arbeitete er nach dem Studium zuerst einige Jahre als Chemielehrer, bevor er sein Hobby zum Beruf machte. In der Zwischenzeit ist er einer der erfolgreichsten Kin-der- und Jugendbuchautoren Amerikas und wurde un-ter anderem mit dem renommierten Pulitzer-Preis aus-gezeichnet. Paul Zindel lebt mit seiner Familie in New Jersey.

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