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K.-H. Rödiger, R.Wilhelm: Zu den Ethischen Leitlinien der Gesellschaft für Informatik 79 Im Dezember 1994 haben die Mitglieder der Gesellschaft für Informa- tik (GI) über„Ethische Leitlinien“ abgestimmt, die ein Arbeitskreis des Fachbereichs„Informatik und Gesellschaft“ erarbeitet,und die das Prä- sidium verabschiedet hatte [1].80% derer, die an der Abstimmung teil- genommen hatten, entschieden sich für die Leitlinien, 11% waren da- gegen, und 9% enthielten sich der Stimme. Im folgenden Beitrag soll dargestellt werden, warum eine Gesellschaft wie die GI eine Berufs- ethik benötigt, wie die Leitlinien zustandegekommen sind und wie sich deren Bestimmungen im einzelnen begründen. a0000002222111 1. Einleitung Informatik ist eine heranreifende Profession,deren Ausübende sich in erheblichem Maße wissenschaftlichen Ansprüchen ver- pflichtet fühlen. Die Gesellschaft für Informatik ist als wissen- schaftliche Vereinigung gleichzeitig der gesellschaftliche Ort pro- fessioneller Reflexion.Zur Ausprägung des professionellen Selbst- verständnisses gehört die Herausbildung beruflicher Standards, die das Sachwissen und Können, aber auch die gesellschaftliche Verantwortung und Mitwirkung betreffen.Dies geschieht implizit in einem steten Prozeß von Lehre, Forschung und Entwicklung; es kann im einzelnen aber auch explizit erfolgen, etwa durch die Er- stellung von Richtlinien,wie dies der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) seit langem macht, durch die Mitarbeit an nationalen oder internationalen Normen oder durch die Mitarbeit an rechtlichen Regelungen.Zu den besonders anspruchsvollen Aufgaben dieser Art gehören explizite Aussagen zur erwünschten professionellen Praxis und zum verantwortungsvollen Handeln.Solche Normen sind implizit in jedem wissenschaftlichen oder beruflichen Zu- sammenschluß vorhanden.Die damit verbundene Breite unter- schiedlicher Erfahrungen, Einstellungen und Haltungen und, dar- aus folgend,ihre unvermeidliche innere Widersprüchlichkeit wird jedoch erst sichtbar,wenn der Versuch unternommen wird,die im- pliziten Regeln und Vorstellungen explizit zu formulieren.Es kann daher sinnvoll sein,auf eine solche Explizierung zu verzichten. Dem steht freilich der gesellschaftliche Wunsch ent- gegen, mit den Produkten und Prozessen informatischer Arbeit in planbarer und kontrollierbarer Weise umzugehen.Einigen sich die Profession,die Anwender und die Betroffenen nicht auf geeignete Normen und Vorgehensweisen und besteht zugleich ein besonde- res öffentliches Regulierungsinteresse,so kann dies zu rechtlichen Maßnahmen führen,die dann den professionell Tätigen als äußere Randbedingungen entgegentreten.Produkthaftungsregelungen, Datenschutzgesetze,Rahmenprüfungsordnungen und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind Beispiele hierfür. De- ren Anforderungen erscheinen im konkreten Einzelfall aber nicht immer als glückliche Wahl. Eine Berufsethik konkretisiert die Ausgangsfrage der Ethik nach der Möglichkeit einer guten Moral, nach der wir gut le- ben und gerecht handeln können,für die Ausübung eines Berufs. Gegenstand der informatischen Berufsethik ist somit die Frage „Was sollen (wir) Informatiker tun ?“ Die informatische Berufsethik nimmt die ethischen Normen der Gesellschaft auf und befaßt sich mit den Bedingungen, wie Informatiker diese Normen in ihrer be- ruflichen Tätigkeit umsetzen können.Berufsethische Anforderun- gen beinhalten Anforderungen an Informatiker,wie sie ihren Beruf ausüben, bzw. wie sie ihr spezifisches Fachwissen anwenden sollen. Die Ergebnisse berufsethischer Reflexion werden in ei- nem professionellen Ethikkodex zusammengefaßt.Dieser hat nach innen und nach außen gerichtete Funktionen: Indem Orientierun- gen für die Berufstätigkeit gegeben und Prinzipien formuliert wer- den,zu deren Einhaltung sich die Professionsangehörigen – ver- treten durch den Berufsverband – selbst verpflichten, bzw. indem die professionelle Verantwortung der Professionsangehörigen in einer veröffentlichten Verlautbarung bekanntgegeben wird,erklärt der Ethikkodex,was die Öffentlichkeit in ihrer Beziehung zu den Mitgliedern der Profession erwarten kann. Ethische Kodizes und Leitlinien dienen somit primär als professionelle Selbstregulie- rung unterhalb des Rechtswegs. a0000002222111 2.Zur Notwendigkeit einer informatischen Berufsethik Wollen Informatiker ihr Tun gesellschaftlich verantworten,müs- sen sie ihren Verantwortungsbereich abgrenzen und anderen, meist Laien erläutern. In technischen Fächern ist dies dadurch erschwert,daß das Handeln technisch vermittelt ist und nur über Artefakte auf die Gesellschaft einwirkt. Bezogen auf Informatik heißt dies,daß Angehörige dieser Profession Ein- und Auswirkun- gen von Informatiksystemen, die sie bei deren Entwicklung verur- Zur Diskussion gestellt Zu den Ethischen Leitlinien der Gesellschaft für Informatik Karl-Heinz Rödiger, Rudolf Wilhelm Karl-Heinz Rödiger 1 , Rudolf Wilhelm 2 1 Universität Bremen, Fachbereich Mathematik/Informatik, Postfach 330440, D-28334 Bremen 2 Kolibri Informationssysteme GmbH, Hohenzollerndamm 152, D-14199 Berlin Informatik-Spektrum 19:79–86 (1996) © Springer-Verlag 1996

Zu den Ethischen Leitlinien der Gesellschaft für Informatik

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K.-H. Rödiger, R.Wilhelm: Zu den Ethischen Leitlinien der Gesellschaft für Informatik 79

Im Dezember 1994 haben die Mitglieder der Gesellschaft für Informa-tik (GI) über „Ethische Leitlinien“ abgestimmt,die ein Arbeitskreis desFachbereichs „Informatik und Gesellschaft“ erarbeitet,und die das Prä-sidium verabschiedet hatte [1].80% derer,die an der Abstimmung teil-genommen hatten,entschieden sich für die Leitlinien,11% waren da-gegen,und 9% enthielten sich der Stimme.Im folgenden Beitrag solldargestellt werden,warum eine Gesellschaft wie die GI eine Berufs-ethik benötigt,wie die Leitlinien zustandegekommen sind und wiesich deren Bestimmungen im einzelnen begründen.

a00000022221111.Einleitung

Informatik ist eine heranreifende Profession,deren Ausübendesich in erheblichem Maße wissenschaftlichen Ansprüchen ver-pflichtet fühlen.Die Gesellschaft für Informatik ist als wissen-schaftliche Vereinigung gleichzeitig der gesellschaftliche Ort pro-fessioneller Reflexion.Zur Ausprägung des professionellen Selbst-verständnisses gehört die Herausbildung beruflicher Standards,die das Sachwissen und Können,aber auch die gesellschaftlicheVerantwortung und Mitwirkung betreffen.Dies geschieht implizitin einem steten Prozeß von Lehre,Forschung und Entwicklung; eskann im einzelnen aber auch explizit erfolgen,etwa durch die Er-stellung von Richtlinien,wie dies der Verein Deutscher Ingenieure(VDI) seit langem macht,durch die Mitarbeit an nationalen oderinternationalen Normen oder durch die Mitarbeit an rechtlichenRegelungen.Zu den besonders anspruchsvollen Aufgaben dieserArt gehören explizite Aussagen zur erwünschten professionellenPraxis und zum verantwortungsvollen Handeln.Solche Normensind implizit in jedem wissenschaftlichen oder beruflichen Zu-sammenschluß vorhanden.Die damit verbundene Breite unter-schiedlicher Erfahrungen,Einstellungen und Haltungen und,dar-aus folgend, ihre unvermeidliche innere Widersprüchlichkeit wirdjedoch erst sichtbar,wenn der Versuch unternommen wird,die im-pliziten Regeln und Vorstellungen explizit zu formulieren.Es kanndaher sinnvoll sein,auf eine solche Explizierung zu verzichten.

Dem steht freilich der gesellschaftliche Wunsch ent-gegen,mit den Produkten und Prozessen informatischer Arbeit in

planbarer und kontrollierbarer Weise umzugehen.Einigen sich dieProfession,die Anwender und die Betroffenen nicht auf geeigneteNormen und Vorgehensweisen und besteht zugleich ein besonde-res öffentliches Regulierungsinteresse, so kann dies zu rechtlichenMaßnahmen führen,die dann den professionell Tätigen als äußereRandbedingungen entgegentreten.Produkthaftungsregelungen,Datenschutzgesetze,Rahmenprüfungsordnungen und das Rechtauf informationelle Selbstbestimmung sind Beispiele hierfür.De-ren Anforderungen erscheinen im konkreten Einzelfall aber nichtimmer als glückliche Wahl.

Eine Berufsethik konkretisiert die Ausgangsfrage derEthik nach der Möglichkeit einer guten Moral,nach der wir gut le-ben und gerecht handeln können, für die Ausübung eines Berufs.Gegenstand der informatischen Berufsethik ist somit die Frage „Wassollen (wir) Informatiker tun ?“ Die informatische Berufsethiknimmt die ethischen Normen der Gesellschaft auf und befaßt sichmit den Bedingungen,wie Informatiker diese Normen in ihrer be-ruflichen Tätigkeit umsetzen können.Berufsethische Anforderun-gen beinhalten Anforderungen an Informatiker,wie sie ihren Berufausüben,bzw.wie sie ihr spezifisches Fachwissen anwenden sollen.

Die Ergebnisse berufsethischer Reflexion werden in ei-nem professionellen Ethikkodex zusammengefaßt.Dieser hat nachinnen und nach außen gerichtete Funktionen: Indem Orientierun-gen für die Berufstätigkeit gegeben und Prinzipien formuliert wer-den,zu deren Einhaltung sich die Professionsangehörigen – ver-treten durch den Berufsverband – selbst verpflichten,bzw. indemdie professionelle Verantwortung der Professionsangehörigen ineiner veröffentlichten Verlautbarung bekanntgegeben wird,erklärtder Ethikkodex,was die Öffentlichkeit in ihrer Beziehung zu denMitgliedern der Profession erwarten kann.Ethische Kodizes undLeitlinien dienen somit primär als professionelle Selbstregulie-rung unterhalb des Rechtswegs.

a00000022221112.Zur Notwendigkeit einer

informatischen Berufsethik

Wollen Informatiker ihr Tun gesellschaftlich verantworten, müs-sen sie ihren Verantwortungsbereich abgrenzen und anderen,meist Laien erläutern. In technischen Fächern ist dies dadurcherschwert,daß das Handeln technisch vermittelt ist und nur überArtefakte auf die Gesellschaft einwirkt.Bezogen auf Informatikheißt dies,daß Angehörige dieser Profession Ein- und Auswirkun-gen von Informatiksystemen,die sie bei deren Entwicklung verur-

Zur Diskussion gestellt

Zu den Ethischen Leitlinien der Gesellschaft für Informatik

Karl-Heinz Rödiger, Rudolf Wilhelm

Karl-Heinz Rödiger1 , Rudolf Wilhelm2

1 Universität Bremen, Fachbereich Mathematik/Informatik,Postfach 330440, D-28334 Bremen

2 Kolibri Informationssysteme GmbH, Hohenzollerndamm 152,D-14199 Berlin

Informatik-Spektrum 19:79–86 (1996) © Springer-Verlag 1996

80 K.-H. Rödiger, R.Wilhelm: Zu den Ethischen Leitlinien der Gesellschaft für Informatik

sachen,verantworten müssen.Unter einem Informatiksystem sollim folgenden „die Einheit von Hard-,Software und Netzen ein-schließlich aller durch sie intendierten oder verursachten Gestal-tungs- und Qualifizierungsprozesse bezüglich Arbeit und Organi-sation“ verstanden werden [1].

Zur Frage,wie weit die Verantwortung im Einzelfallreicht, sind dichotome Positionen auszumachen: Anhänger der ei-nen vertreten die Auffassung,Aufgabe von Informatikern sei ledig-lich, funktionsfähige Systeme zu entwickeln; wie diese dann spätereingesetzt werden,entziehe sich ihrer Verantwortung.Für eine sol-che Auffassung steht u.a.Wedekind [2].Die andere Auffassung be-sagt,daß „der Informatiker für alle Folgen, die sein Tun unmittelbaroder mittelbar auslöst, verantwortlich (ist).D.h.grundsätzlich auchdafür,was andere mit den von ihm entwickelten Produkten odervon ihm erdachten Konzepten tun oder tun können“[3].

Beide Positionen sind für den Kontext einer Diskus-sion um Verantwortungsethik unzureichend.Sie gehen davon aus,Verantwortung ließe sich a priori allgemein- und endgültig einemVerantwortungssubjekt – dem Entwickler oder dem Nutzer einesInformatiksystems – zuweisen,und dieses trüge dann die Gesamt-last.Richtiger erscheint ein Konzept,das von Mitverantwortungausgeht und die jeweils zuzumessende Verantwortung am konkre-ten System festmacht.Entwickeln Informatiker z.B.ein System,das die Bewegungen von Personen in einem Gebäude via Chip-karte und Lesegerät aufzeichnen soll,wissen sie von vornherein,wozu dieses System eingesetzt wird; sie tragen die Verantwortungdafür.Benutzt hingegen ein Anwender ein Tabellenkalkulations-programm um ein Personalinformationssystem zu realisieren,wird die Angelegenheit schon schwieriger.Zwar hat der Entwick-ler ein solches Programm nicht primär für diesen Zweck produ-ziert; er muß aber wegen dessen breiten Verwendungsmöglichkei-ten voraussehen,daß es auch dazu benutzt werden kann. In jedemFall kann man hier von Mitverantwortung sprechen.

Um das notwendige Vertrauen der Öffentlichkeit zu si-chern,haben viele Berufsverbände eine Berufsethik entwickelt.Die kanadische Informatiker-Organisation formuliert im Vorwortihres Ethikkodex das Anliegen der Berufsethik so:„Das Gebiet derDatenverarbeitung hat eine große Auswirkung auf die Gesell-schaft.Daher hat die Gesellschaft das Recht zu verlangen,daß dieProfessionsangehörigen in einer Weise handeln,die ihre Verant-wortlichkeit gegenüber der Gesellschaft anerkennt und daß Me-chanismen existieren,die die Gesellschaft vor jenen Professions-angehörigen schützen,die diesen Verantwortlichkeiten nicht ge-recht werden oder nicht gerecht werden können.Die in diesemDokument enthaltenen Normen und unsere Übereinkunft,uns andiese Normen zu halten,sind die Reaktion der kanadischen Infor-matiker-Organisation auf diese berechtigten Forderungen“ [4].

Ähnlich formuliert der neuseeländische Informatiker-Verband NZCS in der „Richtlinie für eine gute Berufsausübung“:„Ein Professionsangehöriger ist sowohl ein Wahrer als auch einVerbreiter von Wissen,das für den Laien zu komplex ist,um ohnedie Ausbildung,die Übung und die Erfahrung eines Fachmannsverstanden werden zu können.Da der Laie und der Kunde auf dieAktivitäten des DV-Fachmanns angewiesen sind,muß ihnen dieNZCS ein gewisses Maß an Schutz bereitstellen“ [5].

In etlichen Professionen hat die Beschäftigung mit derberufsständischen Ethik eine längere Tradition,beispielsweise beiÄrzten,Rechtsanwälten,Psychologen, Journalisten oder Ingenieu-ren. In der Informatik ist diese Diskussion noch relativ neu.Ge-legentlich ist auch die Auffassung zu vernehmen, für eine Kodifi-

zierung berufsethischer Positionen sei es noch zu früh.Dem istentgegenzuhalten,daß zur Herausbildung von Professionalitätauch die eingangs erwähnten Fragen nach der Verantwortung deseigenen Handelns gehören.Und die sind auch in der Informatiknicht mehr so neu: 1974 legte Daniel McCracken seinen Bericht zu„Risks to the Public“ vor; 1976 erschien Joseph WeizenbaumsBuch „Computer Power and Human Reason“; seit zehn Jahren re-digiert Peter Neumann das „ACM Forum on Risks to the Public inthe Use of Computer Systems“ [6] und 1985 verabschiedete sichDavid Parnas mit seinen berühmt gewordenen Aufsätzen „Soft-ware Aspects of Strategic Defense Systems“ aus dem SDI-Berater-komitee des amerikanischen Präsidenten.Die GI durchlebte1983/84 mit der Auseinandersetzung um militärische Frühwarnsy-steme ihre erste größere öffentliche Verantwortungsdebatte.

Doch nicht nur die Betrachtung der Auswirkungenvon Informatiksystemen macht die Diskussion um professionelleVerantwortung notwendig,es sind die Eigenschaften der Systemeselbst, ihre Komplexität und Universalität, ihre Allgegenwart in al-len Lebensbereichen,die uns zur Positionsbestimmung bezüglichunserer Verantwortung herausfordern.Anders als Ärzte,Biologen,Chemiker oder Physiker stehen Informatiker nicht in der öffentli-chen Kritik,obgleich von ihrem Handeln möglicherweise mehrMenschen betroffen sind als von dem anderer Berufsstände.Nochkönnen wir relativ unbelastet von öffentlichen Fragen und Dis-kussionen,wie weit die Entwicklung von Informatiksystemen ei-ne Risikotechnologie ist, in welchem Maße die von uns entwickel-ten Systeme zur ökologischen Belastung werden und inwieweit siezukünftig den Zugang zu Informationen kanalisieren,Positionenzu unserer gesellschaftlichen Verantwortung beziehen.Die ten-denzielle Undurchschaubarkeit unseres beruflichen Tuns für diebreite Öffentlichkeit schützt uns noch vor solchen Auseinander-setzungen ebenso die noch überwiegende öffentliche Auffassungvon dessen Segensreichtum.Dies hat die GI gleichzeitig aber auchals eine Chance begriffen, solchen Diskussionen mit einem eige-nen Standpunkt zu Fragen der Verantwortung zuvorzukommenund mit „Ethischen Leitlinien“ an die Öffentlichkeit zu treten.

a00000022221113.Zur Geschichte des Arbeits-

kreises und der Leitlinien

Die Auseinandersetzung um Fragen der Verantwortung in der In-formatik hat innerhalb der GI bereits eine bescheidene Tradition.Schon im Mai 1983,bei der Neukonstituierung der GI in Fachbe-reiche und Fachausschüsse,und vor der Gründung des „ForumsInformatiker für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung“(FIFF) im Juni 1984 wurde das Thema Verantwortung bzw.Gren-zen eines verantwortbaren Einsatzes von Informationstechnik aufdie Agenda des Fachbereichs 8 „Informatik und Gesellschaft“ ge-setzt. Im September 1984 wurde unter dem Titel „Grenzen der In-formationstechnik“ hierzu ein erstes Arbeitspapier vorgelegt.Esdauerte dann noch bis zum Juni 1986,bis ein erster Arbeitskreisim Fachbereich 8 mit dem Titel „Grenzen eines verantwortbarenEinsatzes von Informationstechnik“ gegründet wurde.Dieser Ar-beitskreis legte nach zweijähriger Arbeit ein Positionspapier un-ter dem Titel „Informatik und Verantwortung“ [7] vor und stell-te es anläßlich der 18. GI-Jahrestagung in Hamburg zur Diskus-sion. Zentrales Anliegen dieses Papiers war es,„zu einer Ent-

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wicklung von Informationstechnik an(zu)regen, die eine gesell-schaftliche Nutzung der Technik nach diskutierbaren Kriterienzuläßt.“ Weder Lösungen noch Rezepte wurden dazu angebo-ten; vielmehr wollten die Autoren mit Verweisen auf Verantwor-tungsdilemmata, in denen sich vor allem Software-Entwicklerbefinden,„den gesellschaftlichen Diskurs um Kriterien und Zie-le, um Verantwortung und Gestaltung unterstützen.“ Es war dieerklärte Absicht des damaligen Arbeitskreises, keinen Ethikko-dex für die GI zu erarbeiten; vielmehr wollte er die Auseinan-dersetzung um ethische Fragestellungen in der Informatik mit-tels eines ständigen Diskurses wachhalten.

Es war ein besonderes Kennzeichen dieses Arbeits-kreises wie des nachfolgenden, der „Ethische Leitlinien“ erarbei-tet hat, daß er seine Ergebnisse mit Praktikern einer großen In-formatikabteilung eines Chemieunternehmens diskutiert undevaluiert hat, bevor er damit an die Öffentlichkeit getreten ist.Diese Quasi-Vorversuche haben sicherlich zur Akzeptanz derErgebnisse beigetragen. Das Papier des ersten Arbeitskreises istvielfach nachgedruckt worden; es fand eine allgemein hohe Ak-zeptanz. Entsprechend den Statuten der GI löste sich der ersteArbeitskreis nach der Präsentation seines Positionspapiers auf.

1992 legten die beiden großen Schwestergesellschaf-ten der GI, die Association for Computing Machinery (ACM) inden USA und die British Computer Society (BCS) in Großbritan-nien die jeweils zweite, revidierte Version ihrer Ethikkodizes vor.Der damalige GI-Präsident Roland Vollmar forderte 1992 denArbeitskreis auf, einen ethischen Kodex zu erarbeiten. Im Sep-tember 1992 traf sich der Arbeitskreis anläßlich der Tagung desFachbereichs 8 in Freiburg erstmalig wieder, diesmal in verän-derter Zusammensetzung. Nach einem halben Jahr und einemPretest in der Praxis (s.o.) legte der Arbeitskreis „Ethische Leitli-nien“ in der Fassung vor, die hier zur Diskussion steht. Der Fach-bereich „Informatik und Gesellschaft“ der GI verabschiedete dieLeitlinien im Juni 1993, im August desselben Jahres wurden sieim Informatik-Spektrum publiziert [1]. Im Januar 1994 verab-schiedete auch das Präsidium der GI diese Leitlinien und ent-schied gleichzeitig, die Leitlinien unter den Mitgliedern zur Ab-stimmung zu stellen. Dies ist im Dezember 1994 zusammen mitder Satzungsänderung und dem o.a. Ergebnis geschehen.

a00000022221114. Zum Aufbau und zu den

Artikeln der Leitlinien

Um den eigenen Vorschlag zu erarbeiten, hat sich der Arbeits-kreis „Informatik und Verantwortung“ mit den Kodizes ande-rer, ausländischer Informatiker-Organisationen befaßt. Dabeizeigte sich, daß die bestehenden Kodizes die professionelle Ver-antwortung der Informatiker nur unzureichend reflektierenund deshalb für eine direkte Übernahme ungeeignet sind.

Ihr wesentlicher Mangel liegt darin, daß die in ihnenenthaltenen Anforderungen ausschließlich an das einzelne Mit-glied des Berufsverbandes gerichtet sind. Ob der einzelne Infor-matiker, der in aller Regel seinen Beruf innerhalb einer hierar-chisch gegliederten, arbeitsteiligen Organisation ausübt, über-haupt die Möglichkeit hat, den formulierten berufsethischenNormen Folge leisten zu können, wird nicht reflektiert. Mit demAnspruch, direkte Handlungsanweisungen für die informati-

sche Berufspraxis geben zu wollen, scheitern die vorhandenenEthikkodizes darüber hinaus an der Vielfältigkeit und Verschie-denartigkeit der informatischen Berufstätigkeiten.Außerdementhalten die bestehenden Kodizes Festlegungen zu Rollen-pflichten gegenüber Arbeitgebern bzw. Kunden, die mit profes-sioneller Verantwortung nichts zu tun haben.

Der Arbeitskreis „Informatik und Verantwortung“berücksichtigte diese Kritik bei der Formulierung der „Ethi-schen Leitlinien“. Um die Defizite zu überwinden, wurden dieLeitlinien anders angelegt als die bisherigen Kodifizierungender informatischen Berufsethik.

In den Leitlinien der GI wird eine positionsabhängi-ge Differenzierung der Verantwortungssubjekte vorgenommen:Die Normen des I.Abschnitts wenden sich an alle GI-Mitglie-der, während die Normen des II.Abschnitts speziell an die GI-Mitglieder in Führungspositionen gerichtet sind. Dem liegt derGedanke zugrunde, daß Mitglieder in Leitungsfunktionen„mehr Verantwortung haben“ und deshalb stärker in die Pflichtzu nehmen sind als Mitglieder, die sich nicht in solchen Positio-nen befinden.

Die Leitlinien verzichten darauf, unmittelbareHandlungsanforderungen an die Mitglieder zu formulieren.Statt dessen zielen sie darauf ab, die Voraussetzungen für beruf-liches Handeln zu verbessern.„Der offene Charakter“ des GI-Dokuments, so heißt es in der Präambel,„wird durch den Be-griff Leitlinien unterstrichen“ [1]. Mit dieser Bezeichnung solldem Eindruck begegnet werden, eine endgültige Festlegung derinformatischen Berufsethik zu beabsichtigen. Bestimmungenzu den Rollenpflichten gegenüber Arbeitgebern bzw. Kundensind nach Auffassung des Arbeitskreises Gegenstand des Ar-beits- bzw.Vertragsrechts und sind deshalb in den Leitliniennicht enthalten.

4.1. I. Abschnitt der Leitlinien

Die Normen des I.Abschnitts, die sich an alle Mitglieder der GIwenden, benennen die Kompetenzen, über die ein Informatikerverfügen muß, um entsprechend seiner professionellen Verant-wortung handeln zu können.Berufsethische Normen, die detaillierte Handlungsanweisun-gen enthalten, könnten die Heterogenität der informatischenBerufstätigkeiten nicht einfangen. Hinzu kommt, daß solcheEthikkodizes aufgrund des technischen Fortschritts rasch veral-ten. Die Betonung der Kompetenzen ermöglicht eine Beschrän-kung auf wenige Normen, die aber so prinzipiell gefaßt sind,daß sie (tendenziell) für jeden Informatiker Bedeutung habenund die darüber hinaus zumindest mittelfristig Bestand haben.

Art. 1 FachkompetenzVom Mitglied wird erwartet, daß es seine Fachkompetenz nachdem Stand von Wissenschaft und Technik ständig verbessert.• Ein wesentlicher Aspekt der professionellen Verantwortung

von Informatikern liegt darin, bei der Entwicklung von Sy-stemen das Repertoire informatischer Prinzipien und Me-thoden einzuhalten, deren Umsetzung eine gewissenhafteund sorgfältige Berufstätigkeit auszeichnet.„Viele Fehlerund Störungen – die oft auch als Beispiele in der Ethikdis-kussion herhalten müssen – ließen sich vermeiden, wenndieses Repertoire konsequent ... befolgt werden würde“ [8].Mit der Vorgabe, die eigene Fachkompetenz nach dem Stand

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von Wissenschaft und Technik ständig zu verbessern, legen dieLeitlinien den GI-Mitgliedern die Verpflichtung auf,den Er-kenntnisfortschritt in der Informatik kontinuierlich zu verfol-gen,damit ihr Fachwissen nicht hinter dem zurückbleibt,wasfür eine ordnungsgemäße Berufsausübung erforderlich ist.

Art. 2 SachkompetenzVom Mitglied wird erwartet, daß es sich über die Fachkompetenzhinaus in die seinen Aufgabenbereich betreffenden Anwendun-gen von Informatiksystemen soweit einarbeitet, daß es die Zu-sammenhänge versteht. Dazu bedarf es der Bereitschaft, die An-liegen und Interessen der verschiedenen Betroffenen zu verste-hen und zu berücksichtigen.• Die Entwicklung von Informatiksystemen führt oft zu tief-

greifenden Veränderungen des Anwendungsbereichs. DieQualifikation, diese Veränderungen einschätzen und beur-teilen zu können, ist jedoch oft nicht vorhanden. MangelndeSachkompetenz ist eine Hauptursache fehlgeschlagener Ent-wicklungsprojekte. Ein tieferes Verständnis der größerenZusammenhänge ist eine „seltene Eigenschaft“ und Infor-matiker „haben oft nicht genügend Anwendungswissen, umdie Wünsche des Benutzers interpretieren zu können“ [9].Daher fordern die Leitlinien, daß sich die GI-Mitglieder indie Aufgabenstellungen des Anwendungsbereichs soweiteinarbeiten, wie es für das Verständnis der Zusammenhängenotwendig ist.

Art. 3 Juristische KompetenzVom Mitglied wird erwartet, daß es die einschlägigen rechtlichenRegelungen kennt, einhält und an ihrer Fortschreibung mitwirkt.• Für die Entwicklung von Systemen gelten eine Reihe von ju-

ristischen Bestimmungen wie etwa die Datenschutzgesetze.Hieraus ergeben sich Anforderungen an die Gestaltung vonSystemen, die bei der Verarbeitung von personenbezogenenDaten verbindlich sind. Um entsprechend ihrer professio-nellen Verantwortung handeln zu können, müssen Informa-tiker die rechtlichen Vorgaben kennen.An der Weiterent-wicklung rechtlicher Vorschriften sollen sie insofern mitwir-ken, daß sie sich als Sachverständige zur Verfügung stellen.

Art. 4 Kommunikative Kompetenz und UrteilsfähigkeitVom Mitglied wird erwartet, daß es seine Gesprächs- und Ur-teilsfähigkeit entwickelt, um als Informatikerin oder Informati-ker an Gestaltungsprozessen und interdisziplinären Diskussio-nen im Sinne kollektiver Ethik mitwirken zu können.• Bei der Systementwicklung ist die Kooperation der Beteilig-

ten entscheidend. Folglich haben kommunikative Fähigkei-ten einen hohen Stellenwert für die informatische Berufs-tätigkeit. Sie sind erforderlich, um sich mit Anwendern bzw.Benutzern über die Anforderungen an das zu entwickelndeSystem verständigen zu können; dies gilt auch für die Ab-stimmungsprozesse innerhalb von Entwicklungsprojekten.

4.2. II. Abschnitt der Leitlinien

Von Informatikern entwickelte Systeme sind Ergebnis arbeits-teiligen Handelns; eine Zuordnung individueller Urheberschaftund damit individueller Verantwortung ist selten möglich. Diephilosophische Verantwortungsethik spricht in diesem Zusam-menhang davon, daß Handeln in institutionellen Zusammen-

hängen einem Verwässerungseffekt der Verantwortlichkeit un-terliegt.Wie kann dieses Problem bei der Formulierung einerinformatischen Berufsethik bewältigt werden?

Die Normen des II.Abschnitts fordern, die bestehen-den institutionellen Voraussetzungen daraufhin zu reflektieren,inwieweit sie verantwortungsbehindernd sind und wie sie ggf.verändert werden können. Denn die Berücksichtigung von Ver-antwortlichkeitskriterien bedeutet vor allem deren Veranke-rung in den Alltagsroutinen, den Planungsverfahren und denOrganisationsstrukturen. Die im II.Abschnitt enthaltenen Nor-men richten sich an die GI-Mitglieder, die leitende Stellungeneinnehmen. Zwar sind auch sie in die bestehenden institutionel-len Zusammenhänge eingebunden, haben aber aufgrund ihrerFührungspositionen eher die Möglichkeit, vorhandene Verhal-tensdispositionen zu verändern.

Art. 5 ArbeitsbedingungenVom Mitglied in einer Führungsposition wird zusätzlich erwar-tet, daß es für Arbeitsbedingungen Sorge trägt, die es Informati-kerinnen und Informatikern erlauben, ihre Aufgaben am Standder Technik kritisch zu überprüfen.• GI-Mitglieder in leitenden Stellungen sollen für Arbeitsbe-

dingungen sorgen, die es Informatikern gestatten, ihre pro-fessionellen Kompetenzen bei der Ausübung ihres Berufseinsetzen zu können. Diese Norm ergänzt somit die in denArtikeln 1 bis 4 festgelegten Vorgaben zu den qualifikatori-schen Voraussetzungen verantwortungsgemäßen berufli-chen Handelns.

Art. 6 BeteiligungVom Mitglied in einer Führungsposition wird zusätzlich erwar-tet, daß es dazu beiträgt, die von der Einführung von Informatik-systemen Betroffenen an der Gestaltung der Systeme und ihrerNutzungsbedingungen angemessen zu beteiligen. Von ihm wirdinsbesondere erwartet, daß es keine Kontrolltechniken ohne Be-teiligung der Betroffenen zuläßt.• Artikel 6 greift die Ansätze zur Benutzerbeteiligung auf und

fordert, daß Betroffene an der Systemgestaltung angemessenbeteiligt werden sollen. Mit Betroffenen sind Benutzer undexterne Personen, wie Kunden, Bürger usw. gemeint. Diemeisten Informatiksysteme inkorporieren Möglichkeitenzur Kontrolle von Benutzern oder anderen Betroffenen. Diezweite Forderung dieses Artikels hebt darauf ab, solcheMöglichkeiten nicht zu verheimlichen, sondern die gesetz-lich vorgesehenen Mitbestimmungsmöglichkeiten für diebetriebliche Interessenvertretung in Gang zu setzen.

Art. 7 OrganisationsstrukturenVom Mitglied in einer Führungsposition wird zusätzlich erwar-tet, aktiv für Organisationsstrukturen und kommunikative Ver-fahren einzutreten, die die Wahrnehmung von Verantwortung imSinne kollektiver Ethik ermöglichen.• Berufsethische Konflikte treten immer dann auf, wenn pro-

fessionelle Verantwortung und Gewinnstreben in Wider-spruch zueinander stehen.Artikel 7 fordert, daß zur Lösungsolcher Konflikte Verfahren eingerichtet werden, die eine si-tuationsbezogene Beschränkung des Gewinnziels in ethischproblematischen Fällen beinhalten. Die angestrebte Dome-stizierung ökonomischer Rationalität wird, so der zugrun-deliegende Gedanke, durch die dialogische Anlage der Ver-

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fahren ermöglicht.Wenn Konflikte zwischen professionellerVerantwortung und Gewinnstreben kommunikativ undnicht auf der Grundlage „zufälliger, individueller Wertent-scheidungen einzelner Manager“ bewältigt werden, entstehtein Zwang, die jeweils getroffene Entscheidung als „vernünf-tig, d.h. mit guten Gründen verteidigbar“ [10] auszuweisen.

Die große Bedeutung institutioneller Bedingungen für eine in-formatische Berufsethik macht die individuelle Verantwortungvon Informatikern keineswegs überflüssig. Dies wäre nur derFall, wenn ihr Handeln vollständig durch die institutionellen Be-dingungen vorprogrammiert wäre.„Ein ideal organisiertes Sy-stem wäre ... nicht mehr abhängig von der Anzahl seiner „gutenMenschen“, und es wäre gleichgültig, ob der Einzelne ein Heldoder ein Schurke ist“ [11]. Da aber das Ideal der „ethisch sensiblenOrganisation“ [10] nur näherungsweise erreichbar ist, bleibt essystematisch möglich, daß Informatikern Handlungsweisen ab-verlangt werden, die im Gegensatz zu ihrer professionellen Ver-antwortung stehen. In solchen Situationen ist individueller Mutgefordert, um gegen unethische Zumutungen anzugehen.

Art. 9 ZivilcourageDie GI ermutigt ihre Mitglieder in Situationen, in denen derenPflichten gegenüber ihrem Arbeitgeber oder einem Kunden imKonflikt zur Verantwortung gegenüber Betroffenen stehen, mitZivilcourage zu handeln.• Es ist wichtig, daß den Mitgliedern der GI in derartigen Si-

tuationen Unterstützung zuteil wird. Denn „eine solche Zi-vilcourage (kann) den Einzelnen sehr schnell überfordern,wenn nicht ein entsprechendes ... ,Außengeländer‘ zur Ver-fügung steht.“ Daher erklärt sich die GI in der Präambel derLeitlinien bereit,„Mitglieder, die sich mit verantwortungs-vollem Verhalten exponiert haben, zu unterstützen“ [1].

Mit den Normen des II.Abschnitts und deren Ergänzung durchdie Ermutigung zur Zivilcourage (IV.Abschnitt) wird das Ver-hältnis von Regel und Ausnahme in den Leitlinien bestimmt:Diese gehen davon aus, daß es zunächst darauf ankommt, ver-antwortungsgemäßes Handeln innerhalb der organisatorischenZusammenhänge, in denen die Berufsausübung stattfindet, zuermöglichen; die Wahrnehmung von Verantwortung gegen In-stitutionen wird hingegen als „ethischer Grenzfall“ angesehen.

4.3. III. Abschnitt der Leitlinien

Art. 8Vom Mitglied, das Informatik lehrt, wird zusätzlich erwartet,daß es die Lernenden auf deren Verantwortung sowohl im indi-viduellen als auch im kollektiven Sinne vorbereitet und selbsthierbei Vorbild ist.• Die Lehrenden der Informatik sollen den Studierenden pro-

fessionelle Fähigkeiten vermitteln, die sie in ihrem späterenBeruf für verantwortungsgemäßes Handeln benötigen.Hierzu gehört die Vermittlung informatischer Fachkompe-tenz, aber auch von Kenntnissen über Wirkungen von Infor-matiksystemen, von Wissen über die rechtlichen Rahmenbe-dingungen des Informatikerberufs und von Gesprächs- undUrteilsfähigkeit, die für die Bewältigung berufsethischerKonflikte notwendig ist.Vom Lehrenden wird erwartet,durch die eigene Praxis ein positives Beispiel zu geben.

4.4. IV. Abschnitt der Leitlinien

Der letzte Abschnitt der Leitlinien umfaßt die Verpflichtungen, diesich die GI mit der Kodifizierung der Berufsethik selbst auferlegt:

Art. 10 MediationDie GI übernimmt Vermittlungsfunktionen, wenn Beteiligte inKonfliktsituationen diesen Wunsch an sie herantragen.• Haben Mitglieder der GI Zivilcourage bewiesen, und sind sie

deshalb in einen beruflichen oder gar existentiellen Konfliktgeraten, bietet die GI an,Vermittlungsfunktionen zu über-nehmen. Sie tut dies jedoch nur auf Initiative der Betroffen-en. Ziel der Mediation ist es, Problemlösungen zu finden, diemöglichst von allen Beteiligten akzeptiert werden können.

Art. 11 Interdisziplinäre DiskurseDie GI ermöglicht interdisziplinäre Diskurse zu ethischen Pro-blemen der Informatik; die Auswahl der Themen wird selbst insolchen Diskursen getroffen. Vorschläge hierzu können einzelneMitglieder und Gliederungen der GI machen. Die Ergebnisse derDiskurse werden veröffentlicht.• Diskurse sind Verfahren gemeinschaftlicher Reflexion zu

Problemen, die nicht von Einzelnen oder von einzelnenFachdisziplinen überschaut oder gelöst werden können. DieGI übernimmt die Pflicht, sich aktiv mit ethischen Proble-men der informatischen Berufstätigkeit zu befassen, stattdarauf zu warten, daß sie durch öffentlichen Druck zu Stel-lungnahmen gezwungen wird. Solche Diskurse könnten zurZeit zu den Themen Infobahn, Nutzung des Internets oderInformationszugang aufgegriffen werden.

Art. 12 FallsammlungDie GI legt eine allgemein zugängliche Fallsammlung über ethi-sche Konflikte an, kommentiert und aktualisiert sie regelmäßig.• Nach dem Vorbild der ACM [6] soll die öffentlich zugängli-

che Fallsammlung Diskussionen unter den Mitgliedern derGI anregen, wie neuen, komplexen Situationen begegnetwerden kann, in denen nicht offensichtlich ist, wie die mora-lischen Vorstellungen anzuwenden sind oder in denen Wert-konflikte auftreten. Indem man Informatiker dazu auffor-dert, über häufig auftretende Konfliktfälle ihrer beruflichenTätigkeit nachzudenken, sollen sie in die Lage versetzt wer-den, überlegt (sozusagen vorab durchdacht) zu entscheiden,wenn sie selbst in derartige Situationen geraten.Des weiteren ist eine solche Fallsammlung ein ausgezeichne-tes Mittel, eine Berufsethik lehrbar zu machen, d.h. sie in derAusbildung von Studierenden der Informatik einzusetzen,um damit die abstrakten Formulierungen von Prinzipien gu-ten Verhaltens besser zu vermitteln. Der Arbeitskreis „Infor-matik und Verantwortung“ hofft, daß entsprechend der stän-digen Rubrik von Peter Neumann in den Communications ofthe ACM [6] eine solche Sammlung auch innerhalb derdeutschsprachigen Informatik zustande kommt.Allerdingssind bislang nicht genügend Meldungen beim Arbeitskreiseingegangen. Über die Gründe kann nur spekuliert werden,unterstellt man nicht Furcht der Betroffenen vor Repressalien.

Art. 13 PräsidiumDie ethischen Leitlinien unterstützen das Präsidium nach § 8 derSatzung der GI in seinen Aufgaben und Entscheidungen.

• In § 8 der Satzung sind die Aufgaben und Befugnisse desPräsidiums der GI festgelegt. Das Präsidium hat sich dieSelbstverpflichtung auferlegt, sich in seinen Entscheidungenan den ethischen Leitlinien auszurichten.

Art. 14 FortschreibungDie ethischen Leitlinien werden regelmäßig überarbeitet.• Die Leitlinien werden in regelmäßigen Zeitabständen darauf-

hin überprüft, ob die getroffenen Festlegungen noch aktuellsind, bzw. ob sie ergänzt oder korrigiert werden müssen.

a000000015. Wie stellt sich die Bindungskraft der

Leitlinien her?

Die bisherigen Vorstellungen von Informatiker-Organisationenliefen darauf hinaus, ihre beruflichen Ethikkodizes mit derAndrohung von Sanktionen durchzusetzen. Tatsächlich ist aberin der Literatur über informatische Berufsethik bislang keinFall dokumentiert, bei dem gegen ein Mitglied des Berufsver-bandes Disziplinarmaßnahmen verhängt wurden. Dies hatprinzipielle Gründe: Die vorgesehenen Sanktionen konntendeshalb nicht zum Tragen kommen, weil die informatischen Be-rufsverbände die Unterschiede zwischen rechtlichen und ethi-schen Normen übersehen haben und insofern an berufsethischeNormen Ansprüche gestellt haben, die tatsächlich nur von be-rufsrechtlichen Normen erfüllt werden können.

Um Verstöße gegen Normen mit Sanktionen ahndenzu können, muß den Normadressaten eine klare Entscheidungs-alternative zwischen erlaubtem und nicht erlaubtem Handelnvorgegeben sein. Eine präzise Unterscheidung vorzunehmen, istjedoch allein rechtlichen Festlegungen vorbehalten. Dies habenverschiedene informatische Berufsorganisationen, wie etwa dieACM, in den letzten Jahren erkannt. Die berufsethischen Normenwerden heute eher als eine ideale Leitorientierung aufgefaßt.

So wird z.B. in dem Kodex des australischen Berufs-verbandes ausdrücklich betont, daß die in ihm enthaltenen Nor-men „keine definitive Trennlinie zwischen akzeptablem undnicht akzeptablem Berufsgebaren“ definieren.„Wenn ein Mit-glied sich an diese Verhaltensregeln hält oder nicht hält, handeltes nicht allein dadurch ethisch oder unethisch. Die ACS (die au-stralische Informatiker-Organisation, die Verf.) akzeptiert, daßdie formulierten Ideale Standards sind, die nicht immer und un-ter allen Umständen erreichbar sein mögen“ [12]. Die „wichtigsteAufgabe“ eines Ethikkodex wird nun darin gesehen,„eine Hilfebei individuellen ethischen Entscheidungen zu sein.“ Hiermitwird auch die Vorstellung hinfällig, berufsethische Normendurch die Androhung von Sanktionen durchzusetzen.

Nach Auffassung des Arbeitskreises „Informatik undVerantwortung“ ist dieser „neue Weg“ richtig. Denn eine infor-matische Berufsethik kann nicht ohne den Glauben auskommen,daß Informatiker aus Gewissensgründen ihrer professionellenVerantwortung gerecht werden wollen. Insofern können auch dieLeitlinien ihre Adressaten nur als Vernunftwesen ansprechen unddarauf vertrauen, daß die Informatiker die in den Leitlinien ent-haltenen Normen als richtig bzw. als begründet ansehen. Die Mo-tivation hierfür kann die informatische Berufsethik indes nichterzeugen. Eine Berufsethik kann, wie die Verfasser des Genfer

Ärztegelöbnisses klug angemerkt haben, das Gewissen „instru-ieren und anregen, aber kein Gewissen schaffen“ [13].

Hiermit werden auch die Grenzen der Leitliniendeutlich: Die Vorgaben einer Berufsethik können keine objektiveoder einklagbare Gültigkeit erlangen; sie werden befolgt, weil ih-re Anforderungen aus Gewissensgründen als eigene übernom-men werden, denen man freiwillig und aus Überzeugung Folgeleistet. Insofern können die Leitlinien nur eine Ergänzung, kei-nesfalls aber eine Alternative zu den rechtlichen Regelungensein, die für die Ausübung des Informatikerberufs relevant sind.

a000000016. Das Verhältnis der Leitlinien zu den

berufsrechtlichen Normen

Um die Produkte und Prozesse informatischer Arbeit gesell-schaftlich zu kontrollieren, können berufsethische und berufs-rechtliche Normen miteinander kombiniert werden, so daß einegegenseitige Unterstützung möglich ist. Ein Vorbild hierfür sinddie Ärzte, deren Berufsausübung durch das Zusammenspiel vonBerufsrecht und -ethik reguliert wird.

Die „Ethischen Leitlinien“ können die bestehendenberufsrechtlichen Normen für Informatiker bekräftigen, ergän-zen und ausfüllen. Umgekehrt können mit Hilfe des Rechts dieBedingungen geschaffen bzw. verbessert werden, berufsethi-sche Vorgaben umsetzen zu können.• Recht-bekräftigende Funktion der Leitlinien

Artikel 3 verpflichtet Informatiker, die bestehenden berufs-rechtlichen Normen zu beachten. Die Leitlinien betonen da-mit, daß von den Mitgliedern der GI die volle Einhaltung derberufsrechtlichen Anforderungen erwartet wird. Handlun-gen, die darauf abzielen, bestehende rechtliche Vorgaben zuumgehen und nach Schlupflöchern zu suchen, werden alsmit der Berufsethik nicht vereinbar indiziert.Die von Informatikern geforderte Rechtstreue ist vor allemim Hinblick auf die gesetzlichen Datenschutzbestimmungenrelevant. Denn mit der Bekräftigung der Geltung berufs-rechtlicher Normen wird klargestellt, daß diese ein unver-zichtbarer Aspekt der Entwicklung von Informatiksystemensind.

• Recht-ergänzende Funktion der LeitlinienBerufsethische Normen können das Berufsrecht in solchenBereichen ergänzen, die sich entweder rechtlicher Normie-rung entziehen, oder in denen Rechtsvorschriften nichtsinnvoll eingesetzt werden können.Ein Beispiel dafür, daß erwünschte Verhaltensweisen nichtimmer mit rechtlichen Mitteln erzwingbar sind, ist die in Ar-tikel 9 der Leitlinien formulierte Erwartung an die Mitglie-der, in berufsethischen Konflikten mit Zivilcourage zu han-deln. Zivilcourage in einer Rechtsnorm einzufordern, würdezu der Konsequenz führen, daß fehlender Mut in Konfliktsi-tuationen als rechtswidrig anzusehen ist. Eine solche Beur-teilung individuellen Verhaltens steht gerichtlichen Instan-zen prinzipiell nicht zu. Die damit verbundene „Disziplinie-rung ethischen Verhaltens“ wäre, wie Capurro zu recht be-merkt,„selbst unmoralisch“ [14].Aus diesem Grund kanndie Aufforderung zur Zivilcourage nur Gegenstand einer be-rufsethischen, nicht aber einer berufsrechtlichen Norm sein.

84 K.-H. Rödiger, R.Wilhelm: Zu den Ethischen Leitlinien der Gesellschaft für Informatik

• Recht-ausfüllende Funktion der LeitlinienDiese Funktion könnte dann zum Tragen kommen, wennAussagen der Leitlinien in gerichtlichen Auseinandersetzun-gen als Auslegungsmaßstab herangezogen werden, um zuentscheiden, ob bei der Entwicklung von Informatiksyste-men die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ (§ 276 Abs. 1BGB) beachtet wurde. So könnte etwa die Tatsache, daß diespäteren Benutzer entgegen Artikel 6 nicht an der Entwick-lung des Systems beteiligt wurden, als Hinweis gewertet wer-den, daß der Vorwurf mangelnder Benutzungsangemessen-heit zutrifft.Wenn die Leitlinien zur Interpretation des gesetzlichenSorgfaltsgebots herangezogen werden, würde sich hierdurchihre Verbindlichkeit erhöhen. Denn die Adressaten der in-formatischen Berufsethik müßten damit rechnen, daß ihnenmangelnde Beachtung der Leitlinien vor Gericht negativausgelegt wird, bzw. sie könnten darauf setzen, daß sich ihreBefolgung vorteilhaft auswirkt. Ob allerdings die Aussagender Leitlinien von der Rechtsprechung in dieser Weise rezi-piert werden, bleibt abzuwarten.

• Leitlinien-unterstützende Funktion des RechtsDurch berufsrechtliche Normen können sowohl auf indivi-dueller wie auf institutioneller Ebene die Bedingungendafür verbessert werden, daß die Adressaten der Leitlinienderen Anforderungen Folge leisten können.Informatiker haben in Situationen, in denen ihnen auferleg-te Arbeitsverpflichtungen verantwortungsvollem Handelnwidersprechen, und es ihnen nicht gelingt, eine Zurücknah-me der betreffenden Arbeitsaufgabe zu erreichen, nur eineAlternative, ihrer Verantwortung nachzukommen: Arbeits-verweigerung oder Alarmierung der Öffentlichkeit.Das Bundesarbeitsgericht hat zwar 1989 im Ärzte-Fall 1) dasRecht auf Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründengrundsätzlich anerkannt; einen Kündigungsschutz genießtder Betreffende aber nur dann, wenn der Arbeitgeber ihnanderweitig beschäftigen kann. Noch weniger entschuldigtdas Arbeitsrecht Verstöße gegen Geheimhaltungspflichtenaus Gewissenserwägungen. Hier sind Veränderungen desArbeitsrechts notwendig, durch die Kündigungsmöglichkei-ten in derartigen Fällen deutlich erschwert werden. Entspre-chende rechtliche Bestimmungen könnten die Positionenvon Informatikern in berufsethischen Konflikten festigenund ihre Handlungsmöglichkeiten verbessern.Die im II.Abschnitt formulierten Normen wären nicht durch-setzbar, wenn Organisationen, die Informatiksysteme ent-wickeln, für die Befolgung der Normen dauerhaft auf Teile ih-res Gewinns verzichten müßten, während Mitbewerber, diediese Normen nicht beachten, für ihre Rücksichtslosigkeitökonomisch belohnt würden. Hier ist es Aufgabe des Rechts,für die gesamte Branche gleiche Bedingungen zu schaffen.

Ein Beispiel, wie mit Hilfe des Rechts die Chancen für eineUmsetzung der Leitlinien erhöht werden können, ist dieHaftung für Schäden, die durch fehlerhafte Informatiksyste-me verursacht werden. Ist das Haftungsrisiko hoch, dürftesich branchenübergreifend die Bereitschaft verbessern, fürArbeitsbedingungen von Informatikern zu sorgen, die eineSystementwicklung nach dem Stand der Technik erlauben.Auch bei berufsethischen Konflikten verändern sich die Ent-scheidungsgrundlagen, wenn eine Entwicklungsorganisati-on beim Eintritt eines Schadens mit großer Wahrscheinlich-keit haften muß.

a000000017. Zum Umgang mit den Leitlinien

Weiter oben wurde ausgeführt, daß es die erklärte Absicht desersten Arbeitskreises war, keinen Ethikkodex für die GI zu erar-beiten. Dahinter stand die Befürchtung, daß mit einer Kodifizie-rung und Verabschiedung ethischer Maximen Fragen der Ver-antwortbarkeit informatischen Handelns innerhalb der GI „zuden Akten gelegt“ würden. In der Tat kann man zur Zeit denEindruck gewinnen, die Ethischen Leitlinien und schlimmernoch alle berufsethischen Fragen würden sich zu dem ent-wickeln, was innerhalb der Informatik unter „Schrankware“verstanden wird: gedruckt und im Schrank abgelegt, rührt nie-mand mehr das Thema an. Sollte jemand von außerhalb danachfragen, wie es die Mitglieder der GI mit ihrer Verantwortunghalten, kann man auf den Schrank verweisen.

Schon im Abstimmungsprozeß deutete sich wenigBereitschaft zur Auseinandersetzung an. Es gab nur ca. ein Dut-zend ablehnender und einige zustimmende Stellungnahmen.Die ablehnenden konzentrierten sich meist darauf, die Leitlini-en würden die Mitglieder resp. die Firmen, bei denen sie be-schäftigt sind, überfordern (§§ 1 bis 5), sie würden zum innerbe-trieblichen Unfrieden anstiften (§ 9) oder sie seien banal.

Wenn ein Berufsstand 27 Jahre nach Entdeckung derSoftwarekrise immer noch mit diametralen Positionen koket-tiert, wie ein Fehler auf n Programmzeilen sei unvermeidbar,wobei n variiert, bzw. behauptet,„korrekte Software“ erstellenzu können, so zeugt dies nicht von hoher Professionalität.Wenndann aber beklagt wird, die ersten Artikel überforderten daseinfache Mitglied, kommt dies einer Bankrotterklärung nahe.Des weiteren ist es für die Verfasser unvorstellbar, daß Informa-tiker „auf die Menschheit losgelassen werden“, die das Bundes-datenschutzgesetz oder die einschlägigen Normen für Benut-zungsschnittstellen in interaktiven Systemen nicht kennen.

Der Arbeitskreis läßt keinen Zweifel daran aufkom-men, daß die Ermutigung, Zivilcourage zu beweisen, immer nurden ethischen Grenzfall (wie beispielsweise den o.a. Ärztefall)betrifft. Niemand kann sich auf diesen Artikel berufen, der, weileine Entscheidung gegen ihn gefallen ist, Unfrieden stiften will.

Was den Vorwurf der Banalität angeht, für den als Be-leg das Abstimmungsergebnis zu den Leitlinien herangezogenwird, ist zu sagen, daß die in den ersten vier Artikeln genanntenKompetenzen keineswegs selbstverständlich sind. Oft wird dieBedeutung von Fähigkeiten, die über die informatische Fach-kompetenz hinausgehen, in der praktischen Systementwicklungnicht gesehen. Schaut man sich dazu die Lehrpläne von Informa-

K.-H. Rödiger, R.Wilhelm: Zu den Ethischen Leitlinien der Gesellschaft für Informatik 85

1) Die in einem Pharmakonzern beschäftigten Ärzte sollten bei derEntwicklung eines Präparats mitarbeiten, das dazu dient, Brechreizinfolge radioaktiver Strahlung zu unterdrücken. Zum Konflikt kames, als bekannt wurde, daß das Medikament nicht nur in der Krebst-herapie, sondern auch im militärischen Bereich verwendet werdensollte. Die Ärzte hielten einen solchen Einsatz für nicht akzeptabel,da sie fürchteten, daß damit die psychologische Hemmschwelle füreinen Atomkrieg herabgesetzt würde und verweigerten die Mitarbeitan dem Auftrag. Sie wurden daraufhin entlassen [15].

86 K.-H. Rödiger, R.Wilhelm: Zu den Ethischen Leitlinien der Gesellschaft für Informatik

tik-Studiengängen an, so ist die Vermittlung solcher Fähigkeiteneher die Ausnahme. Gleiches gilt auch für den dritten Artikel: Ob-schon u. E. für einen praktischen oder angewandten Informatikerunverzichtbar, existiert der Datenschutz bisher nur in wenigenLehrplänen.

Gelegentlich wird den Leitlinien vorgeworfen, sienützten nichts, weil sie keine unmittelbaren Handlungsanwei-sungen enthielten. Ethische Leitlinien können aber weder zur un-mittelbaren Handlungsorientierung noch als Schiedsrichter inproblematischen Situationen dienen. Normative Ausführungengeben nur einen allgemeinen Beurteilungsmaßstab ab, der mitden konkreten Bedingungen der jeweiligen Handlungssituatio-nen vermittelt werden muß. Ethische Leitlinien können dahernur der allgemeinen Orientierung dienen. Es bleibt dem Einzel-nen überlassen, in der konkreten Situation aus diesen Schlüsse zuziehen.

Die Mitglieder des Arbeitskreises haben sich inzwi-schen trotz anfänglicher Skepsis die Leitlinien zu eigen gemacht.80% Zustimmung sind nicht nur ein Beleg dafür, daß die weltan-schaulichen Grundpositionen, die immer auch in solchen Nor-men mitschwingen, von der Mehrheit der GI-Mitglieder geteiltwerden können, vielmehr treffen die Leitlinien offensichtlich auchdie berufsethischen Auffassungen einer Mehrheit. Die Mitgliederdes Arbeitskreises werden alles daran setzen, daß sich die Leitlini-en nicht zu der befürchteten „Schrankware“ entwickeln. Der Ar-beitskreis löst sich zwar satzungsgemäß auf, doch nach dem Be-schluß der Leitung des Fachbereichs 8 der GI existiert nun eineFachgruppe „Informatik und Verantwortung“, in der die ehemali-gen Arbeitskreis-Mitglieder mitarbeiten werden.Alle Mitgliederder GI sind aufgerufen, sich aktiv zu beteiligen. Meldungen sindan den Sprecher der Fachgruppe (K.-H. Rödiger) zu richten.

Karl-Heinz Rödiger promovierte 1987nach seinem Studium der Elektrotechnikund Informatik an der TU Berlin überarbeitsorientierte Gestaltung interakti-ver Systeme. Seit 1990 ist er Hochschul-dozent im Studiengang Informatik ander Universität Bremen, außerdem Spre-cher der Fachgruppe „Informatik undVerantwortung“ im Fachbereich 8 derGI. Seine Arbeitsgebiete sind : Gestal-tung interaktiver Systeme, Softwaretech-nik, Software-Ergonomie, Software-Qua-litätssicherung.

Rudolf Wilhelm studiertePsychologie ander FU Berlin.Von 1984 bis 1989 war er amFachbereich Informatik der TU Berlin. Bis1992 arbeitete er am Projekt „RechtlicheBeherrschung der Informationstechnik“der GRVI mit. 1994 promovierte er imFach Informatik. Seit 1995 arbeitet er beider Kolibri Informationssysteme GmbH.Sein Arbeitsgebiet ist die Beratung vonUnternehmen beim Aufbau von Qua-litätsmanagementsystemen und beim Ein-satz von Softwarelösungen für das Qua-litätsmanagement.

a00000001Literatur

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15. Wendeling-Schröder, U.: Autonomie im Arbeitsrecht. Möglichkeitenund Grenzen eigenverantwortlichen Handelns in der abhängigenArbeit, Frankfurt/Main 1994

16. Wilhelm, R.: Stand und Perspektiven informatischer Berufsethik,Dissertation, Technische Universität Berlin, Fachbereich Informatik,Berlin 1994

Eingegangen am 23.02.1994, in überarbeiteter Form am 04.04.1995