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74 HMD 282 Carolin Durst, Andreas Volek, Florian Greif, Michael Durst, Hinnerk Brügmann Zukunftsforschung 2.0 im Unternehmen Kooperative Zukunftsforschung ist ein neues Auf- gabengebiet in Unternehmen. Dieser Beitrag be- schreibt ein innovatives Softwareinstrument, das Risiken und Trends in der mittel- und langfristi- gen Frühaufklärung dokumentiert, klassifiziert und eine Evaluierung ermöglicht. Hierbei wird eine ressourcen- und eine marktorientierte Sicht- weise kombiniert. Die Ergebnisse werden auf ei- nem sogenannten Trend- oder Risikoradar und in Form eines Strategieraums abgebildet, was eine umfassende Situations- und Szenarioanalyse er- laubt. Dies erleichtert die Entscheidungsfindung unter Einbindung von internen und externen Ex- perten. Ein Praxisbeispiel zeigt den Einsatz des Werkzeugs bei einem diversifizierten, multinatio- nalen Konzern. Inhaltsübersicht 1 Aktuelle Herausforderungen im strategischen Management 2 Zukunftsforschung im Unternehmen 3 Theoretisches Rahmenwerk 3.1 Faktorenanalyse 3.2 Trendmanagement 3.3 Szenarioentwicklung 3.4 Szenariobewertung 3.5 Strategieformulierung und -implementierung 4 Praxisbeispiel Diehl Stiftung & Co. KG 5 Vorteile der IT-gestützten kooperativen Zukunftsforschung 6 Literatur 1 Aktuelle Herausforderungen im strategischen Management »Vor dem Hintergrund der zunehmenden Inno- vationsgeschwindigkeit von Technologien und Produkten reicht es nicht mehr aus, dass Unter- nehmen auf Veränderungen im Sinne einer ›quick response‹ reagieren, vielmehr müssen sie proaktiv agieren, um weiterhin wettbewerbsfä- hig bleiben zu können. Die Fähigkeit, bereits auf schwache Signale zu reagieren und proaktiv Veränderungen und Marktanpassungen einzu- leiten, ist erforderlich« [Bullinger & Schäfer 1997]. Die strategische Frühaufklärung von Risi- ken und Chancen im Unternehmensumfeld wird daher mehr und mehr Aufgabe im strate- gischen Management [Burmeister et al. 2004]. Bestehende Führungsinformationssysteme (FIS) können disruptive Veränderungen des ei- genen Unternehmens oder der Unternehmen- sumwelt kaum oder nur unzureichend abbil- den, insofern bleiben Risiken und Chancen im strategischen Management häufig unerkannt. Diese Situation hat folgende Gründe: ! Führungsinformationssysteme bieten keine ganzheitliche Betrachtung der Zukunft, son- dern beziehen sich auf Daten der fernen oder nahen Vergangenheit und liefern darauf ba- sierend Prognosen der kurzfristigen Zukunft [Zeithaml et al. 2006]. ! Bei vorhandenen IT-Lösungen im Bereich Trendmanagement und Szenarioanalyse handelt es sich oft um Insellösungen, die kei- ne ganzheitliche Prozessunterstützung bie- ten. Es fehlt ein konsistentes Konzept zur Zu- kunftsforschung im Unternehmen (Corporate Foresight), das Prozesse definiert, Aufgaben strukturiert und zentrale Mitarbeiter einbin- det [Rohrbeck & Gemünden 2006]. ! Innovative Konzepte zur Entscheidungsunter- stützung fordern zunehmend kooperative Ansätze, werden aktuell jedoch noch nicht umgesetzt. Die Einbindung von Web-2.0- Methoden in FIS kann diese Anforderungen erfüllen [Durst et al. 2010].

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Carolin Durst, Andreas Volek, Florian Greif, Michael Durst, Hinnerk Brügmann

Zukunftsforschung 2.0 im Unternehmen

Kooperative Zukunftsforschung ist ein neues Auf-gabengebiet in Unternehmen. Dieser Beitrag be-schreibt ein innovatives Softwareinstrument, dasRisiken und Trends in der mittel- und langfristi-gen Frühaufklärung dokumentiert, klassifiziertund eine Evaluierung ermöglicht. Hierbei wirdeine ressourcen- und eine marktorientierte Sicht-weise kombiniert. Die Ergebnisse werden auf ei-nem sogenannten Trend- oder Risikoradar und inForm eines Strategieraums abgebildet, was eineumfassende Situations- und Szenarioanalyse er-laubt. Dies erleichtert die Entscheidungsfindungunter Einbindung von internen und externen Ex-perten. Ein Praxisbeispiel zeigt den Einsatz desWerkzeugs bei einem diversifizierten, multinatio-nalen Konzern.

Inhaltsübersicht1 Aktuelle Herausforderungen im

strategischen Management2 Zukunftsforschung im Unternehmen3 Theoretisches Rahmenwerk

3.1 Faktorenanalyse3.2 Trendmanagement3.3 Szenarioentwicklung3.4 Szenariobewertung3.5 Strategieformulierung und

-implementierung4 Praxisbeispiel Diehl Stiftung & Co. KG5 Vorteile der IT-gestützten kooperativen

Zukunftsforschung6 Literatur

1 Aktuelle Herausforderungen im strategischen Management

»Vor dem Hintergrund der zunehmenden Inno-vationsgeschwindigkeit von Technologien undProdukten reicht es nicht mehr aus, dass Unter-

nehmen auf Veränderungen im Sinne einer›quick response‹ reagieren, vielmehr müssen sieproaktiv agieren, um weiterhin wettbewerbsfä-hig bleiben zu können. Die Fähigkeit, bereits aufschwache Signale zu reagieren und proaktivVeränderungen und Marktanpassungen einzu-leiten, ist erforderlich« [Bullinger & Schäfer1997]. Die strategische Frühaufklärung von Risi-ken und Chancen im Unternehmensumfeldwird daher mehr und mehr Aufgabe im strate-gischen Management [Burmeister et al. 2004].

Bestehende Führungsinformationssysteme(FIS) können disruptive Veränderungen des ei-genen Unternehmens oder der Unternehmen-sumwelt kaum oder nur unzureichend abbil-den, insofern bleiben Risiken und Chancen imstrategischen Management häufig unerkannt.Diese Situation hat folgende Gründe:

! Führungsinformationssysteme bieten keineganzheitliche Betrachtung der Zukunft, son-dern beziehen sich auf Daten der fernen odernahen Vergangenheit und liefern darauf ba-sierend Prognosen der kurzfristigen Zukunft[Zeithaml et al. 2006].

! Bei vorhandenen IT-Lösungen im BereichTrendmanagement und Szenarioanalysehandelt es sich oft um Insellösungen, die kei-ne ganzheitliche Prozessunterstützung bie-ten. Es fehlt ein konsistentes Konzept zur Zu-kunftsforschung im Unternehmen (CorporateForesight), das Prozesse definiert, Aufgabenstrukturiert und zentrale Mitarbeiter einbin-det [Rohrbeck & Gemünden 2006].

! Innovative Konzepte zur Entscheidungsunter-stützung fordern zunehmend kooperativeAnsätze, werden aktuell jedoch noch nichtumgesetzt. Die Einbindung von Web-2.0-Methoden in FIS kann diese Anforderungenerfüllen [Durst et al. 2010].

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Die folgenden Abschnitte geben zunächst einenÜberblick über den Stand der Forschung im Be-reich Zukunftsforschung im Unternehmen. An-schließend wird eine Methode für Trend-management und Szenarioentwicklung vor-gestellt, ein Fallbeispiel zeigt abschließend dieAnwendung in der Praxis.

2 Zukunftsforschung im UnternehmenIn der Literatur findet man eine Vielzahl von Be-griffen, die dem Bereich Zukunftsforschungzugeordnet werden. Manche Autoren unter-scheiden beispielsweise zwischen TechnologyForecasting, Technology Foresight, ConsumerForesight, Competitive Intelligence, TechnologyIntelligence und Future Research [Rohrbecket al. 2007]. Des Weiteren findet man dieBezeichnungen »Corporate Foresight« sowie»Managerial Foresight«, die weitgehendsynonym verwendet werden und sich auf Zu-kunftsforschung im Unternehmen beziehen[Burmeister et al. 2004; Amsteus 2011]. Die Ar-beitsdefinition lehnt sich an die Definition von[Burmeister et al. 2004] an:

Zukunftsforschung im Unternehmen beschreibteinen Kommunikationsprozess, der das Unter-nehmen in die Lage versetzt, strategische Wei-chen frühzeitig zu stellen und die Herausforde-rungen der Zukunft zu meistern.

Ziel ist es, eine Menge von wahrscheinlichenund konsistenten Szenarien zu entwickeln, aufderen Basis man strategische Entscheidungentreffen kann.

Zukunftsforschung im Unternehmen um-fasst grundsätzlich drei Bereiche: Trendma-nagement, Szenarioentwicklung und szenario-basierte Strategieentwicklung (vgl. Abb. 1).

1. Trendmanagement: Der erste Bereich be-inhaltet das systematische Scannen desUnternehmensumfelds nach sogenannten»schwachen Signalen« (weak signals). Diesewerden systematisch identifiziert, bewertetund analysiert [Durst et al. 2010]. Die Ergebnis-se der Trendanalyse werden systematisch inden Szenarioentwicklungsprozess integriert.

2. Szenarioentwicklung: Der zweite Bereich be-schäftigt sich mit der Entwicklung möglicherProjektionsbündel. Zunächst wird ein Ent-scheidungsraum definiert und die hierfür re-levanten Ergebnisse der Trendanalyse alsProjektionen festgelegt. Aus der Kombinationder Projektionen ergibt sich ein Szenario, dasalle potenziellen Projektionsbündel enthält.Unter Einbeziehung von Wahrscheinlich-keiten werden die möglichen Szenarien be-wertet. Abschließend werden die nach be-stimmten Kriterien ausgewählten Szenarienausgearbeitet. Die Ergebnisse der Szenario-entwicklung fließen zum einen in das Trend-

Trendmanagement Szenarioentwicklung SzenariobasierteStrategieentwicklung

Strategien auf

Konzernebene

Geschäftsfeldebene

funktionaler Ebene

SystematischeIntegration der Ergebnisse aus der Trendanalyse in den Szenarioentwicklungs-prozess

Einbindung der Ergebnisse der Szenarioentwicklung in das Trendmanagement(z.B. Schlüsselfaktoren)

Szenariovorbereitung

Szenarioanalyse

Szenarioprognose

Szenarioausarbeitung

Trendidentifikation

Trendbewertung

Trendanalyse

Trend-Reporting

1 2 3

Abb. 1: Bereiche der Zukunftsforschung im Unternehmen (eigene Darstellung in Anlehnung an [Fink & Schlake 2000])

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management zurück und bilden zum an-deren die Basis für die szenariobasierteStrategieentwicklung.

3. Szenariobasierte Strategieentwicklung: Derdritte Bereich nutzt die entwickelten Szena-rien, um die traditionelle Entwicklung vonUnternehmensstrategien auf Konzern-, Ge-schäftsfeld- und funktionaler Ebene einesUnternehmen zu verbessern. Die Unterneh-mensziele geben hierbei die Richtung vor.

Diese drei Bereiche der Zukunftsforschung sindim Unternehmen oftmals in verschiedenen Ein-heiten angesiedelt. Von institutionalisiertenForschungs- und Entwicklungsabteilungen bishin zum innerbetrieblichen Vorschlagswesenbeschäftigen sich viele Mitarbeiter mit unter-schiedlichen Aspekten der Zukunftsforschung[Rohrbeck & Gemünden 2006]. Zusätzlich wer-den Spezialisten für diese Thematik hinzugezo-gen, um deren Expertise in strategische Ent-scheidungen einfließen zu lassen. Von der me-thodischen Seite sind die Entscheidungs-findungsprozesse oftmals unstrukturiert undintuitiv. Ganzheitliche Konzepte zur Zukunfts-forschung sind selten und softwareseitige Un-terstützung ist in den meisten Fällen auf einen

einzelnen Aspekt in der Zukunftsforschung ge-richtet. Zum Beispiel wird zur Integration vonexternen und internen Experten Social Softwarein Form von Wikis eingesetzt [Koch et al. 2009].Abbildung 2 gibt einen Überblick der verschie-denen Ansätze im Unternehmen.

! Szenarien der klassischen Zukunftsforschungim Unternehmen setzen sich aus einem Zu-sammenspiel von markt- und technologiesei-tigen Methoden zusammen. Marktseitig kön-nen das z.B. Trendanalysen, soziokulturelleStrömungen oder Fokusthemen sein. Techno-logie-Scouting, Patentanalysen oder tech-nologische Konkurrenzanalysen sind dentechnologieseitigen Methoden zugeordnet[Rohrbeck & Gemünden 2006]. Fink et al. ent-wickelten mit ihrer Future Scorecard einensystematischen Corporate-Foresight-Ansatz,der zusätzlich zur marktseitigen Analyse al-ternative interne Entwicklungspfade in dieStrategieentwicklung einbezieht [Fink et al.2005].

Der Fokus dieses Beitrags liegt auf der systema-tischen Entwicklung szenariobasierter Unter-nehmensstrategien – in Abbildung 2 grau hin-terlegt. Das theoretische Rahmenwerk umfasst

Methode

Systematische szenario-basierte Strategieentwicklung durch externe Berater

Intuitive szenariobasierte Strategieentwicklung durch Experten (»Gurus«)

Intuitive szenariobasierte Strategieentwicklunginnerhalb von Arbeitsgruppen

Systematische szenario-basierte Strategieentwicklung innerhalb von Arbeitsgruppen

Org

anis

atio

nin

tern

exte

rn

systematischintuitiv

Abb. 2: Organisation szenariobasierter Strategieentwicklung (eigene Darstellung in Anlehnung an [Fink et al. 2005])

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dabei sowohl externe als auch unternehmens-interne Einflussfaktoren und verbindet damitMarkt- sowie Ressourcenorientierung. Kernbe-standteil und Hauptanforderung dieser syste-matischen Vorgehensweise sind ein definierterübergreifender Prozess, die Zuordnung von Rol-len und Akteuren sowie eine softwareseitigeUnterstützung.

3 Theoretisches RahmenwerkEin theoretisches Rahmenwerk bildet die wich-tigsten Zusammenhänge eines Forschungsthe-mas ab und vermittelt ein gemeinsames Grund-verständnis dafür. Es organisiert relevante Kon-zepte in einer logischen Weise und ist dieAusgangsbasis für gemeinsame kumulative For-schung [Smyth 2004; Mertens 2005]. Abbildung 3beschreibt die Komponenten und deren Zusam-menhänge des theoretischen Rahmenwerks»Zukunftsforschung 2.0 im Unternehmen«.

In den folgenden Abschnitten werden diefünf Phasen mit ihren kooperativen Komponen-ten und deren Softwareunterstützung erläutert.

3.1 FaktorenanalyseDer Startpunkt der Faktorenanalyse ist einekonkrete strategische Fragestellung, die das Be-trachtungsfeld der Zukunft für die folgendeAnalyse eingrenzt. Auf Basis dieser Fragestel-lung werden Faktoren oder Einflussfaktoren er-hoben, die grundsätzlich im Themenfeld derstrategischen Fragestellung liegen und für dieBeantwortung der Frage relevant sind.

Ein Unternehmen hat verschiedene Mög-lichkeiten, markt- und unternehmensorientier-te Faktoren zu identifizieren. MarktorientierteFaktoren sind z.B. Klimawandel, Solarenergieoder Einwanderungsquote und werden ausdem Unternehmensumfeld, z.B. von Messen,Konferenzen und spezialisierten Dienstleistern,sowie von Themenexperten bezogen. InterneFaktoren sind z.B. Mitarbeiterzahl in definiertenBereichen, Anzahl der Filialen oder Krankheits-quote. Sie werden in Data-Warehouse-Syste-men erhoben. Hier eignet sich ein FIS zur struk-turierten Erfassung, Kategorisierung und Ver-knüpfung dieser Faktoren. Ähnlich einem

Abb. 3: Zukunftsforschung 2.0 im Unternehmen

Markt

Unternehmen

A

B

C

heute Zukunft

A

B

C

heute Zukunft

A

B

C

A

B

C

A

B

C

A

B C

A

B

C

A

B

C

A

B

C

A

B C

+

-

-

A

C

A

B

Faktorenanalyse TrendmanagementSzenario-entwicklung

Szenario-bewertung

Strategieformulierungund -implementierung

Performance Monitoring

Experten-Community

AusgewählteExperten

AusgewählteExperten

StrategischesManagement

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Weblog wird ein Faktor wie ein Artikel angelegt,kategorisiert, mit anderen Faktoren verknüpftund verschlagwortet. Das System ist so gestal-tet, dass eine räumlich verteilte Experten-Community über einen geregelten Zugriff dieFaktoren dokumentieren kann.

3.2 TrendmanagementAufgabe des Trendmanagements ist es, zu-nächst die Faktoren zu identifizieren, die für diestrategische Fragestellung eine hohe Unsicher-heit und eine hohe Wirkungsstärke aufweisen.Dies kann z.B. über Unsicherheitsanalysen oderImpact-Uncertainty Maps ermittelt werden[Ratcliffe 2000]. Das Ergebnis sind die soge-nannten Schlüsselfaktoren. Diese Schlüsselfak-toren werden nun auf einen gewünschten Zeit-punkt in der Zukunft projiziert. Eine Projektionist somit eine mögliche Ausprägung einesSchlüsselfaktors in der Zukunft. Diese sind inAbbildung 3 als A, B und C dargestellt. Projektio-nen sind nicht zwingend ordinal oder kardinal.Dies bedeutet, dass nicht jeder Schüsselfaktormit der Aussage »steigt« oder »fällt« bzw. »bes-ser« oder »schlechter« bewertbar ist. Ein Bei-spiel hierfür ist »Trendfarbe Sommerkleidung«,deren Bewertung nominal erfolgt. Aus diesenProjektionen lassen sich Trends ableiten. Untereinem Trend versteht man eine zukünftig vor-ausgesagte oder aktuell beobachtete, besondereoder ungewöhnliche Veränderung eines odermehrerer Schlüsselfaktoren bzw. das Verharrenauf einem der Veränderung folgenden Stagna-tionsplateau. Von einem mathematischen Ge-sichtspunkt aus betrachtet formuliert ein Trendeine Funktion der Zeit, die einen oder mehrereSchlüsselfaktoren an bestimmten Zeitpunktenauswertet. Das Ergebnis sind eine oder mehrereProjektionen. Systemseitig werden die im FIS er-fassten Trends periodisch durch ausgewählteExperten bewertet. Das Ergebnis dieser multidi-mensionalen Bewertung ist die mögliche zu-künftige Bedeutung eines Trends für das Unter-nehmen. Bewertungskriterien sind z.B.: Nachhal-tigkeit, Technologie-, Verwertungs- oder Markt-

potenzial. Softwareseitig kann jeder Expertedezentral und asynchron die Trends nach dengenannten Kriterien mit Schiebereglern beur-teilen. Das FIS berechnet die jeweiligen Durch-schnittsbewertungen und weist auf Diskrepan-zen in der Bewertung – ähnlich einer Delphi-Studie – hin. Die bewerteten Trends werden imeinem Radar visualisiert [Durst et al. 2010]. Re-levante Trends sind primär durch eine gewissePrognosefähigkeit bestimmt. Ebenso kann dieWahrscheinlichkeit für einen Trend im Radar er-fasst werden, die in der SzenarioentwicklungVerwendung findet.

3.3 SzenarioentwicklungAus der Trendanalyse übernimmt man die Pro-jektionen als ausgewertete Schlüsselfaktorenzu einem gegebenen Zeitpunkt. Zusätzlich kannman diese durch weitere Faktoren, die nicht imKontext der Trendanalyse erkannt wurden, er-gänzen. Die Summe aller möglichen Projek-tionskombinationen, sogenannte Projektions-bündel, bildet die Ausgangsbasis der Szenario-entwicklung. Ziel dieser Phase ist die Ableitungvon Szenarien als Menge ähnlicher Projektions-bündel. Die Ähnlichkeit kann hierbei grundsätz-lich beliebig definiert werden. Eine in der Szena-rioentwicklung anerkannte Methode ist dieKonsistenzanalyse. Experten bewerten koope-rativ die Glaubwürdigkeit bzw. die Wider-spruchsfreiheit von kombinierten Zukunftspro-jektionen auf einer Likert-Skala von »1 = totaleInkonsistenz, d.h., die beiden Projektionenschließen einander aus und können nicht zu-sammen in einem glaubwürdigen Szenario vor-kommen« bis »5 = sehr starke gegenseitige Un-terstützung, d.h., aufgrund des Eintretens dereinen Projektion kann auch mit dem Eintretender anderen Projektion gerechnet werden«. AufBasis der Bewertungen werden ähnliche Projek-tionsbündel zu Szenarien und somit konsisten-ten Zukunftsbildern aggregiert.

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3.4 SzenariobewertungZur Bewertung der Szenarien werden die in derTrendanalyse identifizierten Trends einbezogen.Dabei werden auf Basis der Trendfunktion dieerrechneten Eintrittswahrscheinlichkeiten dereinzelnen Projektionen in den abgeleiteten Sze-narien berücksichtigt. Dies wirkt sich stabilisie-rend auf einzelne Szenarien aus, da für das Ein-treten eines bestimmten Ereignisses in einembestimmten Zeitraum in der Zukunft eine höhe-re geschätzte Wahrscheinlichkeit vorliegt. DieFixierung einzelner Projektionen aus der Trend-analyse grenzt den Lösungsraum ein und trägtzu einer höheren Validität der Szenarien bei. ImFolgenden wählen Experten aus dem strategi-schen Management die Zielszenarien mit derhöchsten Konsistenz sowie der höchsten Wahr-scheinlichkeit aus. Diese Zielszenarien werdenabschließend den strategischen Optionen ge-genübergestellt und hinsichtlich des Unterstüt-zungsgrades bewertet, d.h., es wird ermittelt,wie gut eine strategische Option zu den einzel-nen Zielszenarien passt. Wenn eine Strategiehohe Unterstützungswerte in ausgewähltenZielszenarien aufweist, ist sie gegenüber einermöglichen Zukunft robust. Daraus ergibt sichder strategische Optionenraum für das Unter-nehmen.

3.5 Strategieformulierung und -implementierung

Strategieformulierung und -implementierungsind Aufgaben des strategischen Managementsund werden an dieser Stelle aktiv nicht mehrdurch das FIS unterstützt. Hierzu zählen unteranderem das Formulieren einer Mission und de-ren Zielsetzungen auf Basis der am Anfang fo-kussierten strategischen Fragestellung sowiedie für die organisatorische Umsetzung erfor-derliche Zerlegung der Aufgaben in Teilbereiche[Hungenberg 2004].

4 Praxisbeispiel Diehl Stiftung & Co. KGDie Diehl Stiftung & Co. KG ist ein global operie-render Industriekonzern mit Stammsitz inNürnberg. Über 13.500 Mitarbeiter entwickeln,fertigen und vertreiben Produkte an über 80Standorten in rund zwanzig Staaten auf vierKontinenten. Gegliedert in die TeilkonzerneDiehl Metall, Diehl Controls, Diehl Defence,Diehl Aerosystems und Diehl Metering umfasstdie Diehl-Gruppe heute vierzig Tochterunter-nehmen und Joint Ventures. Seit der Gründungdes Unternehmens im Jahr 1902 befindet sichdas Unternehmen in Familienbesitz.

Das Produktprogramm ist stark diversifi-ziert und umfasst unterschiedliche Geschäfts-felder in verschiedenen industriellen Branchen.Dementsprechend ist Diehl in Form einerManagement-Holding organisiert und vereintdie Vorteile eines global agierenden Großunter-nehmens mit den Vorteilen von marktnahen, ei-genständig und flexibel operierenden Unter-nehmenseinheiten. Die gewollte Heterogenitätder Diehl-Unternehmensgruppe im Hinblick aufProdukte, Märkte und Technologien erfordertdeshalb eine dezentralisierte Organisation. Be-stimmender Führungsgrundsatz ist das Prinzipder Verantwortung vor Ort, wo die Erfahrungenund Kompetenzen für die unmittelbare Bewälti-gung von Aufgaben vorhanden sind. Die effi-ziente Nutzung von Querstrukturen und Schnitt-stellen zur Hebung von Synergiepotenzialen istvor diesem Hintergrund eine Herausforderung.

Corporate ForesightUm dieser Herausforderung zu begegnen, wur-de im Jahr 2005 eine Managementstruktur im-plementiert, die vorsieht, die individuellen In-novationsprozesse der operativen Geschäftsfel-der zu vernetzen. Konkret bedeutet dies, dass injedem Geschäftsfeld jeweils ein Innovations-manager benannt wurde. Dieses Netzwerk wirdvon einer zentralen Stabsstelle koordiniert. Kernder Zusammenarbeit ist die kontinuierlicheWeiterentwicklung der diversifizierten Innova-

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tionsprozesse durch den Best-Practice-Ansatz.Corporate Foresight im Sinne eines systemati-schen Trendmanagementansatzes ist eineKomponente, die trotz des hohen Diversifizie-rungsgrades für alle Beteiligten im Innovations-management – zentral wie dezentral – einehohe Bedeutung einnimmt.

TrendmanagementAuf Ebene der Teilkonzerne und deren Geschäfts-felder sind die Ziele der Corporate Foresight dieFormulierung einer zukunftsfähigen Strategieund damit die langfristige Sicherstellung der ope-rativen Geschäftstätigkeit. Durch einen transpa-renten Prozess können gleichzeitig Entwicklungs-felder mit Synergiepotenzial erkannt und teilkon-zernübergreifende Innovationsprojekte initiiertwerden. Der Trendmanagementprozess findet alsjährlich rollierender Prozess auf Konzern- und aufTeilkonzernebene statt. Initiiert wird er auf Kon-

zernebene durch die Innovationsmanager, dieSuchfelder festlegen. Spezifische Trendthemenwerden in Zusammenarbeit mit den Trainees imKonzern recherchiert und mit Blick auf die Unter-nehmensrelevanz bewertet. Jeder dieser soge-nannten Konzerntrends wird im FIS dokumen-tiert. Die Teilkonzerne leiten davon für ihr ope-ratives Geschäft relevante Teilkonzern- oderGeschäftsfeldtrends ab. Diese werden von Trend-teams auf Geschäftsfeldebene mittels einer Port-folioanalyse bewertet, die sieben Bewertungskri-terien umfasst, die sowohl die interne als auchdie externe Perspektive berücksichtigen.Abbildung 4 zeigt beispielhaft, aus welchen Krite-rien sich die Dimension »Value of Opportunity«zusammensetzt.

Durch Einbeziehung aller Fachdisziplinenim Unternehmen werden die Validität der Er-gebnisse und deren Akzeptanz im Topmanage-ment gesteigert.

Abb. 4: Kriterien einer Bewertungsdimension

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Szenarienentwicklung als nächster SchrittNach der Strukturierung des Trendmanage-ments ist im Diehl-Innovationsmanagementangedacht, den Blick in die Zukunft durch dieAnwendung der Szenariotechnik weiter zuschärfen.

Erste Erfahrungen nach 2 Jahren strukturiertem TrendmanagementEine breit angelegte Recherche ist Ausgangs-punkt für eine valide Bewertung von Trendthe-men. Des Weiteren stellt es für die Akteure imTrendmanagement eine Notwendigkeit dar,sich zu den Themen intensiv austauschen zukönnen. Die Durchführung von jährlich stattfin-denden Workshops ist eine wichtige Maßnah-me, reicht aber für ein belastbares Ergebnisnicht aus. Dies ist im Wesentlichen durch denbegrenzten zeitlichen Rahmen begründet. DerEinsatz von FIS, die die Kommunikation und dieBewertungsmethodik unterstützen, ist somitvon essenzieller Bedeutung.

5 Vorteile der IT-gestützten kooperativen Zukunftsforschung

Der Beitrag »Zukunftsforschung 2.0 im Unter-nehmen« legt mit seinem theoretischen Rah-menwerk den Grundstein für die systemati-sche, IT-gestützte Entwicklung szenariobasier-ter Unternehmensstrategien. Der Entwick-lungsprozess ist dabei durchgehend von einemkooperativen Führungsinformationssystem un-terstützt. Der Unterschied zu bestehenden Lö-sungen und damit das Besondere des hier vor-gestellten Ansatzes ist die Einbeziehung derEintrittswahrscheinlichkeiten einzelner Trendsaus der Trendanalyse. Dadurch verbessert sichdie Qualität der Input-Daten für die Szenariobe-wertung und somit die Ergebnisse der Zu-kunftsforschung im Unternehmen. Das Fallbei-spiel Diehl zeigt, dass eine reine Workshop-Methode ohne IT-Unterstützung nicht in derLage ist, komplexe Bewertungsprozesse abzu-bilden, Ergebnisse zu dokumentieren und die

Kommunikation zwischen den Experten zu för-dern. Die hohe analytische Komplexität insbe-sondere in der Szenariokonstruktion macht denEinsatz eines kooperativen FIS unabdingbar.Dies komplementiert die Workshop-Methodenund führt zu einer langfristigen und nachhalti-gen Erweiterung von bestehenden Führungsin-formationssystemen.

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Dr. Carolin DurstUniversität Erlangen-NürnbergLehrstuhl Wirtschaftsinformatik IILange Gasse 2090403 Nü[email protected]

Dr. Andreas VolekDiehl Stiftung & Co. KGStephanstr. 4990478 Nü[email protected]

Florian GreifHinnerk BrügmannITONICS GmbHEmilienstr. 2990489 Nürnberg{florian.greif, hinnerk.bruegmann}@itonics.dewww.itonics.de

Prof. Dr. Michael DurstFOM Hochschule für Oekonomie und ManagementZeltnerstr. 1990443 Nü[email protected]