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ZUM PROBLEM DER EMANZIPATIONSGEWOHNHEITEN IM MEROWINGISCHEN FRANKENREICH von Detlef ILLMER Freiburg im Breisgau SONDERDRÜK AUS «L'ENFANT» RECUEILS DE LA SOCIETE JEAN BODIN T. 36 1976

zum problem der emanzipationsgewohnheiten im merowingischen

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ZUM PROBLEM DER EMANZIPATIONSGEWOHNHEITEN

IM MEROWINGISCHEN FRANKENREICH

von

Detlef ILLMER

Freiburg im Breisgau

SONDERDRÜK AUS

«L'ENFANT»

RECUEILS DE LA SOCIETE JEAN BODIN

T. 36

1976

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IV

ZUM PROBLEM DER EMANZIPATIONSGEWOHNHEITEN

IM MEROWIINTGISCHEN FRANKENREICH

von

Detlef ILLMER

Freiburg im Breisgau

I

Die hier gestellte Thematik ist eng mit wesentlichen Proble-

men der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des frühen Mittel-

alters verbunden. Wer die Situation des Kindes in der Mero-

wingerzeit untersuchen will, sieht sich daher sofort einer Reihe kontroverser sozialgeschichtlicher Interpretationen gegenüber und muss von vornherein damit rechnen, beim augenblicklichen Stand der Forschung manche Aussagen im Bereich des Vor- läufigen und der Vermutungen zu formulieren.

Da ist zunächst die Frage nach der sozialen Schichtung im Frankenreich nach der rechtlichen, politischen und kulturellen Qualität der Oberschicht und den darunter bestehenden Ab- hängigkeiten 1. Da sich Nachrichten über Kinder ohnehin meist nur aus *der Umwelt der politisch handelnden Schicht

erhalten haben, können wir es zunächst mit der Berücksichtigung

einiger Grundtatsachen bewenden lassen, ohne dass dabei die hier untersuchten Verhältnisse für alle Gruppen der merowin-

1 cf. zu diesem Fragenkomplex unten die Anm. 5,6,8, zo und 14.

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gischen Gesellschaft repräsentativ sein sollen. Bei den meisten Nachrichten können wir mit einiger Sicherheit feststellen, ob das erwähnte Kind aus einer besitzenden Familie stammte, ob es frei oder Sklave war, ob es der fränkischen oder gallo-römischen Bevölkerungsgruppe angehörte. Damit ist nicht gesagt, dass besitzend immer auch rechtsgleich bedeuten muss, obgleich diese Ansicht in der Forschung vertreten worden ist. 2 Die

verschiedenen privat eingegangenen Abhängigkeitsverhältnisse treten uns in den Volksrechten nicht klar vor Augen 3 und nur sporadisch in den erzählenden Quellen. Immerhin lässt sich erkennen, dass diejenigen, die nur wenig besassen - in der gebräuchlichen lateinischen Terminologie «mediocres » ge- nannt 4- in Rechtshandlungen ihren Kindern gegenüber ganz ähnlich zu verfahren pflegten, wie die « nobiles », « optimates »

2 cf. A. I. NJEUSSYCHIN, Die Enstehung der abhängigen Bauernschaft als Klasse der frühfeudalen Gesellschaft in Nesteuropa vom 6. bis B. Jahrhundert. Deutsche Ausgabe besorgt von Bernhard Töpfer, Berlin 1961, S. 225f und 228, wonach die Vermögensdifferenzierung unter den freien Franken im 7. und B. Jahrhundert keine Differenzierung der Rechte nach sich gezogen habe.

' Marc BLOCH, La Societe feodale (= L'6volution de l'humanitE 8,1968), S.

215ff. cf. dazu den Kommentar Hildemars zum 6g. Kapitel der Regula Benedicti,

Expositio Regulae, ed. R. MrrrExuiLLEx (1880), S. 547ff: Nobiles enim appelat divites, quamquam scriptura divina appellet nobiles liberos, quia solent multi pauperes esse nobiles genere, eo quod de nobili genere sunt orti. Et iterum solent multi divites ignobiles esse, i. e. quia de rustica progenie sunt nati ... Hier spie- geln sich die Verhältnissedes g. Jahrhunderts, dahermacht der Kommentatorauf den

unterschiedlichen Sprachgebrauch in der Regel Benedlkts besonders aufmerksam: Sciendum est autem, quia tres distinctiones facit B. Benedictus, i. e. divitum, medio- crum et nihil habentium.

Der Terminologie der Regel entspricht diejenige der Heiligenleben des 7. und B. Jahrhunderts, in denen wir es bei der Benennung der Eltern der Heiligen haupt-

sächlich mit zwei terminologischen Kategorien zu tun haben:

- nobiles; ingenui; incliti; dives; ex parentibus locupletis secundum dignitatem

saeculi (Vita Landiberti, cap. 2, MG SSrer Merov. VI, S. 351).

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u. s. w. genannten. Die Unterschiede lagen hier nicht in einer Rechtsnorm, sondern in der Ungleichheit der sozialen Chancen aufgrund des geringeren Besitzes. Mit geburtsständischen Verhältnissen, die auch die Situation der Kinder aus der Ober- schicht innerhalb der merowingischen Gesellschaft abgesondert hätten, ist für das 6. und 7. Jahrhundert nicht zu rechnen. Die meisten Forscher sind sich darin einig, dass die «einzige Spal- tung des Freienstandes in hoch und niedrig » sich nicht auf die Herkunft, sondern auf den Besitz gründete. b Vielleicht wäre es unter diesen Umständen überhaupt vorzuziehen, wenn man auf den Begriff « Adel » für die merowingische Zeit verzichtete und von einer Schicht reicher, mittlerer und kleiner Grund- Besitzer spräche, umso mehr, wenn man der Ansicht ist, dass

- non ignobiles; non infimi; non improbi; Parentibus secundum saeculi digni- tatem non primis, non ultimis (Vita Gaugerici, cap. i, MG SSrer Merov. III, S. 652); non infimis parentibus, sed ex mediocri gente Francorum (Vita Ermi- nonis cap. i, MG SSrer Merov. VI, S. 462.

Dem Terminus " mediocris " steht der Terminus t pauper " sehr nahe, seit dem g. Jahrhundert dann oft im Gegensatz zu " potens " gebraucht. Auch hier ist für unsere Epoche nicht überall völlige Mittellosigkeit anzunehmen, viel eher die Unfähigkeit, den Besitz mit eigenen Kräften vor dem Zugriff anderer zu schützen, cf. K. BOSL, Potens und Pauper. Begriffsgeschichtliche Studien zur gesellschaftlichen Differenzierung im frühen Mittelalter und zum " Pauperismus s des Hochmittelalters, in : Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift für Otto Brunner (1963), S. 6 off.

a Cf. R. SPRANDEL, Struktur und Geschichte des merowingischen Adels, in: Hist. Zeitschr. 193 (1961) S. 58; A. J. NJEUSSYca1N, a. a. O. S. 225ff. spricht von der Rechtsgleichheit aller freien Franken und wendet sich dabei wie die meisten neueren Ansichten gegen die These von der Existenz eines alten Stammesadels. cf, auch G. MILDminasGER, Sozial- und Kulturgeschichte der Germanen (1972) S. 64ff, nach dem die Masse der Bevölkerung des 6. u. 7. Jh's von den Freien gebildet wurde. Damit stimmen auch die Ergebnisse A. BERGENGRUENS übereil: Adel und Grundherr- schaft im Merottingerreich. Siedlungs- und standesgeschichtliche Studie zu den An- fängen des fränkischen Adels in Nordfrankreich u. Belgien (= Beiheft Nr. 41 der Vierteljahresschr. f. Soz. u. Wirtschaftsgosch. (1958) S. 182ff.

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ein alter Stammesadel - wenn er je bestanden hat - unter den Bedingungen der fränkischen Landnahme mit neuen, durch Besitz aufsteigenden Familien verschmolzen sein muss. 6 Ein Terminus wie «nobilis» wird noch im g. Jahrhundert durch « dives » erklärt und wie schon in der Regula Benedicti vom « pauper » abgehoben. '

Schwerer wiegt in unserem Zusammenhang die Frage nach der Familienstruktur, insbesondere nach dem Verhältnis zwischen dem Familienkern Vater, Mutter, Kinder und der engeren Verwandtschaft, der Sippe. Von der Sippe als einem

t Zum Problem der Existenz eines Geblütsadels im alten Germanien cf. die Übersicht bei R. WENSKUS, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der früh-

mittelalterlichen gentes (1961) S. 313 bis 346 und MILDENBERGER, a. a. O. S. 134, Anm. 7. WENSKUS selbst stellt den Begrifft Adel s nicht in Frage, wohl aber t Adels- herrschaft, Adelsführung ". Ähnlich äußert sich SPRANDE[., a. a. O. S. 42f und 55f, der von einem aus t romanischen, fränkischen, burgundischen und anderen völ- kischen Elementen zusammengewachsenen Gesamtadel t seit dem 6. Jh. spricht, unter dem es aber im 7. Jh. eine noch breitet Mittel- und Unterschicht º aus freien fränkischen Kleinbauern, romanischen curiales, Klerikern und anderen Gruppen

gegeben habe. cf. auch BERGENGRUEN, a. a. O. S. 182: Die erste fränkische Landnahme habe nur bäuerlich-kriegerische Volkssiedlung gekannt. Einen rechtlich geschlos- senen Erbadel habe es im merowingischen Reich nicht gegeben. (ib. S. 172) Njeus-

sychin, a. a. O. S. 225ff vermutet, dass der ältere Geblütsadel mit neuen höheren Gesellschaftsschichten verschmolzen und deshalb auch nicht in der Lex Salica

erwähnt sei. Fragwürdig bleibt seine Gleichsetzung von neuem Gefolgsadel mit den Antrustionen (ib. S. 227M Dazu cf. unten S. 165.

. Trotz mehrfachen Hinweises auf das t Schwankende im Adelsbegriff der Urzeit s

kann auch R. Scheyhing sich nicht dazu entschließen, die Rolle des Besitzes in den Schichten zu analysieren, die man als Adel zu bezeichnen gewohnt ist. cf. Hand-

wörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. A. ERLER/E. KAUFMANN, Bd. I (1971) Sp. 41ff.

7 cf. oben Anm. 4; nach einer anderen Redaktion dieser Schrift, ed. Florilegium Casinense, Bibliotheca Casinensis, Tom. IV, Monte Cassino (1880) S. 151: Nobiles enim appellant divites; quos scriptura divina apellat liberos. Solent enim multi pauperes esse nobiles, cf. auch Regula Benedicti cd. R. HANSLIF CSEL 75 (1960) S. 138.

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starren Rechtsverband ist heute nicht mehr zu sprechen. 8 Gerade damit aber stellt sich die Frage, in welchen Umwelten das Kind aufgewachsen ist : in nachbarschaftlichem oder groß- familialem Milieu-wie eine Bemerkung des Tacitus vermuten lassen könnte 9- oder weit mehr in den primären Beziehungen zu Eltern und Geschwistern, als man gemeinhin annimmt. 10

' W. SCHLESINGER, Randbemerkungen zu drei Aufsätzen über Sippe, Gefolg- schaft und Treue, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift für O. Brunner (1963) S. I1 bis 21. Der Abschnitt über die " Sippe " ist besonders der Auseinandersetzung mit F. Genzmer gewidmet, cf. dessen Aufsatz : Die germanische Sippe als Rechtsbegriff, in: Zeitschr. £ Rechtsgesch. germ. Abtlg., 67 (1950) S. 34ff, worin die Sippe als ein unscharf begrenzter und wechselnder Verwandtenkreis bezeichnet wird, und mit K. Ki oasci ELL, Die Sippe im germanischen Recht, in: Zeitschr. £ Rechtsgosch. germ. Abtlg. 77 (1960) S. Iff, der von Sippe überhaupt nicht sprechen möchte, sondern nur noch von Verwandten. Schlesinger selbst hält an der Sippe als t Rechtsbegriff im Sinne der alten Zeit " und damit an ihrer « Verfassungs-

wirklichkeit " fest. (ib. S. 12113). Aus den archäologischen Befunden und der agrarischen Situation der germanischen

Siedlungen folgert MILDENBERGER, a. a. O. S. 63ff, dass sich die Sippe als Lebensge-

meinschaft nicht nachweisen lasse. NJEUSSYCHIN zeichnet ein sehr schematisches Bild der Verhältnisse, a. a. O. S I28ff: Die fränkische Großfamilie setze sich aus verschiedenen Verwandtenkreisen zusammen, die wirtschaftlich miteinander ver- flochten waren. Zum engsten Kreis gehörten demnach die Brüder, Söhne des

gleichen Vaters, die die Wirtschaft im Hause ihres Vaters gemeinsam führten. Den

zweiten Kreis bildeten die nächsten männlichen Verwandten dieser Brüder und zum dritten Kreis gehörten die entfernteren Verwandten über die weibliche Linie,

angeheiratete männliche Personen. Gleichzeitig könne man, so NJEUSSYCHIN, aber neben dem Vorhandensein der Großfamilie ihren Zerfall und ihre Aufteilung beo- bachten. (ib. S. 131)-

0 Tacitus, Germania cap. 20, cd. H. FuRNEAux, Oxford (1958): inter eadem pecora, in eadem humo degunt, donec aetas separet ingenuos, ... I' Die Existenz der t engsten Familieneinheit ", eben das, was wir heute Familie

nennen, bezweifelt W. SCHLESINGER, da sie als Rechtsbegriff in der alten Zeit nicht zu fassen sei; cf. Sippe, Gefolgschaft und Treue, a. a. O. S. 14. MILDENBERGER dagegen,

a. a. O. S. 63ff erklärt die Kleinfamilie auch zur Grundlage der germanischen So-

zialstruktur. WEN-sKUS, a. a. O. S. 9ff, z74ff neigt gleichfalls zu dieser Ansicht und wendet sich gegen

_den Schluß, im germanischen Altertum habe es noch keine

Kleinfamilie gegeben, weil ein Wort dafür nicht vorhanden gewesen sei. (ib. S. io).

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Die spärlichen Angaben der Volksrechte zu diesen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind nicht ohne weiteres so aus- zuwerten, als sei die Bindung des Kindes zu seiner Verwandt- schaft - etwa zu einer a Brüdergemeinschaft » 11 oder zum Vater- bzw. Mutterbruder 12 - enger und immer relevanter gewesen als zu seinen leiblichen Eltern. Die Existenz der engsten «Familieneinheit », Eltern und Kinder, darf man nicht nur als Rechtsbegriff fassen wollen. Es ist nicht einzusehen, warum bei der Suche nach der « Familie der alten Zeit » es Schwierigkeiten bereiten soll, wenn im Kreis der Erbberechtig- ten die Söhne teilweise besser gestellt waren als die Töchter, womit der Familie « ein noch engerer Kreis der Brüdergemein- schaft gegenübertritt». Hier scheint Schlesinger ohne weiteres vom kodifizierten rechtsgeschichtlichen auf den kulturellen und sozialen Zustand der « alten Familie » zu schließen. Das Erb-

recht aber fasst doch nur eine Seite der sehr komplexen Exi- stenzweise von Eltern und Kindern. Alles, was zum Beispiel

Fast ausschließlich in ihrer Beziehung zum Staat und unter politisch-dynastischem Aspekt sah Ch. G, +LY, La famille d 1'epoque merovingienne, Paris (igor) die Familie des Frühmittelalters. Das Römische Recht und die Kirche hätten ihre Bedeutung als Staat im Staate, als wirtschaftliche und solidarische Einheit zurückgedrängt.

11 Erbrechtliche Besserstellung der Söhne vor den Töchtern nach der Lex Salica, cf. dazu SCHLESINGER, a. a. O. S. 14. der daraus auf eine enge Brüdergemeinschaft schließt. Auch NJEUSSYCHIN sieht in einer solchen Brüdergemeinschaft den Kern der fränkischen Großfamilie, a. a. O. S. 128; cf. auch oben Anm. B.

1S Die Bedeutung des Mutterbruders bei den Germanen hebt Tacitus in der Germania cap. zo besonders hervor: sororum filiis idem apud avunculum qui apud patrem honor. quidam sanctiorem artioremque hunc nexum sanguinis arbi- trantur et in accipiendis obsidibus magis exigunt, tamquam et animum firmius et domum latius teneant. Bereits Mo\TESQuIEU hatte diese Stelle als bemerkenswert notiert, De L'esprit des Lois, ed. G. TRUG (1956), Livre XVIII, chap. 22, S. 307ff. Die Erwähnung des avunculus für die frühe Zeit, spärlich und zufällig, läßt jedoch nicht auf eine besondere Bedeutung des Mutterbruders schließen. Zu dieser Pro- blematik und den hier angesprochenen Themen der " Ziehsohnschaft " und der t künstlichen Verwandtschaft s bei den frühmittelalterlichen germanischen Völkern bereitet der Verf. eine eigene Studie vor.

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bereits im 9. Jahrhundert von einer Kernfamilie im Handbuch der Dhuoda zu erkennen ist, die rechtlichen, sozialen und psy- chologischen Beziehungen der Eltern zueinander, der Soziali- sationsprozess der Kinder 13, fallt schwerlich in die Kompetenz eines auf das Zusammenleben der Mitglieder einer ethnischen Gruppe ausgerichteten Rechtes.

Tragfähigere Grundlagen für eine Sozialgeschichte der Familie im frühen Mittelalter werden sich nur im Zusammen- hang mit der Analyse der wirtschaftlichen Verhältnisse finden lassen. So kontrovers hier auch im einzelnen die Ansichten sein mögen, es scheint sich für die Zeit zwischen dem 6. und B. Jahr- hundert im Zusammenhang mit der Entstehung von Allod, Grundherrschaft und Vermögensdifferenzierung eine deutliche Entwicklung zur Kleinfamilie abzuzeichnen 14. Auch die Ehe-

111 cf. dazu J. Wos. trscH, Eine adelige Familie des frühen Mittelalters. Ihr Selbst-

verständnis und ihreW irklichkeit, in: Archiv £ Kulturgesch., 39 (1959) S. i5off und L'Education carolingienne. Le Manuel de Dhuoda, ed. E. BONDURAND, Paris (1887).

31 cf. R LATOUCHE, Les origines de l'denomie occidentale (ive - xie sidcle), L'dvo- lution de l'humanitd 26 (1970) S. 71ff, Hoff, 85ff der sich in der Beurteilung des Zusammenhangs zwischen Wirtschaftsstruktur und Lebensform (mansus und Kleinfamilie) weitgehend auf die Forschungen von Marc BLOCH stützt. Freilassungen durch kirchliche Grundbesitzer sowie der nach dem Zusammenbruch der spät- antiken Sklavenwirtschaft fühlbare Mangel an Arbeitskräften auf dem Lande begünstigten, so LAroucHE, in Innergallien die Entwicklung zum bäuerlichen Klein- besitz, teils frei, teils in der Abhängigkeit von mächtigen Grundherren. Zudem habe

sich die Zahl unfreier Arbeitskräfte teilweise auch aus Germanen rekrutiert, die,

ganz ähnlich wie in neuester Zeit die nach Mitteleuropa strömenden t Gastarbei-

ter ., auf Arbeitssuche über den Rhein gekommen seien. Die Landnahme durch die dem individuellen Eigentum besonders zugetanen Franken (ib. S. 9of) habe die Entwicklung zum kleinbäuerlichen Familienbesitz noch verstärkt. Der Autor fügt hier jedoch an, dass der große Grundbesitz mehr und mehr solchen Kleinbesitz von sich abhängig machen konnte. (ib. S. 9t)' Ganz offensichtlich bestätigt sich in einer solchen zunächst widersprüchlich anmutenden Entwicklung - vermehrtes Auf-

treten der besitzenden Kleinfamilie und deren gleichzeitige Tendenz, in Unfreiheit

zu geraten - die freilich allein an spätantiken Verhältnissen entwickelte Ansicht Max WEBERS, wonach die Wiederherstellung der Familie in den unteren Schichten

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gesetzgebung der Kirche wirkte sich in dieser Richtung aus, einmal ganz abgesehen davon, dass man schon bei den Ger- manen der älteren Zeit Ansätze zu einer festen Eheauffassung feststellen wollte. '-' Die freilich fast alle von christlichen Vor- stellungen mitgeprägten Texte zeigen, dass der Terminus « parentes » auch in rechtlichem Kontext nicht immer nur mit 'Verwandtschaft' zu übersetzen ist. Bei allen Rechtshandlungen, welche die Kirche Kindern gegenüber unternahm, wandte sie sich ausdrücklich an die leiblichen Eltern und nicht an ein

durch die ständig wachsende Knappheit an Arbeitskräften geboten war. cf. Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur, in: Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1924) S. z89ff, 3ooff: ...

die römischen Sklaven finden wir in der t kommunistischen t Sklavenkaserne, den servus der Karolingerzeit

aber in der Kathe (mansus servilis) auf dem vom Herrn ihm ge- liehenen Lande als fronpflichtigen Kleinbauern. Er ist der Familie zurückgegeben und mit der Familie hat sich auch der Eigenbesitz eingestellt. - Diese Abschichtung des Sklaven aus dem " Oikos " hat sich in der spätrömischen Zeit vollzogen und in der Tat: sie musste ja die Folge der mangelnden Selbstergänzungen der Sklaven- kasernen sein. Der Herr sicherte, indem er den Sklaven als Erbuntertan wieder in den Kreis der Einzelfamilie stellte, sich den Nachwuchs und dadurch die dauernde Versorgung mit Arbeitskräften

... Zu mansus und hufe, als kleinster agrarischer Einheit, und ihren Bewohnern, der Familie, cf. M. BLocH, Les caracteres originauz de l'Histoire rurale francaise, Nouv. Edit., I (1968) S. 155ff 163ff. Den Typus dieser Familie hebt BLOCH vom t clan » ab; es habe sich um wenige unter patriarchalischer Leitung zusammen- wohnende Generationen gehandelt. Zum individuellen Familieneigentum bei den Franken cf. auch NJEussycHIN, a. a. O. S. i85ff.

rs cf. H. WINfER, Die Stellung des unehelichen Kindes in der langobardischen Gesetz-

gebung, in: Zeitschr. f. Rechtsgesch. germ. Abtlg. 87 (1970) S. 35ff. R. KÖSTLER, Die väterliche Ehebewilligung. Eine kirchenrechtliche Untersuchung auf rechtsver- gleichender Grundlage (= Kirchenrechtliche Abhandlungen hg. U. Snrrz, Heft

51,1908) S. 14ff, 31ff, 54ff, 8zff; G. BÜCKLING, Die Rechtsstellung der unehelichen Kinder im Mittelalter und in der heutigen Reformbewegung (= Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte hg. O. Gr s z, Heft 129,1920) S. 32 bis

38; Tacitus, Germania cap. 19: sic unum accipiunt maritum quo modo unum corpus unamque vitam, ne ulla cogitatio ultra, ne longior cupiditas, ne tamquam maritum sed tamquam matrimonium ament.

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Verwandtschaftskollektiv. is Bei unserer noch völlig ungenügen- den Kenntnis über die Interdependenzen zwischen frühmittelal- terlicher Gesellschaft und ihrer Sprache ist es allerdings kaum möglich festzustellen, inwieweit hier die Terminologie bereits wirkliche Verhältnisse spiegelt.

II

Wie bereits angedeutet, sind die Aussagen der Volksrechte zu unserem Thema viel zu dürftig, um allein damit den Versuch wagen zu können, die Situation des Kindes in seinen familiären und sozialen Beziehungen darzustellen. Den Gründen für dieses Schweigen zum Thema u Kindheit » können wir hier nicht nachgehen. Zweifellos sind sie aber nicht nur im Wesen und in den Absichten der Volksrechte zu suchen. So hat auch H. I. Marrou von der Unkenntnis, welche die griechische Pädagogik dem Kind gegenüber bewies, auf einen - bewusst oder unbe- wusst - gewollten Verzicht geschlossen. '' In der christlichen Ära läßt sich diese Tendenz trotz der theologischen Hoch- schätzung des Kindes in noch viel stärkerem Masse feststellen, 18 und wahrscheinlich ist auch die Nachricht des Tacitus, dass

" cf. die Interpretation des Begriffes " parentes º in der Regula Benedicti cap. 59, durch Hildemar, ed. MrrrER ULLER a. a. O. S. 548: Parentes enim nominat solum- modo patrem et matrem, quia parentes de matre et patre dicuntur a pariendo. Und

weiter zur petitio: Ita faciendum est: debet, si pater est vivus, dicere pater; si autem mortuus est, dicere mater - nam alius propinquus non debet. cf. dazu auch den Sprachgebrauch in der viel älteren Vita Caesarii cap. 4, MG SSrer Merov. III,

458: ... ignorante familia vel parentibus ... und die allerdings späten Formulae Ecclesiasticae Nr. 32 ed. ZEumzR, Formulae Merowingici et Karolini Aevi, MG LL sect. V, S. 570-

117 H. I. MARRou, Histoire de I'Education dons l'Antiquitd, 6e 6d. (1965) S. 325. "cf. dazu D. ILLMER, Formen der Erzziehung und Nasenvermittlung im frühen

Mittelalter (= Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissanceforschung Bd. 7,1971) S. 165H:

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man bei den Germanen das freie Kind nicht leicht vom un- freien unterscheiden konnte 19, als ein solches Zurückweisen der kindlichen Umwelt zu interpretieren, wie es Cäsar von den keltischen Vätern berichtet hat. 20

Wir fassen hier ein Verhalten, das in der abendländischen Geschichte wenn nicht gar kontinuierlich, so doch häufig nach- weisbar ist. Das kindliche Denken mit dem Denken der Primi- tiven zu vergleichen, eine in der anthropologischen und psy- chologischen Forschung bereits traditionelle Gewohnheit, er- weist sich bei einer solchen Kontinuität des Schweigens über die kindliche Welt als wenig sinnvoll. Wenn der primitive Er- wachsene dem Kind einer zivilisierten Kultur ähnlich sein soll, so muss man sich zumindest fragen, wem dann das Kind in den primitiven Gesellschaften ähnlich gewesen ist. Denn gerade bei älteren Gesellschaften wäre nach einer solchen These eine größere Offenheit dieser Welt gegenüber zu erwarten. Claude Levi-Strauss hat sich gegen eine solche der Vorstellung einer geradlinigen Fortentwicklung des menschlichen Verhaltens ver- hafteten Auffassung gewandt 21 Jede Gesellschaft, gleichgültig ob eine zivilisierte oder eine primitive, sei eine Gesellschaft der Erwachsenen. Obgleich die psychischen Strukturen der Er- wachsenen nach Epoche und Zivilisationsstufe variieren, be- ruhten sie alle auf einem « fonds universel, infiniment plus riche que celui dont dispose chaque societe particuliere, si bien que

19 Tachos, Germania cap. ig, s. oben Anm. g. 20 C. Julius Caesar, Comm. Belli Callici VI, 18,3: in reliquis vitae institutis hoc

fere ab reliquis differunt, quod suos liberos, nisi cum adoleverunt ut munus militiae sustinere possint, palam ad se adire non patiuntur, filiumque puerili aetate in publico in conspectu patris adsistere turpe ducunt. cf. hierzu auch die vonWENSKUS a. a. O. S. 363 im Zusammenhang mit der Waffensohnschaft zitierte Stelle bei Paulus Diaconus, Hist. Langobard. I, 23f, wonach König Audoin seinem Sohn die Tischgenossenschaft verweigerte bis er vom König eines anderen Volkes die Waffen erhalten hatte.

111 Claude Lfv1-Srxeuss, Les structures e'lementaires de la parents (1971) S. 98ff.

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chaque enfant apporte avec lui en naissant, et sous une forme

embryonnaire, la somme totale des possibilites dont chaque cul- ture et chaque periode de l'histoire ne font que choisir quelques unes »22. Levi- Strauss spricht von einem « polymorphisme de la pensee infantile », der in einem besonders kritischen Gegensatz

zu allen sozialen Normen steht. Zwar wissen wir über die Wirkung von Lebensnormen in älteren Gesellschaften immer

noch wenig, doch besteht kein Anlass, allein aufgrund des

niedrigen Standes der Technik und der einfachen Wirtschafts-

ordnung solche Verhaltensnormen als schwach ausgebildet anzu- sehen. Die wenigen Forschungsansätze in diese Richtung zeigen bereits ein gegenteiliges Bild. 23 So liegt es auch nahe, den Dar-

stellungen von Kind und Kindheit in den stark von christlichen Vorstellungen geprägten Texten des 6., 7. und B. Jahrhunderts

mit größter Vorsicht zu begegnen und hier gerade solche Topoi zu vermuten, die zur sprachlichen Zementierung jener ver- drängten oder ignorierten Erfahrungen dienen sollten. Dies

_' ib. S. so8. 23 WENskus, a. a. O. S. 341 spricht für die frühe Zeit vom viel höheren Maß so-

zialer Kontrolle-des einzelnen durch die Gruppe. cf. auch ib. S. 343f zur Interde.

pendenz zwischen Lebensform und Herrschaft. Nützlich in diesem Zusammenhang

ein Kapitel bei E. R. Donos, Die Griechen und das Irrationale, Berkeley (1966), dtsch. Ubers. 1970, S. s7ff: Von der Schamkultur zur Schuldkultur. Nach Dodds

war die stärkste moralische Macht, welche der homerische Mensch kannte, nicht die Furcht vor Gott, sondern die Rücksicht auf die öffentliche Meinung. Zum Begriff

" Schamkultur ", für die die Spannung zwischen individuellem Impuls und dem Druck der sozialen Anpassung charakteristisch ist cf. DODns, ib. S. 15ff und die dort angegebene Literatur. Literarisch und ohne sozialhistorische Aussagekraft bleibt der von K. HAUCK verwendete Normbegriff: Lebensnormen und Kultmythen in genpanischen Stammes- und Herrschergenealogien, in: Saeeulum 6 (1955). Ist

z. Bsp. die Haartracht ein stark ethnisch betonter Teil der Stammestracht, cf. Wsrssus, a. a. O. S. 261 und HAUCK, a. a. O. S. 212ff, so sind Haar- und Bartschnitt doch nicht mit dem Inhalt der damit ausgedrückten Norm gleichzusetzen, son- dem nur deren äußeres Attribut. Die Rückführung solcher Erscheinungen auf ältere Kulte erfasst noch lange nicht ihre jeweiligen sozialen und sozialpsycholo- gischen Motivationen.

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trifft zu, soweit es um die moralische oder theologische Wertung von Kind und Kindheit geht. 21 Anders zu werten sind indessen solche Aussagen, in denen u infantia » und « pueritia » mit den in der jeweiligen Epoche vertretenen religiösen und sozialen Leitbildern in Zusammenhang gebracht werden, in unserem Fall mit dem des merowingischen Heiligen. "5 Es sind Aussagen, die aus dem Niemandsland der Kindheit in die bekannte Welt der Erwachsenen führen, in denen sich Tatsächliches zum Erziehungsvorgang, zum Sozialisationsprozess des Kindes iso- lieren läßt. Selbst in sprachlich formelhafter und toposartiger Gestalt geben sie noch ein Bild von sozialen Möglichkeiten und Gewohnheiten ihrer Zeit 26

23 cf. dazu D. ILLA[ER, a. a. O. S. 165ff. In diesem Zusammenhang spielt das Klischee vom s puer-senex s eine große Rolle. Durch Gregor den Großen in die Heiligenvita eingeführt, wird es zur literarischen Normvorstellung für kindliches Verhalten, so dass man mit Recht gesagt hat, dass im Leben der heiligen Kinder das Kindliche keine Rolle spielt; cf. W. BERscmN, Die Biographie im Lateinischen Mit- telalter, Preisarbeit der Bayrischen Akademie der Wissenschaften (1964) unver- öffentlicht, S. 185: s Der Musterknabe s, und E. R. CURTIUS, Europäische Literatur

und Lateinisches Mittelalter (1961) 3. Aufl. S. 1o8ff. 25 Über den Zusammenhang zwischen Heiligenvita und Herrschaft cf. F. PRINZ,

Heiligenkult und Adelsherrschaft im Spiegel merowingischer Hagiographie, in: Hist. Zeitschr. 204 (1967) S. 532ff; auch Frantisek GRUS, Die Gewalt bei den Anfängen des Feudalismus und die s Gefangenenbefreiung s der merow ingischen Hagiographie, in: Jahrb. f. Wirtschaftsgesch. I (1961) S. 61f, 86f, und die interessanten Bemer- kungen K. BosL's zur Bedeutung der Heiligen für die Sozialgeschichte als s Leit- bilder s und s Quelle zum Studium der mentalit6 und der Gesellschaftsstruktur des sonst so dunklen 7.18. Jahrhunderts, s in: Der s Adelsheilige s. Idealtypus und Wirklichkeit, Gesellschaft und Kultur im merowingerzeitlichen Bayern des 7. und B. Jahrhunderts. Gesellschaftsgeschichtliche Beiträge zu den Viten der bayrischen Stam-

mesheiligen Emmeram, Rupert, Korbinian, in: Speculum Historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung, Festschrift für Joh. Spörl (1965) S. 167ff und bes. S. 1856:

aa cf. dazu auch die methodischen Überlegungen zu den merowingischen Heili-

genleben von BERGENGRUEN, aa. O. S. 16ff, der zum s realen Gerippe s solcher Texte den Namen des Heiligen, die Namen seiner Eltern, Angaben zur Nationalität und

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Für unseren Zeitraum sind besonders die biographischen Teile der Heiligenleben von Interesse. Dass es in diesen Texten nicht nur um ein rein theologisches Ideal geht, ist oft betont worden und wird sich auch in den folgenden Ausführungen bestätigen. In der älteren Schicht der Hagiographie, den Viten aus der Feder des Gregor von Tours und des Fortunat, stammen weitaus die meisten Heiligen aus der gallorömischen Aristokra- tie? ' Was hier über Kindheit und Jugend ausgesagt wird, trägt typisch spätantike Züge. Wo der Heilige nicht als Kind der Kirche übergeben wird, eine Möglichkeit, die Benedikt schon in seiner Regel rechtlich verankert hatte, erhält er vor seiner Konversion eine an traditionellen Vorbildern ausgerichtete Er- ziehung im Schoss der Familie oder noch durch bestehende Institutionen 28 Die meisten werden dann als « adolescentes », d. h. im Alter zwischen vierzehn und zwanzig Jahren von den kirchlichen Institutionen aufgenommen. 29 Hierbei wird häufig von einem Konflikt zwischen dem jungen Mann und seinem

Geburtsort rechnet. Wenn er die Viten als unbrauchbar für eine Bestimmung

fränkischen Ständewesens erklärt, setzt er voraus, dass es hierfür präzise Termini

gegeben habe. Das aber ist nicht selbstverständlich, cf. dazu oben die Anm. 4 bis

10. " cf. die folgenden Viten aus der Feder Gregors von Tours: Lupicini, Galli,

Patrocli, Nicetii, Martii, Ursi, Aviti, Venantii, Leobardi, alle in MG SSrer Merov. I, 2 (1885) Nov. Ed. (Ig69). Nach Gregor sollen drei aus unfreien Verhältnissen kommende Heilige, Portianus, Brachio und Hymnemodus, Franken gewesen sein (ib. Vitae Patrum) Diesen Sachverhalt kann man, wenn auch unter Vorbehalten,

mit der Behauptung Fron R. LATOUCHE in Verbindung bringen, wonach viele Germa-

nen auf Arbeitssuche nach Gallien gezogen seien, cf. oben Anm. 14. u Über das Ende der antiken Schule cf. P. Ricn&, La survivance des dcoles publiques

en Gaule au ve sibcle, in: Le Moyen Age ('957) und ders. Enseignement du droit

en Gaule du vie au xie siecle, Mailand (= lus Romanuni Medii Aevi, pars I, 5b bb,

1965) und D. Iw. taa, a. a. O. S. 49ff und 79ff. s' 4 adolescentes i werden genannt: Lupicinus, Gallus, Patroclus, Venantius,

Leobardus. Jünger soll Ursus gewesen sein, Vitae Patrum cap. '; 6; 9; 16; 20 und 18, MG SSrer Merov. I, 2.

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Vater oder seinen Eltern berichtet, die ihn lieber verheiratet gesehen hätten 30. Bei diesen noch weitgehend in römischer Tradition stehenden Verhältnissen ist wohl nicht so sehr an einen durch die Eltern ausgeübten Ehezwang zu denken 31, viel- mehr schlug sich in diesem Bewährungstopos der Konflikt

zwischen der römischen patria potestas und der vom Sohn be-

absichtigten Konversion nieder. Bereits Basilius hatte im Falle

von konvertierenden Söhnen die Aufhebung der väterlichen Ge- walt verlangt, sie in den übrigen Bereichen dafür bestätigt 32. Zwar hatte die einst absolute Gewalt über die Haussöhne bereits durch die Entwicklung. des Römischen Rechts an Stärke verloren : sie war seit langem keine Gewalt mehr über Leben und Tod und wurde durch die wachsende vermögensrechtliche Verselbstän- digung der Hauskinder weiter abgeschwächt 33. Wesentlich

30 Besonders ausführlich schildert Gregor von Tours diesen Konflikt in der Vita Leobardi, Vitae Patrum cap. 20, MG SSrer Merov. I, 2 S. 2grf. Über die große Verbreitung des Themas " Ablehnung der Ehe und jungfräuliche Ehe der Heiligen r c£ F. GRAUS, Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merowinger, Prag (1965) S. 468ff.

31 Die vorliegende Studie wird zeigen, dass im Frühmittelalter von Ehezwang gegenüber den Söhnen nicht allgemein, sondern nur in Einzelfällen und unter bestimmten wirtschaftlichen oder politischen Voraussetzungen gesprochen werden kann, ebenso wenig aber auch von Ehebewilligung durch die Väter, welcher Hei- ratsansprüche der Söhne entsprechen müßten, die es wieder nur in Einzelfällen

gegeben hat: etwa der Fall des Sohnes von Karl dem Kahlen, der ohne seinen Vater zu fragen eine Ehe eingegangen war; cf. Ph. JAFFE, Reg. Pontificum Romanorum I,

2. Aufl. LOEwzr. nz D u. a. (1885) Nr. 2705, S. 346. Beide Begriffe bezeichnen - neben anderen - mögliche Funktionen der väterlichen Gewalt und nicht etwa feste Rechtsnormen. Einer neuen sozialgeschichtlichen Überprüfung und Differen- zierung bedarf daher die Behauptung R. Kösrmaas. dass in den germanischen Staaten der Mangel väterlicher Ehebewilligung aus dem Gesichtspunkt des Raubes durch die Einwirkung der Kirche zum Ehehindernis wurde: Die väterliche Ehebewilli- gung (= Kirchenrechtliche Abhandlungen hg. U. Srurrz, 51. Heft, igo8) S. 166.

32 cf. J. GAUDEAMET, L'Eglise dans ('Empire Romain (ive - ve siecles) (= Hist. du Droit et des Institutions de l'Eglise en Occident, tome III, 1958) S. 559.

111 cf. dazu M. KASER, Römisches Privatrecht (1966)s, §. 6o IV 2 a, b S. 239f.

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scheint jedoch die Absicht der Kirche gewesen zu sein, ihre Wir- kung zeitlich zu begrenzen. Dahinter stand das Interesse, die tra- ditionelle Erwachsenenkonversion zurückzudrängen und die re- ligiösen Institutionen mehr und mehr durch die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen zu rekrutieren. Das religiöse Dasein

« ab ineunte aetate » zu beginnen, wurde in der Hagiographie als die erstrebenswerteste Möglichkeit der Konversion gefeiert. 34 War einerseits die patria potestas die rechtliche Grundlage für die Übergabe von Kindern in die Gewalt des Bischofs oder des Abtes, konnte sie doch gerade bei der Konversion der 'adoles-

centes' zum wesentlichen Hindernis werden. Bereits Benedikt begrenzte daher die traditio infantum auf Kinder « minore aetate n, d. h. auf Kinder zwischen sieben und zehn Jahren. 35 Ausdrücklich verbietet dann das Konzil von Toledo vom Jahre 656 den Widerruf einer solchen oblatio und bestimmt, dass Eltern ihre Kinder nur bis zum io. Lebensjahr der Kirche dar- bringen dürften. 36 Danach sollten die filii entweder mit dem Einverständnis ihrer Eltern oder aus freier Entscheidung kon-

vertieren. Die kirchlichen Gesetzgeber begrenzen hier die

voluntas parentum und damit auch die väterliche Gewalt und nehmen folgerichtigerweise auf die traditionelle Möglichkeit

'j cf. dazu D. ILLatER, a. a. O. Kap. IV, 2 und 3. Auch die Heiligenleben räumen der Übergabe von Kindern an die Kirche immer einen Raum ein: cf. die bei Gregor

v. Tours in den Vitae Patrum genannten Heiligen: Martius, Friardus, Ursus, MG

SSrer Merov. 1,2 S. 267 f, 255 f, 283 f. In späteren Viten wird u. a. -von folgenden

Heiligen berichtet, dass sie im Kindesalter der Kirche übergeben wurden: Ger-

manus abb. Grandivall. MG SSrer Merov. V. 33; Gaugericus, ib. III, 652; Landi-

bertus, ib. VI, 628: Carileffus, ib. III, 389 f; Rigobertus, ib. VII, 61 f. Nach einem kirchlichen Text zu urteilen, war es im 8. Jahrhundert lange üblich, dass Mönche

als Kinder in die Kirche gebracht wurden, Cl. HEFEL. E/LECLERCQ, Histoire des

Conciles, tome III, 2 (1910) S. 891, can. 13- ' ILU. IER, a. a. O. S. 16 ff, 25 ff, z8 if. '" Parentibus sane filios suns religioni contradere, non amplius quam usque ad

decimum aetatis corum annum licentia poterit esse, cf. Sacrorum Conciliorurn nova et ampliss. Collectio, ed. J. b{&Nst, Paris-Arnhem-Leipzig (1901 - 1927) Bd. 11,36.

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ihrer Aufhebung durch « emancipatio » keinen Bezug mehr. Inwieweit die Emanzipation als Rechtshandlung und Rechts- begriff im gallorömischen Bereich überhaupt von Bedeutung

geblieben war, kann hier nicht festgestellt werden. Möglicher-

weise wurde die Übergabe von Kindern selbst als eine « eman- cipatio_» interpretiert, wie die im Westgotischen und Rätischen in diesem Zusammenhang verbreitete Terminologie vermuten läßt. 37 In der Lex Romana Curiensis werden alle Übergabeakte, die den Haussohn betreffen, wie seine mit Zustimmung der Eltern geschlossene Ehe als « emancipatio » verstanden. 38 Das

zeigt, dass die Emanzipation nicht mehr, wie in klassischer Zeit,

ein unabhängiger, vom Vater auszulösender Rechtsakt war, sondern jetzt an allen Möglichkeiten haftete, gewissermaßen als deren Konsequenz, die den Haussöhnen eine Existenz ausser- halb der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Vater gewährten. Die rechtlichen Folgen dieser Pseudo-Emanzipation können

sehr verschieden sein und führen längst nicht immer dazu - wie etwa beim Übergang in ein Patronatsverhältnis - dass der Entlassene nun 'sui iuris' ist 39 Das Fehlen des Begriffes 'filius-

81 " (e)mancipare i für die Übergabe von Kindern an die Kirche cf. das 2. Konzil

von toledo, can. 1, MA1: s1 8,785: de his quos voluntas parentum a primis infantiae

annis clericatus officio emanciparit, ... Die vielleicht noch ins 6. Jh. gehörende westgotische Vita Bibiani cap. 2, MG SSrer Merov. III, 94 bringt: ... qui cum ad annos sedecim pervenisset, ... sancti Arnbrosii huius civitatis episcopi devotus

se mancipavit obsequio. cf. dazu auch unten Anm. 126 98 cf. dazu Elisabeth MEYER-MARiHALER, Römisches Recht in Rdtien im frühen

und hohen Mittelalter (= Beiheft der Schweiz. Zeitschr. f. Geschichte 13,1968) S. 136 ff und Lex Romana Curiensis XXII, 6, ed. E. MEYER-MARTHALER, in : Samm- lung schweizerischer Rechtsquell en, XV. Abtlg. Die Rechtsquellen des Kantons Graubünden, 1959, S. 431: Et alio modo filii emancipantur, hoc est emancipatio, si pater eorum eos per manum dat ad alium seniorem et cos ei comendaverit, auf si ad ipsus filius uxores dederint, ut in sua ipsorum potentate eon vivere diinittat.

'9 Zur wachsenden Bedeutung der Patronatsverhältnisse in der Spätantike cf. J. GAG$, Les Classes sociales dons l'Empire Romain, Paris (1964) S. 417 ff und Marc BLGC11, La Societe feodale (= L'Cvolution de l'humanitE 8,1968) bes. S. 212 bis 217.

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familias', der hier durch 'inmancipatus' ersetzt wird 40, läßt vermuten, dass nun jede wirtschaftliche Abhängigkeit der Söhne vom Vater wesentlich stärker rechtsmindernd wirkte, als in klassischer Zeit. Wenn jetzt die Ehe vollständige ökonomische Unabhängigkeit des Sohnes voraussetzte und als emancipatio verstanden wurde, muss die Stellung des inmancipatus - des unverheirateten Haussohnes - als weitaus abhängiger interpre- tiert werden, als die des früheren Hauskindes, das nach rö- mischem Recht seinerseits in gültiger Ehe leben und auch weitgehend wirtschaftlich selbständig sein konnte. 41 Wenn die Lex Romana Curiensis mit allerdings zu ihrer Zeit sicher schon obsoleten Bestimmungen aus dem Codex Theodosianus dem inmancipatus noch Erwerbsmöglichkeiten aus Ämtern, Advo- katur und Heeresdienst einräumt 42, so müssen wir da, wo solche Möglichkeiten nicht mehr bestanden, in ihm nicht mehr sehen als eine sklavenähnliche Arbeitskraft in der Hauswirt- schaft seines Vaters. d3

110 MEYER-MARTHALER, aa. O. S. 134 und die Glosse zum Begriff filiusfamilias, Lex Romana Curiensis XXIV, 8, a. a. O. S. 493: Si inmancipatus filius, hoc est in- mancipatum, qui adhuc sine uxore est auf qui nec ad regem nec ad nullum patronum conmendatum non est, nisi adhuc in solam potestatem patris permaneat, tales filius sic habet potestatem sicut et servus.

41 M. KASER, aa. O. §60, IIS. 234f. " h1EYER-A'IARTHALER, a. a. O. S. 135 und Lex Rom. Cur. I, 11,1 S. 41; II, 9,2, S.

6g. Die betreffenden Stellen aus dem Codex Theodosianus sind in der Ausgabe der Lex Rom. Cur. den jeweiligen Abschnitten gegenübergestellt.

" Lex Rom. Cur. XXIV, 8, S. 493 ... tales filius (der " inmäncipatus cf oben Anm. 40) sic habet potestatem sicut et servus. Si tales filius auf servus cuicumque homini rem susciperit et ipsam rem in opus de suo patre auf de suo domino expendiderit, ipsam rem pater auf dominus suus reddat. Für den unverheirateten Sohn, ohne Rücksicht auf sein Alter, haftete hiernach der Vater, ebenso vie für einen seiner Unfreien. Die Lex Salina formuliert ähnliche Bestimmungen in Hinblick auf Freie nur für Knaben " infra XII annos ": Pactus Legis SaIicae, 24,7, cd. K. A. ECKHARDT in MG LL sect. I, Leg. Nat. Germ. IV, pars I, S. 92. cf dazu auch Lex Salica cd. H. GEFIcKEN (1898) S. 281.

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Bei der Verbreitung und Bedeutung der spätantiken Patro- natsverhältnisse musste die Konsequenz der klassischen eman- cipatio, die Gewaltfreiheit, zu einem schwer fassbaren Abstrak- tum werden. So ist von ihrer naheliegendsten Voraussetzung, dem Tode des Vaters, in der Lex Romana Curiensis gar nicht die Rede. Nicht mehr die Aufhebung der väterlichen Gewalt an sich war nun rechtlich bedeutsam, sondern der Modus ihrer Ablösung durch eine andere.

Gerade die in dem römischen Recht für Rätien aufgezählten « Emanzipationsmöglichkeiten » machen jetzt verständlich, war- um in den erwähnten Heiligenleben des 6. Jahrhunderts die von den Eltern dem Sohn aufgezwungene Heirat eine so große Rolle spielte : anders als der Übergang in ein Patronatsverhält- nis, setzte die Ehe wirtschaftliche Selbständigkeit voraus. Bei ihrem eigenen Vermögenserwerb aber musste für die Kirche gerade bei der Gefährdung ihres Eigentums durch Laien 94 dasjenige Gut von besonderer Bedeutung sein, das der Konverse mitbringen konnte. 45 Die materielle, von den Eltern gestattete Heiratsfähigkeit eines jungen Mannes, der zur Schicht der pos- sessores gehörte, konnte daher in der Sicht der Kirche zur eigent- lichen Konkurrentin seiner möglichen Konversion werden 40.

'{ cf. dazu E. LOENINC, Das Kirchenrecht im Reiche der Merowinger (= Geschichte des deutschen Kirchenrechts Bd. 2,1878) S. 638 ff.

41 cf. dazu die Regula Magistri cap. 9r, cd. A. DE VocÜk, Sources Chrdaennes

Io6, (1964) S. 404: Ita enim nos considerantes, o parentes, iuste vobis secundum Deum pro vestro filio suademus, ut si filium vestrum digne Deo cupitis offerre, a saeculo eum prius exuite ... relicto quandoque monasterio, securus de portione sua ei servata a vobis, cupiens in saeculari domo vestra reverti, fratribus suis volens esse coheres, suarum redire incipiat sponsus et dominus facultatum, et pristinus restitutus deliciis et pompis, non aliud desideraturus quam nuptias. Zum hagio-

graphischen Thema t der Heilige verteilt sein Gut " cf. F. Gaxus, Volk, Herrscher

und Heiliger im Reich der Merowinger. Studien zur Hagiographie der Merowinger-

zeit. Prag (1965) S. 488 ff und ILLMEz, a. a. O. S. 161 f. 41 Die Motive der jungfräulichen Ehe der Heiligen, ihrer Ablehnung der Ehe,

Flucht aus der Ehe, Verhinderung von Ehen etc. sind in der merowingischen

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EMANZIPATION IM MEROWINGISCHEN FRANKENREICH 145

III

Wenden wir uns der zweiten Schicht der Heiligenleben zu, die in das 7. und B. Jahrhundert datiert werden. 47 Noch immer überwiegt der Anteil der Heiligen 'ex senatu Romano' 98, konstant bleibt auch die Zahl derer, die als Neffen von Bischöfen oder als Oblaten frühzeitig in die Kirche gegeben werden. 49 Eine wesentliche Veränderung im Sozialisationsprozess der

späteren Heiligen zeichnet sich jedoch in der an Bedeutung zunehmenden Rolle des merowingischen Königshofes und seiner

Hagiographie weit breiter ausgeführt, als die der freiwilligen Armut und Entsagung.

cf. ebenfalls F. GRAUS, a. a. O. S. 468 ff. Zu den psychosozialen Hintergründen dieser literarischen Klischees cf. D. I1L MER, a. a. O. S. i6o bis 166. Abgesehen davon, dass die Heiligenleben sich im Dienste asketischer Ideale an junge Menschen

richteten, das Thema der t Ehe " also schon weit mehr Interesse erwecken musste, als die juristische Frage der Bindung ihres späteren Erbteils an die Kirche, kam hier der religiösen Rekrutierung der Umstand entgegen, dass die Heirat bei zunehmender Vermögensdifferenzierung und zunehmender sozialer Abhängigkeit vom Groß-

grundbesitzer nicht mehr ohne weiteres allen Söhnen gestattet werden konnte.

Schon die Magisterregel, obgleich noch aus spätantiken, romanischen Verhältnissen

heraus geschrieben, verknüpft an der in Anm. 45 zit. Stelle die nicht eindeutige Enterbung des jungen Mönches mit der dann immer noch möglichen Heirat zur

großen Gefahr für die Rekrutierung des religiösen Nachwuchses schlechthin. '7 Zur Datierung cf. die bei WATTENBACH - LEVIsox, Deutschlands Geschichts-

quellen im Mittelalter. Vorzeit u. Karolinger, Heft I (1952) zu den einzelnen Viten

gegeben Hinweise. Allerdings dürften verläßlichere Daten erst durch die neu ein-

setzende sprachgeschichtliche Forschung zur Verfügung stehen. cf. dazu auch K. F. STROIIEcKER, Der senatorische Adel im spätantiken Gallien

(1948) S. 135 f. 't Zum bischöflichen Nepotismus in der gallischen Kirche seit dem 5. Jh. ef.

STROHECKER, a. a. O. S. 118. Einzelne Fälle: Gregor von Tours, Cf. STROHECKER,

ib. S. 179; Nicetius, der spätere Bischof von Lyon, war schon jungt clericus in

domo patema ": Gregor v. Tours, Vitae Patrum VIII, MG SSrer Merov. I. 2 S. 24z; Germanus, Bischof v. Paris, ib. S. 372; Praeiectus, Bischof v. Clermont, ib. V, 226; Eucherius, Bischof v. Orleans, ib. VII, 47; als Kinder der Kirche übergeben: Ger-

manus abb. Grandivall, ib. V, 33 f; Rigobertus ib. VII, 61; Lupus, Bischof v. Sens,

ib. IV, 179; Landibertus, Bischof v. Utrecht, ib. VI, 353 f; cf. auch oben Anm. 34"

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Beamten ab. Zugleich aber nötigt uns diese Entwicklung dazu, die jetzt in den Viten aufgezeichneten Stationen « Elternhaus - Hof - Kirche » nur für eine kleine Schicht von Franken und Romanen als repräsentativ anzusehen.

In fast allen Fällen kommen die Heiligen als 'adolescentes' an den Hof. 50 In Übereinstimmung mit römischen Verhältnissen bezeichnen unsere Quellen mit adolescens im allgemeinen den mit etwa vierzehn Jahren ehemündig gewordenen jungen Mann. Der damit beginnende Lebensabschnitt wurde sehr häufig als die 'aetas legitima' bezeichnet. Dieser Terminus ist nicht durch ein festliegendes Datum definiert, sondern meint eine Dauer, die sich von der jeweils erreichten Stufe der Handlungsmöglich- keit her bestimmt. So nennt das langobardische Recht die Zeit zwischen zwölf und achtzehn Jahren 'aetas legitima' im Hin- blick auf die Ehemündigkeit. 52 Für unverheiratete Söhne dage- gen beginnt die 'aetas legitima', und zwar hier bezogen auf ihre Verfügungsgewalt über ihr Eigentum, mit dem 18. Jahr. 53 Auch

110 Desiderius, Bischof v. Cahors, auch sein Bruder Rusticus ist ta primis puber- tatis annis clericus factus 3, MG SSrer Merov. N, 563; Filibertus, ib. V, 584 f; Eligius, ib. IV, 669; Bonitus: turn... pubentibus esset in annis, ib. VI, zz9 f; Vin-

centianus, ib. V, 116 f; Sigiramnus, ib. N, 607; Ermenlandus, ib. V, 684 f; Austre-

gisilus:... eta minore ad robustiorem transisset aetatem, ib. IV, 191 f. 61 M. KASEB, a. a. O. § 14, II S. 62 ff Zu den gebräuchlichen Alterseinteilungen im

Frühmittelalter cf. auch D. II utERR, a. a. O. S. 16 ff und A. HOFMEISTER, Puer, iuvenis, senex. Zum Verständnis der mittelalterlichen Altersbezeichnungen, in: Papsttum

und Kaisertum, Festschr. f. Paul KEint (1926) S. 287 if. Zum Verb t adolescere 6 cf. J. FICKER, Über nähere Verwandtschaft zwischen gothisch-spanischem und nor- wegisch-isländischem Recht, in: Mittei!. f. Österreich. Geschichtsforsch. II. Ergänz. Band (1888) S. 525 if.

b2 Edictum Rothart cap. 155, cd. F. BEYERLE (1962) S. 40: Legitima aetas est, postquam filii duodicem annils habuerint. Vgl. damit das Gesetz Liutprands, anni XIX cap. I17, ib. S. 155: Si infans ante decem et octo annos, quod nos instituimus, ut sit legetima etas, spunsalia facere voluerit auf sibi muliere copolauerit, habeat

potestatem et metam facere, ...

62 Liutprandi Leges, anni IX cap. 19 I, S. iio: De agitate, in quantis annis debeat

esse legitima aetas. Hoc prospeximus, ut intra decem et octo annos non sit legitimus

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innerhalb der Kirche verwendete man diesen Terminus für die Fähigkeit, ab einem jeweiligen Mindestalter bestimmte Weihen

zu empfangen. " Die Zäsur im Leben eines Jugendlichen, die mit dem Beginn

der anni pubertatis eintritt, ist auch in den germanischen Volks-

rechten zu fassen. Bei den Franken und Langobarden finden

wir hier das 12. und das io. Lebensjahr genannt, bei den Goten das i5., später, wahrscheinlich unter dem Einfluss des Rö-

mischen Rechts, das 14. Lebensjahr. 55 Meist verbindet man für die Franken mit dieser Altersschwelle die in der Lex Salica erwähnte « capillaturiae ». 5G Das Haarscheren beim zwölf-

homo res suas alienandum ... Et in nonodecimo anno sit homini langobardo legitima

etas, et quodcumque fecerit vel iudicaverit de rebus suis, stabili ordine debeat

permancre. " Konzil von Toledo vom Jahre 633, can. 20; r'L+xs1 1o, 625: Nos et divinae

legis et conciliorum praccepti immemores, infantes et pueros Levitas fecimus ante legitimam aetatem, ante eaperientiam vitae; ... sed a XXV annis aetatis levitae

consecrentur et a XXX annis presbyteri ordinentur. Nach U. HEI. FENsrEtN, Beiträge zur Problematik der Lebensalter in der mittleren Geschichte, Diss. phil. Zürich (1952) S. 8 ff sollen cap. 155 des Edictum Rothari

und das cap. 117 der Leges des Liutprand eine Verschiebung der legitima aetas

von 12 auf 18 Jahre beweisen. Die jetzt ausgedehntere Unmündigkeit sei auf die

fortgeschrittenere Domestikation des langobardischen Volkes zurückzuführen. Je höher dieser Termin liege, umso höher sei die Gesittung eines Volkes. Ein Vergleich

der in den Anm. 52 und 53 genannten Gesetzesbestimmungen zeigt jedoch die

Unhaltbarkeit einer solchen These. Der Terminus " legitima aetas s bezieht sich

nicht auf feste Daten, sondern auf Zeitspannen, innerhalb derer die verschiedenen Stufen einer - von den parentes allerdings erst noch zu ermöglichenden - Hand- lungsfahigkeit liegen. Auch für Liutprand bleibt die Zeit t intra etatern legetimam

die vor dem 13. Lebensjahr, ib. anni XIX. cap. 129, S. 161. " Edictunl Rothari cap. j55; Pact us Legis Salicae 24,1, S. 89; J. FICKER, a. a. O.

S. 523; ff; cf. auch Fockema A. ti-nae., Ober den Ursprung der niederländischen Rechte ... in: Zeitschr. f. Rechtsgesch. germ. Abtlg. 30 (1909) S. 12 ff und F. Bsyzx1. E, Das Gesetzbuch Ribuariens, Volksrechtliche Studien III, in: Zeitschr. f. Rechtsgesch. germ. Abtlg. 55 (1935) S. 12 ff.

"" Pactus Legis SaIicer, Capitulare 1,67, S. 238: t De chane crenodo $: Si quis

pater auf parentilla, quando filia sua ad maritumdonat, quantum ei in nocte illa quam-

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jährigen Franken, obgleich man hier auch eine in das fränkische Recht eingedrungene griechisch-römische Gewohnheit vermutet hat b', kann nur als Rest alter Initiationsriten interpretiert wer- den. Wenn wir Tacitus Glauben schenken, waren zu seiner Zeit

ganz ähnliche Bräuche bei den Chatten bekannt. Sobald dort die Kinder zu Jugendlichen herangewachsen sind, heisst es im 31. Kapitel der Germania, lassen sie Haar und Bart wachsen und legen diesen Haarwust (squalor) erst ab, nachdem sie einen Feind getötet haben., "' Hierbei handelte es sich um eine bei allen bekannten Initiationsbräuchen bekannte Probezeit, nach der

erst die jungen Männer als vollgültige Mitglieder in die Stammes-

gemeinschaft aufgenommen werden konnten. 59 Obgleich die Haartracht bei den germanischen Stämmen eine

große Rolle spielte, ja auch als Ausdruck kultgebundener Le- bensnormen erkannt worden ist 60, berichten uns nur wenige

libet rem donavit, totam extra partem incontra fratres suos vindicet. Similiter

quando filius suus ad capillaturias Tacit, quicquid ei donatu(m) fuerit, extra parte hoc teneat, et reliquas res equale ordine inter se dividant.

67 P. GUILHIEntoz, Essai sur l'origine de la Noblesse en France au Moyen-Age,

Paris (1902) S. 406 bis 411. Auch P. RICH Education et Culture dons I'Occident

barbare (= Patristica Sorbonensia 4,1962) S. 277 sieht einen Zusammenhang mit

römischen Bräuchen.

ae Tacitus, Germania cap. 31: Et aliis Germanorum populis usurpatum raro et privata cuiusque audentia apud Chattos in consensum vertit, ut primum adoleve- rint, crinem barbarnque submittere, nec nisi hoste caeso exuere votivuni obliga- tumque virtuti oris habitum. super sanguinem et spolia revelant frontem, seque tuen demum pretia nascendi rettulisse dignosque patria ac parentibus ferunt;

39 So interpretierte auch der römische Beobachter: Germania cap 13: sed arena sumere non ante cuiquam moris quam civitas suffecturum probaverit. turn in ipso

concilio vel principum aliquis vel pater vel propinqui scuto frameaque iuvenem

omant: haec apud illos toga, hic primes iuventae honos; ante hoc domus pars vi- dentur, mox rei publicae. cf. dazu auch Lily WEISER, Altgermanische Jünglingsweihen

und Männerbünde. Ein Beitrag zur deutschen u. nordischen Altertums- und Volks- kunde (= Bausteine zur Volkskunde u. Religionswissenschaft, Heft I, 1927) S.

lzffund31ff- 80 cf. oben Anm. 23.

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erzählende Quellen der frühmittelalterlichen Zeit vom Brauch der Haarschur, einem bei verschiedenen Handlungen üblichen Rechtssymbol. Gemeinsam war allen diesen Vorgängen, dass sie den Übergang in ein neues Rechtsverhältnis andeuteten. Das konnte freilich von der Erhebung in königsgleichen Rang, wie im Falle Pippins des Jüngeren 61, bis zum Eintritt in die Un- freiheit reichen. 62 Unklar ist hier überdies noch der Zusammen- hang mit dem christlichen Haaropfer, das gleichfalls die Ab- hängigkeit von dem neuen Besitzer des Haares symbolisierte. 63 Es ist immerhin denkbar, dass die meisten die merowingische Zeit betreffenden Nachrichten über die Haarschur von christ- lichen Vorstellungen beeinflusst sind, die naturgemäß die alte kultische Bedeutung der Haartracht bekämpfen mussten. 64

" Paulus Diaconus, Hist. Langob. VI, 53, MG SSrer Langob. et Ital. (1878) S. 183 : Circa haec tempora Carolus princeps Francorum Pipinum suum filium ad Liut-

prandum direxit, ut eius iuxta morem capillum susciperet. Qui eius caesariem inci-

dens, ei pater effectus est multisque eum ditatum regiis muneribus genitori remisit. '= Formulae Salicae Bignon. Nr. 27, MG LL sect. V, Form. S. 237 f:

... Sed dum

ipsos solidos minime habui, unde transsolvere debeam, sic mihi aptificavit, ut brachium in collum posui et per comam capitis mei coram praesentibus hominibus

tradere feci, in ca ratione, ut interim quod ipsos solidos vestros reddere potuero,

et servitium vestrum et opera, qualecumque vos vel iuniores vestri iniunxeritis,

facere et adimplere debeam ...

" cf. dazu A. FRA z, Die kirchlichen Benediktionen des Mittelalters (1go9) Nachdr.

1960, II, S. 245 bis 253. "Wie lange der profane Akt des Haaropfers bei Jugendlichen üblich gewesen

ist, läßt sich nach Franz, a. a. O. S. 249 nicht mehr feststellen. Die Existenz von kirchlichen Formeln t ad capillaturam s (ib. S. 250 ff) - hier nicht identisch mit der Mönchs- oder Klerikertonsur - beweist jedoch hinlänglich, dass die Kirche hier heidnische Bräuche verchristlich hat. Dazu auch Heucar, a. a. O. S. 212 und Anm.

r51a. Hierher gehört auch die These von J. Hovoux über die Skalpnahme bei den Merowingern, in: Revue beige dc phil. et d'hist. tome XXVI (1948) S. 479 ff, auf die der Verf. aber an anderer Stelle näher eingehen wird. An der Ansicht, dass das Abschneiden des Haupthaares bei den Germanen auch ein Zeichen für die An-

nahme an Kindesstatt sein könne, cf. J. Glu.. nt, Deutsche Rechtsalterthümer I, (1899) S. 201 ff, kann heute nicht mehr ohne weiteres festgehalten werden. cf. dazu den

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150 DETLEF ILLMMER

Da das Haarscheren aber fast überall bei Initiationsbräuchen

nachgewiesen werden kann, spricht nichts dagegen, die 'capilla- turiae' der Lex Salica auch in diesem Sinn auszuwerten. Der 'puer non tonsuratus', den noch das dreifache Wergeld aus- zeichnete, muss unter zwölf Jahre alt gewesen sein. " Die Be-

stimmung, die das Scheren eines Knaben 'sine consilio paren- tum' unter Strafe stellt 66, wirft die Frage auf, welche Rechts- folgen einem solchen Initiationsrest anhaften konnten, zu einer Zeit, da die Initiation als stammesgebundener und öffentlicher Akt kaum noch Bedeutung haben konnte. Die Konsequenzen, welche das vollendete zwölfte Lebensjahr mit sich brachte, ob nun noch ein Haarscheren stattfand oder nicht, zeigen indessen deutlich, dass wir es hier mit Normen zu tun haben, die noch den archaischen Charakter der Initiation tragen und nur schwer- lich mit modernen privatrechtlichen Begriffen zu fassen sind : wenn im Deliktsfall der Zwölfjährige jetzt auch das an die öffentliche Gewalt gehende Friedensgeld zahlen soll, wird er zwar als voll haftbar angesehen, ohne dass sich damit jedoch

seine persönliche Rechtsstellung positiv verändert und seine Handlungsfähigkeit rechtswirksam vermehrt haben mussten 67. Da er, wie wohl in den meisten Fällen, zunächst durchaus ab- hängig blieb, sollte hier auch nicht von beginnender Mündigkeit gesprochen werden. Jean Yver hat gezeigt, dass die fränkischen

Artikel " Adoption " von W. O. WAýAGEL, in: Handuärterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. I (1971) Sp. 55 f:

ea Pactus Legis Salicae z4, z: Si quis puerum [ingenuum] infra XII annos usque ad duodecimum plenum occident, cui fuerit adprobatum, mallobergo lcode sunt, XXIVM denarios qui faciunt solidos DC culpabilis iudicetur.

66 ib. 24, z: Si quis [vero] puerum crinitum [ingenuum] sine consilio parenturn t suorum * totunderit, ...... AIDCCC denrios qui faciunt solidos XLV culpabilis iudicetur. cf. dazu auch Lex Salica (Recensio Pippin) 30,1: Si quis pucrum infra duodecim annos nec tonsurato occiserit ... ed. F. A. ECKHARDT in MG LL sect. I. Leg. Nat. Germ. IV, pars II (1969).

87 Pactus Legis Salicae z. }, 7: Si vero puer infra XII annos aliqua culpa conmiserit, fredus ei non requiratur.

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EMANZIPATION IM MEROWINGISCHEN FRANKENREICH 151

Volksrechte ebenso wenig einen Schutz der noch nicht zwölf Jahre alten «Minderjährigen n kannten. 68 Weiter bringt der Pactus Legis Salicae vom Zwölfjährigen : er ist jetzt alt genug, um beschenkt zu werden, d. h. er wird bis zu einem gewissen Grade vermögensfzhig, 69 und, wie 24,2 zeigt, er wird jetzt auch als ehefähig angesehen. -'0

Die Betonung des zwölften Lebensjahres war demnach we- sentlich noch eine Reaktion auf die physiologische Entwick- lungstatsache. Wenn der puer jetzt auch den 'fredus' erlegen muss, spiegelt sich darin - wie auch im Geschenk des Vaters - die Konsequenz der Initiation : er wird Mitglied der Männer-

gesellschaft, - ante hoc domus pars videntur, mox rei publicae

- ohne dass in der hier behandelten Epoche diese Veränderung

seines sozialen Status vom Bewußtsein eines damit vermehrten rechtswirksamen Handelns getragen war. Dies blieb abhängig von den verschiedensten Gewalten.

Was die 'capillaturiae' angeht, so ist festzustellen, dass bei

'° J. YvER, Note sur la protection des mineurs dans les Capitulaires Carolingiens,

in: Album Balon, Namur (1968) S. 61 ff. Das Bestreben, Minderjährigen mehr Schutz, als einen bloßen Stillstand aller sie betreffenden Rechtshandlungen zu

gewähren, setzt nach Yver erst mit der karolingischen Gesetzgebung ein. " Capitula Legi Sal. addita, ib. ed K. A. EcKHARnr, 67 S. 238: Similiter quando

filius suus ad capillaturias facit, quicquid ei donatum fuerit, extra partem hoc

tcneat, et reliquas res equale ordine inter se dividant. cf. dazu auch ib. tot, i: Si

quis uxorem amiserit et aliam habere voluerit, dotem, quem primaria uxorem de-

dit, secunda ei donare non licet. Si tarnen adhuc filii parvuli sunt, usque ad perfectam

aetatern res uxores anteriores vel dotis taute liceat iudicare; si vero de has nec

vendere nec donare praesurnat. 70 Eine fränkische Glosse zu 24,2 bezeichnet des Haarscheren hier als t uuerdade *,

welches J. BALoN im Gegesatz zu den Germanisten nicht mit " Mannbarniachung r übersetzen will, sondern mit " emancipation ". Die Haarschur sei das Symbol für

das Ende der väterlichen Gewalt. cf. Ius Medii Aevi 3: Traitd de droit Salique. Etu-

de d'exegLr e et de sociologie juridiques, tome 2, Namur (1965) S. 494. \Vie die Aus-

führungen oben im Text zeigen, mann ich mich dieser Meinung nicht anschließen.

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152 DETLEF ILLMER

gleichbleibender Bedeutung des zwölften Lebensjahres 71 sie spätestens im 9. Jahrhundert nicht mehr üblich war. Die Re- censio Pippina der Lex Salica verbindet noch das «nec tonso- rat(us) » mit dem Alter unter zwölf Jahren : (30,1) Si quis puerum infra duodecim annos nec tonsorato occiserit..., der karolingische 7o Titel-Text dagegen spricht vom noch nicht zwölfjährigen puer « sive crinitu(s) sive incrinitu(s) ». 72 Das 'incrinitum' wird man nicht mit der Haarschur des merowin- gischen 65 Titel-Texts in Verbindung bringen dürfen, denn weder die oben diskutierten Rechtsfolgen der capillaturiae, noch die von Balon angenommene Aufhebung der väterlichen Ge- walt ergäben für einen Knaben unter zwölf Jahren einen Sinn. Daher ist auch im 'puer crinitus' nicht einfach der in der Ge-

walt des Vaters befindliche Haussohn zu sehen. Wenn die Wendung « sive crinitum sive incrinitum » nicht auf die im 9. Jahrhundert überhaupt zweifelhaft gewordene Bedeutung der capillaturiae hinweist, dann ist hier vielleicht bereits die Rolle der Mönchs- und Klerikertonsur gemeint. Der anschließende Abschnitt im karolingischen Text (26,3) legt eine solche Auf- fassung nahe : Si vero puellam totonderit, MMD denariis qui faciunt solidos LXII semis culpabilis iudicetur, wobei das « sine voluntate parentum » der vorhergehenden Bestimmung mitver- standen werden muss. Dass der volksrechtliche Brauch des Haarscherens beim Eintritt in die Pubertät - samt seiner sprachlichen Form - von christlichen Riten völlig aufgesogen

71 cf. etwa den von Karl dem Großen für Zwölfjährige geforderten Treueid, MG LL sect. II, Capit. I, Nr. 25. cap. 4: Deinde advocatis et vicariis, centenariis sive fore censiti presbiteri atque cunctas generalitas populi, tam puerilitate annorum XII quamque de senili, ...: omnes iurent.

°z cd. K. A. EchuARDr, Germanenrechte, Neue Folge. Pactus Legis Salicae II, 2 (1956) S. 490 26,1 und 2: Si quis puerum infra XII annos, sive crinitum sive in- crinitum, occident, ... culpabilis iudicetur. Si quis puerum crinitum sine voluntate parentum totunderit ... culpabilis iudicetur. So auch im Systematischen Text, cd. K. A. EcKn MU T, ib. I, 2 (1957) S. 337.33.1 und 2.

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EMANZIPATION IM MEROWINGISCHEN FRANKENREICH 153

wurde, zeigt auch die Tatsache, dass in der karolingischen Ge-

setzgebung sich nur noch Bestimmungen finden, die zwar terminologisch an die capillaturiae der Lex Salica erinnern, jetzt aber ganz andere Tatbestände betreffen : die unrecht- mäßige Übergabe von Kindern an die Kirche. 73

Entgegen der früher besonders von Stobbe, Sohm und Brunner vertretenen Ansicht, war die Haarschur im Pactus Legis Salicae keineswegs ein Symbol für die Aufhebung der

väterlichen Gewalt. 74 Ehefähigkeit bedeutet nicht, dass der

73 hIG LL sect. II, Capit. I, S. 278 Nr. 138 cap. 2o: Ne pueri vero sine voluntate

parentum tonsorentur vel puellae velentur, modis omnibus inhibitum est. cf. auch

ib. Nr. 139 eap. 21, S. 285: De pueris invitis parentibus detonsis auf puellis ve-

latis. Si quis puerum invitis parentibus totonderit auf puellam velaverit, legem suam

in triplo conponat, auf ipsi puero vel puellae, si iam suae potestatis sunt, auf illi in

cuius potestate fuerint.

Offensichtlich führte die immer wieder angefochtene lebenslange Verbind-

lichkeit der Übergabe von Kindern an die Kirche hier zu verstärkter gesetzgeberi-

scher Tätigkeit. Wie die zitierte Stelle zeigt, kommt es dabei zu einem lückenlosen

Zusammenwirken des Volksrechtes und der Konzilsbestimmungen. Ausdrücklich

werden Vater und Mutter als die einzigen Vertragspartner genannt, deren Wille

allein das lebenslange Verbleiben des Kindes im Kloster garantieren soll. Kein

Verwandter soll diese Übergabe vornehmen. cf. Hildemar, ed. MITTERAMÜLLER,

a. a. O. S. 548, zit. oben S. 135, Anm. 16. Dazu auch J. N. SEIDL, Die Gott-Verlobung

von Kindern in Mönchs- und Nonnen-Klöstern ... (1871) S. 59 bis 64.

" cf. R. Sonnt, Die fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung (1911), Beilage I

" Die Wehrhaftmachung " S. 545 ff, bes. S. 548 ff. H. BRUNNER, Deutsche Rechts-

geschichte I (igo6) 2. Aufl. S. 104 f; J. BALON, a. a. O. S. 494. Alle drei Autoren

gründen hier auf der kleinen Schrift von O. ST0BBE, Beiträge zur Geschichte des

deutschen Rechtes (1865) I. Die Aufhebung der väterlichen Gewalt nach dem Rechte

des Mittelalters, S. 7 ff, der in den auch hier schon erwähnten Bestimmungen der

Lex Romana Curiensis (cf. oben S. 142 f) eine Aufhebung der väterlichen Gewalt

im Sinne der klassischen " emancipatio " sah und sie mit der angeblich deutschrecht-

lichen Adoption durch Haar- oder Bartschur in Verbindung brachte. Die neueren Rechtsgeschichten, etwa MrrrEIsJLIEBERICH, Deutsche Rechtsgeschichte (1963)

8. Aufl. und PLANn7lEc Hmw-r. Deutsche Rechtsgeschichte (1961) 2. Aufl. tra-

gen diesen unsicheren Konstruktionen dadurch Rechnung, dass sie die privat-

rechtlichen Verhältnisse des frühen Mittelalters weitgehend mit Schweigen über-

gehen.

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junge Mann aus eigener Entscheidung heiraten konnte. Selbst

wenn er die wirtschaftliche Voraussetzung dazu hatte, war wohl immer das Einverständnis der 'parentes' nötig, die meistens, wie die Viten berichten, auch die Braut auswählten und damit den Zeitpunkt der Heirat bestimmten. 75 Das bei der capilla- turiae vom Vater überreichte Geschenk war zudem keine Erb-

schaft und hat sicher nicht den Sohn wirtschaftlich unabhängig gemacht. 76 Zwar konnte dieses Geschenk eine Waffenübergabe gewesen sein, nichts rechtfertigt indessen die Annahme, dass diese in der merowingischen Zeit noch einer privatrechtlichen Emanzipation gleichgekommen sei, wenn das auch einst der

römische Beobachter bei der Beschreibung germanischer Initia- tionsriten so aufgefasst hatte. 77 Auch die Lebensverhältnisse einer grundbesitzenden Oberschicht sprechen nicht mehr für

eine Emanzipation aufgrund bloßer Waffenfähigkeit. 78 Den Quellen nach zu urteilen, war das wesentliche Ereignis im Leben eines jungen Franken, der das zwölfte Jahr hinter sich

76 cf. auch R. KÖSmER, aa. O. S. 31 f; MrITEISJLIEBERICIi, Deutsches Privatrecht (1968) 5. Aufl. 16 I, 2; 20 II, 2.

76 cf. dazu oben Anm. 69; anders STOBBE, aa. O. S. Io f. 77 Tacitus, Germania cap. 31 die bereits erwähnte Nachricht über das Haar-

scheren bei den jungen Chatten, nachdem sie einen Feind getötet hatten. Die Bemerkung " super sanguinem et spolia revelant frontern, seque tum demum pretia nascendi rettulisse dignosque patria ac parentibus ferunt " zeigt, daß Tacitus hier

vor dem Hintergrund der römischen emancipatio interpretierte. Das anschließende " ignavis et imbellibus manet squalor " beweist, dass es sich um Initiationsriten handelte, es sind die Nichtinitiierten; zu diesen cf. auch F. W. YOUNG, Die Funktion

von Initiationszeremonien für Männer, in: Initiation, hg. V. Popp (1969) S. 16o f. Auch M. WEBER, Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung in der deutschen Literatur des letzten Jahrzehnts (Igo5) in: Gesammelte Aufsätze

zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1924) S. 537 Anm. i. 78 BRUNNER, a. a. O. S. 104 ff verbindet ohne näheres Eingehen auf spätere Ent-

wicklungen die capillaturiae mit der Wehrhaftmachung. Px. Atatrz/Ec L�RwT, a. a. O. S. Io6 dagegen sprechen der Wehrhaftmachung für die fränkische Zeit

größere Bedeutung ab.

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EMANZIPATION IM MEROWINGISCHEN FRANKENREICH 155

gebracht hatte, die nun gestattete Teilnahme an der Jagd. 79 Bereits Max Weber hat darauf hingewiesen, welche Bedeutung die Jagd als Bewahrerin charismatischer Qualitäten in einer Epoche erhalten kann, die durch den Übergang der Herrschaft der Kriegshelden und ihrer freiwilligen Gefolgschaften zur mehr- statischen Hausgewalt gekennzeichnet ist. 80 Zu einer Aufhebung der väterlichen Gewalt ist damit jedoch noch gar nichts ausgesagt.

Wir lassen hier die Frage, ob man, wie das Ficker wollte 81, bei den Franken eher von elterlicher als von väterlicher Gewalt

sprechen muss, wie auch die Frage nach einer genauen Begriffs-

abklärung zwischen Munt und väterlicher Gewalt einmal ausser Acht und versuchen allein, uns über die Gewohnheiten und Konsequenzen beim Austritt des jungen Mannes aus dem Haus des Vaters ein Bild zu machen.

Man hat behauptet, gestützt auf ein fränkisches Kapitular, dass Söhne mit eigenem Vermögen bei Erreichen der «Voll- jährigkeit » aus der väterlichen Gewalt automatisch ausschie- den. 82 Zunächst empfiehlt sich aber, hier nicht von Volljährig-

' cf. Vita Trudonis cap; 4, MG SSrer Merov. VI, 276 f: Contigit autem, ut, labentibus secundum humanarn eonsuetudinem annis, sanctus puer adolescentiae pertingeret florem. Veniebant itaque ad eum, ut erat nobilissime stirpe creatus, incliti quique iuvenes coetani eius ortabanturque eum, immo postulabant, ut una cum illis. ut mos est regiis pueris, venendi exerceret ritum. cf. auch Geste Dagoberti

I Regis Franconun cap. 2, ib. II, 401: Cum autem adolescentiae aetatem, ut genti Francorum moris est; venationibus exerceret. Vielleicht deutet die den adolescens betreffende häufige Wendung " ad exercendum cornmendare " hauptsächlich auf bei der Jagd anfallende Dienste, cf. z. Bsp. De s. Patroclo cap. i. ib. I, 2 S. 253 und De Brachione cap. 2, ib. S. 262; Vita Ansberti cap. 1, ib. " V. 619 und Gregor

von Tours, His:. Franc. IV, 21, ib. 1,1 S. 154; V, 12 S. 207; VI, 46 S. 319; X, to S. 494-

110 1%1. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft (1972) 5. Aufl. S. 767 ff. '1 Fic, ER, a. a. O. S. 5o6 ff. '" L. R vox SALIS, Beitrag zur Geschichte der väterlichen Gewalt nach altfranzö-

sischem Recht, in: Zeitschr. f. Rechtsgesch. germ. Abtlg. VII (1887) S. 164 ff, der sich auf Nr. 10[, i der Capitula Legi Sal ices addita stützt. cf. oben Anm. 69.

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keit oder Mündigkeit zu sprechen, sondern von einer erweiterten Handlungsmöglichkeit des Kindes seit seinem zwölften Lebens- jahr. 83 Ausschlaggebend war die Anerkennung der physiolo- gischen Entwicklungstatsache durch die Erwachsenen, die Rechte, in die die Söhne danach eintreten konnten, blieben weit- gehend vom Ermessen des Vaters, seiner sozialen Stellung und der parentes abhängig. Auch das erwähnte Kapitular behandelt

nur die Fälle, in denen die Söhne aus der Hinterlassenschaft der

verstorbenen Mutter erben. Ob diese res vel dos ausreichten oder ausreichen sollten, um wirtschaftliche Unabhängigkeit zu ermöglichen, ist daraus nicht ohne weiteres zu schliessen.

Wie bereits angedeutet, bestand in einflussreichen Familien der fränkischen Oberschicht des B. Jahrhunderts die Gewohn- heit, Söhne bei Erreichen der anni pubertatis, also im Alter

zwischen zwölf und fünfzehn Jahren, dem Königshof oder einem wichtigen Beamten zu übergeben. 8-' Dieser Übergabeakt

wurde seit Stobbe's Abhandlung über die 'Aufhebung der

väterlichen Gewalt nach dem Recht des Mittelalters' meist als eine deutschrechtliche Emanzipation verstanden. 85 Eine solche

8' Von Stufen der " Handlungsfähigkeit r spricht K. A. ECKHARDT, ohne aber die

weiter bestehenden Abhängigkeiten zu erwähnen, cf. Stufen der Handlungsfähigkeit, in: Deutsche Rechtswissenschaft, 2 (1937) S. 289 if.

84 cf. Gregor v. Tours, Vitae Patrum VIII, MG SSrer Merov. I, 2 S. 253; Vita Audoini cap. 1, ib. V. 555; Vita Wandregiseli abb. Fontanell. cap. 3, ib. V, 13; Vita Eligii ep. Noviomag. cap. 4, ib. IV. 669 f; Vita Desiderii ep. Cadurc, cap. 1, ib. IV, 563; Vita Eparchii cap. 2, ib. III, 553; Vita Arnulfi cap. 3, ib. 11- 432; Vita Sigiramni cap. 2, ib. IV, 607; Vita Austregisili cap. 1, ib. IV, igi; Vita Vincentiani

cap. 3, ib. V. 116; Vita Boniti rap. 2 ib. VI, 119; Vita Ermenlandi cap. i, ib. V. 684; Vita Ansberti ep. Rotomag. cap. 4, ib. V, 61g; Vita Wulframni ep. Senon. cap. 1, ib. V, 662; Vita Filiberti cap. 1, ib. V, 584; Vita Lantberti abb. Fontanell.

cap. 1, ib. V, 6o8. 85 So STOBBE, a. a. O. S. 4 ff; BRUNNER, a. a. O. S. 103 ff; Som f, a. a. O. S. 342 ff

und S. 547; nichts dazu bei M1rrE1sfL! EBER1ex, Deutsche Rechtsgeschichte (1963);

aber auch E. MEYER-MARTRM. ER, a. a. O. S. 136 f spricht von der germanischen Emanzipationsmaglickeit durch Übergabe in ein vasallitisches Verhältnis; W.

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EMANZIPATION IM MEROWINGISCHEN FRANKENREICH 157

Interpretation gründete auf der Voraussetzung, dass der in der Lex Romana Curiensis erwähnte die Haussöhne betreffende Übergabeakt

- si pater eorum eos per manum dat ad alium seniorem et eos ei commendaverit 86 - fränkischer Einfluß sei und den Emanzipationsmöglicheiten entspräche, wie sie angeb- lich in den germanischen Rechten entwickelt worden seien. 87 Das « per manum dare » wurde dabei zur Emanzipationshand- lung, die der König oder der senior vorgenommen haben sollte, die Wendung e eos ei commendaverit » zum Ausdruck für die Begründung des (germanischen) Gefolgschaftsverhältnisses. 88 Doch zwingt weder die Tatsache dazu, dass der Terminus

« commendare » gleichzeitig in erzählenden Quellen für frän- kische Verhältnisse, wie in der römischen Lex für Rätien er- scheint, in dieser « commendatio » ein germanisches Rechts- institut zu sehen, noch seine Bedeutung als Glosse zum römisch- rechtlichen Begriff « emancipatio » auch für den volksrechtlichen Bereich als gültig anzunehmen. Ausserdem ist nicht sicher, dass

« commendare » inhaltlich dasselbe meint wie der glossierte

SCtu. ESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungs-

geschichte, in: Hist. Zeitschr. 176 (19 ) S. 235 ff, der hier frühgermanische Ver- hältnisse vor Augen hat, läßt im Unklaren, ob der Eintritt des Kindes (Beowulf) in die hausherrliche Munt des Gefolgsherren zugleich den Austritt aus der Vater-

munt bedeutete. Ausserdem geht er nicht darauf ein, wie sich die Auffassung, dass eine Lösung des Gefolgschaftsterhältnisses durch den jungen Mann jeder-

zeit möglich gewesen sein soll, mit der Tatsache verträgt, dass auch-Kinder Ge- folgsleute werden konnten.

II Lex Romana Curiensis XXII, 6, cf. oben Anm. 38. 64 STOBDE, a. a. O. S. 6 ff; Sommt, a. a. O. S. 547 zur " deutschen Emanzipation;

auch A. Scmnm, Augustin und der Seeheil des germanischen Erbrechts. Studien zur Entstehungsgeschichte des Freiteilrechtes. (= Abhandlungen der phil. hist. Kl. der Sächs. Akademie der Wiss. Bd. }ý. '}ý'VIII, Nr. IV, 1928) S. 25 f sieht hier fränkischen Einfluß. cf. auch MEYER-M IIA1. ER, a. a. O. S. 136.

" Some, a. a. O. S. 547. Zum Gefolgschaftsverhältnis cf. die folgenden Aus- führungen und bes. H. Mrrrzis, Lehnrecht und Staatsgewalt (1958) S. 21 ff und 46ff.

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/ I

Begriff « emancipatio ». 89 Man darf nicht vergessen, dass hier ein sehr alter und typisch christlicher Terminus vorliegt 90, der seine weite Verbreitung seit dem 6. Jahrhundert zunächst seinem häufigen Vorkommen in der Bibel und in der liturgischen Sprache verdankt. Bei Gregor von Tours bezeichnet « commen- dare », meist in Wendungen, die direkt der Vulgata entnommen sind 91, die Übergabe von Kindern und den Eintritt von adoles- centes in die Kirche, doch verwendet er ihn in einem Fall auch im Zusammenhang mit der Übergabe eines jungen Mannes an den fränkischen Hof. 82 Commendare bezeichnet also in der all- gemeinsten Weise Übergabeakte, gleichgültig, ob es sich um Selbsttradierungen oder solche, die durch die Eltern vorge- nommen wurden, gleichgültig ob um kirchliche oder um welt- liche Institutionen handelte. Die Ablösung aus der christlichen Terminologie und die Fixierung an vasallitische Verhältnisse ist erst - etwas Ähnliches deutete Ganshof bereits an as - mit der Bildung des abstrakten Substantivs in karolingischer Zeit vollendet.

Dazu oben S. 142 f. Das sah schon A. DumAs, Le sennent de fidelitd du Irr au Ixe s., in: Revue hist

de droit franc. et etranger (1931) S. 300. 91 cf. die bei Gregor v. Tours besonders häufigen Wendungen wie t de psalmis

memoriae commendare s, z. Bsp. Vitae Patrum XX, cap. 1, MG SSrer Merov. 1,2 S. 291; auch ib. III, 179, die alle nach 2. Mace. 2,26 formuliert sind. Zur Ver- breitung des t commendare s in der liturgischen Sprache cf. A. BLAISE, Dictionnaire Latin-Franfais des Auteurs Chretiens, Turnhout (1954) S. 173 und ders. Vocabu- laire Latin des principaux Themes liturgiques, Turnhout (1966) S. 36.

02 Gregor v. Tours, Vitae Patrum IX, cap. I, ib. S. 291:... ad exercendum com- mendatus est. Dazu auch oben Anm. 79.

°' F. L. GANSHOF, Was ist das Lehnswesen? Darmstadt (1961) S. 4; damit decken

sich z. Bsp. auch die durch das Glossarium Mediae Latinitatis Cataloniae fas-, 5, Barcelona (1969) Sp. 573 bis 582 gegebenen Belege zum Gebrauch von t commen- dare s. Die Bedeutung der Tatsache für alle Interpretationen, dass im Frühmittel-

alter lateinisches Vokabular mit langer spezifisch christlicher Tradition uns für den volksrechtlichen Bereich entgegentritt (nutritus, commendare, patentes, senior, iunior etc. ), ist bislang nur wenig berücksichtigt worden.

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EMANZIPATION IM MEROIVINGISCHEN FRANKENREICH 159

Der Eintritt in die Gefolgschaft bei den Germanen wird von manchen Autoren als eine deutschrechtliche Emanzipation an- gesehen. Fraglich ist indessen, inwieweit wir in der merowin- gischen Epoche noch von einem Gefolgschaftsverhältnis reden können, wie es Schlesinger für weit ältere Zustände entworfen hat. 9; Schlesinger sieht in der commendatio eines verarmten ingenuus, wie sie durch die bekannte Formel der Sammlung von Tours bezeugt ist 95, etwas grundsätzlich Anderes, als im Ein- tritt in die Gefolgschaft, die e nur von vornehmen jungen Leuten

auf Zeit vollzogen wurde, mit rein kriegerischem Zweck und nur in der Sphäre des Königtums und großer Herren». "" Gleichzeitig nimmt er aber, wie in der deutschen Rechtsge-

schichte seit langem üblich, für die merowingische Epoche ein Nebeneinanderbestehen - auf « der gleichen wirtschaftlichen und sozialen Ebene »- eines germanischen Gefolgschafts-

rechtes und gallo-römischen Vasallenrechtes an. 97 Da mit Schlesingers 'jungen Leuten' zweifellos auch die adolescentes der Heiligenleben gemeint sein müssen, wird zunächst wichtig, was der Terminus 'commendare' und seine Synonyma bei der Übergabe vornehmer adolescentes an den Hof an Rechtsfolgen

nach sich zog.

't W. SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft, a. a. O. S. 225 ff, 235 ff, 248 ff,

259 ff; Mrrrzts. Lehnrecht und Staatsgewalt S. 47: t Die germanische Gefolgschaft

als solche hat das Ende der Merowingerzeit nicht überlebt. t Zur- Kontroverse

zwischen SCHLESINGER und H. Kum über Alter und Ursprung des germanischen Gefolgschaftswesens Cf. SCHLESINGER, Randbemerkungen zu drei Aufsätzen über Sippe, Gefolgschaft und Treue, a. a. O. S. 21 ff. Kuxx hatte im Gegensatz zu der

nach seiner Ansicht nur stellenweise und vorübergehend verbreiteten Gefolg-

schaft die Rolle der unfreien Dienstmannschaft betont, cf. Die Grenzen der ger- manischen Gefolgschaft, in: Zeitschr. f. Rechtsgesch. germ. Abtlg. 73 (1956) S. 1 ff.

'S MG LL sect. V. Formulae Turon. Nrr. 43, S. 158; cf. MITTEIS, Lehnrecht und Staatsgewalt S. 27 und F. L. Gel: sxoF. a. a. O. S. 4 ff-

" SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft a. a. O. S. 259 ff.

'r SCIILESINGER ib. S. 248 ff.

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Alle hier in Frage kommenden Texte stimmen darin überein, dass der Übergabeakt ein Recht des Vaters oder der parentes ist, obgleich in allen Fällen deutlich wird, dass die Söhne älter als zwölf Jahre sind. 9B Auch hiernach ist also bei diesem Alter nicht an Volljährigkeit zu denken? ' Motiviert wurde diese Übergabe durch die Hoffnung der Eltern, dass dem adolescens später einmal ein einträgliches Hofamt, ein Bistum oder ein Kloster

zufallen würde. Die davor am Hof verbrachte Zeit wird manch- mal durch die Termini « exercere », « nutrire » näher bestimmt. 10° Das « exercere » ist nicht immer auf eins der größeren Hofämter zu beziehen, sondern weist darauf hin, dass die jungen Leute den König oder andere wichtige Persönlichkeiten auf die Jagd begleiteten. Die Wendung e causa nutriendi adiungere » oder die Bezeichnung « nutriti » für die jungen Männer zeigen, dass sie in materieller und rechtlicher Abhängigkeit am Hof lebten. »' Bereits Waitz bemerkte, dass diese persönliche Abhängigkeit vom König oft das ganze Leben hindurch- dauerte. 102 Die Hagio- graphie nimmt diese Tatsache auf und berichtet im Zusammen- hang mit der beabsichtigten Konversion des Helden regelmässig vom Konflikt, der zwischen König und dem späteren Heiligen

99 cf. oben Anm. 5o und Si; auch G. WArrz, Deutsche Verfassungsgeschichte. Die Verfassung des Fränkischen Reiches II, 2 (1882) 3. Aufl., Nachdr. (1953) S. 108 f.

99 Anders P. Rtexz, Education et Culture dens l'Occident barbare, S. 277. 100 cf. oben Anm. 79 ; Gregor v. Tours, Hist. Franc. V. 46; VIII, 22; IX, 38, MG

SSrer Merov. I, 1 S. 256; 388; 458. Dazu. auchWArrz, a. a. O. II, z S. 107: Vita Si- giramni cap. 2, MG SSrer Merov. IV, 607: Dein vero, transacto tempore, Flaucado cuidam potenti viro causa nutriendi adiunctus, Francorum in palatio devenit, ... Zu Chrodegang s in palatio maioris Karoli ab ipso enutritus r cf. Paulus Diaconus, Gesta Episc. Mettens., MG SS II, 267-

101 Zur Bezeichnung " nutriti " für junge Mönche Cf. ILLUER, a. a. O. S. 164 ff. Für nichtreligiöse Verhältnisse ist der Begriff aber seltener verwendet. cf. auch unten Anm. 103 und Waitz, a. a. O. II, z S. 11o Anm. 1.

109 ib. S. sog.

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EMANZIPATION IM MEROWINGISCHEN FRANKENREICH 161

entsteht. 103 Wo dieser Konflikt nicht bloß mit dem Hinweis auf Matthäus 22,21 angedeutet wird, hören wir, wie in der Vita Arnulfi, dass sogar die Todesstrafe vom König angedroht wer- den konnte, wenn der in seinem Dienst stehende das 'consilium

vel solarium' verlassen wollte. 104 Dass es hier nicht nur um eine Verpflichtung ging, die sich auf das Amt gründete, das der Betreffende am Hof innehatte, sondern dass diese Bindung vom Zeitpunkt der Übergabe an den Hof andauerte und selbst Voraussetzung für die Übernahme eines Amtes war, geht auch aus einer Formel Marculfs hervor, in der von Schenkungen die Rede ist, die der König an solche zu machen pflegte, die ihm

oder schon seinen Eltern « ab adulescentia aetatis eorum instanti famulantur officio D 105_ Es scheint ausserdem nicht möglich, den geschilderten Konflikt darauf zurückzuführen, dass die be- treffenden Hofbeamten zu einer Kopfsteuer verpflichtet waren, womit sie ohne Erlaubnis des Königs nicht in den geistlichen Stand hätten treten dürfen. 106 Die Viten sprechen nur von den

103 Vita Audoini cap. 4, MG SSrer Merov. V, 556; Vita Wandregiseli cap. 7, ib. V, 16: Dagobertus rex ... pro co quod ipsum hominem Dei in iuventute in suo ministerio habuisset, volebat eum inquietare, pro co quod sine sua iussione se tonsorasset, ... Vita Eligii cap. 6, ib. IV, 673: Eligius verweigert dem König einen Eid . inpositione manuum sacris pignoribus ". Vita Arnulfi cap. 17, ib. II, 439; Vita Sigiramni cap. 3, ib. IV, 608; Vita Austrigisili cap. 5, ib. IV, 195; Vita Vin-

centiani cap. 5 bis. 16 ib. V. 117 ff; Vita Ermenlandi cap. 1, ib. V, 684; Vita Fili- berti cap. 2, ib. V, 585.

1" Vita Arnulfi cap. 17, ib. II, 439- 'u Wir können annehmen, dass solche Geschenke nicht nur belohnenden sondern

auch verpflichtenden Charakter hatten, wobei sie im abzuleistenden Dienst ge- wissermaßen erwidert wurden. Leider gibt es für unseren Kulturkreis kaum Unter-

suchungen, die sich mit dem verpflichtenden Charakter der Gabe in älteren Rechts-

und Wirtschaftsordnungen befassen. cf. 1\L MAuss, Die Gabe. Form und Funk-

tion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (1968) S. 148 if. ef. MG LL sect. V. Marc. Form. Nr. 14, S. 52.

1" Nach Marc. Form. I, Nr. 19, ib. S. 55 sollen ingenui, die nicht in den öffent- lichen Steuerrollen stehen, die Erlaubnis zum Übertritt in die Kirche haben. Es ist aber fraglich, ob die adolescentes im Dienst des Königs überhaupt steuerfähig

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« regalia negotia »- die karolingisch überarbeiteten bringen dann den Ausdruck « militia palatina » 107 - von denen man sich höchstens « caute et fideliter » freimachen konnte. 108 Wenn dabei auch von der Möglichkeit gesprochen wird, sich vom Hofdienst durch die Gestellung des eigenen Sohnes zu be- freien, 109 wodurch zwar nicht das Amt sofort wiederbesetzt werden konnte, die Kontinuität des Dienstes an sich aber ge- währleistet war, läßt sich mit Sicherheit behaupten, dass die Übergabe von Jugendlichen an den Hof in der Regel eine lebenslängliche Abhängigkeit begründete. Nur so ist auch der Begriff «nutritus» zu verstehen, der gleichzeitig im kirchlichen Bereich jene pueri und adolescentes bezeichnen konnte, die aufgrund der Übergabe durch ihre Eltern oder durch eigene petitio auf immer an die religiösen Institutionen gebunden sein sollten. Die Rechtsfolgen dieser commendatio vornehmer Jugendlicher - es waren im übrigen nicht nur vornehme - sind demnach in der Substanz die gleichen, wie die in der turo- nischen Formel, wodurch sich ein verarmter ingenuus in die lebenslängliche Abhängigkeit eines Herrn begibt. 110 « Com-

waren; anderseits war die Steuer selbst zu einer so rechtsmindernden Angelegenheit geworden, dass im 7. und B. Jh. die Oberschicht nicht mehr regelmäßig besteuert werden konnte. cf. F. Lor, Naissance de la France (1948) S. 221 ff und WArrz, a. a. O. II, 2 S. 273 ff.

207 Vita Errnenlandi cap. 1, ib. V, 684- 108 Vita Filiberti cap. 2, ib. V, 585. 109 Vita Amulfi cap. 17, ib. II, 439. Amulf will den Königsdienst verlassen

und ins Kloster gehen. Der Konig droht mit der Todesstrafe, da schon beide Söhne die Erlaubnis dazu hätten (dilectissimi filii tui quia ita amissum habent, nisi nobiscum consistas, capita amputabo ...

). 110 GnxsHOF, a. a. O. S. 6 spricht bei der Kommendation nach der Formel aus

der Sammlung von Tours von einem synallagmatischen Vertrag. Auch Mrrrzis, Lehnrecht und Staatsgewalt S. 31 ff, 35 ff spricht vom einseitigen selbnützigen Herrenrecht, welches die Kommendation erzeugt und wendet sich gegen die Auf- fassung, dass die Pflichten des Vasallen im wesentlichen den Pflichten des Ge- folgsmannes entsprochen hätten. Die Gefolgschaft weist MrrrEls hier eindeutig der älteren Zeit zu. (ib. S. 38 und Anm. 77).

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EI, IANZIPATION IM MEROWINGISCHEN FRANKENREICH 163

mendare » ist freilich noch kein fixierter rechtlicher Terminus, sondern eine unter anderen möglichen Bezeichnungen für diesen Übergabeakt.

Mitteis hat mit Recht darauf hingewiesen, dass eine «unge- messene Zahl der Dienste D innerhalb dieser Gehorsamspflicht geleistet werden konnte : hohe Ämter befreiten den Inhaber keineswegs aus diesem Verhältnis, milderten aber wohl meistens die dem König zur Verfügung stehenden Druckmittel. 1U In diesem Zusammenhang wird man nicht fehlgehen, wenn man die Möglichkeit, die persönliche Verpflichtung durch Gestel- lung des eigenen Sohnes zu lösen, zugleich als eine Art Geisel- nahme durch den König interpretiert, der somit leichter auf einen in seinen Diensten mächtig und einflußreich gewordenen Mann verzichten konnte. "-'

Es ist unter diesen Umständen nicht möglich, bei der Kom-

mendation im frühen Mittelalter von der Aufhebung der väter- lichen Gewalt im Sinne der'emancipatiö zu sprechen. Doch die

geschilderten Verhältnisse weisen auf Fragen grundsätzlicher Art : inwieweit war zu jener Zeit überhaupt das Bewußtsein

personenrechtlicher Freiheit formulierbar? Haben wir es hier

nicht mit einem Rechtssystem zu tun, das viel weniger feste Rechte garantierte, als vielmehr nur den aufgrund der tatsäch- lichen Machtverhältnisse dauernd wechselnden Zustand je-

weils begrifflich faßbar zu machen hatte? Ein Recht, das jedem Mächtigen und jedem, der es noch werden konnte, diente, und das diese legalisierende Wirkung auch im privatrechtlichen Bereich zeigte? So dass die vielfältigen Abhängigkeiten der

lil cf. dazu MmEzs, Lehrrecht und Staatsgewalt, S. 31 bis 5o. u: Noch in einer späteren Verordnung von 877 ist die Rede davon, dass ein

fidelis regis möglichst nur dann ins Kloster gehen soll, wenn er einen Sohn oder Verwandten, der s rei publicae prodesse valeat i, als Ersatz anzubieten hat. cf. MG LL sect. II, Capit. Reg. Franc. II, Nr. 281 cap. zo S. 358. cf. auch D. v. Gi. nniss, Fidelis regis, in: Zeitschr. f. Rechtsgosch. germ. Abtlg. 57 (2937) S. 446/447"

.

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164 DETLEF ILLMER

Personen voneinander nicht eine Rechtsordnung wiederspiegeln, sondern dieses Recht als eine bloße Verhaltensregel den je- weiligen Konfliktsfall vom faktischen Zustand ausgehend beur- teilte? Wie oft schildert Gregor von Tours Ereignisse, wo das Recht nur den Zustand nach den Verbrechen zu normalisieren hatte, der 'Fall' als solcher aber nicht mehr beurteilt wurde. Die Erzählung von Sicharius und Chramnesindus, an der Erich Auerbach die Wirklichkeit des 6. Jahrhunderts interpretierte 113, schildert nicht, wie es zu der Kette von Gewalttaten kam. Das schwindende Bewußtsein von Kausalität tritt uns hier nicht nur in Sätzen entgegen, die grammatische Ungeheuer sind 114, son- dern auch in einem Recht, das keine Motive kannte.

IV

Mit germanischem Gefolschaftswesen, falls es als rechtlich faßbar je existiert haben sollte, hat dieses Verhältnis nichts zu tun. Es wird weder freiwillig eingegangen, noch kann es nach Belieben gelöst werden. 115 Persönliche Haftung der Amtsin- haber, sowie die den Volksrechten eigene Vorstellung, wonach fast jede Verbindlichkeit durch Bürgenstellung gesichert werden konnte 116, sind hier deutlicher zu fassen als ein Rechtsbegriff

118 Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1964)

3. Aufl. S. 78 bis 94. 11' ib. S. 82.

118 Die Definition von Gefolgschaft cf. bei SCHLESINGER, Randbemerkungen zu drei Aufsätzen über Sippe, Gefolgschaft und Treue, a. a. O. S. 25 und S. 37; ders. Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte,

a. a. O. S. 235. 118 cf. dazu W. OGRIs, Die persönlichen Sicherheiten in den westeuropäischen

Rechten des Mittelalters, in: Les Siiretds personnelles (= Recueils de la Societe Jean Bodin pour l'histoire comparative des Institutions t. XXIX, 2e partie, Brüssel,

. 1971)S. 7ff

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EMANZIPATION IM MEROWINGISCHEN FRANKENREICH 165

der 'Treue'. "' Auch die für die behandelte Personengruppe

verwendete Bezeichnung «fideles» betont besonders das Dienst-

verhältnis, die Stellung des adolescens und späteren Beamten innerhalb des « selbnützigen Herrenrechts » des Königs 118, ein Dienstverhältnis, das eben doch im Gegensatz zum sogenannten Gefolgschaftsverhältnis 'auf Gehorsam gründete. Nach der Hagiographie zu urteilen, war ein besonderer Eid zur Sicherung dieser Abhängigkeit untypisch. "9 -Deswegen sind auch die Antrustionen von den pueri optimates und den Hofbeamten zu unterscheiden. '20 Sie waren « Berufskrieger », die in einer Art Militärzölibat lebten, und da wir schon in der Germania

von ähnlichen Gruppen hören, könnte man sie mit Mitteis als den Rest der alten Gefolgschaft ansehen. 12' Wie die aus der

"' Über Treue cf. SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft ... a. a. O. S. 235 und ders. Randbemerkungen zu drei Aufsätzen ... a. a. O. S. 54, wo er gegen F. GRAUS daran festhält, dass es t einen festgefugten Rechtsbegriff der Treue gegeben e habe. cf. dazu auch F. GRAus, Ober die sogenannte germanische Treue, in: Historica I

(1959) S. W- 1111 NinTEIS, I. ehnrecht und Staatsgewalt S. 37- 111 Vita Eligii cap. 6, MG SSrer Merov. IV 673-

l» In der bekannten Stelle aus dem Edikt Childperichs, wo von t obtimatibus vel antrustionibus º die Rede ist, wird das t vel º nicht, wie WArrz angab, t erklä- rende º Bedeutung haben, womit er wohl die subjektiv disjunktive Funktion meinte, wodurch das klassische " vel º berichtigend den zutreffenderen Ausdruck neben den

erklärungsbedürftigen setzte. Der vulgärlateinische Sprachgebrauch läßt aber die einfache kopulative Bedeutung wahrscheinlicher sein. cf. Wem, a. a. O. II,

2 S. 102 Anm. I und E. LÖFSTEDr, Philologischer Kommentar zur Peregrinatio Aetheriae. Untersuchungen zur Geschichte der lateinischen Sprache (1911) Nachdr.

1970S- 198- 1111 cf. dazu den 2. Teil des 31. Kapitels der Germania, wo von einer Gruppe von

Chatten die Rede ist, die ihr ganzes Leben ohne Besitz und ehelos nur dem Krieg

gelebt zu haben schienen. Lily WEISER, a. a. O. S. 31 bis 43 fasst, wie schon FUSTEI.

DE COULºNGES diese Gruppe als einen religiös-kriegerischen Männerbund auf. Ein ganz ähnlicher Bund scheint, gleichfalls nach der Germania cap. 43, bei den

Harlem bestanden zu haben. Zum Vergleich mit den nordischen Berserkern ef. L. WEISER, a. a. O. S. 37 und 43 £ Im unausgeführten Entwurf zu einer Kasuistik

der Ständebildung rechnet M. WEBER die Antrustionen unter die charismatischen

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166 DETLEF ILLMER

nordischen Geschichte bekannten im Dienst der Könige stehen- den Berserkerbünde waren die Antrustionen, wie auch die gallo- römischen convivae regis, Träger charismatischer Qualitäten. Daher zeichnete beide Gruppen nicht nur eine besondere <c ausseralltägliche » Stellung, sondern auch das gleiche hohe Wergeld aus. 122

So bleibt uns nur noch festzustellen, dass wir bei der bespro- chenen Übergabe von jungen Leuten in die Gewalt des Königs oder eines mächtigen Beamten von einer 'deutsch-rechtlichen Emanzipation' höchstens im Sinne einer Ablösung der Vaters- gewalt durch eine andere sprechen können. Urteilen wir weiter nach den mit den behandelten Verhältnissen gut vertrauten Heiligenleben, so ist aber bereits darin Vorsicht geboten, den Eintritt in das mundeburdium des neuen Herren gleichzusetzen mit der völligen Aufhebung der väterlichen Gewalt. Obgleich widersprüchlich zu unseren Ergebnissen, scheint sich im 'Heiratszwang' die Gewalt des Vaters oder der Verwandten noch bis in das Dienstverhältnis des Sohnes hinein bemerkbar gemacht zu haben. 123 Die Tatsache, dass der Herrendienst auch freien Leuten solche Vorteile bieten konnte, dass sie ihre Er- gebung - oder die ihrer Kinder - in die persönliche Herren- gewalt in Kauf nahmen, erschwert unser Verständnis für die dem modernen Betrachter widersprüchlich und wenig logisch

Kriegerstände: Wirtschaft und Gesellschaft S. i8o (Beilage); zum Antrustionat als Ausläufer der Gefolgschaft cf. MrrrEts, Lehnrecht und Staatsgewalt S. 32.

1" Pactus Legis Salicae 41,8 und 9 und 42, z und 2, a. a. O. S. 157 und i6z. Zum Begriff t Charisma s cf. M. WEBER, a. a. O. S. 140 ff und passim.

:u Austregisilus, als Jugendlicher dem Hof übergeben, wurde dort später t map- parius " (Schwertträger). Danach heißt es cap. 2 seiner Vita: Aliquando coepit a parentibus cogi, ut uxorem duce ret. Dabei ist ausdrücklich von der " voluntas parentum * die Rede. Austregisilus bleibt jedoch im Königsdienst, bis es ihm gelingt, unter Vermittlung eines Bischofs die Tonsur zu nehmen. cf. MG SSrer Merov. IV, 19 r£ Ganz ähnlich wird die Situation in der Vita Ermenlandi cap. i geschildert, ib. V, 684 f. Ermenlandus ist pincerna regis, als die Eltern ihn zur Heirat zwingen wollen. cf. auch Vita Sigiramni cap. und 3, ib. IV, 607 f.

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erscheinenden vielfältig nebeneinander bestehenden persön- lichen Bindungen. So verpflichtete die Übergabe seines Sohnes an den Hof den Vater nicht, seine Abschichtung vorzunehmen. '24 Damit aber blieb eine Abhängigkeit vom Vater bestehen, nicht in dem Sinne, dass der Sohn ein Recht auf Vermögensteilung gegen den Vater gehabt hätte, sondern offensichtlich im Sinn eines Heiratszwangs, wenn der Vater den aus dem Hause ge- gebenen Sohn bei einer späteren Vermögensteilung doch noch berücksichtigen wollte. « Selbmündig » oder gewaltfrei wurden die Haussöhne durch diese i commendatio» nicht. Ebensowenig ist von einer germanischen Emanzipation durch Eintritt in eine Gefolgschaft zu sprechen, die sich für das merowingische Frankenreich allenfalls aus weit älteren Zuständen konstruieren ließe.

Allein die Kirche hat wohl für ihre adolescentes eine genaue Vorstellung von der Ablösung der Vatersgewalt durch die des religiösen Vorgesetzten entwickelt. So legte sie zunehmend Wert darauf, dass ihr Kinder und Jugendliche nur von den leib- lichen Eltern übergeben wurden, da ihr der Wille des Vaters

rechtlich bindender schien, als der Wille der Verwandten 125, und sie bewahrte in ihrem Vokabular für solche Übergabeakte

zumindest terminologisch die Erinnerung an die römisch- rechtliche 'emancipatio' 126.

121 Dazu A. Semis, Augustin und der Seelteil des germanischen Erbrechts, a. a. O. S. 25 if. SCHULZE betont gleichfalls, dass eine Abschichtung nicht notwendigerweise auch die Aufhebung der väterlichen Gewalt bedeutete.

122 cf. oben S. 153, Anm. 73. Vita Trudonis cap. 7. MG SSrer Merov. VI, 280, wo ein Bischof dem um Aufnahme bittenden jugendlichen sagt: Notum tibi sit, fill

mi, quiz ex hac hora lege inviolabili filius mihi eris, et ego locum patris tui per- henniter spiritali iure tenebo.

12$ Vita Bibiani cap. 2, MG SSrer Merov. III, g4:... qui cum ad annos sedecim pervenisset, primaevam aetatem suam divinis crudire cupiens disciplinis, sancti Ambrosii huius civitatis episcopi devotus se mancipavit obsequio. Nach WATTEN-

BACHJLEVISON, a. a. O. 1,93 ist die Vita westgotisch und könnte noch im 6. Jh. ent- standen sein. Vita Sigiramni cap. 5, ib. IV, 607:... seque inibi totum in Domini

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Die Frage, wie weit eine solche u commendatio » auch unter- halb der Einflußsphäre des Königtums verbreitet war, kann hier nur gestellt werden. Autotraditionen sollen im Ostteil des fränkischen Reiches nicht häufig vorgekommen sein, vielleicht aber dagegen die Übergabe von Haussöhnen in solche Abhän- gigkeiten, denn auch hier ist unter den Freien eine ständige Zunahme der Hörigkeit beobachtet worden. l"' Als einzig sicheres Zeichen für eine Aufhebung der väterlichen Gewalt bleibt zunächst nur die auf Veranlassung des Vaters geschlossene Ehe, wenn dem Sohn gleichzeitig volle wirtschaftliche Unab- hängigkeit gewährtwurde. Die Ehe allein kann nicht als Beweis für die Gewaltfreiheit herangezogen werden. 12e Will man an einem Rechtsbegriff der 'Aufhebung der väterlichen Gewalt' für das frühe Mittelalter festhalten, so kann es sich dabei nur um vereinzelte Erscheinungen handeln, die alle in die Sphäre der grundbesitzenden Oberschicht gehören.

ervi cio ... mancipasset. Vita Lupi ep. Senon. cap. 3, ib. IV, 179; Vita Caesarii cap. 4, ib. III, 458; Vita Amati cap. 2 ib. IV, 215; Vita Romarici cap. 2, ib. IV, zzi.

1" cf. A. DoPSCH, Die Wirtschaftsentwichlung der Karolingerzeit vornehmlich in Deutschland, Teil II (1921/22) Nachdr. 1962 S. I ff, und MIrrEIs/LIEBERICH, Deutsche Rechtsgeschichte 12 11 1 und 2, S. 40. Die s überragende Bedeutung der Sklaverei " im gesamten merowingischen Frankenreich, und nicht nur in seinen romanischen Teilen, belegt eindrucksvoll H. NEHISEN, Sklavenrecht zwischen Antike und Mittel- alter. Germanisches und römisches Recht in den germanischen Rechtsaufzeichnungen. I. Ostgoten, Westgoten, Franken, Langobarden. (= Göttinger Studien zur Rechts-

geschichte Bd. 7,1972) S. 260 ff.

1Y8 cf. A. ScssuzzE, Augustin und der Seelteil des germanischen Erbrechts a. a. O. S. 25 ff und M. Br ocH, Les caracti res originauz de l'histoire rurale franyaise I (1968) S. 169 f zur s freresche ".

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RECUEILS DE LA SOCIETE JEAN BODIN

Tome I. Les liens de vassalite et les iminunites (1tt ed. 1936,2e ed. revue et augmentee, 1958).

Tome II. Le servage (1" ed. 1937,2e ed. revue et aug- mentee, 1959).

Tome III. La tenure (1938). Tome IV. Le domaine (1949). Tome V. La faire (1953). Tome VI. La ville, 1. Institutions administratives et judi-

ciaires (1954).

Tome VII. La ville, 2. Institutions economiques et sociales (1955).

Tome VIII. La ville, 3. Le droit prive (1957). Tome IX. L'etranger (premiere partie (1958).

Tome X. L'etranger (deuxieme partie) (1958).

Tome XI. La femme (premiere partie) (1959). Tome XII. La femme (deuxieme partie) (1962). Tome XIII. La femme (troisieme partie) (en preparation). Tome XIV. La paix (premiere partie) (1961). Tome XV. La paix (deuxieme partie) (1962). Tome XVI. La preuve (antiquite) (1965).

Tome XVII. La preuve (moyen Age et temps modernes) (1965).

Tome XVIII. La preuve (civilisations archaiques, asiatiques et islamiques) (1963).

Tome XIX. La preuve (periode contemporaine) (1963).

Tome XX. La monocratie (premiere partie) (1970).

Tome XXI. La monocratie (deuxieme partie) (1969).