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Zu den Vortragslehren Schönbergs und Busonis Schriftliche Ausarbeitung des Referats vom 23. Januar 2012 eingereicht von Florian Pfoh am 7. Februar 2012 Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Institut für Musikwissenschaft PD Dr. Kathrin Eberl-Ruf Master-Seminar Lektüre von Quellen zur Musiktheorie und Musikästhetik. Instrumentale und vokale Vortragslehren im 18. Jahrhundert

Zu den Vortragslehren Schönbergs und Busonis · 2014-04-04 · Hier publiziert er instruktive Ausgaben der Inventionen und Sinfonien BWV 772–801 und vieler weiterer Klavierwerke

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Zu den Vortragslehren Schönbergs und Busonis Schriftliche Ausarbeitung des Referats vom 23. Januar 2012  

eingereicht von Florian Pfoh am 7. Februar 2012

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Institut für Musikwissenschaft PD Dr. Kathrin Eberl-Ruf Master-Seminar Lektüre von Quellen zur Musiktheorie und Musikästhetik. Instrumentale und vokale Vortragslehren im 18. Jahrhundert    

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Zu den Vortragslehren Schönbergs und Busonis

Inhaltsverzeichnis 1. ARNOLD SCHÖNBERG...................................................................................................................... 1 2. ZUR VORTRAGSLEHRE SCHÖNBERGS.............................................................................................. 4 3. FERRUCCIO DANTE MICHELANGELO BENVENUTO BUSONI............................................................ 6 4. ZUR VORTRAGSLEHRE BUSONIS ..................................................................................................... 8 5. BUSONIS AUFFASSUNG AM BEISPIEL .............................................................................................. 8 6. AUSSAGEN BUSONIS ZUM VORTRAG............................................................................................. 12 7. ZUSAMMENFASSUNG: SCHÖNBERGS UND BUSONIS THESEN IM VERGLEICH ............................... 14 8. FAZIT ............................................................................................................................................. 16

1. Arnold Schönberg Arnold Franz Walter Schönberg wird am 13. September 1874 in Wien geboren. Seine Eltern

sind ungarischer Herkunft, der Vater arbeitet als Schuhmacher. Arnold wird noch zwei

jüngere Geschwister bekommen. Mit 9 Jahren erhält er seinen ersten Violinunterricht und

beginnt fast zeitgleich damit, kleinere Kompositionen für 2 Violinen im Stil von Viotti und

Pleyel, später Trios mit Viola selbst zu komponieren. Erste Grundlagen in Musiktheorie

werden ihm durch seinen Jugendfreund Oscar Adler vermittelt.

1890 stirbt der Vater und er beginnt eine Lehre in einer Wiener Privatbank.

Seine erste private Bekanntschaft zu einem professionellen Musiker macht er mit Alexander

von Zemlinsky. Schon während seiner Lehrzeit entstehen Kompositionen für Gesang mit

Klavierbegleitung, einige Klavierkompositionen und Fragmente für Chor und/oder Orchester

Ab 1895 betätigt er sich in Wiener Vorstadtbezirken als Chorleiter mehrerer Chöre.

Seine erste Komposition eines Streichquartetts datiert zunächst auf das Jahr 1897, die

Uraufführung der unter Zemlinskys Mithilfe bewerkstelligten Neufassung findet im Jahre

1898 statt. Im selben Jahr schon verdient er sich auch als Kompositionslehrer dazu. Seine

erste Schülerin wird die später in Wien tätige Komponistin Vilma von Webenau.

1901 veranlasst ein Stellenangebot als Kapellmeister an Ernst von Wolzogens Theater

Überbrettl seinen ersten Umzug nach Berlin, wo wenig später die Hochzeit mit Zemlinskys

Schwester Mathilde stattfindet. Schönberg komponiert in dieser ersten Berliner Zeit parallel

sowohl E- als auch U-Musik (die seriösen Gurre-Lieder und gleichzeitig 8 Chanson-Lieder,

die sogenannten »Brettl-Lieder«, die der Öffentlichkeit erst nach 1970 bekannt werden).

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1902 wird Tochter Gertrud geboren und Schönberg erhält – vermittelt durch den in der

Musikwelt schon etablierten Richard Strauss (Jahrgang 1864) – einen Lehrauftrag für

Propädeutika und Harmonielehre am Stern’schen Konservatorium in Berlin.

Immer wieder seit seiner Berliner Zeit übernimmt Schönberg nun die Aus- und Bearbeitungen

bzw. Transkriptionen fremder Kompositionen.

Ebenfalls durch die Patronage Strauss’ erhält er 1903 ein ADMV Stipendium, welches ihm

erlaubt, nach Wien zurückzukehren. Wieder dort angekommen, begegnet er zum ersten Male

Gustav Mahler, der fortan ein Freund und Förderer Schönbergs sowie der gesamten »Zweiten

Wiener Schule« bleiben wird. Ab dem Jahre 1904 werden Alban Berg und Anton Webern

seine Schüler, auf diesen Zeitpunkt lässt sich der Beginn der Wiener Schule verorten. 1906

kommt Sohn Georg zur Welt. Schönbergs Kompositionsstil hat sich inzwischen so sehr

gewandelt, dass er ab 1907 meist tumultartige Proteste bei den Uraufführungen seiner Werke

hinnehmen muss. Auch beginnt im Jahre 1907 seine Intensive Beschäftigung mit der Malerei,

initiiert durch Richard Gerstl, einen Freund der Familie, welche noch bis ins Jahr 1911

andauern wird. 1911 zieht es ihn aufgrund eines neuen attraktiven Stellenangebots am

Stern’schen Konservatorium wieder nach Berlin, wo er auch bleiben wird, als 1912 ein Ruf

zum ordentlichen Professor für Komposition aus Wien an ihn ergeht. 1915 wird Schönberg

gemustert und zum Militärdienst abberufen. Nach mehrmaliger krankheitsbedingter

Entlassung verrichtet er seinen Dienst für mehrere Monate bei der Regimentsmusik, 1917

folgt die endgültige Entlassung aus dem Militärdienst.

Wieder in Wien angekommen gründet er das »Seminar für Komposition und öffentliche

Proben der Kammersymphonie« sowie den »Verein für musikalische Privataufführungen«

Nach dem frühen Tod seiner ersten Frau Mathilde folgt die zweite Ehe mit Gertrud im Jahre

1924, aus welcher ebenfalls zwei weitere Kinder hervorgehen.

Erstmals formuliert Schönberg nun seine Methode der Komposition mit zwölf nur

aufeinander bezogenen Tönen. In den nun folgenden Jahren bis zur Machtergreifung der

Nationalsozialisten im Jahre 1933 tritt er die Nachfolge Busonis als Professor für

Komposition in Berlin an. Es folgt die Emigration, zunächst nach Paris, dann in die USA.

An der University of Southern California, welche später Sitz des Arnold Schoenberg Institute

werden wird, erhält er nun Lehraufträge, die ihm ein Auskommen in einem Außenbezirk von

Los Angeles ermöglichen. Es entstehen einige Lehrbücher zur Komposition und Schönberg

bewegt sich unter zahlreichen Landsleuten, die ebenso wie er im Exil auf ein Ende des

Krieges warten: Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Alma Mahler-Werfel, Max Horkheimer,

Theodor Wiesengrund (Adorno), Hanns Eisler, Bertolt Brecht.

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Nach dem Krieg bleibt Schönberg in den USA. 1946 erleidet er einen Herzstillstand, durch

eine Adrenalininjektion ins Herz wird er wieder ins Leben zurückgeholt. Ein chronisches

Augenleiden verschlechtert sich zunehmend. Arnold Schönberg stirbt am 13. Juli 1951 Los

Angeles.1

                                                                                                               1 Vgl. Christian Martin Schmidt, Arnold Schönberg. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite Auflage. Kassel 2005, Sp. 1580–1600.

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2. Zur Vortragslehre Schönbergs Zwischen den Jahren 1923 und 1931 verfasste Schönberg zahlreiche deutschsprachige Texte

zur Vortragslehre. Texte in englischer Sprache stammen aus der Zeit des Exils – also nach

1934 – und blieben meist ohne nähere Datierung. Hermann Danuser hat zahlreiche verstreute

Dokumente erschlossen und die Ergebnisse in einem Artikel über Schönbergs Vortragslehre

zusammengefasst. Alle folgenden Betrachtungen gehen auf diesen zurück.2

Wenn Schönberg sich selbst die Frage „Is Performance necessary?“ beantwortet mit: „Not the

author, but the audience only needs it“3, zeigt sich schon der stark subjektiv geprägte

Charakter seiner Betrachtungen zum Thema Vortrag. Seine ganz persönliche Meinung spielt

immer eine gewichtige Rolle, auch bei scheinbar objektiv anmutenden Betrachtungen, und

stets schwingt beispielsweise auch eine Kritisierung prominenter Künstlerzeitgenossen mit:

das Bild des „overrated performer – the underrated composer, the contrast between

reproduction and creation, between talent and genius“4 scheint ihm enorm lästig gewesen zu

sein.

Der Rang des Komponisten wird entsprechend überhöht in seiner Vortragslehre bestimmt:

„Der Geniale lernt also eigentlich nur an sich selbst, der Talentierte hauptsächlich am andern.

Der Geniale lernt aus der Natur, aus seiner Natur, der Talentierte aus der Kunst“5 und ferner:

„Talent ist die Fähigkeit zu erlernen, Genie die Fähigkeit sich zu entwickeln. Das Talent

nimmt zu, indem es Fähigkeiten, die es außer ihm schon gab, sich aneignet, sich assimiliert

und sie schließlich sogar besitzt. Das Genie besitzt alle seine zukünftigen Fähigkeiten schon

von vornherein. Es entwickelt sie nur, es wickelt sie nur ab, es entrollt, entfaltet sie bloß.“6

Dass sich Genie im Komponisten offenbart, während Talent die dem Interpreten zugerechnete

Eigenschaft beschreibt, wird im folgenden deutlich:

„Das oberste Prinzip aller musikalischen Reproduktion müsste sein: was der Komponist

geschrieben hat, auf solche Weise zum Klingen zu bringen, dass jede Note auch wirklich

gehört wird und dass alles, ob es nun gleichzeitig oder ungleichzeitig klingt, in einem solchen

Verhältnis zu einander steht, dass keine Stimme in keinem Augenblick die andere verdeckt,

sondern im Gegenteil dazu beiträgt, dass alle sich voneinander gut abheben.“7

                                                                                                               2 Hermann Danuser, Zu Schönbergs „Vortraglehre“. In: Bericht über den 2. Kongress der Internationalen Schönberg-Gesellschaft, hrsg. von Rudolf Stephan und Sigrid Wiesmann, Wien 1986, S. 253–259. 3 Ebd., S. 253. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 253f. 7 Ebd., S. 254.

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Wie Busoni räumt zwar auch Schönberg dem Interpreten aktualisierende Funktion ein

(Transkriptionen), seine Orchestrationen Bachscher Orgelwerke müssen dem gemäß jedoch

als „Versuch, den Kunstcharakter dieser Werke durch eine Präzisierung des Textes, durch

eine Steigerung und Differenzierung ihrer Schriftlichkeit zu vertiefen, indem ihr

musikalischer Sinn nach Auffassung und Stand des Musikdenkens der Wiener Schule

konkretisiert wird, betrachtet werden.“8 Die Gliederung musikalischer Schrift teilt in zwei

Bereiche: in eine erste Notationsschicht, Tonhöhe und -dauer umfassend, und in eine zweite

Schicht, welche den Vortrag des musikalischen Gedankens im Hinblick auf Tempo, Agogik,

Dynamik, Artikula-tion, Phrasierung, Charakter definiert.

„Die Bezeichnung des Vortrags wird, je genauer, desto unvollkommener. Die Versuchung,

den Gedanken nicht nur was Inhalt und Konstruktion betrifft vollendet darzustellen, sondern

hin durch die Lebhaftigkeit des Vortrages [d. h. durch sehr genaue Bezeichnung] über die

Sphäre zeitgemäßer Deutungsnotwendigkeit hinaus zu heben [d. h. den Wandlungen der

Interpretationsgeschichte zu entziehen]: diese Versuchung ist zu groß, als dass ein Autor, der

sich so klar ausdrücken will, dass wenigstens er immer versteht, ihr nicht in fortschreitendem

Maße erliegen sollte. Einer späteren Zeit wird allerdings diese Bezeichnung wieder zu eng

oder zu ungenau sein und sie wird sie darum entweder ergänzen und modificieren oder

ignorieren müssen. Trotzdem aber kann die einmal betretene Bahn nicht ohne weiteres

verlassen werden: wir können nicht wieder so wenig bezeichnen, wie Beethoven und Mozart

oder gar Bach.“9

Für weiterführende Forschungen, welche zu einem umfassenderen und vollständigeren Abbild

der Vortragslehre der zweiten Wiener Schule führen sollen, wird es kaum genügen, sich allein

auf Schönbergs Texte zu beschränken. Als weitere wichtige Vertreter, also auch

Vortragslehrer der Wiener Schule sollten somit auch gelten: Rudolf Kolisch, Erwin Stein,

René Leibowitz, Theodor W. Adorno und Hans Sarowsky.

                                                                                                               8 Ebd., S. 256. 9 Ebd., S. 257.

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3. Ferruccio Dante Michelangelo Benvenuto Busoni Ferruccio Busoni wird 1866 in Empoli bei Florenz geboren. Seine Eltern sind professionelle

Musiker, der Vater Klarinettist, die Mutter Pianistin deutscher Abstammung. Seinen ersten

Unterricht erhält er zuhause bei den Eltern; neben allgemeiner Bildung (u. a. Deutsch und

Latein) steht für ihn die intensive Beschäftigung mit Bachschen Klavierwerken auf dem

Lehrplan. Schon in früher Kindheit entwickelt Busoni exzellente pianistische Fähigkeiten,

eine erste Komposition, die Canzone in C-Dur für Klavier, entsteht im Jahre 1873, dem Jahr,

indem er auch erstmals gemeinsam mit den Eltern öffentlich als Pianist auftritt. Im Jahr

darauf erfolgt der erste Solo-Auftritt in Triest mit Werken von Händel, Schumann und

Hummel. 1875 zieht die Familie nach Wien um, um die Förderung des jungen Talents in der

musikalisch lebendigen Metropole besser fördern zu können.

Schon bald werden einflussreiche Berühmtheiten auf ihn aufmerksam, darunter auch der

Pianist Rubinstein, der Kritiker Hanslick und der Philosoph Theodor Gomperz. Gomperz

kann über seine Schwester eine Patronage durch österreichische Geldaristokraten erwirken: so

lernt Busoni in zahlreichen Theater- und Opernbesuchen den Kultur- bzw. Musikbetrieb der

Zeit kennen und erhält Unterricht, zunächst in Kontrapunkt und allgemeiner Musiklehre bei

Johannes Habert in der Steiermark, danach Komposition bei Karl Goldmark. Im Jahre 1877

kann er die Gelegenheit wahrnehmen, dem berühmten Virtuosen Franz Liszt vorzuspielen,

der sich zu den Festlichkeiten am 50. Todestag Beethovens in Wien aufhält. 1878 zieht er

nach Graz, um Unterricht beim Komponisten Wilhelm Mayer zu nehmen.

Im Jahre 1881 existieren bereits 180 eigene Kompositionen, von denen er 77 der Aufnahme in

sein eigenes Werkverzeichnis für würdig befindet, darunter die 24 Préludes für Klavier op.

37. Er erhält das Diplom für Klavier und Komposition der Reale Accademia filarmonica in

Bologna, eine Auszeichnung die vor ihm nur Mozart in so jungen Jahren zuteil wurde. Es

folgen Konzertreisen durch ganz Europa. Auch macht er Bekanntschaft mit Johannes Brahms

in Wien und zieht 1885 nach Leipzig. Dort befreundet er sich mit dem Kapellmeister des

Gewandhausorchesters Henri Petri, dem er sein Streichquartett in C-Dur op. 19 zueignet.

Dessen Sohn Egon Petri (*1881) nimmt bei ihm Unterricht und soll sich später zu seinem

erfolgreichster Schüler entwickeln.

In Leipzig beginnt Busoni die lange Reihe seiner Transkriptionen von Bachschen Werken,

auch Mozart-Symphonien und Schubert-Ouvertüren veröffentlicht er in neuem Kleide; wie

Liszt komponiert er auch Klavierfantasien über beliebte Themen aus fremden Kompositionen

wie zum Beispiel Opern von Peter Cornelius und Carl Goldmark.

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Im Jahre 1888 zieht er nach Helsinki, um als Klavierlehrer eine Stelle am neu gegründeten

Musikinstitut anzutreten. Hier publiziert er instruktive Ausgaben der Inventionen und

Sinfonien BWV 772–801 und vieler weiterer Klavierwerke Johann Sebastian Bachs. Zu

seinen berühmtesten Schülern in Helsinki zählen Adolf Paul, Armas Järnefeldt und Jean

Sibelius. Es entstehen von finnischer Folklore beeinflusste Werke wie zum Beispiel die

Finnländischen Volksweisen für Klavier. Er lernt Gerda Sjöstrand kennen, die er im Jahre

1890 in Moskau heiraten wird.

1891 erhält er von Theodore Steinway einen Ruf an das New England Conservatory in

Boston. 1892 übersiedelt er nach New York, wo er einen überaus ertragreichen Höhepunkt

seiner Virtuosenlaufbahn erlebt. Er beschäftigt sich intensiv mit der Entwicklung einer neuen

Klaviertechnik, indem er sich intensiv mit Lisztschen Werken beschäftigt.

1898 gibt er, nach Europa zurückgekehrt, vier legendäre Konzertabende in Berlin unter dem

Motto der „Entwicklung des Klavierkonzertes“. Diese beeindrucken unter anderen den

Klavierfabrikanten Blüthner, der ihn daraufhin für eine Reihe sehr gut besuchter Meisterkurse

1900/01 in Weimar verpflichtet. 1902 ruft er die „Berliner Orchesterabende“ ins Leben und

leistet damit der Neuen Musik einen wertvollen Dienst, indem er für zahlreiche Aufführungen

zeitgenössischer Kompositionen wie solchen von Schönberg und Bartok sorgt; diese werden

bis ins Jahr 1912 fortgeführt.

Indessen entsteht sein Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1. Auflage 1906, zweite

überarbeitete Fassung 1916). Ähnlich wie Schönberg experimentiert er mit einigen eigenen

Erfindungen: 1910 baut er an einem Dritteltonharmonium, auch entwirft er einen Vorschlag

zur Entwicklung eines neuen Notenschriftsystems („Organische Klaviernotenschrift“), welche

sämtliche Töne der Zwölftonskala unter Weglassung von #- und b-Vorzeichen darzustellen

vermag. Für sein kompositorisches Schaffen findet er immer wieder Gefallen an der

Weiterentwicklung Bachscher Werke. Seine Fantasia contrappuntistica versteht er als

Fortsetzung der Bachschen Kunst der Fuge. Zu den traditionellen Elementen der polyphonen

Musik im Stile Bachs fügt er eine Entfaltungsfreiheit der Harmonik, die kaum mehr Rücksicht

auf harmonische Gepflogenheiten mehr nimmt. Aber auch andersartige Einflüsse finden

Eingang in seine Kompositionen. Zu nennen wäre hier indianisch beeinflusste Musik wie

beispielsweise die Indianische Fantasie für Klavier und Orchester. 1915 lässt er sich

vorübergehend in Zürich nieder und kehrt 2 Jahre nach Kriegsende wieder nach Berlin

zurück. Dort unterrichtet er eine Kompositionsklasse am Sternschen Konservatorium bis zu

seinem Tode im Jahre 1924.

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4. Zur Vortragslehre Busonis Busoni setzte sich mit seinen Transkriptionen einer teilweise scharfen ablehnenden Kritik aus.

Gegen die von ihm als »Gesetzgeber« bezeichneten Kritiker wehrt er sich unter anderem in

seiner Ästhetik. Seinen Wunsch, ein breites Publikum und dessen Zeitgeschmack zu erfassen,

erreicht Busoni damit, seine eigenen Ideen in die Kompositionen früherer Zeiten

einzubringen. Das Ergebnis dieser Bemühungen sind neue Werke, die sich vor allem in einer

zeitgemäßen Klaviertechnik bemerkbar machen, diese einerseits ausnutzen, andererseits aber

ohne diese auch nicht ausführbar wären. Klaviertechnik ist hier in zweierlei Sinn gemeint.

Zum einen bedeutet der technische Fortschritt im Klavierbau eine Veränderung der

klanglichen Darstellungsmöglichkeiten (Dynamik, Pedaleinsatz, Ambitus), zum anderen die

sich minder fortentwickelt habende Spieltechnik der Virtuosen, für die zu allererst Franz Liszt

Pate steht. Im Klavierzyklus An die Jugend fügt Busoni in diesem Sinne dem Satzpaar

Präludium und Fuge in D-Dur aus Bachs Wohltemperiertem Klavier BWV 850 eine Fantasie

über die Themen beider Stücke hinzu und nennt dieses 2. Stück des Zyklus’ Preludio, Fuga e

Fuga figurata. Studie nach Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Clavier. Die Studie

(BV 254/2) erhält also die dreiteilige Form (1) Präludium, (2) Fuge und (3) Fuga figurata.

5. Busonis Auffassung am Beispiel Das Präludium übernimmt Busoni wortwörtlich von Bach und fügt lediglich dynamische,

Artikulations- und Phrasierungsspielanweisungen hinzu. Nur in den letzten drei Takten

weicht er von der Notationsweise Bachs ab: die übereinander notierten, aus acht Tönen

bestehenden Akkorde (Abb. 1) schreibt er einmal als ausnotiertes Arpeggio mit Liegetönen

(Abb. 2), einmal als Arpeggio ohne Liegetöne (Abb. 3) und ein drittes Mal als geschlossenen

Akkord (Abb. 4) . Außerdem konkretisiert er die Tonlängen, indem er Bachsche

Zweiunddreißigstel in Sechzehntel (Abb. 5), Viertel in Halbe (Abb. 6) verwandelt und die

Achtelpausen verdreifacht, und somit aus den drei letzten Takten Bachs fünf entstehen lässt,

ohne aber eigentlich in die Ablauffolge einzugreifen. Die Länge des Schlussakkordes ist dabei

so eingerichtet, dass – ohne Änderung einer Metrischen Vorgabe zwischen Präludium und

Fuge – der Auftakt zur Fuge an diesen anschließt (Abb. 7).

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Abb. 1: Manuskript Seite 2 unten, URL (abgerufen am 4. Feb. 12) http://erato.uvt.nl/files/imglnks/usimg/e/ed/IMSLP81766-PMLP05948-BWV_850.pdf

Abb. 2, ebenso wie Abb. 3–7 aus URL: http://216.129.110.22/files/imglnks/usimg/6/6d/IMSLP07739-Busoni_An_die_Jugend_No.2.pdf (abgerufen am 4. Feb. 12), S. 3 unten

Abb. 3 Abb.4 Abb. 5

Abb. 6 Abb. 7

Die Exposition der anschließenden Fuge wird unverändert zitiert, in den Zwischenspielen gibt

es kleine Veränderungen: traditionell verringert sich die Stimmenzahl in diesem Formteil.

Dem wirkt Busoni entgegen, indem er (1) im 1. Zwischenspiel zusätzliche Stimmen

einflechtet (Abb. 8) und (2) im 2. Zwischenspiel Töne verlängert, die als vorbereitete

Dissonanzen zwar prinzipiell dem Stil der Zeit entsprechen, hier jedoch eine Veränderung des

Urtextes bewirken: Die harmonische Stimmdichte erhöht sich (Abb. 9, Vier- anstelle von

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Dreiklängen). Bassverdopplungen in die Tiefe bewirken dazu einen volleren, gewaltigeren

Klang (etwa der punktuellen Hinzufügung von Kontrabässen zu sonst alleine spielenden

Violincelli entsprechend).

Abb. 8

Abb. 9 Neben den genannten mikrostrukturellen Eingriffen werden schließlich auch kleine, aber

wirkungsmächtige Makrostrukturveränderungen unternommen: Die Fuge wird nicht zu Ende

geführt, sondern bricht vor der Schlusskadenz ab und nach 3 Achteln Pause – ebenso

unvermittelt – setzt ein einstimmiger Sechzehntel-Fluss ein, der aus dem Material des

Präludiums entspringt (Abb. 10). Es folgt der Einsatz des thematisch verwandten

Fugensoggettos zwei Takte danach, zeitgleich beginnt eine Bassstimme, eine passende

Begleitung zu unterlegen. In teils traditioneller (polyphon, regelkonforme

Dissonanzbehandlung), teils verfremdender Satztechnik (Erweiterung der Melodik und der

Harmonik hin zu „unerlaubten“ Ton- und Akkordfolgen, Abb. 11) führt Busoni seine Fuga

Figurata fort. Darin wechseln die Themen der beiden Vorlagen gleichmäßig ab, vermischen

sich, treten abwechselnd zurück und wieder in den Vordergrund, bis schließlich die

verminderten Septakkorde des Fugenschlusses erneut auftaucht und die zuvor am Schluss der

Fuge vermisste Schlusskadenz nachgeliefert (Abb. 12) wird.

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Abb. 10

Abb. 11, Mittleres System, Zeilenumbruch: Tritonus-Schritt cis’-g und die sich daraus ergebenden, unvorbereiteten Dissonanzen zu Ober- und Unterstimme g-ais’ und g-Fis.

Abb. 12: Die zuvor achtstimmigen Akkorde jetzt ausgedünnt und martellato; die Schlusskadenz dagegen mit Oktavierungen der Außenstimmen unterfüttert.

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6. Aussagen Busonis zum Vortrag Im Unterschied zu Schönberg existieren von Busoni nur einige wenige, dafür aber klare und

fassliche Erörterungen zu dessen Vorstellung von einem angemessenen Vortrag. Während der

Einblick in die Schönbergsche Meinung nur dank der Forschungsergebnisse Hermann

Danusers gelingen kann, erhalten wir Busonis Aussagen zur Vortragslehre aus erster Hand. In

seinem Entwurf10 erläutert Busoni im fünften Kapitel:

– Notation soll lediglich als „ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten“11

dienen

– Notation verhält sich zur Improvisation wie ein „Porträt zum lebendigen Modell“12

– der Vortragende hat „die Starrheit der Notation wieder aufzulösen und in Bewegung

zu bringen“13

– die ›Gesetzgeber‹14 verlangen die Wiedergabe der „Starrheit der Zeichen“15

– „große Künstler“ (selbst interpretierende Komponisten) hingegen gestalten von Zeit

zu Zeit „ihre Werke immer wieder verschieden“16

– Notation = »Skription« und muss zur Transkription führen17

– Transkription als „schimpflicher Begriff“18 (laut Gesetzgeber)

– „jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls“19

– jeder kompositorische „Gedanke verliert seine Originalgestalt“20 sobald er

niedergeschrieben wird

– Niederschrift verlangt Einhaltung enger Schranken: „Taktart, Tonart, Form- und

Klangmittel“21

– „Es ist ähnlich wie mit dem Menschen. Nackt und mit noch unbestimmbaren

Neigungen geboren, entschließt er sich oder wird er in einem gegebenen Augenblick

zum Entschluss getrieben, eine Laufbahn zu wählen. Mag auch vom Einfall oder vom

                                                                                                               10 Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Zweite Auflage Leipzig 1916 (Erste Auflage Triest 1907). 11 Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. In: Ferruccio Busoni, Von der Macht der Töne. Ausgewählte Schriften. Leipzig 1983, S. 60. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Als die „Gesetzgeber“ bezeichnet Busoni die Personengruppe, die seiner Ästhetik (seinen Kompositionen, seinen Interpretationen) ablehnend begegnet. 15 Ferruccio Busoni a.a.O., S. 61. 16 Ebd, S. 61. 17 Vgl. ebd. 18 Ebd, S. 62. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd.

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Menschen manches Originale, das unverwüstlich ist, weiterbestehen: sie sind doch

von dem Augenblick des Entschlusses an zum Typus einer Klasse herabgedrückt. Der

Einfall wird zu einer Sonate oder einem Konzert, der Mensch zum Soldaten oder

Priester. Das ist ein Arrangement des Originals. Von dieser ersten zu einer zweiten

Transkription ist der Schritt verhältnismäßig kurz und unwichtig. Doch wird im

Allgemeinen nur von der zweiten Aufhebens gemacht. Dabei übersieht man, dass eine

Transkription die Originalfassung nicht zerstört, also ein Verlust dieser durch jene

nicht entsteht. Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transkription, und auch dieser

kann – er mag noch so frei sich gebärden – niemals das Original aus der Welt

schaffen. Denn das musikalische Kunstwerk steht, vor seinem Ertönen und nachdem

es vorübergeklungen, ganz und unversehrt da. Es ist zugleich in und außer der Zeit,

und sein Wesen ist es, dass uns eine greifbare Vorstellung des sonst ungreifbaren

Begriffes von der Idealität der Zeit geben kann. Im übrigen muten die meisten

Klavierkompositionen Beethovens wie Transkriptionen vom Orchester an, die meisten

Schumannschen Orchesterwerke wie Übertragungen vom Klavier – und sind’s in

gewisser Weise auch. Merkwürdigerweise steht bei den „Buchstabentreuen“ die

Variationenform in großem Ansehen. Das ist seltsam, weil die Variationenform –

wenn sie über ein fremdes Thema aufgebaut ist – eine ganze Reihe von Bearbeitungen

gibt, und zwar um so respektloser, je geistreicherer Art sie sind. So gilt die

Bearbeitung nicht, weil sie an dem Original ändert; und es gilt die Veränderung,

obwohl sie das Original bearbeitet.“22

                                                                                                               22 Ebd., S. 62f.

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7. Zusammenfassung: Schönbergs und Busonis Thesen im Vergleich Während zwar auch Busoni den seine Ausgaben benutzenden Interpreten an die Hand nimmt

und mittels den zeitüblichen Vortragsanweisungen durch die Interpretation führt, wird

Schönberg meist sehr viel genauer. Ein Beispiel für die präzise Anweisungsart Schönbergs

soll dies belegen. In der Partitur zur Schönbergs Fünf Orchesterstücken steht auf der ersten

Seite des Satzes „Farben“ am unteren Rand die Bemerkung geschrieben:

„Es ist nicht Aufgabe des Dirigenten, einzelne ihm (thematisch) wichtig erscheinende

Stimmen in diesem Stück zum Hervortreten aufzufordern oder scheinbar unausgeglichen

klingende Mischungen abzutönen. Wo eine Stimme mehr hervortreten soll als die anderen, ist

sie entsprechend instrumentiert und die Klänge wollen nicht abgetönt werden. Dagegen ist es

eine Aufgabe darüber zu wachen, dass jedes Instrument genau den Stärkegrad spielt, der

vorgeschrieben ist; genau (subjektiv) seinem Instrument entsprechend und nicht (objektiv)

sich dem Gesamtklang unterordnend.“ Hier zeigt sich ganz deutlich, welchen Gehorsam

Schönberg dem Interpreten, hier dem Dirigenten, abverlangt. Einen solchen Gehorsam

einzufordern, liegt Busoni fern. Jedoch auch Schönbergs Aussagen lassen sich relativieren.

Die Schärfe und der zunächst so scheinende Absolutheitsanspruch seiner Gesetze werden

gemindert, besieht man die überlieferten Schriftstücke in der Nähe. So weicht die etwas starr

wirkende Vorstellung Schönbergs zum bestehenden Missverhältnis zwischen dem „overrated

performer“ und dem „underrated composer“ auf, wenn man berücksichtigt, dass Schönberg

nachträglich zu dieser Textpassage den Vermerk „bagatellisieren!“ hinzufügt. Auch ein Blick

abseits der Vortragslehre lässt den Lehrer Schönberg – anders als angesichts seiner sonstigen

Verlautbarungen – in überaus selbstkritischem Licht erscheinen. Die immer bestehende

Möglichkeit der Fehlbarkeit, die er – je nach Standpunkt – auch bei sich eingesteht oder aber:

für sich in Anspruch nimmt, überträgt er auch hier aufs Allgemeine, auf alle Handelnde, hier

nicht Komponierende, sondern Lehrende: „[...] der Lehrer muss den Mut haben, sich zu

blamieren. Er muss sich nicht als der unfehlbare zeigen, der alles weiß und nie irrt [...].“23

Folgende Tabelle soll einen Überblick über die Unterschiedlichkeit der beiden Auffassungen

geben.

                                                                                                               23 Arnold Schönberg, Harmonielehre. Wien 1922, Seite V.

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Schönberg Busoni

jede Notation ist schon „Transkription eines

abstrakten Einfalls“; Freiheit zu

Transkriptionen, zu einem lebendigen, nicht

an die „Starrheit der Zeichen“ gebundenen

Vortrag

„Gedanke“ ist der aus der Logik des

Zusammenhangs erwachsende musikalische

Sinn; musikalischer Sinn ist nicht abstrakt im

Prozess der Entstehung gemeint, sondern zur

Gestalt objektiviert, als konkreter

musikalischer Satz

„Einfall“ ist der musikalische Gedanke im

Augenblick der Entstehung, Aufzeichnung

des Gedankens ist eine Verdinglichung, die

beim Vortrag wieder in Bewegung und

Fließen aufgelöst werden soll

der Vortrag ist eine Funktion der

Notenschrift

die Notenschrift ist eine Funktion des

Vortrags

die Orchestrationen Bachscher Orgelwerke

den Versuch dar, den Kunstcharakter dieser

Werke durch eine Präzisierung des Textes,

durch eine Steigerung und Differenzierung

ihrer Schriftlichkeit zu vertiefen, indem ihr

musikalischer Sinn nach Auffassung und

Stand des Musikdenkens der Wiener Schule

konkretisiert wird. Dem Vortrag bzw. der

Orchesterdirektion bleibt aufgetragen, die

Schönbergsche Interpretation des originalen

Textes durch eine korrekte Darstellung des

Notierten zu realisieren; und sie muss sich

davor hüten, durch erneute „Interpretation“

die erhöhte Schriftlichkeit der Texte zu

gefährden oder zu missachten

bei Busoni sind die Klavierübertragungen

von Werken anderer Komponisten ein Mittel,

deren Schriftlichkeit aufzulösen, um den in

der Notation erstarrten, kodifizierten

Werkcharakter im Augenblick eines freien,

lebendigen Vortrags mit dem Geist einer

gleichsam improvisatorischen Spontaneität

zu erfüllen

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8. Fazit Der Komponist Schönberg spricht scheinbar primär aus seiner Rolle des reinen, nicht mit der

praktischen Aufführung seiner Werke befassten Komponisten. Er positioniert den

Komponisten in eine hierarchische Vormachtstellung, in welcher der Interpret sich den

Vorstellungen des Komponisten unterzuordnen habe, ganz im Sinne eines Architekten, der

jedes Detail eines Bauwerkes als verbindlich vorschreibt. Die Frage, in wie weit diese

Vorstellung von dem Umstand herrührt, dass Schönberg nach seinen eigenen, wenig

erfolgreichen Vorträgen als Instrumentalist in seiner Jugendzeit niemals mehr selbst Werke –

weder fremde noch eigene – interpretiert hat, sondern sein Schaffen stets vom Schreibtisch

aus bewerkstelligt hat, lässt sich nicht leicht beantworten. Immerhin war er, wenn auch nicht

als unmittelbar Klangerzeugender, hin und wieder als Dirigent tätig und somit durchaus auch

selbst mit Interpretationsaufgaben betraut. Vielleicht spricht er auch in erster Linie als

Kompositionslehrer, der kein anderes Ziel hat, als seinen Schülern ein unumstößliches

Selbstvertrauen in ihre Tätigkeit einzuflössen, ihnen auf ihren oft von eigenen Zweifeln und

Unsicherheiten begleiteten Wegen Mut zuzusprechen und die Rücken zu stärken. Der

Komponist Busoni spricht dagegen vor allem aus der Rolle des Interpreten, zu dessen

Aufgaben es – ihm selbst zu folge – gehört, die abstrakte Idee einer Komposition in eine den

Aufführungsumständen (Zeit, Ort, Instrument, eigene Phantasie und nicht zuletzt der

Geschmack des Publikums) gemäße Interpretation eingehen zu lassen. Während sich

Schönberg auch außerhalb des Musikalischen Ideen schöpfend betätigt hat – genannt seien

hier etwa die Malerei oder auch zahlreiche kleine Erfindungen und Entwürfe: ein Rollenhalter

für die Küche, eine Anzeigevorrichtung für Tennis-Spielstände, ein Ringfahrplan für die

Berliner öffentlichen Verkehrsbetriebe – spricht Busoni, durch sein Wirken bedingt, aus einer

dem ausübenden Musikwesen sehr viel näheren Position: er war, zumindest zeitweise, einer

der berühmtesten, wenn nicht der berühmteste Klaviervirtuose nach Franz Liszt. Trotz aller

schlüssigen Rechtfertigungen scheint die derzeitige Rezeption Busonischer Werke im Kreise

der Musikschaffenden und –hörenden, bei Kennern und Liebhabern gleichermaßen,

tendenziell eher ablehnend kritisch zu sein. Schon zu Lebzeiten Busonis riefen seine

Transkriptionen zahlreiche Gegner auf den Plan. Die Bemühungen der Alte Musik-Bewegung

um eine historisch korrekte Aufführungspraxis, für welche Pioniere wie Gustav Leonhardt

oder Nikolaus Harnoncourt Pate stehen, bestimmen den heutigen Geschmack und verstärken

noch die schon von Anfang an bestehenden Vorbehalte gegen Busonis Kompositionswerk

und Interpretationsauffassung. Manchmal wird dabei vergessen, dass eine bis ins letzte Detail

korrekte historische Aufführungspraxis in den meisten Fällen ebenfalls scheitern muss, weil

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die schriftlichen Quellen zwar auf vieles, jedoch nicht auf alles, was den früheren Klang

bestimmt hat, Rückschlüsse erlauben. So müssen auch die im Geiste der historischen

Aufführungspraxis erzielten Ergebnisse ein Stück weit als Neuinterpretationen gelten.