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DIPLOMARBEIT Subjektive Verstehensform oder objektive Prägung des Kosmos? Zum Verhältnis der Teleologiekonzeptionen Robert Spaemanns und Thomas Nagels verfasst von Dipl.-Ing. Dr. techn. Albert Reiner angestrebter akademischer Grad Magister der Theologie (Mag. theol.) Wien, 2015 Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 011 Studienrichtung lt. Studienrichtung: Diplomstudium Katholische Fachtheologie UniStG Betreuer: o. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Langthaler

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DIPLOMARBEIT

Subjektive Verstehensformoder objektive Prägung des Kosmos?

Zum Verhältnis der TeleologiekonzeptionenRobert Spaemanns und Thomas Nagels

verfasst von

Dipl.-Ing. Dr. techn. Albert Reiner

angestrebter akademischer Grad

Magister der Theologie (Mag. theol.)

Wien, 2015

Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 011Studienrichtung lt. Studienrichtung: Diplomstudium Katholische Fachtheologie UniStGBetreuer: o. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Langthaler

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Vorbemerkung

Wenn ich nun, nach mehrmonatiger Befassung, das Ergebnis meiner Bearbeitung eines enggesteckten Ausschnittes des viel größeren Themenfeldes der Suche nach einem angemessenenphilosophischen Verständnis von Mensch und Welt vorlegen und damit wohl auch in Bäldedas Studium der Katholischen Fachtheologie abschließen kann, so ist es auch an der Zeit,Dank zu sagen den vielen, die mich in so mannigfacher Weise unterstützt haben.

In erster Linie gilt mein Dank Herrn Univ.-Prof. Dr. Rudolf Langthaler, der mir nicht nurein hinreichend eingegrenztes und doch interessantes Thema vorschlug, sondern mich auchmit großem Entgegenkommen und Aufmerksamkeit bei der Abfassung dieser Diplomarbeitbetreute, in meiner Überzeugung von so mancher Schwäche der gegenständlichen Konzeptionenbestärkte, auf weitere Gesichtspunkte hinwies1 und durch seine Anfragen die Klarheit meinerDarstellung beförderte.Professor Langthaler war es auch, der mich auf das 8. Berliner Kolloquium Junge Religi-

onsphilosophie zum Thema Gott, Geist und Kosmos. Perspektiven nach Thomas Nagel vom26. bis 29. Februar 2015 an der Katholischen Akademie in Berlin2 aufmerksam machte undmich zur Teilnahme ermunterte: Hält sich auch der direkte Ertrag für die vorliegende Arbeitin engen Grenzen, so verdanke ich den dortigen Vorträgen und Diskussionen doch so manchewertvolle Anregung zur eigenen Befassung. — Am Rande dieses Kolloquiums lernte ich insbe-sondere auch Herrn Matthias Ruf kennen, der in seinem Beitrag die TeleologiekonzeptionenSpaemanns und Nagels verglich, mich auf einschlägige Referenzen aufmerksam machte undmir einige schwer zugängliche Texte zur Verfügung stellte; vor allem aber danke ich ihm fürden äußerst wertvollen Hinweis auf die auffällige Kürzung von Spaemanns Vortragstext DieUnvollendbarkeit der Entfinalisierung bei dessen Aufnahme in Die Frage Wozu? 3.

Schließlich gilt mein Dank auch all jenen, die — sei es in meinem privaten Umfeld, sei esauch in meiner Praktikumspfarre Perchtoldsdorf — angesichts des zuletzt hohen ZeitdrucksRücksicht übten und mich zeitlich entlasteten, sich für die Fortschritte der Arbeit interessiertenund mich auf oft so unauffällige Weise unterstützten. In besonderer Weise aber danke ichmeiner Familie, die mich in all den Jahren, die nun zu einem Abschluss kommen, auf meinemWeg begleitete und mir immer von Neuem zur Seite stand.

Wien, am 29. Dezember 2015 ar.

1 Dies betrifft insbesondere die in Abschnitt 2.2.3.3 (S. 37) behandelte Anfrage an Spaemann.2 Für genauere Informationen dazu sei auf http://www.katholische-akademie-berlin.de/1:6563/

Veranstaltungen/2015/02/32810_Gott-Geist-und-Kosmos-Perspektiven-nach.html verwiesen (ab-gerufen 29. Dezember 2015).

3 S. u., Abschnitt 2.2.2.

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 61.1. Zur Aktualität der Frage nach dem Menschsein . . . . . . . . . . . . . . . . 61.2. Teleologieentwürfe zur Verortung des Menschen in Umwelt und Kosmos . . . 81.3. Zielsetzung und Vorgangsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt 112.1. Autor und Text im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2.1.1. Zur Person Robert Spaemanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112.1.2. Spaemanns teleologisches Hauptwerk und der Beitrag Reinhard Löws 132.1.3. Charakterisierung und Kontext von Frage Wozu? bzw. Natürliche Ziele 15

2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172.2.1. Teleologie als subjektive Verstehensform . . . . . . . . . . . . . . . . 17

2.2.1.1. Teleologie als Anerkennung von Selbstsein . . . . . . . . . . 182.2.1.2. Kritierien für Selbstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202.2.1.3. Die Bedeutung von Selbstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . 252.2.1.4. Die Stellung der Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

2.2.2. Eine ontologische Fundierung der Teleologie? . . . . . . . . . . . . . . 292.2.3. Einzelfragen zu Spaemanns Teleologiekonzeption . . . . . . . . . . . . 35

2.2.3.1. Zum objektiven Gehalt der Teleologie . . . . . . . . . . . . 352.2.3.2. Zeitlichkeit und interpersonaler Anspruch der Teleologie . . 362.2.3.3. Selbstsein, Entelechie und Naturzweckmäßigkeit . . . . . . . 37

2.3. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit 433.1. Autor und Text im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

3.1.1. Zur Person Thomas Nagels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433.1.2. Nagels Teleologiebuch, Mind and Cosmos . . . . . . . . . . . . . . . . 47

3.1.2.1. Charakterisierung und Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . 473.1.2.2. Aufbau und Argumentationsgang . . . . . . . . . . . . . . . 513.1.2.3. Weitere Vorfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

3.2. Nagels Teleologiekonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543.2.1. Teleologie als Prägung des Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

3.2.1.1. Erklärung und Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 543.2.1.2. Naturordnung und die Verstehbarkeit der Welt . . . . . . . 633.2.1.3. Teleologiehinweise in den Stufungen des Daseins . . . . . . . 673.2.1.4. Wert als evolutionäres und kosmisches Telos . . . . . . . . . 73

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Inhaltsverzeichnis

3.2.2. Einzelaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793.2.2.1. Naturwissenschaftliche Implikationen: Physik . . . . . . . . 793.2.2.2. Naturwissenschaftliche Implikationen: Biologie . . . . . . . . 833.2.2.3. Weitere Anfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

3.3. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

4. Die Teleologiekonzeptionen in kontrastierender Zusammenschau 894.1. Kontinuität und Gegensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

4.1.1. Erfordernis einer Verhältnisbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . 894.1.2. Gemeinsame Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

4.1.2.1. Stufungen und Übergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914.1.2.2. Lust, Schmerz und die Zugänglichkeit der Innenperspektive 934.1.2.3. Telosverfehlung und Reichweite der Teleologie . . . . . . . . 944.1.2.4. Erklärung, Teloswirksamkeit und Wahrscheinlichkeitsargument 95

4.2. Versuch einer Verhältnisbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 964.2.1. Unterschiedlichkeit der Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 964.2.2. Wechselseitige Anfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

4.2.2.1. Verstehbarkeit der Welt und empirische Teloswirksamkeit . 984.2.2.2. Unbedingtheit teleologischer Phänomene, Immanenz und Stel-

lung der Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1004.2.3. Zur Perspektive einer Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

4.3. Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

A. Literatur 106

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1. Einleitung

1.1. Zur Aktualität der Frage nach dem Menschsein

«Wir wissen wenig über den Menschen. Roboter können uns helfen, uns selbst tiefer, besser zuverstehen.»1 — In den letzten Monaten häufen sich, jenseits aller Tagesaktualität2 und ohnenennenswerte populärkulturelle Anlässe3, mediale Berichte und feuilletonistische Essays zugegenwärtigen Errungenschaften und erwartbaren Durchbrüchen der Robotik, in denen überalles Bestaunen der Ingenieursleistung hinaus unverkennbar grundlegende Fragen der Anthro-pologie mitschwingen: Wie ist im Nebeneinander von Mensch und Roboter die Sonderstellungdes Lebendigen, wie ist das Spezifische des Menschen zu begreifen? Und welche Konsequenzenzieht das Auftreten autonom agierender, uns vielleicht bald schon in mancherlei Hinsichtüberlegener Maschinen nach sich? Wie sehr die Thematik den Nerv der Zeit trifft, belegt diehäufige Bezugnahme auf Roboter selbst dort, wo dies inhaltlich keineswegs naheliegt4.

Dabei vermag die gedankliche Konfrontation von Mensch und Maschine, was im Verhältnisvon Mensch und Natur scheinbar schon längst nicht mehr möglich ist: Durchwegs undohne jegliche Problematisierung wird «den Robotern» ein «Wir» gegenüber gestellt, dasoffenbar die gesamte Menschheitsfamilie umfasst und den Menschen «an sich» in seinerspeziesumspannenden Einheitlichkeit wie in seiner Besonderheit ansprechen und die völligeAndersheit des gemachten Mechanismus herausstellen soll. Im direkten Vergleich seiner selbstzu (teilweise auch völlig hypothetischen) Robotern5 zeichnet dieses Wir freilich ein vielfachrecht gebrochenes Bild des Menschen, das geprägt ist von Ungeordnetem (mit dem Robotereben nicht zurecht kämen6), glatter Rationalität sich nicht Fügendem (welche menschlicheIrrationalität der Emotionslosigkeit des Roboters nicht zugänglich wäre7), von moralischerInferiorität (der Phantasien eines «moralisch integren»8, selbst zur Unehrlichkeit unfähigen9

Roboters entgegen gesetzt werden) und Beziehungsbedürftigkeit10 (die freilich vom «digital

1 So der japanische Robotikforschers Hiroshi Ishiguro im Interview (Stanzl, Schmäh).2 Hiefür kämen allenfalls der offene Brief des Bostoner Life Institute (Jänner 2015) sowie das Manifest

prominenter Informatiker und Naturwissenschafter (August 2015) in Betracht.3 Für diesbezügliche Auskunft sei Rochus Hetzendorfer und Hannes Grabner gedankt.4 Beispielsweise behandelt Liessmann (Last der Illusion) eigentlich Bildungssystem und -reform, kommt

aber dennoch auf vermutete Folgen (längst nicht absehbarer) «brillanter Roboter» zu sprechen.5 In der häufigen Bezugnahme auf ein besseres Geschöpf, als wir es sind, lassen sich unschwer säkularisier-

te, rein immanente Heilsphantasien ausmachen, wobei sich die überschwänglichsten Vorstellungen zurSuperiorität der Roboter gerade bei den Wortmeldungen geringsten Realismusgehalts zu häufen scheinen.

6 Staretz, Fahrenlasser .7 Gaulhofer, Walker .8 Stanzl, Instanz .9 Gaulhofer, Walker .10 «Der technische Begleiter — meist in Form eines tragbaren Telefons, aber auch in Form eines Spiels (etwa

der Tamagotchi Digital Friend) — ist derjenige, der mir meine Einsamkeit erträglich macht, ohne dass ich

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1.1. Zur Aktualität der Frage nach dem Menschsein

friend»11, ungeachtet seiner physischen «neuen Sanftheit»12, nicht geteilt wird13).Besondere Bedeutung im prognostizierten individuellen wie sozialen Miteinander von Mensch

und Roboter wird dabei zwei zusammenhängenden Themenbereichen beigelegt, die mit denSchlagworten von Subjekthaftigkeit und Ethik (einschließlich deren rechtlicher Konkretisierung)umrissen werden können. Gerade im Blick auf die Entwicklung (teil)autonomer Waffensystemeentdeckt das menschliche Wir nämlich einen an sich gerichteten ethischen Anspruch, Roboternicht für beliebige Zwecke in Dienst zu nehmen und durch unethische Aufträge (etwa zurTötung von Menschen) zu «korrumpieren»14. Umgekehrt wird aber bemerkenswerterweisedas Verhalten der Roboter nicht etwa als ein technisch determinierter, letztlich von unsgemachter Ablauf verstanden sondern als eine Form von Handeln, das somit seinerseitsunter ethischem Anspruch stünde15 und rechenschaftspflichtig wäre16. Soll dies nicht einekurzschlüssige Redeweise sein, die eigentlich dem menschlichen Techniker gilt, — und aus demKontext erhellt deutlich genug, dass eben dies nicht gemeint ist —, so ist ein solcher ethischerAnspruch an eine Maschine nur dann sinnvoll, wenn diese, ungeachtet ihrer von uns völligkontrollierten Entstehung, als mehr denn ein mehr oder weniger explizit vorgegebene17 Regelnimplementierender Mechanismus, mithin als mehr denn ein bloßes Etwas gesehen und inweiterer Folge als ein in gewisser Analogie zur menschlichen Person zu Verstehendes anerkanntwird18; mit diesem subjektähnlichen Status (der unweigerlich auch rechtliche Konsequenzenhaben muss) verbindet sich freilich auch die Erwartung, Künstliche Intelligenzen würden einInnenleben entwickeln, in dem sensorische Erkenntnis der Außenwelt19 mit Bewusstsein20 samtEmotionen und Erlebnisqualitäten (Qualia) zusammenfließen21 und so ein Sich-Verhaltenermöglichen22. Hard- und Software bildeten dann eine Einheit von Körper und Geist, so

dafür einen Menschen benötigte» (Walker, Freund).11 Walker, Freund .12 Presse, Blechtrottel .13 Stanzl, Herzensangelegenheit ; Stanzl, Instanz .14 Stanzl, Instanz ; Gaulhofer, Walker ; häufig sind in diesem Zusammenhang die Bezugnahmen auf den

Science-Fiction-Autor Isaac Asimov und dessen Robotergesetze.15 Stanzl, Schmäh; Langenbach, Woher .16 Presse, Können Roboter ; Presse, Moralischen Kompass. — Höchst interessant ist dabei die empirisch

erhebbare Erwartung, wonach an dieses Handeln z. T. höhere ethische Maßstäbe anzulegen wären als anmenschliches: «Es scheint, als würden wir den Roboter als jemand ansehen, der eine Situation schnelldurchdenken kann und der auch handeln soll» (Presse, Moralischen Kompass).

17 Denn das weite Feld automatisierten Lernens spielt naturgemäß eine große Rolle, was die Fragen vonRechtsstatus und Zurechenbarkeit massiv verkomplizieren muss.

18 Stanzl, Instanz .19 Presse, Können Roboter ; Presse, Moralischen Kompass.20 Presse, Moralischen Kompass. — Freilich ist im Einzelnen zu hinterfragen, was etwa mit Bewusstsein

(oder mit anderen der hier gebrauchten Begriffe) gemeint ist und ob hier nicht implizit oder explizitbereits ein reduktionistisches Verständnis vorausgesetzt ist; immerhin entspricht es den Gesetzmäßigkeitenjournalistischen Schreibens, dass Begrifflichkeiten kaum je eigens definiert werden und meist nur einvages Alltagsverständnis zugrunde gelegt wird. Was das Beispiel des Bewusstseins angeht, so sei auf einenaktuellen Medienbericht verwiesen, in dem die Möglichkeit von Maschinenbewusstsein mit großer Sicherheitbejaht wird, was aber auf ein (aus unserer Sicht glatt ungenügendes) Verständnis von Bewusstsein alsBedenken zurückzuführen ist: «Bewusstsein hat man dann, wenn man in der Lage ist zu bedenken, ob das,was man tut, vernünftig ist.» (Czepel, Maschinen mit Bewusstsein).

21 Stanzl, Herzensangelegenheit .22 Wohlgemerkt wird aus manchen Formulierungen deutlich, dass hierbei an echtes Innenleben gedacht ist,

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1. Einleitung

fremd (und folglich unzugänglich) sie uns auch wären23, die als Ganzes nicht mehr nur ininstrumentellem Sinne für uns sondern darüber hinaus auch für sich selbst etwas wäre,kurz: der Selbstsein und der Anspruch auf einen Rechtsstatus24 zukämen: das Bild also, freinach Gen 1,27, einer Maschine als !M´אדÊMצל, als imago hominis, die darin den Status bloßenMaschineseins transzendiert.

So scheint technologischer Fortschritt die Frage nach dem Selbstverständnis des Menschenund nach seiner Stellung zur Welt als deren Gegenüber wie als deren Teil neu aufbrechenzu lassen, dabei u. a. auch dezidiert nichtmaterialistischen Positionen Raum zu geben undunter dem Aspekt der Übertragbarkeit auf Nichtmenschliches, Roboter eingeschlossen, dasBesondere (weil Irreduzible) von Leben, Bewusstsein und Geist gegenüber der bloßen Faktizitätvon Mechanismus und Materie ins Bewusstsein zu rufen. Dies ist umso erstaunlicher, als dasvollständig naturalisiertes Menschenbild der «reduktionistischen Weltepen der Physiker/innen,Biolog/innen und Hirnforscher/innen»25 samt all seiner auch ethischen Konsequenzen — nachwelchem Maßstab sollte etwa Fremdenhass verurteilt werden können, wenn dieser doch eine«evolutionäre Notwendigkeit»26 (und somit evolutionistisch erklärbar) ist? — in weiten Kreisenvon Gesellschaft und Öffentlichkeit schon längst die Deutungshoheit beanspruchen zu könnenschien.

1.2. Teleologieentwürfe zur Verortung des Menschen inUmwelt und Kosmos

Gerade diese Selbstverständlichkeit reduktionistischen Selbstverständnisses zu erschüttern undfür ein die Besonderheit bewussten, wahrheitsfähigen und wertsensiblen Lebens auch angesichtsnaturwissenschaftlicher Erkenntnisse zur Geltung bringendes und in weiterer Folge auch unserekognitiven wie evaluativen Fähigkeiten intakt bestehen lassendes Bild von Mensch und Welt zuwerben, war erkennbar das Anliegen von Thomas Nagels Buch Mind and Cosmos aus dem Jahr2012. Nagels Ansatz versteht sich dabei als ein unverhüllt teleologischer, umfasst die gesamteGeschichte unseres Universums und nimmt für sich in Anspruch, aristotelische Konzepteaufzunehmen. Bereits mehr als drei Jahrzehnte vor Nagel war es hingegen Robert Spaemann,der in einer analogen Debatte Stellung bezog und seinerseits szientistisch-reduktionistischenAnsätzen der damaligen Zeit eine betont teleologische, in beständigem Bezug auf Aristotelesentwickelte Sicht entgegen stellte.

Freilich ist Teleologie ein weites Feld27, auf dem nach Aristoteles insbesondere auch Kant und

nicht bloß an deren prinzipiell unproblematische, quasi behavioristische Simulation.23 Presse, Moralischen Kompass; Stanzl, Herzensangelegenheit .24 Stanzl, Instanz .25 So die Ankündigung einer Radiosendung zu Thomas Nagels Buch Geist und Kosmos am 7. Dezember

2015 (http://oe1.orf.at/programm/422167, abgerufen 2015-12-07).26 So die Formulierung am Titelblatt des Magazins Profil (19. Oktober 2015).27 Für einen geschichtlichen Überblick sei auf die üblichen philosophiehistorischen Darstellungen und Nach-

schlagewerke sowie auf die Kapitel I bis VIII von Spaemann und Löws Teleologiebuch (Die Frage Wozu?bzw. Natürliche Ziele) verwiesen. Hauptsächlich für den Bereich der Biologie bietet Perlman (Resurrectionof Teleology) eine aktuellere, gegenüber dem Telos- aber den Funktionsbegriff in den Vordergrund rückendeund diesen auf seine Anwendbarkeit auf Artefakte reflektierende Taxonomie als teleologisch etikettierterEntwürfe; großteils handelt es sich dabei allerdings um eine «properly naturalized» (S. 47) Form von

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1.3. Zielsetzung und Vorgangsweise

der deutsche Idealismus unübersehbare Marken hinterlassen haben, und so verwundert es nicht,dass die Konzeptionen Nagels und Spaemanns bei allen unzweifelhaften Berührungspunktendoch sehr unterschiedlich ausfallen und auch unterschiedliche Aspekte der Welt betreffen:wo nämlich Spaemann und sein Co-Autor Reinhard Löw teleologische Verfasstheit des sichim Hier und Jetzt in seinem Selbstsein erfahrenden Individuums in seiner Umwelt zumAusgangspunkt ihres Entwurfes machen, bezieht Nagel die Evolutionsgeschichte sämtlicherLebensformen wie auch der vorbiologischen Entwicklung des Kosmos in seine umfassendeteleologische Betrachtung ein, was ihn sogar zum Postulat grundlegender Korrekturen dergeltenden Naturgesetze veranlasst. Müssen wir es hier auch bei diesen kargen Andeutungenbewenden lassen, sei doch zumindest erwähnt, dass bereits in der kurzen Nachzeichnung deraktuellen medialen Auseinandersetzung mit den von rezenten und antizipierten Entwicklungender Robotik aufgeworfenen Fragen etliche Motive anklangen, die für die Positionen Spaemannsbzw. Nagels geradezu charakteristisch sind: Dabei ist der Aspekt der im eigenen Selbstseinerfahrenen Subjekthaftigkeit, die in einer Figur der Anerkennung durch andere Subjekte wieim praktischen Imperativ auf Achtung, mithin in der Forderung, auch die Maschine nichtdurch unethischen Gebrauch zu verletzen, seinen Niederschlag findet und auf Implementierungin einem mit Geist verbundenen Leib (dessen empirische Zustandsänderungen nicht bloßtechnischer Ablauf sondern Verhalten oder gar Handlung wären) angewiesen ist, generell derSpaemann’schen Sicht zuzuordnen, während v. a. für die früheren Arbeiten Thomas Nagels dieBetonung der Erste-Person-Perspektive, mithin der mit einem reichen Innenleben subjektivenErlebens und davon gespeistem äußeren Sich-Verhalten begabten Subjektivität charakteristischist, die nun in Mind and Cosmos (ebenso wie im Umkreis der Robotikdiskussion) um diespezifisch geistigen Aspekte von Kognition und (ethischer) Evaluation erweitert auftritt.

1.3. Zielsetzung und Vorgangsweise

Wenn aber im Bedenken eines einheitlichen Phänomens eine so deutliche Zahl gewichtigerMotive auftreten, die unschwer in Korrelation zu zwei so unterschiedlichen Teleologiekonzep-tionen, wie die Spaemanns und Nagels es sind, zu bringen sind, so mag dies als ein vager ersterHinweis auf die Möglichkeit gelten, es könne ein gemeinsames Verständnis auszumachen sein,in das wesentliche Grundzüge des Spaemann’schen wie des Nagel’schen Entwurfs eingehen;umgekehrt soll natürlich die in mancherlei Hinsicht bis zu ausgesprochener Gegensätzlichkeitreichende Differenz der beiden Ansätze keinesfalls harmonisiert oder negiert werden. Auchwenn sich dies erst auf der Grundlage einer genaueren inhaltlichen Charakterisierung wirdrechtfertigen lassen, zeichnet sich somit bereits an dieser Stelle die Sinnhaftigkeit des Versucheseiner Verhältnisbestimmung, in dem die beiden Positionen je für sich erfasst, anschließendaber ins Gespräch gebracht und auch auf die Perspektive einer Synthese hin befragt werden,ab; diesem Unterfangen soll die vorliegende Studie gewidmet sein.

Der damit angedeuteten Zielsetzung entsprechend steht somit zunächst die Nachzeichnungder beiden Einzelpositionen im Vordergrund (Kapitel 2 bzw. 3). Dabei interessiert unszum einen die jeweils letzte fassbare Form teleologischer Weltsicht — auf manifeste odermögliche Selbstkorrekturen der Autoren wird eigens einzugehen sein —, wie sie in je einerbedeutenden Publikation, Spaemanns und Löws Natürlichen Zielen (2005) bzw. Nagels Mind

Teleologie, deren teleologischer Charakter damit durchaus in Frage zu ziehen wäre.

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1. Einleitung

and Cosmos (2012), greifbar wird und zu deren Ergänzung noch andere Texte stützendund kontrastierend herangezogen werden. Die Erfassung des von den Autoren vertretenenVerständnisses sieht sich dabei zwei wesentlichen Schwierigkeiten gegenüber: Zum einenstoßen wir immer wieder auf für unsere Fragestellung nicht unmaßgebliche, scheinbar wenigsorgfältig formulierte oder in ihrer Bedeutung unklare Passagen, die einer Detailexegese unterAbwägung unterschiedlicher Lesarten bedürfen28. Zum anderen aber sind so gut wie allein Frage kommenden einschlägigen Texte der Autoren von einem durchgängigen Bemühenum Abwehr gegnerischer, insbesondere reduktionistisch-materialistischer Positionen geprägt,und nicht wenig argumentativer Aufwand fließt in den (mehr oder weniger gelingenden)Nachweis von deren Insuffizienz; so kommt es, dass selbst durchaus umfangreiche Textteilehauptsächlich mit der negativen Bestimmung des eigenen Standpunkts durch Abgrenzungvon Alternativen oder mit der Beibringung von die Notwendigkeit der eigenen Sichtweisestützenden Argumente befasst sind, ohne dass sie etwas zur positiven Darstellung der vomjeweiligen Autor vertretenen Sicht beitrügen. Kann auch von der naiven Vorstellung, durchAbheben der durch solche Auseinandersetzungen hervorgerufenen Verzeichnungen vom Textzur positiven Lehre zu gelangen, keine Rede sein, so sollen in unserer Skizze der beidenTeleologiepositionen sowohl die Bezüge zu Alternativen als auch die angestrebte Motivation zurjeweiligen Deutung ausgespart bleiben. Statt dessen wollen wir uns auf die charakteristischenElemente der Konzeptionen und deren logischen Zusammenhang konzentrieren, um jeweils zueinem möglichst kohärenten Verständnis zu gelangen, wie wir es jeweils in Anschluss an dieVerortung in Biographie und Werk der Autoren (Abschnitte 2.1 bzw. 3.1) möglichst neutral imGanzen sowie im Hinblick auf Einzelfragen zu skizzieren versuchen (Abschnitte 2.2 bzw. 3.2);erst in einer abschließenden kritischen Würdigung (Abschnitte 2.3 bzw. 3.3) soll eine gewisseBewertung erfolgen, während etwa gelegentlich bereits im Zuge der Abwägung von Lesartenund der Entwicklung der Argumentation sich aufdrängende Anfragen unsererseits, die alsonicht so sehr der Nachzeichnung der gegenständlichen Position als vielmehr dem Hinweisauf problematische Aspekte derselben dienen, deutlich als solche erkenntlich sein sollten. —Im abschließenden Kapitel 4 hingegen soll schließlich die eigentliche Verhältnisbestimmungunternommen werden, wobei — soviel sei jetzt bereits vorweg genommen — die spezifischeArt der Unterschiedlichkeit der beiden Konzeptionen die Möglichkeit einer Synthese beider inein einheitliches Verständnis zu eröffnen scheint29.

28 Wörtliche Zitate derartiger Passagen sind i. A. beidseitig eingerückt gesetzt.29 Deutschsprachige wörtliche Zitate werden der Einheitlichkeit wegen und im Interesse der Lesbarkeit

generell stillschweigend an die Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 angepasst. — Sofernenicht eigens anders vermerkt, finden sich Hervorhebungen in wörtlichen Zitaten bereits im Original.

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2. Robert Spaemann: Teleologie imAusgang vom Subjekt

2.1. Autor und Text im Kontext

2.1.1. Zur Person Robert Spaemanns

Wenden wir uns nun also der von Robert Spaemann (gemeinsam mit Reinhard Löw, s. u.)vertretenen Sicht der Teleologie zu und werfen wir zunächst zwecks Einordnung von Autorund Werk in ihren philosophie- wie zeitgeschichtlichen Kontext einen Blick auf seine Personund die Charakteristika seiner Philosophie, soweit sie in seiner Teleologiekonzeption ihrenNiederschlag finden. Die Spaemanns Lebensweg und Karriere äußerlich umreißenden Datensind freilich schnell aufgelistet: Er wurde 1927 in Berlin geboren, promovierte (1952) undhabilitierte sich (1962) in Münster in den Fächern Philosophie und Pädagogik und lehrteund forschte als Ordinarius für Philosophie in Stuttgart, Heidelberg und München. Sowohlin dieser Zeit als auch noch nach seiner Emeritierung 1992 publizierte Spaemann zahlreicheTexte1, wobei er sich durchaus auch in gesellschaftspolitisch gerade aktuellen Fragen immerwieder publizistisch engagierte: von tagespolitischen Problemen2 über den Schutz menschlichenLebens mit den natürlichen Grenzen von Empfängnis und Tod bis zum «unsterblichen Gerücht»des Gottesglaubens; für unsere spätere Nachzeichnung seiner Überlegungen zur Teleologie istsein mit der Offenkundigkeit der Möglichkeit auch tierischen Leides wesentlich begründetestierethisches Engagement von besonderem Interesse, finden sich hier doch Anschlusspunktean seine Teleologiekonzeption sowohl in der bedeutsamen Rolle des Schmerzes als Möglichkeit,teleologischen Charakter (die Spaemann selbst Computern und Maschinen zuzugestehenprinzipiell bereit ist, s. u.) überhaupt zu erkennen als auch in der Berücksichtigung nicht nurdes sich seiner selbst bewussten Menschen als teleologisch Verfasstes.Mit letzterem aber wendet er sich gegen ein von neuzeitlicher Wissenschaft geprägtes,

insbesondere in der Gestalt des Evolutionismus auftretendes szientistisch-reduktives Weltbild,das, soferne Teleologie nicht überhaupt negiert oder in Teleonomie aufgelöst wird, Ziele zuhaben und Zwecke zu verfolgen mit bewusstem Setzen von Zielen und bewusstem Ergreifen vonMitteln gleichsetzt und damit von vorneherein auf den Menschen einschränkt; und tatsächlichist der Ausgang von einem falschen, weil reduktionistischen und antiteleologischen Begriff

1 Der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet 93 Publikationen Spaemanns sowie dieBeteiligung an weiteren 27 Publikationen (http://d-nb.info/gnd/118823124, abgerufen 2015-09-24); des weiteren sei auf die Spaemann-Bibliographie in der von Reinhard Löw besorgten Fest-schrift von 1987 verwiesen (Löw, Oikeiosis, S. 321–339). — Literatur auch über Spaemann ist unterhttps://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=118823124 verzeichnet.

2 Interessanterweise ordnet Spaemann auch die «Dialektik von Rechts und Links in der Politik» als «politischeDimension» dem Teleologieproblem zu: vgl. z. B. Spaemann, Naturteleologie, S. 55–56.

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

der Natur sein hauptsächlicher Vorwurf gegen den Naturalismus3. Dem stellt Spaemann eineSicht der Welt entgegen, die, von einem «spontanen Widerwillen gegen die Uminterpretationunseres natürlichen Selbstverständnisses, die Vergessen verlangt», motiviert4, von eben die-sem Selbstverständnis ausgeht; Philosophie versteht er als einen Akt des «Widerstand[es]»gegen das Vergessen5 dessen, was der naturwissenschaftlichen Betätigung vorausliegt6, inihr ausgeblendet und mit ihren Resultaten nur auf eine Weise, die das Phänomen zum Ver-schwinden bringt, simulierend rekonstruiert wird, und somit als «denkenden Nachvollzugeiner teleologischen Struktur»7, sich selbst aber charakterisiert er als einen, der, Don Quijotevergleichbar8, «ungerührt fortfährt, [. . . ] die Worte ‹gut› und ‹böse› oder gar ‹Gott› ohneAnführungszeichen zu benutzen»9.

Gegenüber der Moderne als einer «Reflexionsform, die sich jeden Inhalt gerade so anverwan-delt, dass dieser als er selbst verschwindet»10, sei zur Rettung ihres «humanen Gehaltes»11

eine «Aufklärung»12 erforderlich, die die Moderne «ideologisch», nämlich «als Entfaltungeiner nicht durch sie selbst gesetzten anfänglichen Wahrheit über den Menschen» versteht;in der Besinnung auf diese Wahrheit aber bringt Spaemann ein Denken in Anschlag, dassich wesentlich aus den Quellen europäischer Philosophietradition, insbesondere Platon undAristoteles, speist: selbst Hegels Wissenschaft der Logik könne er nur «als moderne Propädeu-tik zu Aristoteles, Aristoteles aber als Scholion zu Platon» lesen, schreibt Spaemann13. Beiallen Unterschieden, die ein durch die Philosophiegeschichte einschließlich der verschiedenenStrömungen der Moderne hindurchgegangenes und von ihnen affiziertes Denken notwendigaufweist, verbindet Spaemann mit den großen antiken Philosophen der Ausgang von denkonkreten Einzeldingen und von deren Reflexion auf ein Ganzes, einen Einheitsgrund hindurch das nach einem umfassenden Weltverständnis suchende menschliche Subjekt: Inhaltlichist Spaemanns Position somit mit den Schlagworten Personalismus14 und Lebensweltlichkeit15

markiert.

3 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 21.4 Wiewohl Spaemann diese «passivische» Redeweise ablehnt (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 237).5 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 17.6 Vgl. Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 18.7 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 17.8 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 16.9 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 13; man beachte den ironischen Gebrauch der Anführungs-

zeichen in diesem Zitat.10 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 13.11 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 22.12 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 13.13 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 18.14 Genauer wird Spaemann der Strömung des thomistischen Personalismus als einer Spielart des Personalismus

«in a broader sense», die keine Metaphysik im Ausgang vom Subjekt entwirft sondern vielmehr «[the]singular value and essential role» der Person im Rahmen einer vorgegebenen Metaphysik herausstellt,zugerechnet (Williams, Bengtsson, Personalism, Abschnitt 1).

15 Indem sich Spaemann mit scharfen Worten («Hohn») gegen diese Bezeichnung wehrt, da jene «Lebenswelt»eben nur aus einer wissenschaftlichen, somit von der ursprünglichen natürlichen unterschiedenen Perspektivevon der einzigen Welt, die wir haben und erleben, unterschieden werden könne, bestätigt er diese Zuordnungzugleich der Sache nach (Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 14f).

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2.1. Autor und Text im Kontext

2.1.2. Spaemanns teleologisches Hauptwerk und der BeitragReinhard Löws

Dies gilt erst recht auch für Spaemanns Teleologiekonzeption, wie sie insbesondere in seinemgroßen, gemeinsam mit Reinhard Löw veröffentlichten Teleologiebuch16 vorliegt. Die Genesedieses Textes nahm ihren Ausgang von Vorlesungen Spaemanns für Hörer aller Fakultätenim Wintersemester 1976/77 in München; auf Initiative Reinhard Löws wurde die Tonband-nachschrift dieser Vorlesungen «ohne Beseitigung der für eine Vorlesung charakteristischenRedundanzen, unter Hinzufügung einiger Abschnitte, so unter anderem über Schelling, unterWeiterführung der Überlegungen zur Evolutionstheorie und unter Anfügung zahlreicher An-merkungen» sowie zumindest minimaler sonstiger Adaptierung17 zu einem Buch umgearbeitet,das 1981 in erster Auflage unter dem Titel Die Frage Wozu? erschien18.

Eine entscheidende Erweiterung erfuhr dieses Buch mit der zweiten Auflage, für die Spae-mann einen Vortrag mit dem Titel Teleologie und Teleonomie als elftes Kapitel anfügte19,der 1992 erstmals veröffentlicht und zuletzt unter dem Titel Die Unvollendbarkeit der Entfi-nalisierung im Sammelband Schritte über uns hinaus II erneut zugänglich gemacht wurde;mit den unausgewiesenen, teils signifikanten Kürzungen des Textes im Zuge dieser Aufnahmewerden wir uns eigens zu beschäftigen haben20. Eine dritte, ebenfalls als erweiterte ausgewie-sene Auflage21 folgte 1991. Mit minimalen Eingriffen in den Text, die sich nicht zuletzt denmittlerweile verstrichenen Jahrzehnten verdanken, wurde diese Fassung dann 2005 unter dem«neuen, deutlicheren Titel»22 Natürliche Ziele erneut veröffentlicht; es ist dieser Text, auf denwir uns im Folgenden vor allem stützen.

Reinhard Löw und sein Beitrag: Die eben skizzierte Genese des Textes macht es deutlich:Ungeachtet der Doppelautorenschaft handelt es sich bei der Teleologiekonzeption von DieFrage Wozu? bzw. Natürliche Ziele zunächst um die Spaemanns, womit jedoch der Beitragseines «Schülers»23 Reinhard Löw, von dem jedenfalls der Impuls zur Buchveröffentlichungausging, zu Ausarbeitung und Darstellung der Thematik keineswegs unterschlagen werdensoll. Konkrete Hinweise auf Löws inhaltlichen Beitrag sind freilich äußerst spärlich: abgesehenvon der bereits zitierten, zweideutig formulierten Angabe der Überarbeitungsschritte vor derersten Buchveröffentlichung (s. o.) ist einzig der Hinweis in Spaemanns Whitehead-Artikel,es wäre Löw gewesen, der den Schritt des späten Kant zu einem Leib-Apriori24 — ein nicht

16 Wenn im Folgenden von Spaemanns und Löws «Teleologiebuch» die Rede ist, so sind damit Die FrageWozu? und Natürliche Ziele in ihren unterschiedlichen Fassungen gesamthaft gemeint.

17 Beispielsweise kann Spaemann seine Hörer nicht mit «Sie, verehrter Leser» angesprochen und muss sich dasin diesem Zusammenhang gewählte Beispiel, wonach der Leser das Buch aus naturalistisch-evolutionistischerSicht eben nicht lese, sich ursprünglich auf das Hören der Hörer bezogen haben (Spaemann, Löw, NatürlicheZiele, S. 214).

18 Im Folgenden zitiert als Spaemann, Löw, Frage Wozu? .19 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 9.20 S. u., Abschnitt 2.2.2.21 Im Folgenden zitiert als Spaemann, Löw, Frage Wozu? (1991).22 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 9.23 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 9; vermutlich bezieht sich dies auf Löws Promotion, s. u..24 Löw selbst spricht gar von «nachgerade eine[r] Konversion» (Löw, Philosophie des Lebendigen, S. 12).

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

unwichtiges Motiv in Natürliche Ziele — nachgewiesen habe25, zu nennen. Jedenfalls istangesichts der Genese des Buches, der wenigen Hinweise zum spezifischen Beitrag ReinhardLöws sowie des (nicht ganz unproblematischen26) Gebrauchs eines Vortrags Spaemanns als«Resümee oder Kurzfassung dessen [. . . ], wozu [er] überreden möchte»27, davon auszugehen,dass die im Teleologiebuch auszumachende Position die Spaemanns ist, die von Löw jedenfallsweitgehend geteilt wurde.

Reinhard Löw selbst, 1949 geboren und bereits 1994 gestorben, ist v. a. als Wissenschafts-historiker von Bedeutung; 1979 promovierte er bei Spaemann in Philosophie und lehrte inMünchen Naturphilosophie. Unter seinen Veröffentlichungen ist (neben Die Frage Wozu? )für unser Thema am ehesten die Kantstudie Philosophie des Lebendigen28 zu nennen; dieEigenständigkeit seiner Position zu beurteilen oder gar Differenzen zu Spaemanns Positionaufzuspüren, ginge freilich über den gesteckten Rahmen dieser Arbeit bei weitem hinaus,erforderte dies zu klären doch eine gesonderte Untersuchung der Publikationen Löws, diedarüber hinaus zu unserer Fragestellung kaum etwas beizutragen hätte. Im Vergleich zuSpaemann ist jedenfalls ein etwas stärkerer naturwissenschaftlicher Einschlag zu vermuten,unbeschadet dessen sich in Die Frage Wozu? bis hin zu Natürliche Ziele etliche Passagenfinden, die ein ungenügendes Verständnis selbst einfachster physikalischer Zusammenhängeerkennen lassen29; bemerkenswert ist außerdem, dass selbst in einem Nachruf — de mortuisnil nisi bene! — «Polemik und Sarkasmus» als Charakteristika erwähnt werden30.

Weitere einschlägige Texte: Wenden wir uns wiederum der Spaemann’schen Positionzur Frage der Teleologie zu, so finden sich über Natürliche Ziele hinaus mehr oder wenigerverstreute Hinweise in etlichen seiner Texte; ja, bis zu einem gewissen Grad durchzieht dasThema der Teleologie seine Veröffentlichungen überhaupt. In besonderer Weise ist dies beiseinem Personenbuch31 der Fall, dessen Argumentation (teils bis in die Wortwahl) vielfacheBerührungspunkte mit Natürliche Ziele aufweist. Allerdings ist dabei darauf zu achten, dassnicht jede Verwendung des Teleologiebegriffs bei Spaemann gleich mit dessen eigener Positiongleichgesetzt werden kann: zum einen, weil er z. T. einen sehr weiten Gebrauch von diesemBegriff macht32; zum anderen aber, weil er mehrfach auch historische Positionen behandelt,von denen er sich teils überdeutlich absetzt.

25 Spaemann, Whitehead , S. 180.26 S. u., Abschnitt 2.2.2.27 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 9.28 Dabei handelt es sich um eine Überarbeitung seiner bei Spaemann verfassten Dissertation (Löw, Philosophie

des Lebendigen, S. 9).29 Als Beispiel genüge der Hinweis auf den freien Fall eines Steins im Medium der Luft: So zäh ist Luft

gewiss nicht, dass Aristoteles auch nur die geringste Chance gehabt hätte, die Annäherung an dieGrenzgeschwindigkeit zu beobachten (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 264, Fußnote 18 zu S. 49).

30 Nachruf in der Süddeutschen Zeitung, August 1994, zitiert nach: Wikipedia (deutsch), Eintrag ReinhardLöw, https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhard_L%C3%B6w, Fassung vom 30. Juli 2015, 07:34 UTC. —Diese Bemerkung passt durchaus zu der vielfach gegenüber dem Haupttext noch gesteigerten Polemik derAnmerkungen von Die Frage Wozu?, sollten diese tatsächlich, wie Spaemanns uneindeutige Formulierungim Vorworts (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 9) nahelegt, von Löw stammen.

31 Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen «etwas» und «jemand», Stuttgart(Klett-Cotta) 1996.

32 S. u., Abschnitt 2.2.1.

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2.1. Autor und Text im Kontext

2.1.3. Charakterisierung und Kontext von Frage Wozu?bzw. Natürliche Ziele

Dies trifft nicht zuletzt auf das Teleologiebuch zu, das quantitativ von einem historischenDurchgang durch maßgebliche philosophische Positionen zum Thema bei weitem dominiertwird, dessen Funktion es sein soll, die «Voraussetzungen [zu gewinnen], den Begriff des telos ersteinmal angemessen zu fassen», um so «für eine systematische Diskussion des Teleologieproblems[den] Boden [zu] bereite[n]»33. Im Wesentlichen folgt dieser systematischere Teil des Bucheserst im Anschluss an die Darstellung der «Vollstreckung des Antiteleologismus»34 durch dieneueren Naturwissenschaften und erhält somit unmittelbar eine antagonistisch-apologetischeFärbung; neben den Kapiteln IX bis XI35 ist ihm allerdings auch die Einführung36 zuzurechnen.Was die Darstellung angeht, so macht es Spaemanns Stil dem Leser nicht immer einfach:

die Struktur ist vielfach eher lose gefügt, die Argumentation weniger klar und stringentdenn wortreich und teilweise redundant, der Ausdruck vielfach polemisch oder übermäßigrhetorisch, und so manche Erwähnung ist vermutlich eher der spontanen Assoziation alseinem nachweislichen belastbaren Zusammenhang zu verdanken37; die Vermutung legt sichjedenfalls nahe, dass mehr als nur gelegentlich die ursprüngliche Vorlesungssituation mit ihrenspezifischen, für ein Buch eigentlich nicht mehr geltenden Rahmenbedingungen auch nochin Natürliche Ziele nachwirkt: tatsächlich spricht Spaemann in seinem Vorwort selbst dieNichtbeseitigung der «für eine Vorlesung charakteristischen Redundanzen» eigens an38.

Wie sehr daher solche Redundanzen ein Effekt der Vortragssituation und insbesondere derzeitlichen Rahmenbedingungen oder aber Ausdruck besonderer Wichtigkeit eines Motivs sind,ist oft nur schwer zu entscheiden; Anzeichen für letzteres sind jedenfalls in unterschiedlichemZusammenhang wiederkehrende Motive sowie unverkennbares Engagement des Redners,das gelegentlich eine Passage aus dem Strom der geschichtlichen Darstellung heraushebt.Hauptsächlich werden wir uns dementsprechend auf die systematischen Kapitel stützen undBezüge zu historischen Positionen nur dort aufnehmen, wo eine Kongruenz mit SpaemannsPosition, um die es uns ja zu tun ist, deutlich ist39.

Ein solches Engagement, wie es gerade den stärker rhetorisch gefärbten oder mit besonde-rem Nachdruck formulierten Passagen anzumerken ist, ist freilich auch ein Hinweis auf denweiteren Kontext der Auseinandersetzung um die Naturdeutung, in den hinein die Vorlesungengehalten und das Buch geschrieben wurden. Beispielsweise argumentiert Spaemann in immerneuen Anläufen und mit großem Nachdruck gegen eine Interpretation des Aristoteles alsVertreter eines teleonomischen Weltbildes, was aus der damals aktuellen Debatte um die vonKullmann vertretene «mechanistische» Aristotelesrekonstruktion40, die sich als eine Form

33 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 20.34 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, Kapitel VIII.35 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 197–258.36 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 11–20.37 S. u., Fußnote 128 (S. 27).38 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 9.39 S. u., Abschnitt 2.2.3.3. — Es wäre durchaus interessant, die von Spaemann und Löw ausgewählten

Fassungen teleologischen Weltverständnisses daraufhin zu befragen, wie weit, in welcher Weise und mitwelchen Motiven sie in Spaemanns systematische Position Eingang gefunden haben; auch dies sprengtefreilich den Rahmen der vorliegenden Arbeit bei weitem.

40 So jedenfalls Engels (Teleologie ohne Telos? , S. 126, 152); vgl. die einschlägigen Passagen zur Teleonomie

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

der «Verlängerung» des «Prozess[es] der Eliminierung teleologischen Denkens rückwarts indie Historie»41 erweise, zu verstehen ist; dabei handelt es sich aber offenkundig nur um eineFacette der um 1980 festzustellenden Tendenz, Aristoteles durch seine Neuinterpretation als,«pointiert ausgedrückt, ein sehr früher Newton (‹Gravitationsprinzip›), Kant (‹Reflexionsbe-griffe›), Watson und Crick (‹genetischer Code›) und Kybernetiker (‹Teleonomie›)» wiederum«wissenschaftstheoretisch hoffähig» zu machen42, auf deren andere Aspekte Spaemann freilich— teils wohl, weil die entsprechende Debatte noch nicht aufgebrochen war43, teils vermutlichauch, weil Teleologie im eigentlichen Sinn darin nicht berührt war — nicht eingeht.

Die angesprochenen Fragen der Aristotelesinterpretation und des Status der Teleonomie sindfreilich erkennbarerweise nur Teilaspekte einer größeren, wohl auch eine weitere Öffentlichkeitbewegenden Debatte, die nachzuzeichnen aufgrund der historischen Distanz von mittlerweilemehreren Jahrzehnten ohne weitergehende Auseinandersetzung mit der Literatur der Zeituns nicht möglich ist; die nur mit minimalen Adaptierungen erfolgenden Neuauflagen desTeleologiebuches bezeugen jedoch eine bemerkenswerte Kontinuität und bleibende Aktua-lität von Fragestellung und Argumentation: Im Kern handelt es sich dementsprechend umeine Auseinandersetzung, die, wenn auch mit anderen Akzentsetzungen, auch heute nochaktuell ist und wie seinerzeit für Spaemann so auch viel später für Thomas Nagel, mitdessen Teleologiekonzeption wir uns in Kapitel 3 auseinandersetzen wollen, Anlass genugwar, unmissverständlich Stellung zu beziehen. Es ist dies die Debatte um eine szientistisch-reduktive Weltsicht, die, zunehmend aggressiv vertreten und popularisiert, ungeachtet ihrerUnschlüssigkeiten, Schwierigkeiten und inhaltlichen Lücken in der Öffentlichkeit weithin dieDeutungshoheit beanspruchen zu können scheint, nicht zuletzt aber wegen der praktischenKonsequenzen — mit der Naturalisierung menschlichen Handelns fällt die Zurechenbarkeitvon Handlungen, was direkt auf Verantwortlichkeit und Ethik44 durchschlägt — und wegender Folgen für unser Selbstverständnis45 problematisch erscheinen muss. Die zur Zeit der

in Kullmanns 1998 erschiener, auf früheren Arbeiten aufbauender großer Aristotelesstudie (Kullmann,Aristoteles, S. 301–312), die, wie unschwer zu erkennen ist, bis in markante Formulierungen hinein mitjenen früheren Publikationen übereinstimmen, auf die Engels sich bezieht. — In der genannten Studiesetzt sich Kullmann mehrfach kritisch sowohl mit Engels als auch mit Spaemann und Löw und deren FrageWozu? auseinander (z. B. S. 257, Fußnote 2 u. ö.); auf seine Entgegnungen, denen gemischte Stichhaltigkeitzu bescheinigen ist, näher einzugehen ist hier freilich nicht möglich.

41 Engels, Teleologie ohne Telos? , S. 126.42 Engels, Teleologie ohne Telos? , S. 157f.43 Engels konstatiert diesen damals aktuellen Zugang 1981/82, also etliche Jahre nach Spaemanns ur-

sprünglichen Vorlesungen. Tatsächlich war auch damals die «Rehabilitierung» des Aristoteles längst nichtabgeschlossen, nimmt Perlman ihn doch noch 2004 gegen Vorwürfe von «fishy (and non-explanatory)vital forces and bizarre backwards causation in nature» in Schutz und attestiert ihm «a much morescientifically respectable enterprise» (Perlman, Resurrection of Teleology , S. 9); die wohl nicht allzu hochzu veranschlagende Plausibilität seiner Aristotelesdeutung muss uns hier nicht interessieren.

44 Bereits der Titel von Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, sprichtdiesbezüglich eine beredte Sprache.

45 Vgl. z. B. Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 241: «Die Frage nach dem Status der Teleologie ist die Fragedanach, als was wir uns selbst verstehen wollen, genauer gesagt, die Frage danach, ob wir uns überhauptals so etwas wie ein ‹Selbst› verstehen wollen. Kausale Analyse kennt ihrer Natur nach nicht so etwas wieSelbstsein, sie kennt nur abhängige Variable». — Ganz ähnlich betont auch Thomas Nagel immer wieder,es gehe ihm um «a way of understanding ourselves that is not radically self-undermining, and that doesnot require us to deny the obvious» (Nagel, Mind and Cosmos , S. 42). — Umgekehrt vergleiche man auchdie «Predigt der Humilitas» des Konrad Lorenz (Böse, Kapitel 11).

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2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption

Spaemann’schen Vorlesungen maßgeblichen Autoren waren freilich andere als zuletzt: mitden Namen Konrad Lorenz und Rupert Riedl verbindet sich v. a. die Auseinandersetzung umdie sog. Evolutionäre Erkenntnistheorie46, und hinzuweisen ist vielleicht auch auf damaligepopuläre szientistische Gesamtdarstellungen47, während etwa Richard Dawkins’ Selfish Geneerst praktisch zeitgleich mit Spaemanns Vorlesungen erschien48 und noch nicht jene Breiten-wirkung gehabt haben konnte, die er mit The God Delusion erzielen sollte. Es ist diese globalals szientistisch-reduktive zu charakterisierende Weltsicht, der Robert Spaemann gemeinsammit Reinhard Löw eine personalistisch gefärbte, lebensweltliche Perspektive entgegen setzt.

2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption

2.2.1. Teleologie als subjektive Verstehensform

Ist Natürliche Ziele auch weitgehend mit einer historischen Darstellung unterschiedlicherTeleologieformen, mit der Abwehr der genannten, mit exklusivem Wissenschaftlichkeitsan-spruch auftretenden szientistisch-reduktiven Weltsicht sowie dem Nachweis, dass die fürdie Verwerfung der Teleologie angeführten Gründe nicht diese sondern vielmehr nur ein-zelne Formen teleologischen Denkens treffen49, befasst, so tritt demgegenüber die positiveDarstellung der tatsächlich von den Autoren vertretenen Fassung des Teleologiegedankensschon rein quantitativ ein wenig in den Hintergrund. Wie bereits ausgeführt, müssen wir beideren Nachzeichnung von einer Differenzierung der Beiträge der beiden Autoren absehen undschreiben die in Natürliche Ziele fassliche Konzeption in erster Linie Robert Spaemann zu.

Zur Verwendung des Teleologiebegriffs: Bevor wir uns jedoch den Natürlichen Zielenund der von Spaemann und Löw vertretenen Sicht der Teleologie im Einzelnen zuwenden,gilt es doch darauf hinzuweisen, dass das Wortfeld um «Teleologie» bei Spaemann vielfachsehr weit gefasst ist und sich teilweise auf Sinnhaftigkeit und Verstehbarkeit zu reduzierenscheint. Dies legen zumindest Formulierungen wie etwa die Charakterisierung von Wittgen-steins Sprachspielen als «kontextstiftend, also teleologisch»50 oder auch die Bezeichnung derLeibniz’schen Monadenlehre als «Teleologie des Besten»51 nahe, in denen Teleologie weithin

46 Für eine Abwägung wesentlicher Argumente dieser Debatte vgl. den Sammelband von Lütterfelds (Er-kenntnistheorie).

47 Als Beispiel sei etwa Hoimar von Ditfurths Im Anfang war der Wasserstoff genannt, vgl. Abschnitt 4.1.2.1.48 1976; im Buch wird die deutsche Übersetzung aus 1978 angeführt, was evtl. darauf hindeuten könnte,

dass auch die auf Dawkins sich stützenden Passagen (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 213) erst imRahmen der Umarbeitung der Vorlesungsnachschrift in ein Buch eingefügt wurde. — Zu dieser nichtunproblematischen Passage vgl. Fußnote 78 (S. 21).

49 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 217–218, 255. — Insbesondere betrifft dies die «invertierte» Teleologieder Selbsterhaltung sowie universalteleologische Konzeptionen.

50 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 222.51 Spaemann, Leibniz’ mögliche Welten, S. 161. — Man beachte, dass bei Leibniz keine Rede davon ist,

dass die Welt, einzelne Objekte in ihr (die in der prästabilierten Harmonie der Monaden ohnedies nichtvoneinander unabhängig gedacht werden können) oder auch Gott selbst die Verwirklichung eines Bestenanstrebten. Vielmehr ist unsere (in den einzelnen Monaden gespiegelte: Monadologie, Nr. 56–57) Welt alsErgebnis eines objektiven Ausleseverfahrens unter den möglichen, d. i. logisch konsistenten Welten, nämlichals Welt maximaler realitas, eines quantifizierbaren Seinsgehalts, von Gott gesetzt: ihre Bestheit, die

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

als Gegenbegriff zu Sinnlosigkeit und Unverständlichkeit auftritt (worin freilich bereits gewisseAspekte von Spaemanns Teleologiekonzeption anklingen). Immer noch recht allgemein ist auchdie Gleichsetzung von Teleologie und «natürlicher Weltsicht»52, während sich die Beschrei-bung als «sympathetische Naturerkenntnis, der Versuch, Natur irgendwie als unseresgleichenzu verstehen»53 der von Spaemann und Löw vertretenen Sicht schon deutlich annähert; inderen Darstellung nimmt bemerkenswerterweise der Teleologiebegriff gegenüber SpaemannsZentralbegriff des «Selbstseins» eine nur untergeordnete Rolle ein.

Spaemanns Position — eine Kurzcharakteristik: Wenn auch die Darstellung historischerTeleologiesichten, deren einführend in Aussicht gestellten Ertrag für die richtige Fassung desBegriffs des Telos54 zu untersuchen den Rahmen dieser Arbeit bei weitem überschreiten würde,quantitativ dominiert, ist doch in Die Frage Wozu? bzw. Natürliche Ziele, insbesondere in densystematischen Teilen (Einführung, Kapitel IX–XI), sowie bei gelegentlicher Heranziehunganderer Texte Spaemanns fraglos eine distinkte Position auszumachen, die es zu skizzierensowie in weiterer Folge mit der Thomas Nagels zu kontrastieren gilt: Diese lässt sich — inmarkantem Kontrast zu Nagels Sicht (vgl. Kapitel 3) — als eine Teleologie im Ausgang vomSubjekt, das sich in dieser Welt vorfindet, und somit als eine auf diese Welt gerichtete, nebenanderen (wie insbesondere der naturwissenschaftlichen, die dann eben keine szientistisch-reduktive ist) bestehende und diesen als ursprüngliche sogar vorgeordnete Verstehensform,der keine Wirksamkeit des Telos (gar als «‹aus der Zukunft ziehende Zweckursache›, alsDämon»55) in der Welt entspricht, charakterisieren.

2.2.1.1. Teleologie als Anerkennung von Selbstsein

Dies deutet bereits der ursprüngliche, wenn auch ungenügend «deutliche»56 Titel des Buches,Die Frage Wozu?, an: Eine Wozu-Frage gibt es nicht ohne ein Subjekt, das sie stellt unddamit ein Interesse verbindet. Derselbe Vorrang des fragenden Subjekts gegenüber der zu ver-stehenden Welt spiegelt sich auch im häufigen Rekurs auf den sprachlichen Charakter unseresWeltbezugs57, demgegenüber die Frage des Verhältnisses von Sprache und außersprachlicherRealität konsequenterweise nicht behandelt wird58; und letztlich liegt auch die auffällige

innerweltlich zwar feststeht (Monadologie, Nr. 90), ist mithin Kriterium der Wahl, nicht Ziel des Handelns,weshalb die Anwendung des Teleologiebegriffs stricto sensu auf Leibnizens Konzeption abzulehnen ist.Andererseits eröffnet dieses Kriterium zweifellos eine Verstehbarkeit der Vereinbarkeit der Welt, wie sieist, einschließlich des Leidens mit Allmacht, Gerechtigkeit und Vollkommenheit Gottes. — John Lesliehingegen liest Leibniz axiarchistisch und weist die Konstruktion maximaler realitas als Fehlinterpretationder Theodizee und durch Annahme einer «secret doctrine» Leibniz angedichtete «silly theory» zurück(Leslie, Theory That The World , S. 296).

52 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 102.53 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 105.54 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 20.55 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 218.56 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, Vorwort, S. 9.57 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 221, 223–226, 229.58 Völlig gegensätzlich in dieser Hinsicht Eve-Marie Engels: Ihre Widerlegung der reduktionistischen Position

Ernest Nagels «dispensier[e] . . . nicht von der Frage, ob der Anspruch, der in teleologischen Wendun-gen gemacht wird, auch zu Recht besteht. Denn die semantische Unmöglichkeit der Reduktion vonRelevanzrelationen auf Bedingungsrelationen verbürgt ja noch nicht, dass die teleologische Sprache den

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2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption

Kürzung von Kapitel XI der Natürlichen Ziele gegenüber dem ursprünglichen Vortragstextvon 1992, Die Unvollendbarkeit der Entfinalisierung, auf dieser Linie59. Vor allem aber schlägtsich der Ausgang vom Subjekt in einer mehrfach wiederkehrenden Argumentationsstrukturwieder, wonach uns die relevanten, nach einer teleologischen Erklärung verlangenden Phä-nomene primär in unserer eigenen Selbst- und Welterfahrung gegeben sind und demnachin dieser Erfahrung ihr Paradigma finden: Immerhin liegt der Ursprung der teleologischenVerstehensform in unserem Wissen um uns selbst als Handelnde in der Welt, das in einerFigur der Anerkennung auch auf andere Gegenstände unserer Erfahrung übertragen werdenkann.

Wissen wir von uns selbst um das Setzen und Verfolgen von Zielen in unserem Handeln, soist das Attribut, das jene Anerkennung als Grundakt teleologischer Interpretation anderenGegenständen zuspricht, das Selbstsein (d. h.: die Qualität, ein Selbst zu sein60), wobei einSelbst genau ein solches Ganzes ist, das Zwecke und Ziele in teleologisch relevantem Sinne zuhaben vermag. — Dabei handelt es sich bei Selbst und Selbstsein in unserem Verständnis umden Zentralbegriff der Spaemann’schen Teleologiekonzeption überhaupt: die Äquivalenz vonSelbstsein und teleologischer Verfasstheit61 durchzieht den systematischen Teil von NatürlicheZiele insgesamt62.

Zugänglich ist dem teleologisch die Welt betrachtenden Subjekt dieses Selbstsein zunächstin seiner eigenen Selbsterfahrung als deren unbezweifelbarer Einheitsgrund: sich selbst vermagdas Subjekt den Status eines Selbst nicht zu versagen63. Als Objekt der Anerkennung, mithinder teleologischen Interpretation, kommen hingegen einzelne Gegenstände in der Welt in Frage,die, vom Subjekt als Dinge mit je eigener Identität aus der Menge der Sinneseindrücke isoliert,Gegenstand seines Interesses werden können und von denen ihm einige in unterschiedlichemAusmaß die Anerkennung ihres Selbstseins nahelegen.

Kann eine solche Anerkennung als notwendig freier und damit in einem Verhältnis personalerBezogenheit gegründeter Akt nicht erzwungen64, in Ermangelung eines evidenten Kriteriumsaber auch nicht ohne weiteres für unstatthaft erklärt werden, so müssen doch die beidenExtremfälle von Universalteleologie (mit Spaemann also die Zuschreibung von Selbstsein an

Gegenstandsbereich der Biologie auch adäquat trifft» (Engels, Formulierung , S. 225). Damit nimmtdie Autorin einen Standpunkt ein, der ungeachtet der größeren motivlichen Nähe ihrer Argumentationzu der Spaemanns — ihrer «Relevanz» entspricht in gewissem Sinne sein «Interesse» (Spaemann, Löw,Natürliche Ziele, S. 222, 230, 235–240) — viel eher dem Thomas Nagels entspricht. (Man beachte, dassder Reduktionist Ernest Nagel, mit dem sich Engels in dem zitierten Text auseinandersetzt, nichts mitdem Antireduktionisten Thomas Nagel, dessen Teleologiekonzeption in Kapitel 3 skizziert werden soll, zutun hat.)

59 S. u., Abschnitt 2.2.2 (S. 29).60 Im Sinne einer Sprachregelung soll im Folgenden substantivisches «Selbst» öfters auch als Kürzel für das,

dem Selbstsein zukommt, also für den Träger des Selbstseins, verwendet werden. Spaemanns und LöwsZurückhaltung gegenüber dieser naheliegenden Wortwahl hängt vermutlich mit der Gefahr, Selbst alshypostasierte Identität misszuverstehen, zusammen (Spaemann, Personen, S. 115).

61 Explizit etwa in der Wendung «von der Art des Selbstseins, also teleologisch verfasst» (Spaemann, Löw,Natürliche Ziele, S. 246).

62 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 227, 241, 244–247.63 Man vergleiche etwa die apodiktische Behauptung: «Umgekehrt sich selbst, in seinem theoretischen und in

seinem sittlichen Bewusstsein, mit Hilfe der eigenen Begrifflichkeit als Produkt von Materie und Spielregelnzu begreifen: das ist prinzipiell ausgeschlossen» (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 229).

64 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 244.

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

alles, was existiert, vom Elementarteilchen bis zum Geistwesen, ja in manchen Konzeptionensogar an die nach Art eines Organismus gedachte Welt in ihrer Gesamtheit65) sowie pauschalerAbweisung teleologischer Ansprüche (die das jeweilige Subjekt als einziges Selbst — denndas eigene Selbstsein zu negieren wird wohl nicht gelingen (s. o.) — unter letztlich reinphysikalischen Mechanismen66 existieren ließe) gleichermaßen als unfruchtbar und der Sachenicht angemessen beurteilt werden67, reduzieren sie das Konzept der Teleologie doch auf einentrivialen Inhalt, der nichts zum Verstehen beiträgt. Während die letztgenannte Positioneneines «Sol-Ipsismus» im Wortsinn nicht eigens diskutiert wird, nehmen unterschiedlicheuniversalteleologische Konzeptionen im historischen Teil von Natürliche Ziele breiten Raumein: in markantem Gegensatz zu Thomas Nagel lehnen Spaemann und Löw die Vorstellungeiner Universalteleologie im Sinne durchgängiger teleologischer Strukturiertheit der gesamtenWelt klar ab68. Gefragt ist somit ein zwischen diesen beiden Extremen liegendes, demjeweiligen konkreten Einzelnen adäquates Verstehen, aus dem Kriterien für die Anerkennungvon Selbstsein, wiewohl diese keine letzte Exaktheit aufweisen können69, gewonnen werdenkönnen.

2.2.1.2. Kritierien für Selbstsein

Den maßgeblichen Ansatzpunkt hiefür findet das Subjekt nach Spaemann und Löw wiederumin seiner eigenen, immer von einem gewissen Verständnis seiner selbst begleiteten Erfahrung:es ist dies die im systematischen Teil von Natürliche Ziele immer wieder auftretende70 Triasvon Leben, Bewusstsein und Sittlichkeit. Gegenüber einer Welt reiner physikalischer Faktizität,wie sie uns ein szientistisch-reduktionistischer Zugang vorstellt, müssen diese als je unableitbarNeues erscheinen; und selbst in Konrad Lorenz’ Konzept der «Fulgurationen» scheint diesnoch durch, weshalb dieses Konzept auch immer wieder von Spaemann und Löw zitiertwird71. Dieser wenigstens ein Echo der Neuheit — denn das Neue beschränkt sich hier bloßauf das erstmalige Auftreten72 — der mit Leben, Bewusstsein und Sittlichkeit gegebenen«Seinsschichten»73 bewahrenden Vorstellung steht die reduktionistische Alternative einerErsetzung des Phänomens durch eine aus dessen Abstraktion gewonnene Rekonstruktiongegenüber. Als Simulation des Neuen auf dem Niveau der voraufgehenden Seinsschicht kanndiese freilich nichts über diese ursprüngliche Seinsschicht hinausgehend Neues bringen —vergleichbar Leibnizens Mühle74, in der nur einander stoßende Teile, nicht aber Perzeption

65 So etwa bei Schelling, vgl. Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 134–136.66 Dies deshalb, weil nach Ausschluss der Teleologie auch Teleonomie keinen gegenüber dem rein Physikalischen

der Teleomatie eigenständigen Bereich zu eröffnen vermag (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 196 u. ö.).67 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 235 u. ö..68 Dabei ist die Beurteilung der Frage, ob Nagel, dessen Konzeption unleugbar eine gewisse Nähe zu univer-

salteleologischen Positionen aufweist, selbst eine solche vertritt, nicht ganz einfach; unserem Verständnisnach ist dies aber, zumindest wenn wir Spaemanns Kriterien anlegen, letztlich zu verneinen und wirdNagels Konzeption von Spaemanns Kritik nicht getroffen, vgl. Fußnote 5 (S. 90).

69 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 233.70 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 191, 211–216, 229.71 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 225, 229, 246, 256.72 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 195.73 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 225.74 Vgl. Leibniz, Monadologie, § 17; freilich liegt die Pointe des Mühlengleichnisses nicht in der Unmöglichkeit

der Erklärung von über das Physische Hinausgehendem durch Physisches sondern vielmehr im Schluss auf

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2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption

auffindbar ist — sondern rekonstruiert das Phänomen vielmehr in einer Weise, die seiner«Fülle»75 nicht gerecht wird und es in seiner Neuheit zum Verschwinden bringt: rekonstruiertesbzw. simuliertes Leben, so eine prägnante Formulierung Spaemanns, «lebt» eben letztlichnicht76. Dementsprechend kann in diesem reduktionistischen Rahmen auch der Übergang zumNeuen nicht adäquat abgebildet werden — dem Nachweis, dass diese Übergänge sämtlichdurch zirkuläre Argumentationen «erschlichen» sind77, räumen Spaemann und Löw breitenRaum ein78 —, und in der damit gegebenen effektiven Leugnung des Neuen bewirkt dieRekonstruktion letztlich die Ersetzung von Teleologie durch Teleonomie, die sich freilichnicht wirklich von Teleomatie, von purem Mechanismus also, dem nur ein Anschein vonZweckmäßigkeit anhaftet, unterscheidet79.Für Spaemanns Teleologiekonzeption ist nun wesentlich, dass mit Leben, Bewusstsein

und Sittlichkeit, ergänzt noch um den Leib als deren unhintergehbare Bedingung80, jeneElemente menschlicher Selbsterfahrung angesprochen sind, in denen zum einen das je eigeneSelbstsein greifbar wird, die zum anderen aber insgesamt jenen Horizont konstituieren,innerhalb dessen Erfahrung und Verstehen überhaupt möglich sind81; die Verwiesenheit aufdiesen Horizont gilt dabei keineswegs nur für die naturwissenschaftliche sondern erst rechtauch für die teleologische Verstehensweise. So ausführlich Spaemann und Löw jedoch dieSchwierigkeiten der teils durch Elimination, teils durch Ad-hoc-Annahmen82 wie Lorenz’«Fulgurationen» bewältigten Phänomene für evolutionstheoretische Darstellungen darlegenund die Insuffizienz der referierten reduktionistischen Erklärungsversuche argumentieren, sowenig erklären sie selbst im Rahmen der von ihnen vertretenen Teleologiekonzeption, was undwie jenes grundsätzlich Neue von Leben, Bewusstsein und Sittlichkeit eigentlich ist; vielmehrkonstatieren sie dieses Neue bloß, unterlassen aber ihre teleologische Erklärung nicht nursondern weisen überdies jegliche Erklärbarkeit und Verstehbarkeit des teleologisch Verfassten

die Einheit der Monaden als «einfache Substanzen».75 So eine immer wiederkehrende Charakterisierung (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 226–229).76 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 211.77 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 211.78 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 211–216. — Im Detail sind freilich einige Vorbehalte gegen diesen

Nachweis anzumelden. Jedenfalls erscheint es höchst mutwillig, angesichts der allzu großen Zurückhaltungder meisten Autoren bei einer materialistischen Erklärung des Bewusstseins ausgerechnet die «erfreulicheAusnahme» (S. 213) der Position des weniger «vorsichtigen» (ibid.) Richard Dawkins’ zu referieren,zurückzuweisen und zumindest zu suggerieren, die Widerlegung dieser maximalistischen und zumindest inSpaemanns Skizze recht oberflächlichen Ausnahmeposition habe das Projekt eines reduktiven Verständ-nisses von Bewusstsein insgesamt erledigt; die ausgesprochen polemische Färbung auch dieser Passageverstärkt jedenfalls den Eindruck, Spaemann und Löw wären sich der mangelnden Schlüssigkeit ihrerAusführungen wohl bewusst. — Dabei handelt es sich freilich nur um einen Aspekt ihrer gesamten Argu-mentation zur «Erschleichung» der Übergänge zwischen den durch Leben, Bewusstsein und Sittlichkeitausgezeichneten Seinsschichten, basiert diese doch auf einer isolierten Betrachtung je eines dieser Übergängesamt einer zugehörigen reduktionistischen Argumentation statt die alle Übergänge einschließende Gesamt-sicht anzuzielen; vgl. dazu Abschnitt 4.1.2.1. Eine Abschätzung der Schlüssigkeit der Spaemann’schenKritik an den vorgestellten szientistischen Entwürfen muss freilich im Rahmen dieser Arbeit insgesamtunterbleiben, gilt unser Interesse doch vielmehr Spaemanns positiver Teleologiekonzeption.

79 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 196, 208f.80 Den Nachweis, dass der späte Kant den Schritt zu einem Leib-Apriori getan habe, schreibt Spaemann

explizit Reinhard Löw zu (Spaemann, Whitehead , S. 180).81 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 229.82 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 225, 245f.

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

weitestgehend ab83. Dies mag für den Leser weniger befriedigend sein als der vielleichtwenig überzeugende Versuch einer Erklärung, wie er von reduktionistischen Autoren gerneunternommen wird; allein: es liegt offenkundig ganz auf der Linie ihrer Argumentation, diesich im Ausgang vom fragenden Subjekt all das, was mit dessen Existenz bereits mitgegebenist, fraglos vorauszusetzen berechtigt sieht: eine Erklärungsnotwendigkeit der Normalität84 desHorizonts des Verstehens kann in diesem lebensweltlichen Ansatz gar nicht erst aufkommen,Fehlen oder Unmöglichkeit einer Erklärung folglich nicht stören.

Vom in diesen Horizont gestellten Subjekt aus sind denn auch die Kriterien teleologischenVerstehens, in Spaemanns Konzeption somit der Anerkennung von Selbstsein, zu gewinnen.Immerhin ist es das eigene Selbstsein in den Dimensionen von Leiblichkeit, Leben, Bewusstseinund Sittlichkeit, das dem Menschen unzweifelhaft und vertraut ist und das als solches denAusgangspunkt für die Anerkennung von Selbstsein qua Ähnlichkeit bei anderen Erfahrungs-gegenständen bildet. Dabei ist menschliches Handeln das ursprüngliche Modell der Teleologie,erfahren wir doch gerade als im Handeln bewusst Zwecke setzende und Ziele verfolgende, wases heißt, Ziele zu haben; gleichwohl ist eine Einengung teleologischen Verständnisses auf diesesModell (und somit von vorneherein auf seiner selbst sich bewusstes Leben85) nicht statthaft86:vielmehr ist das Handeln nur ein Ort, an dem die tiefer liegende, immer schon präsenteGerichtetheit des Ganzen des Subjekts, wie sie vorreflexiv etwa schon im Trieb vorliegt, imHandeln aber nur sekundär ergriffen wird, offenkundig ist87. Findet das Subjekt aber immerschon die Gerichtetheit eines Aus-Seins-auf-Etwas in sich, so bietet ihm diese Erfahrung auchden Schlüssel, um bei einem Gegenstand außerhalb seiner selbst eine Ähnlichkeit zu erkennen,die so weit gehen kann, auch diesem Anderen ein Aus-Sein-Auf zu unterstellen: es somit anzu-erkennen als etwas, das Ziele haben kann, und damit als ein Selbst. Wie weit dieser Bereichder Anerkennung reicht, ist nur umrisshaft zu bestimmen: immerhin geht neben der Freiheit88

in diesen Akt der Anerkennung als Form von Identifikation89 auch die jeweilige Subjektivitätmaßgeblich ein. Sind aber die Grenzen der Reichweite teleologischer Interpretation auchfließend, so können doch gewisse Anhaltspunkte für deren Plausibilität angegeben werden,die das, was mit Ähnlichkeit gemeint ist, näher konkretisieren. So geben Spaemann und LöwKriterien an, wann ein natürlicher Ablauf als Verhalten eines anzuerkennenden Selbst zuinterpretieren ist; dabei können sich diese Kriterien nur auf empirisch erfassbare Sachverhaltebeziehen und bieten somit nur ein Indiz für Aus-Sein-Auf und Selbstsein, ohne dass jedes

83 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 245, 247 u. ö.. — Damit ist aber, ganz im Gegensatz zu den von ihnenkritisierten Positionen, auch jeglicher Anspruch auf Erklärung im Rahmen ihrer Konzeption abgewiesen:der Vorwurf, den sie erheben, ist also nicht so sehr der eines Scheiterns an der Erklärung sondern dereines nicht eingelösten, weil überschwänglichen Anspruches.

84 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 13–17 u. ö..85 Vgl. Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 12. — Ein prägnantes Beispiel der Zuschreibung teleologischer

Verfasstheit an solch ein seiner selbst nicht bewusstes Leben ist die Hilfe an ein derartiges Lebewesen:«Zu Hilfe kommen kann man nur einem Wesen, das von sich her auf etwas aus, aber zu schwach ist, es zuerreichen» (Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 121).

86 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 218 u. ö..87 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 121; Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 219–221. — Für Spaemanns

später wohl zurückgenommene Überlegungen zu einer ontologischen Fundierung dieser Gerichtetheit s. u.,Abschnitt 2.2.2 (S. 29).

88 S. o., S. 19.89 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 232.

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2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption

Selbst dieses Verhalten auch zeigen müsste. Teleologische Verfasstheit ist demnach dann zuunterstellen, wenn der gegenständliche Ablauf plastisch ist im Sinne hartnäckiger Verfolgung(die freilich auch scheitern kann90) eines Zieles unter wechselnden Bedingungen und wenndiese äußeren Bedingungen durch (notwendig unvollständige) Perzeption der Umwelt91 in ihneingehen92. Durch Anwendung dieser beiden Aspekte, die in bewusstem Handeln als Ergreifenvon Mitteln für Zwecke greifbar werden, aber nicht darauf beschränkt sind93, als Kriteriumwird der Geltungsbereich der Teleologie gegenüber allzu weitreichenden Konzeptionen94 starkeingeschränkt: beispielsweise sind die teleologische Interpretation rein mechanischer Verände-rungen (etwa des Fallens eines Steines als Streben zu seinem natürlichen Ort) wie auch derAusführung eines vorgegebenen Programms durch ein Artefakt (etwa durch Torpedos95 oder«Raketen, die unter variierenden äußeren Umständen das Ziel erreichen»96) damit abgewiesen.

Gerade das Beispiel «intelligenter» Waffensysteme — zur Zeit von Spaemanns Vorlesungennur in rudimentärer und primitiver Form verfügbar, heute selbstverständlicher und allzuvertrauter Stand der Militärtechnik — zeigt aber, dass hier alles daran liegt, was denn als«Perzeption» gilt: Offenkundig verfügen z. B. auch die derzeit knapp vor der Markteinführungstehenden selbstfahrenden Automobile97 über eine Repräsentation ihrer selbst wie ihrer Umge-bung, die die im Wesentlichen98 auf Buttersäurepräsenz beschränkte der Zecke (oder vielleichtsogar die der berühmten Nagel’schen Fledermaus99) auch qualitativ bei weitem übertrifft100.Und doch ist — schon aufgrund des Insistierens auf Ähnlichkeit als Anerkennungsgrund unddes gelegentlich fast trotzig anmutenden Bekenntnisses zur Teleologie als einer wesentlichanthropomorphen Verstehensform101 — deutlich, dass Spaemann und Löw Selbstsein viel eher

90 Man vergleiche das Beispiel des durch sein Zappeln sich immer mehr im Netz des Fischers verfangendenFisches (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 232).

91 Bei Artefakten entspräche dies dem Unterschied von Steuerung und Regelung.92 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 231f.93 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 232.94 Prima vista scheint davon auch die aristotelische, auf die sich Spaemann so oft beruft, betroffen zu sein,

ist doch nach Aristoteles das Zusammentreffen aller vier Ursachenarten einschließlich der causa finalis fürjede Veränderung erforderlich. Allerdings wäre dies in doppelter Hinsicht ein Missverständnis: Zum einennämlich ist die causa efficiens, anders als unsere heutige Vorstellung von Kräften und deterministischenNaturgesetzen, eine ungerichtete Größe (vergleichbar vielleicht einer zur Verfügung stehenden Energie),während die Gerichtetheit des Prozesses eben durch ein anderes Prinzip, die causa finalis, gewährleistetist, sodass das neuzeitliche Naturgesetz beide Ursachenformen in sich vereint (Spaemann, Löw, NatürlicheZiele, S. 257). Zum anderen aber ist auch bei Aristoteles die Betrachtung nicht auf das Gesamt des Kosmossondern auf eine Klasse von Gegenständen gerichtet, τὰ φύσει ὄντα, die als eigenständige, ihr τέλος in sichtragende Größen betrachtet werden, ohne selbst als Mittel für andere τέλη zu gelten (Spaemann, Löw,Natürliche Ziele, S. 66 u. ö.).

95 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 256.96 Stöckler, Teleologie.97 Im us-Bundesstaat Nevada sind seit Mai 2015 autonome lkws im Einsatz.98 Für eine vollständigere Bestimmung des Spektrums der vom Haller-Organ der Zecke verarbeiteten Reize

sei auf die einschlägige Literatur verwiesen.99 Nagel, Bat .100 Eine Argumentation über den Grad der Umgebungswahrnehmung führte zudem in gefährliche Nähe zu

Dawkins Versuch, evolutionäres Auftreten von Bewusstsein durch zunehmend vollständigere und schließlichauch ein Modell ihrer selbst enthaltende Außenweltsimulation zu erklären (Spaemann, Löw, NatürlicheZiele, S. 213); vgl. dazu auch unsere Bemerkungen in Fußnote 78 (S. 21).

101 Dieses findet sich weniger in Spaemanns und Löws Teleologiebuch als vielmehr in der ursprünglichenFassung des als Kapitel XI in Die Frage Wozu? (und in weiterer Folge in Natürliche Ziele) aufgenommenen

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

Fledermaus und Zecke zusprechen würden als einem hoch entwickelten Fahrzeug.Doch nicht die Differenz von Lebewesen und Artefakt macht Spaemann nun geltend102, wie

dies — gerade auch mit Blick auf Aristoteles, den ständigen Referenzpunkt der NatürlichenZiele — nahezuliegen scheinen könnte. Dem steht nämlich ein Zweifaches entgegen: Zum einenbenötigten wir dafür, um einer zirkulären Argumentation zu entgehen, ein vorteleologischesKriterium für Leben, um es im Kriterium für teleologische Verfasstheit einzusetzen; einsolches ist jedoch — die Vielfalt naturwissenschaftlicher (und sämtlich von Spaemann undLöw als ungenügend befundener) Lebensdefinitionen belegt es — nicht verfügbar103. Daaber «einfallsreiche Definitionen» nicht für «endgültige Kriterien für das Phänomen desLebens»104 eintreten können, führt doch kein Weg um den Akt der Anerkennung aufgrundwahrgenommener Ähnlichkeit herum, und die Reichweite legitimer teleologischer Interpretationbleibt notwendig fließend105. — Zum anderen aber steht einer Einschränkung von Teleologieauf Lebewesen Spaemanns wiederholte Bezugnahme auf die Möglichkeit echten Maschinen-bzw. Computerschmerzes106 entgegen: Auch dieser nötigte uns, einem Artefakt Selbstseinund damit eine gewisse, uns zwar unverständliche und doch als solche erkennbare Form vonSubjektivität zu unterstellen, also bei aller Unähnlichkeit von Mensch und Maschine in derenSchmerz eine hinreichende Ähnlichkeit zu uns selbst zu erkennen und anzuerkennen.

Was wird nun aber in dieser Anerkennung eigentlich anerkannt? Was sollSelbstsein heißen, wenn es nicht Selbstbewusstsein meint? Und worin soll eineteleologische Verfassung bestehen, wenn sie einerseits nicht auf die Teleonomiebloßer Selbsterhaltung reduzierbar sein, sondern die Selbsterhaltung selbst nocheinmal ein «Um . . . willen» haben soll, wenn aber dieses «Um . . . willen» geradenicht Sein-für-anderes, sondern «Um . . . willen» des Selbstseins bedeuten soll,und wenn doch drittens diese das Selbst erst konstituierende Selbsttranszendenzgerade nicht die Form eines sittlichen Bewusstseins haben soll?107

Vortrags von 1992 (Spaemann, Unvollendbarkeit) und ist natürlich im Kontext des Anthropomorphis-musvorwurfs gegen die Teleologie und von Spaemanns Sicht von Philosophie als «Widerstand» gegen die«Uminterpretation unseres natürlichen» Verständnisses (Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 17)zu lesen.

102 Tatsächlich vertritt Spaemann in seinem Vortrag Naturteleologie und Handlung aus dem Jahr 1977 nochklar die Äquivalenz «lebendig, teleologisch zu interpretieren» = «System an sich» = «System für sich» undsieht demzufolge Teleologie an bewusstes Handeln als Bedingung ihrer Möglichkeit geknüpft (Spaemann,Naturteleologie, S. 51). Im Folgenden skizzieren wir freilich den letzten fassbaren Stand von SpaemannsTeleologiekonzeption, wie er sich uns in Natürliche Ziele darbietet.

103 Konsequenterweise könnten Spaemann und Löw freilich eine Eigenständigkeit eines naturwissenschaftlichenKriteriums gegenüber einer teleologischen gar nicht bejahen, da sie ja gerade die Abhängigkeit zentralerBegriffe naturwissenschaftlicher Erklärung von teleologischen Konzepten in den Vordergrund rücken(Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 200–216). Bemerkenswerterweise führen die Autoren dennoch etlichevorgeschlagene Definitionen von Leben explizit an (S. 211).

104 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 212.105 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 233.106 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 244, 246, 257. — Dabei handelt es sich um eine Radikalisierung

des im später gekürzten Teil des Vortrags zur Unvollendbarkeit der Entfinalisierung mit der zu ihrerVerstehbarkeit erforderlichen Einheit der Wirklichkeit begründeten Ansatzes des Beginns der Finalitätlängst vor dem «Beginn des Lebens oder gar des Zentralnervensystems» (Spaemann, Unvollendbarkeit ,S. 121).

107 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 244f.

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2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption

Soll diese Passage mit ihren rhetorischen Fragen, die auch im engeren Kontext keine klareund eindeutige Antwort finden, nicht auf eine mit besonderem Nachdruck vorgetragene platteGleichsetzung von Selbstsein und Selbstbewusstsein108, von teleologischer Verfassung undSittlichkeit hinauslaufen109, so liegt ihre Pointe wohl in einer Intention des Offenhaltensdes Bereiches legitimer teleologischer Interpretation: So, wie Teleologie nicht auf bewusstesmenschliches Handeln, wie die physische Realisierung des anzuerkennenden Selbst nichtauf kohlenstoffbasierte Lebewesen eingeschränkt werden darf, so darf auch, aller Fremdheitzum Trotz — viel weniger noch als zu «what it is like to be a bat»110 haben wir Zugangdazu, was Schmerz für einen Mechanismus bedeutet —, das, was Selbstsein bedeutet, nichtvoreilig eingeschränkt werden: Selbstsein ist etwas, das — so Spaemann (in Anlehnung anWittgenstein) in unmittelbarer Fortführung der zitierten Passage — «nicht gesagt [ ] sondernnur gezeigt werden kann»111, und es ist etwas, das, wie das Beispiel der schmerzempfindendenMaschine zeigt, selbst dann, wenn wir seine Entstehungsbedingungen völlig kontrollieren, alsein von uns Gemachtes nicht adäquat beschrieben ist112.

2.2.1.3. Die Bedeutung von Selbstsein

Eine materiale Bestimmung dessen, was Selbstsein eigentlich ist, lassen Spaemann und Löwgegenüber der formalen Bestimmung, Selbstsein sei das an einem anderen, was ein Subjektzur Anerkennung von Ähnlichkeit bewegt, damit aber völlig offen: die Wesenserkenntnis, dieuns die inhaltliche Explikation erlaubte, ist uns nicht gegeben. Klar ist nur zum Teil, worinÄhnlichkeit und Anerkennung nicht bestehen: etwa in einer noch so täuschend realistischenNachahmung äußerer Merkmale, wie sie im Behaviorismus113 zum Kriterium erhoben wird,die aber auch Gemachtes prinzipiell leisten kann, oder in einer emotionalen Verbundenheitdes Subjekts, bei der Tamagotchis (oder auch die Automobile der von Robert Spaemannder Inkonsequenz geziehenen Reduktionisten114) sicher zahllose Organismen ausstächen115.

108 Dagegen spräche u. a. auch, dass Spaemann und Löw in Fußnote 85 von Kapitel VIII von Natürliche Ziele(S. 290, bezogen auf S. 191) das Entstehen von Schmerzempfindung neben anderen Phänomenen (Auge,Warmblütigkeit, Sexualität, Brutphase, Mehrzelligkeit) als ein eigenes und somit auch zu unterscheidendesunableitbar Neues neben Leben, Bewusstsein und Sittlichkeit aufführen.

109 Zugegebenermaßen scheint angesichts mangelnder Deutlichkeit auch genau diese Lesart, die zu der vonuns im Folgenden vertretenen Sicht in schärfstem Gegensatz steht, u.U. vom Text her vertretbar.

110 So der Titel von Thomas Nagels berühmtem Artikel aus dem Jahr 1974 (Nagel, Bat).111 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 245.112 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 257.113 Dieser findet im Teleologiebuch nur einmal ganz am Rande Erwähnung (Spaemann, Löw, Frage Wozu? ,

S. 104; Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 87), während er 1977 noch vergleichsweise prominent aufscheint(Spaemann, Naturteleologie, S. 47). Das könnte zum einen die wechselnde Konjunktur dieser Sichtweise,deren Ungenügen offenkundig zu sein scheint, wieder spiegeln, legt andererseits aber auch die Vermutungnahe, Spaemann habe diese Strömung in den ursprünglichen Vorlesungen 1976/77 noch weit ausführlicherbehandelt als 1981 in Die Frage Wozu?.

114 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 291, Fußnote 3 zu Kapitel XI (S. 249).115 Weitere Beispiele emotionaler Bindung an mehr oder minder hochentwickelte Maschinen sind im Umkreis

der aktuellen Diskussion um Bedeutung und Folgen tatsächlicher oder nur erhoffter Fortschritte derRobotik, wie wir sie eingangs skizziert haben (s. o., Abschnitt 1.1) unschwer zu finden; vgl. etwa Stanzl,Herzensangelegenheit ; Stanzl, Instanz . — Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch die impliziteGleichsetzung von Hund und Auto in einem Interview des Schriftstellers Martin Walker: «Wir bauenBeziehungen auf, nicht nur zu Menschen. Ich habe eine persönliche Beziehung zu meinem Hund und zu

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

Vielmehr eignet dem teleologisch Verfassten ein «kontingente[s], empirisch durchaus bedingte[s]Selbstsein[]», das, so paradox dies scheint, dessen «eigentümliche Unbedingtheit» begründet,die selbst keiner Erklärung und Erläuterung mehr zugänglich ist116.In dieser Unbedingtheit — Spaemann spricht sogar von «Heiligkeit»117 — aber rührt das

Selbst ans Absolute. Tatsächlich ist einer der Erträge der historischen Darstellung der Wand-lungen teleologischen Denkens der Kapitel I bis VIII von Natürliche Ziele die Unerlässlichkeiteines Absoluten als Horizont und Bezugspunkt: immanente Teleologie, deren Telos nur dieRealisierung eines empirisch erfassbaren Zustandes118 sein kann, lässt sich nämlich immerauf bloßen naturhaften Ablauf, auf Teleonomie bzw. Teleomatie, reduzieren119. Dass Kant,sieht man vom Opus postumum ab120, den Berührungspunkt des Selbst mit dem Absolutenausschließlich in der Erfahrung sittlichen Anspruchs verortete, kritisiert Spaemann wieder-holt121: vielmehr gebe es ein weitaus größeres Spektrum möglicher Erfahrungen, bei denen dasAbsolute thematisch wird. Beispielsweise dürfte es im bereits erwähnten, sehr beschränktenBeispiel des potentiell auch Computern zukommenden Schmerzes dessen Charakteristik alsWahrnehmung, die als solche nicht täuschen kann122 und somit den Zugang zu einer Sphärevon Geltung bietet, sein, die als dieser Absolutheitsbezug in Frage kommt123. Als subjektivesErleben eines bereits vorausgesetzten (bzw. anhand des Schmerzes erst erkannten und an-erkannten) Selbst aber kommt im Schmerz das Eigentliche jener paradoxen «kontingentenUnbedingtheit», die das Selbstsein auszeichnet, noch nicht in den Blick: Erforderlich ist hiefürvielmehr das Erfassen des aus dem Strom der Sinneswahrnehmung isolierten Gegenstandesals in sich geschlossener Sinnzusammenhang124 und somit als ein Ganzes, das nur in seinerIntegrität adäquat verstanden ist, als solches aber eigene, ihm nicht äußerliche Ziele zu habenvermag, in deren Verfolgung kausale «‹Bedingung› [ ] zum ‹Mittel› [wird]»; wo aber dieseQualität erfasst ist, legt sich die nicht erzwingbare Anerkennung von Selbstsein nahe.Erfassen und Anerkennen gehen dabei gleichermaßen auf das Subjekt zurück, um dessen

Verstehen es in Spaemanns Konzeption von Teleologie als Verstehensform ja immer geht,wie auch beide gleichermaßen nicht erzwingbar sind, da sich ja auch die Verfasstheit alsin sich geschlossener Sinnzusammenhang mangels empirischer Feststellbarkeit der Mittel-Zweck-Relationen der Verifizierbarkeit entzieht. Bedeutet nun aber die paradoxale Rede von

meiner alten Citroën-Ente, meine Töchter zu ihren Handys. 2003 war ich als Journalist im Irak, mitus-Soldaten, die Roboter als Sprengstoffdetektoren verwendeten. Als einer davon in die Luft ging, habensie ihn begraben, fast wie einen toten Kameraden. Polizisten werden die Nächsten sein, die künstlicheIntelligenz nutzen, und sie werden unweigerlich Beziehungen zu ihren ‹Assistenten› aufbauen» (Gaulhofer,Walker).

116 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 245.117 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 245.118 Spaemann und Löw sprechen von der Relation eines Zustandes zu einem Organisationsprinzips (Spae-

mann, Löw, Natürliche Ziele, S. 242), doch fehlt einem Organisationsprinzip wiederum die empirischeÜberprüfbarkeit, weshalb die Klasse der ihm entsprechenden empirischen Zustände u. E. den tauglicherenReferenzpunkt abgibt.

119 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 61–64, 73, 242.120 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 120.121 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 243f.122 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 219.123 Auffälligerweise bedenken Spaemann und Löw den von Nagel hervorgehobenen evaluativen Aspekt des

Schmerzes — Schmerz ist nicht gut und soll nicht sein — (s. u., Abschnitt 3.2.1.4) nicht eigens.124 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 236.

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2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption

einer einem Kontingenten anhaftenden «eigentümlichen Unbedingtheit» offensichtlich, dasszwar der Prozess, der zur Entstehung des Selbst geführt hat, sowie zahlreiche der Umstände,von denen es affiziert wurde und wird, bedingt sind, dem Selbst aber, ist es denn einmalentstanden, eine Qualität zukommt, die dieses Auf-kontingente-Art-und-Weise-entstanden-Sein transzendiert125, so betrifft diese Qualität des Unbedingten das verstehende Subjektnicht so sehr theoretisch als vielmehr zunächst und vor allem praktisch: nicht, wie und wasdas Selbst ist (und was man folglich, neuzeitlichem Herrschaftswissen entsprechend, mit ihmtun kann), sondern, was man mit ihm tun darf — Anerkenntnis des Selbstseins könnte derNutzung Schranken setzen126, müssen wir doch, wie Spaemann Kants kategorischen Imperativabwandelt, «alles, was [. . . ] teleologisch verfasst ist, nicht nur als Mittel, sondern immer auchals Zweck gebrauchen»127 —, ist der entscheidende Unterschied zwischen einem Selbst undeinem beliebigen anderen Gegenstand, dem der Charakter des Selbstseins abzusprechen ist;jene «eigentümliche Unbedingtheit» ist mithin keine etwa spekulativ zu erfassende ontischesondern eine praktische Unbedingtheit128. — Eine weitere praktische Tangente, dies seinebenbei bemerkt, hat das Teleologieproblem bei Spaemann insofern, als er die Annahmebzw. Aufrechterhaltung der von ihm entwickelten Teleologiekonzeption zur Sache einespraktischen Imperativs erklärt, dem auszuweichen angesichts der ökologischen Krise nunmehrendgültig unstatthaft geworden sei129: ein teleologisches Naturverständnis begründe nämlichsowohl eine tragfähige, der «Abschaffung des Menschen» entgegenstehende Anthropologie130

125 In anderen Worten: es handelt sich beim Selbstsein um eine «emergente, nicht auf ihre Entstehungsbedin-gungen reduzierbare Eigenschaft» (Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 121).

126 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 84, 246.127 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 246.128 Spaemann bringt diese Differenz mit Josef Königs Unterscheidung von theoretischen und praktischen

Ursachen bzw. Warum-Fragen in Abschnitt 15 (S. 196–204, insb. 196–200) der Bemerkungen über denBegriff der Ursache (1949) in Zusammenhang (vgl. Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 222; unrichtigeSeitenzahlen im Zitat). Ob dieser Bezug berechtigt ist oder nicht vielmehr eine Missrepräsentation vonKönigs Denken darstellt, muss zumindest als Frage in den Raum gestellt werden: Zum einen zielt dasPraktische bei König zwar auf den Einzelfall, damit aber noch nicht auf einen Handlungszusammenhangoder gar die Sphäre der Sittlichkeit, um die es Spaemann an dieser Stelle zu tun ist (S. 221: «sittliche[ ]Teleologie»); beispielsweise gilt König der Hinweis auf das ablaufhafte, kein Handeln implizierendeGestoßen-Werden als praktische Ursache der Bewegung des Gestoßenen, d. i. als Antwort auf eine inKönigs Sinn «praktische» Warum-Frage. Zum anderen aber ist das Unterscheidende der (im Übrigender praktischen logisch vorgeordneten) theoretischen Warum-Frage der Bezug zum Allgemeinen («DerBegriff der theoretischen Ursache ist also der Begriff einer Ursache der generellen Implikationen, derenBestehen immer schon beim Verstehen der praktischen Ursache vorausgesetzt ist», S. 196), der aberwiederum keinen Bezug auf menschliches Handeln oder Naturbeherrschung — diese polemisch-pejorativeSicht der Naturwissenschaft scheint von König überhaupt nicht geteilt worden zu sein — mit sich bringt:es ist vielmehr die Frage, «warum es ‹in der Welt so ist oder so eingerichtet ist›» (S. 197), eine Frage,deren Bedenken wohl kaum, wie Spaemann unterstellt, zu größerer «Unvertrautheit der uns umgebendenWirklichkeit» (S. 222) führen wird. Schließlich ist auch zu fragen, ob nicht Königs Ursachenbegriff, der dieNotwendigkeit der Wirkung bereits beinhaltet — bei der Hervorbringung gleicher Wirkungen durch gleicheUrsachen handle es sich um einen «analytische[n] Satz a priori, kein Gesetz, kein ontologisches Theorem, daseinen Wesenszug gewisser Dinge ausspräche» (S. 186) —, mit Spaemanns Teleologiekonzeption überhauptinkompatibel und somit zur Stützung seiner Argumentation untauglich ist.

129 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 238f.130 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 118f, 241. — Dass die offensichtliche Bezugnahme auf Lewis’ Abolition

of Man (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 246) keine zufällige ist, belegt die prominente Erwähnung inSpaemanns dem ersten Band der Aufsatzsammlung Schritte über uns hinaus vorangestellter Skizze seines

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

als auch ein Naturverhältnis des Menschen, das in Einfügung statt Beherrschung seinenNiederschlag findet.

2.2.1.4. Die Stellung der Teleologie

Die diesem praktischen Imperativ zugrunde liegende doppelte Stellung des Menschen zur Na-tur als ihr Teil wie als in und an ihr Handelnder aber ist es, die die, wie Spaemann nicht müdewird zu betonen131, anthropomorphe Form des Verstehens von Natur132, die Teleologie imKern ist, sowohl legitimiert als auch fordert. Was jedoch jene andere, heute vielfach dominante«(natur-)wissenschaftliche» Verstehensform133, wie sie im Hempel-Oppenheim-Schema ihreparadigmatische Ausprägung findet, angeht, so ist die Einschätzung des Verhältnisses dieserbeiden Verstehensformen seit langem durch ein nicht nur populäres Vorurteil von Konkurrenzund Inkompatibilität, das, da Naturwissenschaft als unverzichtbare der Notwendigkeit ihrerLegitimierung weitgehend enthoben ist, bestenfalls auf ein Ablösemodell hinausläuft, vielfachbelastet. Die Gefahr übertriebener, weil nicht einlösbarer, gegen die jeweils andere Seite ge-richteter Ansprüche besteht dabei grundsätzlich bei auf Kausalität wie Finalität abstellendenVerstehensweisen gleichermaßen: eine Verabsolutierung der Kausalitätskategorie führte ineinen dogmatischen reduktiven Szientismus, der Selbstsein, Neues (das höchstens aus Abstra-hiertem rekonstruiert wird), sittliche Kriterien (die doch auch an die Kausalitätsanwendunganzulegen wären) und das konkrete Einzelne (dem der teleologische Blick eben vorrangig gilt)nicht sehen kann und für inexistent erklärt; doch müssen umgekehrt, wie Spaemann und Löwmit Verweis auf Hegel (in dessen Wissenschaft der Logik noch mehrere Stufen vom Leben biszur absoluten Idee folgen134) festhalten, auch Teleologieformen, die Finalität zur «höchste[n]Kategorie» erklären, «mit deren Hilfe wir begreifen, was ist»135, (wie dies etwa im Fall derUniversalteleologie zumindest für Innerweltliches oder in der Physikotheologie für die gesamteSchöpfung angesetzt worden war) jedenfalls zurückgewiesen werden. Lässt man derartigeVorurteile und übertriebene Ansprüche aber beiseite, so erweist sich das Verhältnis von Teleo-logie zu kausal-naturwissenschaftlichem Verstehen aber keineswegs als eines wechselseitigerInkompatibilität sondern vielmehr als das einer Komplementarität: beide Verstehensformenkönnen nebeneinander bestehen, sie stehen nicht in Konkurrenz136, sind aber auf einanderbezogen (s. u.) und verwiesen137. Ein wesentlicher Unterschied zwischen ihnen betrifft das

Selbstverständnisses (Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 16).131 Vor allem in den bei der Aufnahme in Die Frage Wozu? als Kapitel XI gekürzten Teilen des Vortrages zur

Unvollendbarkeit der Entfinalisierung von 1992, vgl. Fußnote 101 (S. 23).132 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 239.133 Oder sollte der fundamentale Gegensatz doch an anderer Stelle liegen und die Front der Auseinandersetzung

zwischen mit religiöser Weltdeutung kompatibler Wissenschaft und szientistischer Wissenschaftsgläubigkeitverlaufen? Man vergleiche hiezu die analogen, aber religions- und nicht naturphilosophischen Thesen beiAlvin Plantinga (Plantinga, Conflict).

134 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 148.135 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 247.136 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 226.137 Für die Abhängigkeit kausal-naturwissenschaftlichen Verstehens von Teleologie vgl. Spaemann, Löw,

Natürliche Ziele, S. 202, 209, 211. Andererseits aber lässt sich die Argumentation von S. 202 auchumkehren: offenkundig ist an Zielen orientiertes Handeln nur möglich, weil die ergriffenen Mittel kausalwirksam sind, kausale Bedingungsforschung also tatsächlich einen effektiven instrumentellen Zugang zurWelt bereitstellt; vgl. auch Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 125.

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2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption

Verhältnis wesentlicher, in der Rolle von Ursachen auftretender Konzepte zur empirischfassbaren Wirklichkeit: während etwa bei Kräften bzw. Kraftfeldern als wichtigen Grundbe-griffen kausalen Verstehens (unabhängig von der teleologischen Färbung ihrer Herkunft138)eine unmittelbare physikalische Wirksamkeit fraglos anzunehmen ist, weisen Spaemann undLöw eine analoge, nicht durch Antizipation oder Trieb vermittelte Wirksamkeit des Telos,also Zwecktätigkeit im Gegensatz zu Zweckhandeln oder Zweckmäßigkeit, klar zurück, undfür die Vorstellung eines aus der Zukunft «ziehenden» Zieles haben sie nur Hohn übrig139.Andererseits aber ist dieses Verhältnis kein symmetrisches sondern kommt in ihm für Spae-mann der Vorrang der Teleologie zu: zum einen als primäre Welterfahrung140, zum anderenaber, weil das Projekt einer vollständigen Entanthropomorphisierung des Weltverständnissesmisslingt141 und wissenschaftliches Verstehen sowohl inhaltlich (bis auf die Ebene von Spracheund Begriffen) als auch forschungspraktisch (im interessegeleiteten Handeln der einzelnenWissenschafter142) auf Teleologie verweist; als prioritärer aber kommt es der Verstehensweiseder Teleologie zu, jener der Kausalität sich zu bedienen und ihr ihre Stellung zuzuweisen,die im Wesentlichen in der Aufgabe besteht, durch kausale Aufklärung der notwendigenBedingungen für die Existenz jener Gegenstände, die wir als teleologisch verfasste anerkennen,das Erkennen der Bedingungen als Mittel erst zu ermöglichen143.

2.2.2. Eine ontologische Fundierung der Teleologie?

Nach obiger Skizze der Position Spaemanns und Löws in Die Frage Wozu? bzw. NatürlicheZiele muss der Eindruck entstehen, die Autoren gäben zwar Argumente für die praktischeNotwendigkeit einer «teleologischen»144 Weltsicht und gewisse Kriterien für die Annahmeteleologischer Verfasstheit im Einzelfall an, enthielten sich aber der eigentlichen inhaltlichenKlärung, worin diese Verfasstheit denn tatsächlich besteht und wie sie in die Welt kommt.Dies gilt jedoch keineswegs mit Blick auf die gesamte Genese des Textes: Wie bereits mehrfacherwähnt, ist das als «Resümee oder Kurzfassung dessen [. . . ], wozu [Spaemann] überredenmöchte»145 charakterisierte Kapitel XI des Teleologiebuches eine gekürzte Fassung einesVortrages, der zuletzt unter dem Titel Die Unvollendbarkeit der Entfinalisierung wiederveröffentlicht wurde146. Während ein Teil der Kürzungen durch die ausführlichere Behandlungin den vorangegangenen zehn Kapiteln motiviert erscheint, trifft dies auf eine bemerkenswerte,als solche nicht ausgewiesene Streichung knapp vor Ende des Textes, in dem Spaemann138 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 211 u. ö..139 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 218 u. ö..140 Die daran angeschlossene Forderung, die Umkehrung der Beweislast zuungunsten der Teleologie müsse

rückgängig gemacht werden (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 11, 179, 230, 234f), mag freilich nichtsSubstantielles zur Argumentation beitragen, bewegt sie sich doch bloß auf der Ebene der pragmatischenDurchführung des interdisziplinären Diskurses.

141 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 226–228 u. ö..142 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 222, 235–239.143 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 247.144 In diesem Kontext ist wohl von einer recht allgemeinen Bedeutung von Teleologie auszugehen. — Zur

Reichweite des Teleologiebegriffs bei Spaemann und Löw, s. o., Abschnitt 2.2.1.145 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 9.146 Band II der Aufsatzsammlung Schritte über uns hinaus, S. 102–125. Davor war der Vortragstext nur im

schwer zugänglichen Sammelband Finalité et Intentionnalité: Doctrine Thomiste et Perspectives Modernes(herausgegeben von J. Follon, J. McEvoy: Paris, Leuven 1992, S. 305–324) enthalten.

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

eine ontologische Fundierung der Teleologie zumindest bedenkt, nicht zu: es liegt nahe, diediesbezügliche Kürzung bei der Aufnahme in Die Frage Wozu? als stillschweigende Rücknahmezu interpretieren (s. u.).147

Der in der gegenständlichen kurzen Passage148 nur angerissene Gedankengang scheint jeden-falls auf die Notwendigkeit einer tieferen Verankerung der Teleologie hinauszulaufen, als derAusgang vom subjektiven Bewusstsein und Selbsterleben des Subjekts zu leisten vermag. DieÜberlegung nimmt ihren Anfang vom prekären Status diachroner personaler Identität149: Spe-zifisch verweist Spaemann hier v. a. auf Derek Parfit und dessen «psychologisches» Kriteriumpersonaler Identität —

X at t1 is the same person as Y at t2 if and only if X is uniquely psychologicallycontinuous with Y , where psychological continuity consists in overlapping chainsof strong psychological connectedness, itself consisting in significant numbers ofdirect psychological connections like memories, intentions, beliefs / goals / desires,and similarity of character150

—, doch bricht das Problem bereits bei Descartes auf: ohne den (für Descartes freilich nochmöglichen) Rekurs auf einen sein Geschöpf nicht systematisch täuschenden Gott lässt sichnämlich aus der augenblicklichen Existenzgewissheit des Subjekts im cogito die Dauer dieserExistenz, mithin die Substanzialität der res cogitans, nicht gewinnen. Damit taugt aber dieSelbsterfahrung des Subjekts nicht mehr zur Begründung zeitlicher Dauer der eigenen Existenz,und in weiterer Folge lösen sich — zumindest für eine Philosophie, die sich so sehr auf dasnatürliche Selbstverständnis des Subjekts stützt wie die Spaemanns — auch die Begriffe vonSubstanz (für die «die Einheit der Person das Paradigma» sei151) sowie weiterhin (da nämlichohne diachrone Identität nur Folgen momentaner Konfigurationen denkbar sind) auch derBewegung152 auf. Ohne Substanz, Bewegung und Dauer der Person aber ist Teleologie, diein der Antizipation von zu erreichenden Zielen ja immer die Erstreckung auf die je eigeneZukunft des teleologisch verfassten Subjekts beinhaltet, nicht denkbar: nicht künftige Zielesondern höchstens momentane Präferenzen (selbst wenn diese die Illusion eigener Zukunftbetreffen) können in momentaner Selbstvergewisserung aufgefunden werden können.Nun ist zwar unmittelbar plausibel, dass zum einen, wie Spaemann unter Verweis auf

Bertrand Russell sagt153, mit der Finalität auch der Ursachebegriff fällt, zum anderen aberdas Zwecke-und-Ziele-haben-Können sowohl einer solchen Auflösung diachroner Identitätdes Menschen als auch einer Entfinalisierung entgegen steht. Spaemanns Radikalisierung154

147 So meinem Verständnis nach auch Matthias Ruf, dem ich insbesondere für den wertvollen Hinweis aufdiese Kürzung (private Mitteilung, 2015-03-02) danke.

148 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 121–122.149 Für einen Überblick über das Problemfeld vgl. Olson, Identity ; Shoemaker, Identity and Ethics.150 Derek Parfit, Reasons and Persons, Oxford (OUP) 1984, S. 207, zitiert nach Shoemaker, Identity and

Ethics.151 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 122.152 An diesem Punkt berührt Spaemann die ausführliche Auseinandersetzung mit der Infinitesimalrechnung in

Natürliche Ziele (S. 96–97, 99–101 u. ö.). Eine genauere Evaluierung der von ihm vorgetragenen, nicht völligunproblematischen Kritik muss hier, da sie zu unserem Thema nichts beizutragen hat, leider unterbleiben.

153 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 121.154 «Aber Russell war bei Weitem noch nicht radikal genug» leitet er seine Gedanken ein (Spaemann,

Unvollendbarkeit , S. 121).

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2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption

von Russells These hingegen, wonach ohne Teleologie auch Substanzialität und Bewegungnicht mehr denkbar wären, hängt jedoch davon ab, dass erstens die Substanzkategorie, fürdie zugegebenermaßen das Erleben seiner selbst in zeitlicher Dauer ursprünglich ist, auch inAnwendung auf nichtmenschliche Existenz auf unserer personalen diachronen Identität imSinne einer notwendigen Bedingung aufruht, dass zweitens aber teleologisches Denken dieAuflösung personaler Identität, wie sie sich bereits bei Descartes ansatzweise zeigt, verhindernkann; beides ist zumindest fraglich — wie sollte augenblickliches Bewusstsein gegenwärtigerwie (möglicherweise nichtzutreffend) erinnerter vergangener Zwecke und Ziele auch leistenkönnen, wofür ein tatsächliches Haben von Zwecken und Zielen erforderlich ist — und wirdvon Spaemann auch nicht gezeigt; vielmehr wird ungeachtet der Verortung von SpaemannsBemerkungen im Kontext der Bedrohung der «Intentionalität menschlichen Handelns» durchden «antiteleologischen Reduktionismus»155 davon auszugehen sein, dass die Gefährdungpersonaler diachroner Identität unabhängig von jeglicher Entfinalisierung ist.

Wenn nun aber die Einheit der Person Substanzialität nicht mehr zu begründen vermag, liegtes nahe, nach einem anderen Träger von Substanzialität zu suchen, die ihrerseits diachronepersonale Identität wieder ermöglichte; als Fundierung kommt dabei nur in Frage, wasnoch grundlegender ist als die Substanzkategorie selbst: das weder Zeitlichkeit noch Dauerimplizierende bloße Sein.

Die Einheit der Person würde voraussetzen, dass Sein, Existieren einen vektoriellenSinn hat, wie es Aristoteles annahm [. . . ]156

Festzuhalten ist zunächst, dass «Sein» hier ungeachtet der Substantivierung offensichtlichmit «Existieren» gleichzusetzen ist, also nicht den abstrakten Einheitsgrund alles Seiendensondern das Sein des konkreten Einzelnen bezeichnet157,158. Des weiteren besagt der Satz —freilich im Modus des Irrealis, dessen Deutung wir für den Augenblick zurück stellen —, dassfür die Sicherung der Einheit der Person eine Gerichtetheit (denn nichts anderes bedeutetder «vektorielle» Charakter) des Existierens selbst erforderlich ist bzw. dass aus einer solchenontologisch verankerten Gerichtetheit der Existenz beliebiger Gegenstände159 (wohl mittels derdann wiederhergestellten Substanzialität) auch die Einheit der Person (sowie der Wirklichkeitinsgesamt160) ableitbar ist: auch dies eine zwar von Spaemann nicht im Einzelnen begründeteaber doch unmittelbar plausible These.Nun steht der zitierte Satz aber nicht im Indikativ sondern im Irrealis, und der Sinn der

Passage hängt nun ganz an der Deutung dieses Modus: Eine mögliche Lesart erklärte denIrrealis daraus, dass Spaemann hier die Hypothese einer Welt ohne Finalität behandelt, um dieKonsequenzen einer Entteleologisierung darzustellen: diesfalls reduzierte sich die Bedeutungauf die wenig interessante Aussage, dass in dieser ateleologischen Welt Sein jenen vektoriellenCharakter nicht aufweist, den anzunehmen ohnedies kein Grund bestünde: formell handelt essich um den trivialen Schluss von v ⇒ p, v ⇒ s, ¬b⇒ ¬s in Kombination mit ¬s, ¬b sowie

155 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 120.156 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 122.157 Eine deutlichere Formulierung wäre daher: «. . . dass zu sein vektoriellen Sinn hat . . . ».158 Zur Frage der Reichweite dieses Seins bzw. einer möglicherweise aus dem Text zu gewinnenden Einschrän-

kung auf «Wesen» s. u., Fußnote 170 (S. 33).159 Oder doch nur entelechisch verfasster Wesen? — S. u., Fußnote 170 (S. 33).160 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 121.

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

¬p auf ¬v, wobei v den vektoriellen Charakter des Seins, p die Einheit der Person sowie sund b die Begriffe von Substanz und Bewegung bedeuten161. Doch weshalb sollte Spaemannunsere Aufmerksamkeit auf diesen Sachverhalt lenken wollen?Eine alternative Interpretation geht hingegen davon aus, dass sich der Irrealis nur auf die

Situation nach dem «definitiv[en]»162 Verlust der Gewissheit personaler Identität, wie sie durchParfit repräsentiert wird, bezieht: einzig die Annahme einer Gerichtetheit des Seins überhauptböte die Möglichkeit, noch zu einer Begründung der Einheit der Person zu gelangen, die durchParfits Argumentation nicht obsolet gemacht worden ist; insgesamt ist also in dieser Lesartder Irrealis dem Indikativ der Aussage gleichbedeutend. Ohne dies im Einzelnen auszuführen,seien als Stütze für diese von uns im Folgenden vorausgesetzte Sicht der gegenständlichenPassage Spaemanns Inanspruchnahme von Aristoteles, «der ja bereits das bloße Dauern in derZeit teleologisch interpretierte»163, der nach wenigen Zeilen folgende Verweis auf WhiteheadsProzessmetaphysik164 sowie die knapp zuvor erfolgte Einordnung der Einheit der Person indie umgreifende Einheit der Wirklichkeit165 angeführt.Legen wir dieses Verständnis zugrunde, so ergibt sich folgende Dichotomie: Entweder ist

die Welt tatsächlich (in Teilen) teleologisch verfasst, erschließt sich diese Verfasstheit imAusgang vom Subjekt und findet diese in der «Einheit der Person» «das Paradigma für jedein der Zeit beharrende Substantialität, also für Dinge»166 oder aber die Einheit der Personist bloßer Schein und ein vektorieller Charakter des Seins muss nicht angenommen werden.In diesem Fall wäre freilich unverständlich, wie eine Legitimität teleologischer Weltdeutung,für die zumindest Spaemann klar eintritt, noch zu begründen sein könnte, und reduziertesich Teleologie auf ein bloßes psychologisches Bedürfnis nach Verständnis von Selbst undWelt, wie es auch ein reduktiver Evolutionismus zugeben könnte, womit ihr Anspruch aberweitestgehend negiert wäre. Im Licht sowohl der ausführlichen Darstellung in Die FrageWozu? bzw. Natürliche Ziele und der geraffteren im Vortrag über die Unvollendbarkeit derEntfinalisierung kommt letztere Alternative aber sicher nicht in Betracht sondern sind, wollenwir Spaemanns Position erfassen, Substanzialität und Einheit der Person als gesicherte, dieWirklichkeit treffende Konzepte anzusehen.

Dann aber wird der Schluss unvermeidlich, Spaemann vertrete hier den bemerkenswertenGedanken einer allem Sein bereits innewohnenden Gerichtetheit und somit eines teleologischenCharakters aller Dinge, soweit sie zeitlich dauern. Dass es sich hierbei um eine quasi unerschüt-terliche Verankerung der Teleologie handelt, die insbesondere auch von der Unmöglichkeit167,in sich mehr als nur die augenblickliche Gewissheit aktualer Existenz unzweifelhaft anzutreffen,

161 Dabei besagt (¬b ⇒ ¬s) = (b ∨ ¬s) die Abhängigkeit des Bewegungs- vom Substanzbegriff. — MitAusnahme der mit v ⇒ p engstens zusammenhängenden Aussage v ⇒ s, die bei Spaemann nur impliziertund für die mehrfach überdeterminierte Schlussfolgerung nicht erforderlich ist, finden sich all die genanntenAussagen im unmittelbaren Kontext des Zitats.

162 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 122.163 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 122.164 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 122.165 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 121.166 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 122.167 Deutlich ist deren Analogie zum Charakter bewussten Handelns als bloß «sekundäre Aneignung oder

Zurückweisung» eigentlich dauerhafter «Tendenzen» (Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 121; ähnlich auchSpaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 220–221, 232).

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2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption

auf der Parfits «definitiv[e]» Auflösung der «Kontinuität der Person»168 beruht, nicht tangiertwird, liegt auf der Hand. Ebenso offenkundig aber geht diese Konzeption, für die SpaemannAristoteles in Anspruch nehmen möchte (s. o.) über dessen Teleologie doch deutlich hinaus169:Die teleologische Begründung der Dauer bei Aristoteles, auf die Spaemann sich beruft, betrifftja nicht die Dinge selbst sondern bloß die an — bzw. bei den φύσει ὄντα in entelechischemSinne: in — den Dingen geschehenden Veränderungen.170

Setzen wir aber die skizzierte ontologische Fundierung der Teleologie an, auf die unserePassage aus dem Vortrag zur Unvollendbarkeit der Entfinalisierung hinaus zu laufen scheint,so ergeben sich unübersehbare Widersprüche zu Spaemanns Teleologiekonzeption, wie wirsie in Natürliche Ziele fassen können und in Abschnitt 2.2.1 skizziert haben. Die Redevon Selbstsein und deren Anerkennung ist nämlich offenkundig nur dann sinnvoll, wennteleologische Verfasstheit eben nicht allem Seienden zukommt; wollten wir hingegen diebetrachtete Passage in Spaemanns sonstiges Teleologieverständnis einpassen, müsste mit«Sein, Existieren» dementsprechend mehr als bloße Existenz angesprochen sein; für eineüber bloßes Existieren hinausgehende, besondere, nämlich teleologisch qualifizierte Form des168 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 122.169 Vgl. Fußnote 94 (S. 23).170 Oder sollte Spaemann hier doch, der aristotelischen Entelechie entsprechend, einen Unterschied bereits auf

der Ebene des Existierens einführen und die angesprochene Gerichtetheit der Existenz nur mancher Gegen-stände zusprechen? Eine solche Lesart könnte sich auf die Unterscheidung von (präsumptiv entelechischverfassten) «Wesen» und «Dingen» (Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 122) im unmittelbaren Kontextunseres Zitates stützen und schiene auf den ersten Blick vielleicht auch den Anschluss an Spaemannssonstige Teleologiekonzeption zu erleichtern, indem sie jene seinsmäßige Gerichtetheit auf eine Teilmengeder Gegenstände unserer Welt beschränkt; der Verweis auf Whitehead und Nietzsche diente dann nurder Illustration des Durchschlagens von Bestand oder Auflösung personaler Identität auf dingliche Sub-stanzialität. Allerdings legt sich diese Interpretation vom Wortlaut der Stelle her keineswegs nahe, denndie Unterscheidung von «Wesen» und «Dingen» ist nicht im geringsten betont sondern wirkt eher derstilistischen Variation geschuldet, und in unserem Zitat ist eben weder von den einen noch den anderendie Rede: vielmehr scheint Sein als solches ohne jede Einschränkung auf «Wesen» angesprochen zu sein.

Doch selbst wenn wir uns über die schlechte Vereinbarkeit mit der Formulierung unter Hinweis aufdie mangelnde Klarheit der gesamten Passage hinwegsetzen wollten, ergäben sich bei Zugrundelegungdieser Interpretation unübersehbare prinzipielle Schwierigkeiten sowie Spannungen zur in NatürlicheZiele vertretenen Auffassung: Zum ersten würde damit nämlich die Kategorie der Substanzialität —man beachte, dass die gesamte Passage die von Spaemann vertretene Sicht, wonach mit Finalität nichtnur der Ursache- sondern auch der Substanzbegriff erledigt wäre, untermauern soll (S. 121f) — aufentelechisch verfasste «Wesen» eingeschränkt, bei Dingen aber implizit abgewiesen, was jedenfalls denSinn von Substanzialität als eben auch Dingen zukommender Dauer nicht trifft; zum zweiten aber wäredie Grenze zwischen Substanziell-Teleologischem einerseits und Ateleologischem andererseits eine zwarmöglicherweise noch unbekannte, jedenfalls aber scharfe, sodass an die Stelle der an das einzelne Subjektgerichteten Forderung, Ähnlichkeit (im Sinne einer gewissen Anthropomorphizität) zum Anlass derAnerkennung werden zu lassen, der objektivierend-wissenschaftliche, vom Subjekt absehende Imperativ,den feststehenden, objektiv teleologischen bzw. ateleologischen Charakter der einzelnen Gegenständeherauszufinden, träte; zum dritten aber ergäben sich aufgrund der Schärfe der objektiven Differenz vonTeleologischem und Ateleologischem Schwierigkeiten mit dem Übergang zwischen diesen Bereichen, wieer als zumindest im Laufe der Evolutionsgeschichte stattgehabter jedenfalls anzunehmen ist, und bötesich die — von Spaemann andernorts ja vehement zurückgewiesene (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele,S. 212 u. ö.) — prinzipielle Möglichkeit eines vorteleologischen Kriteriums teleologischer Verfasstheit. Alldies führt uns dazu, von dem eine Beschränkung vektoriellen Seins auf das, was bei Aristoteles τὰ φύσειὄντα sind, einschließenden Verständnis abzusehen, wofür neben dem genauen Wortlaut der Stelle v. a. diehöchst problematische Beschränkung der Substanzkategorie auf «Wesen» ausschlaggebend ist.

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

Dauerns kann in Spaemanns Konstruktion freilich wiederum nur die Selbsterfahrung desSubjekts das Paradigma abgeben, sodass Parfits Argument dieses teleologische Dauern erstrecht wieder unmittelbar träfe. Doch bietet uns Spaemanns Vortrag zur Unvollendbarkeitder Entfinalisierung (abgesehen von der Inkompatibilität zu seinen sonstigen Ausführungen)ohnedies keinen stichhaltigen171 Anhaltspunkt dafür, es könne eine besonders qualifizierteForm von Existenz gemeint sein. — Umgekehrt ist nun aber die Inkompatibilität des von derbetrachteten Passage nahegelegten, jeglicher Qualifizierung und Differenzierung vorgängigen«vektoriellen Sinn[s]» allen Existierens mit der Teleologiekonzeption von Spaemann undLöw, wie wir sie in Abschnitt 2.2.1 vorwiegend anhand der Natürlichen Ziele nachgezeichnethaben, offenkundig: So kann etwa von Teleologie, ist Gerichtetheit auf der Ebene bloßerExistenz angesiedelt, als besonderer Verfasstheit überhaupt, die manchen Gegenständen derErfahrung zukommt und anderen nicht, keine Rede sein und kommt diese Qualität im Sinneeiner universellen Teleologie172 allem zu, das existiert; auch ist dann eine Sonderstellungjener Gegenstände, deren Dauer die Form (nach Parfit ohnedies nicht mehr aktualisierbarer)personaler Identität annimmt, nämlich zumindest der meisten Menschen, samt ihres ihnenselbst evidenten Selbstseins zumindest nicht offensichtlich. Damit aber verlieren auch dieAnerkennung von mit teleologischer Verfasstheit gleichzusetzendem Selbstsein, die Angabevon Kriterien für dieses Selbstsein (das nun ja allem zukäme) oder auch, angesichts derObjektivität universeller Teleologie, der Ausgang vom Subjekt jeglichen Sinn: Spaemannsund Löws Teleologiekonzeption in Natürliche Ziele ist damit offensichtlich jeglicher Bodenentzogen, und die Kürzung des Endes des Vortragstextes bei der Aufnahme in die zweiteAuflage von Die Frage Wozu? stellt sich als Rücknahme eines Gedanken dar, der sich als mitder eigentlichen Spaemann’schen Teleologiekonzeption nicht kompatibel herausstellen musste.Ob Spaemann in seinem Vortrag über die Unabschließbarkeit aller antiteleologischen An-

strengungen173 tatsächlich die eben skizzierte, mit seiner sonstigen Teleologiekonzeption nichtverträgliche Position wie hier rekonstruiert vertreten hat, lässt sich anhand der geringen Klar-heit und Deutlichkeit der gegenständlichen Passage, die unsere vergleichsweise aufwändigenexegetischen Bemühungen erst nötig machten, nicht mit Sicherheit sagen174. So viel jedochscheint deutlich zu sein: zumindest die Möglichkeit einer aller Subjekthaftigkeit vorgelagerten,ontologischen Fundierung und Absicherung der Teleologie in Form eines «vektoriellen Sinn[s]»allen Seins hat Spaemann bedacht, dann aber nicht in das Teleologiebuch aufgenommen und,was wohl erforderlich gewesen wäre, über die kargen Andeutungen des Vortrages hinaus weiterausgeführt.

171 Zu den Schwierigkeiten einer Lesart, die gerichtetes Existieren auf «Wesen» einschränkt, dadurch aberohne den Rekurs auf die Selbsterfahrung des Subjekts auskommt und von Parfits Argumentation nichtgetroffen wird, vgl. Fußnote 170 (S. 33).

172 Wohlgemerkt aber, da noch kein alles umfassendes Ziel angesprochen ist, nicht in dem einer Universalte-leologie, wie Spaemann sie so stark von sich weist.

173 Vgl. Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 120.174 Für eine andere, von uns jedoch für wenig plausibel gehaltene inhaltliche Erklärung der Kürzung vgl. Fuß-

note 185 (S. 36).

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2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption

2.2.3. Einzelfragen zu Spaemanns Teleologiekonzeption

2.2.3.1. Zum objektiven Gehalt der Teleologie

Geleistet hätte diese ontologische Fundierung der Teleologie jedenfalls deren objektive Ver-ankerung in der Wirklichkeit: ob etwas teleologisch verfasst ist, also über Selbstsein verfügt,oder nicht, wäre eine Eigenschaft dieses Etwas, die von ihrer Erkennbarkeit ebenso wenigberührt würde wie von ihrer Anerkennung durch Dritte. Bei Spaemanns Konstruktion derTeleologie aber, wie sie in Abschnitt 2.2.1 vorgestellt wurde, scheint zunächst alles im Subjek-tiven zu bleiben: Das ein Beheimatung ermöglichendes Verständnis der umgebenden Weltanstrebende175 (und damit u. a. von seinen früheren Erfahrungen abhängige) Subjekt erfährtzunächst und ausschließlich an sich selbst, was es heißt, ein Selbst zu sein, überträgt dieseSelbsterfahrung nach Maßgabe wahrgenommener Ähnlichkeit176 auf andere Gegenständeseiner Erfahrung und anerkennt in ihnen, je nachdem sich ihm dies nahelegt, jene Verfasstheit,die es in sich selbst als Selbstsein, d. i. als eine teleologische erkannt hat. Offenkundig geht inall diese Schritte die Subjektivität des Einzelnen maßgeblich ein; und tatsächlich betonenSpaemann und Löw ja auch, dass die Grenzen zwischen teleologischer Verfasstheit und bloßerphysischer Faktizität fließend sind177, die Anerkennung von Selbstsein nur in Freiheit möglichist178 und insgesamt nicht mehr als eine gewisse Plausibilität der Zuschreibung teleologischenCharakters angestrebt werden kann179.Hinge aber tatsächlich alles vom Betrachter, dessen Erfahrungen und Gestimmtheit ab,

so ist keineswegs einzusehen, weshalb Spaemann es etwa als «phantastisch» ablehnt, «dasLaufen des Hundes zum Fressnapf ohne Bezug auf das Fressen zu interpretieren und seinRennen hinter einem Hasen ohne Bezug auf das Ziel, den Hasen zu fangen»180, noch auch,weshalb Spaemann und Löw sich unterfangen, Kriterien für das Erkennen von etwas, daseigene Ziele hat, aufzustellen oder eigens Mühe walten lassen, um den Bereich des teleologischVerfassten nicht voreilig, etwa durch Rekurs auf die Unterscheidung zwischen Artefaktenund Lebewesen, einzuschränken. Trotz der, wie wir eben gesehen haben, in allen logischenSchritten bis zum Akt der Anerkennung von Selbstsein waltenden Subjektivität müssen wiralso, wollen wir Spaemann und Löw gerecht werden, offenkundig annehmen, dass auch in dieserKonzeption mit Teleologie ein objektiver Gehalt angezielt wird, der nur nicht explizit gemachtwird — wohl deshalb, weil er nicht explizit gemacht werden kann: Nicht umsonst nehmendie Autoren immer wieder Bezug auf Wittgenstein, insbesondere auch auf dessen Motiv der

175 Immer wieder verbindet Spaemann das Verstehen mit dem aus der Stoa stammenden Motiv der Einwohnung,οἰκείωσις: Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 14, 68; Spaemann,Whitehead , S. 173. Bemerkenswerterweiseträgt auch die von Reinhard Löw besorgte Festschrift für Spaemann den Titel Oikeiosis.

176 Doch auch das mit dem Gegenstand verbundene Interesse oder auch die Vertrautheit im alltäglichenLebensvollzug müssten hier eine wesentliche Rolle spielen, was Spaemann und Löw nicht eigens behandeln;der Abschnitt X.6, Teleologie und Interesse, von Natürliche Ziele handelt nämlich nicht vom Interessedes Einzelnen im konkreten Einzelfall sondern vielmehr ganz allgemein von den Konsequenzen einer anNaturbeherrschung ausgerichteten wissenschaftlichen Forschung und szientistischer Weltsicht, um diepraktische Notwendigkeit teleologischer Interpretation zu begründen.

177 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 233.178 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 244.179 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 233.180 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 102.

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

Nichtsagbarkeit dessen, was «nur gezeigt werden kann»181. Unter diesem Aspekt gelesen,stellt sich damit jene eigentümliche «kontingente Unbedingtheit» des teleologisch Verfasstenüber deren praktische Bedeutung182 hinaus als ein Platzhalter dar für einen Inhalt, der zwarals solcher nicht angebbar aber jedenfalls in einer Sphäre der Objektivität gegründet ist: diesonst eher befremdliche Wahl des Wortes «Heiligkeit»183 zur Charakterisierung teleologischerVerfasstheit erschließt sich vielleicht von hier aus.

Und dürfen wir Spaemann, der dies freilich nirgends ausführt, so verstehen, dass sichhier der Kreis seiner Teleologieargumentation, die vom Subjekt und seiner Selbsterfahrungausgegangen war, schließt? Denn irgendwie muss doch die genannte Sphäre der Objektivitätin das teleologische Urteil des Subjekts eingehen; das aber ist nur denkbar, wenn dieses bereitsüber ein zumindest umrisshaftes, möglicherweise auch bloß implizites Wissen des objektivenGehalts, auf den es sich bezieht, verfügt, welches Wissen aber dennoch keine Aussagbarkeitdieses Gehalts begründet: Es kann dies nur ein vorwissenschaftliches, vorreflexives Wissensein, das das Subjekt in sich findet, besinnt es sich nur auf sich selbst.

2.2.3.2. Zeitlichkeit und interpersonaler Anspruch der Teleologie

Die in Abschnitt 2.2.2 behandelte Kürzung von Spaemanns Vortrag bei der Aufnahme inSpaemanns und Löws Teleologiebuch und die anschließenden Überlegungen weisen nochauf zwei Lakunen (wenn schon nicht in ihrer Konzeption so doch in deren Präsentation imTeleologiebuch) hin, die kurz noch erwähnt, nicht aber eingehender bedacht werden sollen:

Zeitliche Dauer von Selbstsein: Halten wir uns Spaemanns Teleologiekonzeption, wie siein Abschnitt 2.2.1 dargestellt wurde, vor Augen, so ist zunächst eigentlich kein Grund zusehen, weshalb Spaemann auf die von Derek Parfit «definitiv» besorgte Auflösung persona-ler Kontinuität184 überhaupt eingeht, ist doch jenes zentrale Element, an dem seine ganzeKonzeption hängt, nämlich der Akt der Anerkennung von Selbstsein eines Anderen, ein reinsynchroner Akt, der diachrone Identität weder des Subjekts noch des Anderen voraussetzt185.Andererseits lässt diese rein synchrone Theorie aber auch die Möglichkeit offen, dass ein unddasselbe Objekt der Wahrnehmung in seiner teleologischen Verfasstheit nicht nur von unter-schiedlichen Subjekten unterschiedlich beurteilt sondern auch von ein und demselben Subjektwechselnde Anerkennung als Selbst erfährt. Hier aber tut sich eine unübersehbare Spannungzur praktischen Seite jener «kontingenten Unbedingtheit», die einem Selbst zukommt, auf,muss diese doch auf ein dauerhaftes und nicht von Gestimmtheit und Interessen des Subjektsabhängendes Verbot gewisser Weisen des Handelns an dem Anderen hinauslaufen; wiederumstoßen wir darauf, dass in der Teleologie als subjektiver, im Akt der Anerkennung realisierter

181 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 245.182 S. o., Abschnitt 2.2.1.3.183 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 245.184 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 122.185 Die Kürzung der entsprechenden Passage könnte dementsprechend auch dadurch motiviert sein, dass die

in Natürliche Ziele vertretene Teleologiesicht von jenem Befund prekären Status personaler Identität, derden logischen Ausgangspunkt der Überlegungen zu einer ontologischen Fundierung der Teleologie bildet,gar nicht betroffen ist, und wäre somit nicht als materiale Rücknahme eines vorgetragenen Gedankens zuinterpretieren. Plausibler erscheint uns freilich weiterhin die in Abschnitt 2.2.2 vertretene Sicht.

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2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption

Verstehensform in irgendeiner Weise ein objektiver Gehalt vorausgesetzt ist, dem nun aucheine zeitliche Dimension eignen muss.«Aus etwas wird nicht jemand»186: Diese bekannte Formulierung Spaemanns — sie ent-

stammt seiner auf die Unterscheidung von «jemand» und «etwas» zugespitzten187 Darstellungvon Personsein188 — müssen wir demnach auf die Differenz von teleologisch Verfasstem (ein-schließlich sogar des echten Schmerzes fähigen Mechanismus) und bloßer physischer Faktizitätübertragen189. Die in der Verneinung des Werdens, der Bewegung vom Status des Etwaszu dem des Jemand, angesprochene zeitliche Kontinuität aber vermag vermutlich nur jeneSphäre der Objektivität zu begründen, die wir in Abschnitt 2.2.3.1 bedacht haben.

Intersubjektive Geltung teleologischer Urteile: Die für Spaemanns Konzeption somitcharakteristische eigentümliche Spannung von Subjektivität und Objektivität schlägt auchauf die intersubjektive Dimension des Teleologieproblems durch: Zum einen nämlich ist, wiemehrfach betont, die Anerkennung des Selbstseins190 als notwendig freier Akt keineswegserzwingbar, und das auch dann, wenn dieser Status von einem anderen Subjekt bereits kon-statiert wurde; zum anderen aber enthält (kontingente) Unbedingtheit deren Geltung an sich(und nicht nur für das diese gerade anerkennende Subjekt) und ist in deren Anerkennung einAnspruch auch an alle anderen mit der auf denselben Gegenstand gerichteten teleologischenFrage befassten Subjekte gestellt: Auch hierin erkennen wir die Spur jenes objektiven Gehalts,der es erst ermöglicht, über die Frage, welchen Gegenständen der Erfahrung teleologischeVerfasstheit zuzusprechen ist, zu streiten. Die Position von Unaufweisbarkeit auf der einen,Objektivitätsanspruch auf der anderen Seite teilt die teleologische Frage damit mit dem ästhe-tischen Urteil und hebt sie gegen Fragen des Geschmacks191 — de gustibus non disputandumest — oder definitiv entscheidbare Fragen — Leibnizens calculemus192 weist hier den Weg —ab193.

2.2.3.3. Selbstsein, Entelechie und Naturzweckmäßigkeit

In Spaemanns und Löws Teleologiebuch ebenso wie in weiteren einschlägigen Texten Spae-manns (einschließlich des Vortrages zur Unvollendbarkeit der Entfinalisierung) ist ein ständiger

186 Spaemann, Personen, S. 261.187 So lautet schon der Untertitel des Buches: Versuche über den Unterschied zwischen «etwas» und «jemand».188 Tatsächlich gibt es zahlreiche Berührungspunkte zwischen Spaemanns Sicht von Person und Teleologie.189 Freilich wird bei der erstmaligen Anerkennung von Personsein bzw. Selbstsein für das Subjekt unweigerlich

aus einem Etwas ein Jemand bzw. ein Selbst; demnach kann es sich nur um ein Gebot an das Subjekt, dieeinmal erfolgte Zuschreibung aufrechtzuerhalten, handeln, womit wiederum der praktische Charakter derTeleologie in den Blick kommt.

190 Analoges gilt jeweils natürlich auch für den Fall des Nichtselbstseins.191 «Geschmack» ist hier in alltagssprachlichem Sinn zu verstehen; kantisch formuliert handelte es sich

hiebei um Fragen nach dem Angenehmen, wie es, als auf ein «Privatgefühl» bezogen, ohne Anspruch aufAllgemeinheit konstatiert werden kann (Kant, Kritik der Urteilskraft , § 7, A 19).

192 So die berühmte Aufforderung von Leibniz im Entwurf zu Initia et Specimina Scientiae generalis (1685)(Mittelstraß, Leibniz und Kant , S. 123); Spaemann zitiert sie häufig: Spaemann, Löw, Natürliche Ziele,S. 188; Spaemann, Kontroverse Natur , S. 63; Spaemann, Leibniz’ mögliche Welten, S. 161; Spaemann, Arslonga, S. 274.

193 Die Tangente zur ästhetischen Zweckmäßigkeit in Kants Kritik der Urteilskraft kann hier nicht weiterausgeführt werden. Vgl. auch Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 107.

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

Bezug zu Aristoteles unübersehbar, sodass durchaus der Eindruck entstehen kann, die Auto-ren verfolgten das Projekt einer — freilich durch die gesamte Philosophiegeschichte seithereinschließlich der verschiedenen Strömungen der Moderne hindurchgegangenen und davonnotwendig nicht unaffizierten — Wiederaufnahme der aristotelischen Sichtweise. Zu den Modi-fikationen, die Spaemann dabei unbedingt erforderlich scheinen, ist jedenfalls die Abkehr voneiner eigenständigen, im Zusammenkommen mit den anderen Ursachen wirkenden causa finalisals Grundlage der Teleologie zu zählen: deren Funktion ist nämlich in den modernen Begriffdes Naturgesetzes integriert194. Dementsprechend kommt aristotelisch nur noch die Form desmanchen Gegenständen innewohnenden, wesensmäßigen Ziels, somit die Entelechie als Ort desTelos in Betracht; und tatsächlich liegt es nahe, Spaemanns Selbstsein mit solch entelechischerVerfasstheit in Verbindung zu bringen. Und doch stellen sich bei dieser Bezugnahme mit Blickauf die positive Teleologiekonzeption, wie Spaemann und Löw sie in Natürliche Ziele vertreten,ernsthafte Fragen, die nicht einfach durch Verweis auf die historische Distanz relativiertwerden können. Nur zwei Schwierigkeiten seien hier erwähnt195: Zum einen weist Spaemann inseiner Darstellung von Teleologie als legitimer subjektiver Verstehensform jegliche nicht durchAntizipation oder Trieb vermittelte Wirksamkeit natürlicher Ziele vehement zurück, währendauch einem entelechischen Ziel Wirksamkeit in keineswegs geringerem Maße zukommt als dercausa finalis, welche Wirksamkeit aber auch in Spaemanns Rede vom Aus-Sein-Auf nichtadäquat aufgenommen scheint; zum anderen aber setzt Entelechie ein wesensmäßiges, damitaber in einer Sphäre des Allgemeinen angesiedeltes Telos voraus, während Spaemanns Subjektnie das Allgemeine etwa einer Spezies vor Augen kommt sondern immer nur in der Begegnungmit dem einzelnen Konkreten ein auf Ähnlichkeit gegründeter Anspruch auf Anerkennung desIndividuums aufgehen kann196.

Ungeachtet der von Spaemann herausgestellten Nähe zu Aristoteles scheint seine Konzeptionin der Durchführung hingegen unausgewiesenerweise197 viel näher bei der kantischen, wie sieinsbesondere in der Kritik der Urteilskraft entwickelt ist198, zu liegen. Um nur die beiden ebenangesprochenen Punkte aufzunehmen: Zwar steht nach Kant die Legitimität der Teleologieaußer Zweifel, doch ist sie bloß als regulative Idee für das die Natur nach Analogie menschlichenZweckhandelns deutende Subjekt anzusehen, ohne dass der der Urteilskraft entstammendeBegriff des Zweckes wie jener der Zweckmäßigkeit dem Objekt an sich zukäme, sodass sich dieFrage nach einer objektiven Wirksamkeit des Telos gar nicht stellen kann; andererseits ist dasGeschäft der Urteilskraft zwar die Subsumption des Einzelnen unter ein Allgemeines, doch istsie bei der uns interessierenden objektiven materialen inneren Zweckmäßigkeit, also der vonihm so genannten Naturzweckmäßigkeit, nicht bestimmend sondern reflektierend tätig und

194 Vgl. Fußnote 94 (S. 23); Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 257.195 Darüber hinaus ist überhaupt zu fragen, ob eine Inanspruchnahme aristotelischer Teleologie gerechtfertigt

sein kann, wenn für Spaemann und Löw nur entelechisch-innere Tele in Frage kommen, die Innenseite desSelbst aber, weil unter dem Status des Selbstseins verborgen, nicht eigentlich thematisierbar ist (s. u.).

196 Auch die Berücksichtigung echten Maschinen- bzw. Computerschmerzes zeigt, dass es um das Wesen desGegenstandes jedenfalls nicht geht, denn ihrem Wesen nach sind Maschinen zweifellos keines Schmerzesfähig.

197 Der einzige Hinweis auf die Möglichkeit einer Beeinflussung durch andere Positionen ist die allgemeingehaltene Absichtserklärung, in der historischen Darstellung sollten die «Voraussetzungen gewonnenwerden, den Begriff des telos erst einmal angemessen zu fassen» (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 20).

198 Spaemann und Löw betonen die Uneinheitlichkeit der kantischen Teleologiekonzeption, die zu einerDifferenzierung nach zumindest drei Phasen zwinge (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 105).

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2.2. Spaemanns Teleologiekonzeption

muss dieses Allgemeine erst, vom konkreten Einzelnen ausgehend, durch Beobachtungsreflexionerarbeiten, woraus eine gewisse Priorität des Konkreten vor dem Allgemeinen, wie Spaemannsie so oft betont und die er gar zum Eigentlichen teleologischer Weltdeutung erhebt199, ablesbarwird. Vor allem aber finden sich darüber hinaus wesentliche Momente der Spaemann’schenKonzeption bereits bei Kant, ohne dass Spaemann dies deutlich machte200. Insbesondere treffensich Spaemann und Kant ganz und gar in der Ablehnung einer Teleologie äußerer Zwecke201,während umgekehrt der Spaemann’sche Begriff des Selbstseins — unserem Verständnisnach handelt es sich dabei um den Zentralbegriff seiner Konzeption — zum kantischen derNaturzweckmäßigkeit bzw. inneren Zweckmäßigkeit unleugbar eine große Nähe aufweist:Beide dienen, sehen wir vom Sonderfall202 des Spaemann’schen Maschinenschmerz ab, geradedazu, das Spezifische von Organismen in und gegenüber ihrer Umwelt zu erfassen; beideliegen einer teleologischen Beurteilung zugrunde, die weder auf Zweckhandeln zurückzuführennoch auf Zwecktätigkeit reduzierbar ist; beide charakterisieren einen Organismus als in sichgeschlossenes Ganzes, in dem sie sich jeweils verwirklichen, und weisen so darauf hin, dass«mechanische» (Kant) bzw. «kausale» (Spaemann) Aufklärung des inneren Funktionierens,so viel sie auch an Einzelwissen beitragen, dieser Ganzheit nicht gerecht werden kann; beideGanzheiten aber bestehen ungeachtet einer gewissen Form von Kontingenz203 ihres Werdens;und so, wie bei Kant mit dem Zweckbegriff auch die Vorstellung innerer ZweckmäßigkeitSache der Urteilskraft ist, die diese an das Objekt heranträgt, findet auch Spaemanns Subjektin sich eine Vorstellung von Selbstsein vor, die es (im Akt der Anerkennung) auf das Objektüberträgt.Und doch hieße es, Spaemann grob misszuverstehen, sähe man in seiner Teleologiesicht

eine Fortschreibung der kantischen oder im Selbstsein einfach eine Aufnahme der Naturzweck-mäßigkeit: Tatsächlich lässt sich, wie gleich näher auszuführen sein wird, die Spaemann’scheKonzeption am ehesten als eine auf ihre Außenseite reduzierte, quasi «ausgehöhlte» Versionder kantischen charakterisieren, wobei das Selbstsein die teleologische Verfasstheit des Gegen-standes eher verdeckt als erhellt, andererseits aber diesem selbst anhaftend vorgestellt wird.So scheint uns inhaltlich die bedeutendste Differenz zwischen beiden Konzeptionen darin zubestehen204, dass, wo Kant Naturzweckmäßigkeit durch das Sich-wechselseitig-Bedingen vonGanzem und seinen Teilen kennzeichnet und ihr eine «bildende Kraft» zuspricht205, Spae-mann diese «Innenseite» des teleologisch verfassten Gegenstandes (und damit auch jegliches

199 So schreibt Spaemann etwa in der abschließenden Zusammenfassung seiner Teleologiedarstellung: «Teleolo-gie ist der Weg, wie wir aus der Kausalbetrachtung der Wirklichkeit zurückgeleitet werden zur Anschauungdes Konkreten» (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 247).

200 Abgesehen natürlich von Spaemanns Referat der kantischen Position im historischen Teil des Teleologiebu-ches (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 105–123).

201 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft , § 63, insb. B 282f.202 Vgl. dazu Fußnote 102 (S. 24).203 Hier scheint Spaemann mehr die mannigfaltigen unkontrollierbaren äußeren Einflüsse im Blick zu haben,

während die Zufälligkeit des Naturzweckes in der Unmöglichkeit, die Notwendigkeit seiner Entstehungeinzusehen, besteht (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 110f).

204 Ein weiterer bemerkenswerter Unterschied betrifft das Verhältnis teleologischer Beurteilung zu kausalerErklärung: eine Entsprechung zu Kants Forderung, die Erforschung des «Mechanisms der Natur» möglichstweit zu treiben (Kant, Kritik der Urteilskraft , § 70, B 315) findet sich bei Spaemann nicht und wäre auchmit dessen Versuch, die prinzipielle Teleologieverwiesenheit der Naturwissenschaft nachzuweisen, nurschwer vereinbar.

205 Kant, Kritik der Urteilskraft , § 65.

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

Bedenken seiner Teile oder einer Teloswirksamkeit) systematisch ausspart und ihn vielmehrals opaken «in sich geschlossenen Sinnzusammenhang»206 behandelt. Ein Vorteil der Spae-mann’schen Zurückhaltung, sich über die Konstitution des Selbst zu äußern, liegt zweifellosin der größeren Offenheit gegenüber unterschiedlichsten, nicht auf die Natur eingeschränktenRealisierungsformen, wie sie das schon so oft erwähnte Beispiel des Maschinen- bzw. Computer-schmerzes belegt; dabei soll es das Kriterium in sympathetischer Erkenntnis sich erschließenderÄhnlichkeit sein, das das prinzipiell drohende Abgleiten in völlige Beliebigkeit verhindert. Unddoch stellt sich auch bei Spaemann unweigerlich die theoretische Frage nach der Bedeutungvon Selbstsein, die Frage also, was am Objekt dieses zu einem teleologisch verfassten mache,das als ein Selbst anzuerkennen wäre; ihre wohl nicht ohne Bezug auf die Innenseite desObjekts auskommende Beantwortung jedoch verweigert Spaemann konsequenterweise undstellt statt dessen die praktische Forderung nach Achtung alles mit Selbstsein Begabten unddie ethischen Folgen teleologischen Verständnisses in den Vordergrund. Gerade angesichtsdieser den unmittelbaren Lebensvollzug betreffenden praktischen Relevanz aber erscheint dietheoretische Fragestellung umso drängender, muss doch, wo ein Anspruch auf Anerkennung alsmeinesgleichen an mich gerichtet sein soll, das Anzuerkennende zumindest irgendwie fasslichsein: Eine solche Fasslichkeit aber vermag Spaemanns Rede von «kontingenter Unbedingtheit»(als bloßem ethisch markierten Platzhalter für einen nach Kräften offen gehaltenen Inhalt207)ebenso wenig herzustellen wie sein Kriterium plastischer Zielverfolgung208 (das überdies, alsauf äußeres Verhalten beschränktes, nur eine des Sich-Verhaltens fähige Teilmenge der mitSelbstsein begabten Gegenstände zu erfassen vermag) oder auch sein Verweis auf sympathe-tisch erkennbare Lust und Schmerz wie auf die (bloß in der Selbsterfahrung des Subjektsgegebene, nicht auf den Begriff zu bringende) Trias von Leben, Bewusstsein und Sittlichkeit;und so erscheint Spaemanns Ausweichen vom Theoretischen ins Praktische nicht zuletzt imPraktischen als Schwäche. Den Weg Kants hingegen — wo innere wie äußere Zweckmäßigkeitals gänzlich im Subjekt bzw. in dessen Urteilskraft liegende regulative Idee aufgefasst wird,kann sich die theoretische Frage nicht auf die Konstitution eines etwa objektiv teleologischVerfassten sondern nur auf die Legitimität von dessen teleologischer Interpretation beziehen —will Spaemann aber offenkundig nicht gehen, soll im Selbstsein doch etwas dem jeweiligenGegenstand tatsächlich Zukommendes und ihm Anhaftendes anerkannt sein, das nicht bloß,wie dies bei einer regulativen Idee der Fall wäre, im urteilenden Bewusstsein liegt209.

2.3. Kritische Würdigung

Angesichts dieser der Innenseite des Objekts entkleideten Fassung der kantischen Natur-zweckmäßigkeit erhebt sich unweigerlich die Frage, wie weit denn Spaemanns Entwurf als einausgesprochen teleologischer anzusehen ist. Fraglos stellt er uns eine Konzeption vor Augen,die auf das in seinem Selbstsein anzuerkennende Subjekt in seinem Dasein abstellt, dem aber

206 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 236.207 S. o., S. 25.208 S. o., S. 23.209 S. o., Abschnitt 2.2.3.1.

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2.3. Kritische Würdigung

ein Aus-Sein-auf-Etwas eignet210, das jene innere Gerichtetheit enthält, die für Teleologieeigentlich charakteristisch wäre; gerade diese innere Gerichtetheit aber spart Spaemann syste-matisch aus, sodass das Eigentliche der Teleologie in der von Spaemann und Löw vertretenenSichtweise nicht direkt vorkommt sondern nur — darin auf die Analogie des Zweckhandelnszumindest verweisend — in seiner Folge äußerlich konstatierbaren Aus-Seins-Auf greifbarwird. Andererseits verdeckt der Status anerkannten Selbstseins nicht einfach das Eigentlicheder Teleologie, sondern er fungiert auch als Stellvertreter für einen nicht explizit gemachtenGehalt211 und hält so den konzeptuellen Ort, nämlich die Innenseite des Selbst, frei, andem Teleologie angesiedelt sein kann: eine Teleologie freilich, die als von außen gar nichtzugängliche nicht bloß in der Beurteilung durch andere bestehen kann sondern als in dem je-weiligen Selbst faktisch vorliegende anzusehen ist. — In Summe begründet der GedankengangSpaemanns und Löws, wie wir meinen, nicht so sehr eine Form von Teleologie als vielmehrdie Unmöglichkeit, diese definitiv auszuschließen, sowie ihre Unterstellbarkeit als Tatsächlichean konkrete einzelne Gegenstände der Erfahrung.Doch auch dieser exklusive Fokus auf das je konkrete Einzelne, den Spaemann und Löw

geradezu zum Hauptertrag ihrer Weltsicht im Gegensatz zu auf Naturbeherrschung angelegter,auf Abstraktion beruhender moderner Naturwissenschaft stilisieren — «Teleologie ist der Weg,wie wir aus der Kausalbetrachtung der Wirklichkeit zurückgeleitet werden zur Anschauungdes Konkreten»212 —, scheint uns viel eher eine Schwachstelle zu sein: In Ermangelung einesAllgemeinen, das in den Akt der Anerkennung einginge, fehlt nämlich offenkundig dessenRegelmäßigkeit; denn aus der Anerkennung eines einzelnen Gegenstandes der Erfahrung inseinem Selbstsein folgt noch nicht einmal der Anspruch auf Anerkennung des Selbstseins aucheines anderen, derselben Spezies zuzurechnenden Wesens, wie ja überhaupt ein Speziesbezug indiesem Kontext keinen Platz hat. Dass dies aber nicht nur theoretisch unbefriedigend sondernauch ethisch, somit gerade in jenem Bereich, auf den Spaemann und Löw ihre Argumentationhinlenken, höchst problematisch ist, liegt auf der Hand.So zentrale Fragestellungen wie die, was die Gerichtetheit in unserer Welt denn begründe

und was Aus-Sein-Auf und Selbstsein (die ja beide als objektive vorgestellt werden) ausmache,finden in Natürliche Ziele keine adäquate Antwort: Mit ersterer befassen sie sich überhauptnicht, und ihr Ansatz legt nicht mehr denn ein bloßes, hinter ohnedies schon bescheidenem «soist die Welt nun einmal» noch einmal deutlich zurückbleibendes «so erleben wir die Welt nuneinmal» als Antwort nahe; und auch die zweite Frage nach der genaueren Bedeutung dieserzentralen Kategorien ihrer Konzeption bleibt im Letzten unbeantwortet. Tatsächlich scheintuns die korrespondierende theoretische Unbestimmtheit des Entwurfs in diesen Punkten einenschwerwiegenden Mangel darzustellen, den wohl auch Spaemann selbst empfunden hat, wiedie unausgewiesene Kürzung seines Vortragstextes Die Unvollendbarkeit der Entfinalisierung

210 Doch ist nicht auch der Zusammenhang von Selbstsein und Aus-Sein zu problematisieren? Tatsächlichscheint Selbstsein ohne genauere Explikation seiner Bedeutung (s. o., Abschnitt 2.2.1.3) höchstens dieMöglichkeit, nicht aber die Tatsächlichkeit eigener Ziele und innerer Gerichtetheit (Aus-Sein-Auf) zubegründen. Lebendigkeit oder innere Zweckmäßigkeit könnten zwar den fehlenden Schritt zur Tatsächlichkeitgewährleisten, doch liefe dies Spaemanns Konzeption wie Intention offenkundig zuwider; in deren Rahmenhätte man konsistenterweise vermutlich anzunehmen, dass das Aus-Sein-Auf in jenem opaken, «in sichgeschlossenen Sinnzusammenhang» des Selbst verborgen und nach außen hin prinzipiell nicht zugänglich,gerade deshalb aber jedem Selbst prinzipiell zu unterstellen ist.

211 S. o., Abschnitt 2.2.3.1212 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 247.

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2. Robert Spaemann: Teleologie im Ausgang vom Subjekt

bei Aufnahme als Kapitel XI in Die Frage Wozu? belegt; der damalige Ansatz jedoch, derdie Realität der Gerichtetheit sicher gestellt und die Teleologie somit tief in der Strukturdes Seins verankert hätte, erwies sich, wie wir gesehen haben, als zu seinem Gesamtentwurfwesentlich inkompatibel213. Der so verbleibende theoretische Mangel scheint umso schwererzu wiegen, als sich Spaemann und Löw, ungeachtet ihrer praktischen Motivation, im Rahmender Auseinandersetzung mit szientistischen Positionen ja anschicken, diesen eine eigene, damitaber notwendig ebenfalls theoretische — denn wie vermöchte ein Sollen die Frage nacheinem Sein zu beantworten? —, dezidiert teleologische Konzeption entgegenzustellen, wieja auch die referierten philosophiegeschichtlichen Teleologiepositionen primär theoretischesind und als solche behandelt werden; dementsprechend geben Spaemann und Löw etwa auchKriterien für das Erkennen einer bestimmten Verfasstheit an und soll erkennbarerweise einwenn auch nie explizit gemachter objektiver Gehalt mit diesen Kriterien getroffen werden214;und schließlich wird doch wohl, wenn Teleologie als subjektive Verstehensform rehabilitiertwerden soll, auch dieses unser Verstehen zumindest einen theoretischen Aspekt aufweisen.Dort jedoch, wo es darum ginge zu klären, was die bereits herausgearbeiteten äußeren Folgender Teleologie eigentlich begründe, beruft sich Spaemann auf Unsagbarkeit und wendet dieFrage über die Rede von der «eigentümliche[n] Unbedingtheit des kontingenten, empirischdurchaus bedingten Selbstseins, seiner ‹Heiligkeit›»215 ins Praktische, welcher praktischeGehalt, nämlich die Forderung nach Achtung, die theoretische Leerstelle freilich nicht füllenkann. — Trotzalledem ist jedoch zu betonen, dass die eben umrissene theoretische Unab-geschlossenheit und Unbestimmtheit in Spaemanns und Löws Entwurf, so unbefriedigendsie auch sein mag, durchaus nicht unschlüssig ist sondern in maßstabloser, sympathetischerkannter Ähnlichkeit mit uns selbst trotz der Opazität des je Anderen ein Kriterium gegebenist, das die etwa drohende Degeneration anthropomorphen Verstehens (welche Anthropomor-phizität unweigerlich durch das Subjekt des Verstehens in sein Verständnis eingetragen wird)in den schlechten Anthropomorphismus willkürlicher Bevorzugung dessen, was hinreichendmenschenähnlich ist, verhindert; mehr aber als die Wiederherstellung jener Normalität, an derunsere Frage «Wozu?» an ein Ende käme, wie sie auch die Figur von Ähnlichkeitserkenntnisund Selbstseinsanerkenntnis zu leisten vermag, hatten uns die Autoren in ihrer Analyse, wases denn heiße, diese Frage zu stellen, eingangs auch nicht verheißen216.

213 S. o., Abschnitt 2.2.2.214 S. o., Abschnitt 2.2.3.1215 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 245.216 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 13–19.

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3. Thomas Nagel: Teleologieevolutionärer wie kosmischerWertbezogenheit

3.1. Autor und Text im Kontext

3.1.1. Zur Person Thomas Nagels

Thomas Nagel, 1937 geboren, «philosopher, law professor and public intellectual»1, «anatheist loved by creationists»2, kommt die zweifelhafte Ehre zu, mit dem 2012 erschienen BuchMind and Cosmos3, mit dem wir uns nun v. a. befassen wollen, gleich «[the] Most DespisedScience Book of the Year»4 verfasst zu haben; und tatsächlich wurde Mind and Cosmossowohl philosophischerseits als auch in einer breiteren Öffentlichkeit vielfach mit großerSkepsis aufgenommen5, während ihm erstaunlicherweise gerade Vertreter jener theistischen(und das heißt vielfach: kreationistischen) Sichtweisen, die Nagel mehrfach nicht einmal einerargumentativen Berücksichtigung würdigt6, ungeachtet seines auch in Mind and Cosmosdezidiert atheistischen Standpunkts fast schon eine Konversion zu einem (wenn auch bloßphilosophischen) Gottesglauben attestieren7,8.Widerfahren ist diese zwiespältige Reaktion, von natürlichen Verbündeten abgelehnt, von

1 So die Kurzcharakteristik Richard Findlers in einer Rezension über Nagels Concealment and Exposure,and Other Essays und The Last Word (Findler, Impossibility , S. 425).

2 So eine in einschlägigen Blogs von beiden Seiten der Auseinandersetzung in großer Zahl aufgegriffeneCharakterisierung. — Für einen nüchterneren Blick auf die Reaktionen aufMind and Cosmos vgl. Schuessler,Unlikely Allies; Vernon, Most Despised .

3 Mind and Cosmos: Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature is Almost Certainly False;2013 unter dem Titel Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption derNatur so gut wie sicher falsch ist auf Deutsch erschienen.

4 Vernon, Most Despised .5 Vgl. Schuessler (Unlikely Allies), Vernon (Most Despised) und die von ihnen genannten Reaktionen sowie

die Rezensionen von Nida-Rümelin (Mind and Cosmos), Ritterbush (Mind and Cosmos) und Yates (Mindand Cosmos).

6 Nagel, Mind and Cosmos, S. 66, 89, 121.7 Vgl. Schuessler, Unlikely Allies.8 Dass die Ablehnung jeglichen Gottesglaubens durch Nagel in Mind and Cosmos bei weitem nicht jene

Emotionalität erreicht, die aus anderen Texten bekannt ist — «I want atheism to be true and am madeuneasy by the fact that some of the most intelligent and well-informed people I know are religious believers.It isn’t just that I don’t believe in God [. . . ]. It’s that I hope there is not God! I don’t want there to be aGod; I don’t want the universe to be like that» (Nagel, Evolutionary Naturalism, S. 130) —, hängt wohlmaßgeblich mit dem Gegenstand wie auch der von diesem geforderten Notwendigkeit, auch den Theismusals denkmögliche Alternative zu berücksichtigen, zusammen.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

inhaltlichen Gegnern aber vereinnahmt zu werden, mit Thomas Nagel einem bedeutendenus-amerikanischen Vertreter der analytischen Philosophie, der vor allem mit Arbeiten zuPolitik, Rechtstheorie, Ethik, Wissenschaftstheorie und der Philosophie des Geistes fachlicheProminenz erlangt hat9. Als ein sich dabei weitgehend durchhaltendes Zentralmotiv lässtsich, aller Disparatheit der Thematiken zum Trotz, der Gegensatz von Subjektivem undObjektivem10 bzw. Nagels Insistieren auf der Unmöglichkeit, die Erste-Person-Perspektiveverlustfrei in die Dritte-Person-Perspektive aufzulösen, ausmachen: ein Programm, das eretwa in seinem bis in die 1970erjahre zurückreichenden11 Band The View from Nowhere (1986)anhand unterschiedlichster Fragestellungen «from the mind-body problem and the theory ofknowledge to free will, ethics, the meaning of life, and the significance of death»12 verfolgt,das aber unzweifelhaft bereits für Nagels früheste Buchveröffentlichung, The Possibility ofAltruism (1970), von zentraler Bedeutung ist13.

Mit Blick auf unsere Frage nach Nagels jüngst vorgelegtem Vorschlag einer teleologischenWeltsicht sind freilich, ungeachtet aller durch dieses durchgängige Motiv erklärten Ähnlichkei-ten der Argumentation, nicht seine ethischen, politik- und rechtsphilosophischen Arbeitenund auch nur am Rande seine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Religion vonBedeutung. Vielmehr ist eine direkte Linie von seinen Beiträgen zur Philosophie des Geistesund dem Leib-Seele-Problem zu Mind and Cosmos zu ziehen. Zu nennen ist hier v. a. Nagelsfrüher Essay What is it like to be a Bat? (1974), zweifellos sein bekanntester Text und einwichtiger Beitrag zur «analytischen Subjekt-Rehabilitierung»14; doch so sehr Nagel mit diesemBeitrag die «what is it like»-Formulierung in der philosophischen Debatte verankern konnte15,

9 Eine Bibliographie seiner Veröffentlichungen bis 2012 findet sich auf Thomas Nagels institutioneller Homepa-ge an der NYU School of Law, https://its.law.nyu.edu/facultyprofiles/index.cfm?fuseaction=profile.overview&personid=20156, unter https://its.law.nyu.edu/facultyprofiles/index.cfm?fuseaction=profile.full_cv&personid=20156 sowie, weniger vollständig, unter https://its.law.nyu.edu/facultyprofiles/index.cfm?fuseaction=profile.publications&personid=20156 (abge-rufen 2015-10-17); die Daten auf der Seite der philosophischen Fakultät, http://philosophy.fas.nyu.edu/object/thomasnagel bzw. http://philosophy.fas.nyu.edu/docs/IO/1172/cv.doc (abgerufen2015-09-30), sind demgegenüber übrigens veraltet.

10 Buchstäblich auf der letzten Seite von Mind and Cosmos (S. 128) verweist Nagel noch auf die Gefahr zuvergessen «how radical is the difference between the subjective and the objective».

11 Nagel gibt als Entstehungszeitraum der Texte 1978–85 an (Nagel, View from Nowhere, S. vii).12 Zitat aus Nagels Biographie auf der institutionellen Homepage an der NYU School of Law: https://

its.law.nyu.edu/facultyprofiles/index.cfm?fuseaction=profile.biography&personid=20156(abgerufen 2015-10-17).

13 Nagels Entwurf in The Possibility of Altruism gilt allgemein als wenig geglückt; ein entferntes Echo findetsich allerdings noch in Mind and Cosmos (S. 77), wenn Nagel die Möglichkeit echten Altruismus gegenmittlerweile weit verbreitete, auch das öffentliche Bewusstsein bestimmende und somit für menschlichesSelbstverständnis wie gesellschaftliches Zusammenleben nicht unproblematische utilitaristische bzw. evolu-tionssoziologische Erklärungen mit ihrer «im Kern nepotistischen Interpretation angeborener altruistischerDispositionen» (Nagel, Geist und Kosmos, S. 113) verteidigt und mit moralischem Realismus verbindet.

14 Müller, Glauben, S. 110; neben Nagel rechnet Müller insbesondere auch Shoemaker, Castañeda, Nozickund Chisholm dieser Strömung der Rehabilitierung von Subjektivität in der analytischen Philosophiezu (S. 110–111). — Zur Ablehnung des Darwinismus in der frühen analytischen Philosophie vgl. Ruse,Creationism, Abschnitt 12: Conclusion.

15 Tatsächlich stammt die titelgebende Frage von Timothy L. S. Sprigge «[who] independently formulatedthe ‹what is it like to be a bat?› question about consciousness which Thomas Nagel later made influential»(O’Grady, Philosopher), doch wird die Wendung «what is it like» bzw. «what it is like» allgemein mitNagel in Verbindung gebracht.

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3.1. Autor und Text im Kontext

so wenig konnte sein Versuch, aus dem Fehlen des Wissens um das What-it-is-Like der Fleder-maus (das etwa in der Unfähigkeit, deren subjektives Erleben zu imaginieren, greifbar wird)Realität und Irreduzibilität von «Qualia», also subjektiver Erlebnisqualitäten, zu beweisen,überzeugen: zum einen ist nämlich Nagels Fledermaus vergleichsweise wenig ergiebig16, wes-halb sich die diesbezügliche Fachdiskussion eher auf Jacksons «Mary»-Gedankenexperiment(bzw. Varianten davon wie Nida-Rümelins Marianna) bezieht17, zum anderen aber ist dasArgument vom fehlenden Wissen selbst in dieser stärkeren Version in mehrfacher Hinsichtangreifbar18. Tatsächlich spricht — so viel sei hier bereits angedeutet — einiges dafür, NagelsWende zu einer explizit teleologischen Weltsicht geradezu als eine vor dem Hintergrund dieserSchwierigkeiten erfolgte Abkehr vom Qualiaargument und der mit diesem eng verbundenenDoppelaspekttheorie19,20 und somit als (in Mind and Cosmos freilich nicht herausgestellte)Positionskorrektur zu verstehen; beispielsweise lässt Nagels philosophische Selbsteinordnungin eine idealistische Tradition —

The view that rational intelligibility is at the root of the natural order makes me,in a broad sense, an idealist — not a subjective idealist, since it doesn’t amount tothe claim that all reality is ultimately appearance — but an objective idealist inthe tradition of Plato and perhaps also of certain post-Kantians, such as Schellingand Hegel, who are usually called absolute idealists.21

— Nagels frühere, mit den Schlagworten Qualia und Doppelaspekttheorie umrissene Positionnicht mehr erkennen, und auch der mit diesen zusammenhängende, von Nagel propagierteneutrale Monismus spielt, wiewohl er v. a. zu Beginn von Mind and Cosmos hervorgehobenwird, in Nagels tatsächlicher Argumentation allenfalls bei der konstitutiven Frage nach demBewusstsein eine Rolle22.Natürlich kommt in jeder Auseinandersetzung mit reduktionistischen Positionen, die ihre

Deutung der Welt einschließlich mentaler und geistiger Aspekte wesentlich aus einer Inter-pretation naturwissenschaftlicher Ergebnisse und des insbesondere auf Ebene der Physikkonstatierbaren lückenlosen Kausalzusammenhangs gewinnen, einem vertretbaren Verständnisgerade dieser naturwissenschaftlichen Zusammenhänge eine wesentliche Bedeutung zu; imFalle Nagels gilt dies erst recht, bezieht er selbst doch, weit über die einschlägigen reduktionist-

16 Dies deswegen, weil die Differenz von Mensch und Fledermaus nicht zu überbrücken ist, während Marybzw. Marianna jene Umgebung, in der ihr gewisse Erfahrungen nicht zugänglich sind, verlassen kann.

17 Vgl. Beckermann, Analytische Einführung , S. 410–427; Nida-Rümelin, Qualia: Knowledge.18 Für eine Übersicht der diesbezüglichen Argumentationen sei auf den Lexikonartikel von Martine Nida-

Rümelin (Qualia: Knowledge) verwiesen.19 «Dual aspect theory»: vgl. Nagel, View from Nowhere, Abschnitt III.1, S. 28–32; Nagel, Psychophysical

Nexus.20 Die Verbindung besteht darin, dass zum Einen das Auftreten eines irreduziblen Quale die Unvollständigkeit

einer rein physikalischen Beschreibung der Welt belegt, zum anderen aber die enge Verbindung physischerund mentaler Prozesse eine gemeinsame Grundlage beider nahelegt, die für Nagel die Gestalt eineszweifachen Aspekts des einheitlichen physisch-mentalen Prozesses annimmt.

21 Nagel, Mind and Cosmos, S. 17.22 Nagel, Mind and Cosmos , Abschnitt 3.4. — Der Sache nach vertritt Nagel zwar zweifellos einen neutralen

Monismus, doch geht es Nagel in seiner Darstellung nur um die Abgrenzung gegenüber Dualismen sowieden konkurrierenden Monismen von Materialismus und Theismus.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

schen Argumente hinaus, auch recht spezielle Fragestellungen etwa zu Gehirnverletzungen23

in seine Überlegungen ein. Dabei räumt er freimütig ein, er sei bloßer «Laie, der sich ausgiebigmit der Literatur befasst, die den Nichtspezialisten die zeitgenössische Naturwissenschafterklärt»24; so verwundert es nicht, dass teils auch derartige popularisierende Darstellungennaturwissenschaftlicher Zusammenhänge und deren Reflexion durch Personen, die größereKompetenz in diesen Fragen beanspruchen, referenziert werden25, wie auch, dass sich im Detailzahlreiche, für die philosophische Seite der Fragestellung aber harmlose sachliche Irrtümernachweisen lassen26, die freilich dazu angetan sind, ein ungünstiges Licht auf das Niveau vonNagels Kompetenz auch in jenen naturwissenschaftlichen Fragen, zu denen er sich äußert, zuwerfen. Immerhin erwägt Nagel explizit die Möglichkeit übermäßiger Vereinfachungen, die demStand der wissenschaftlichen Reflexion nicht gerecht wird27, doch ist auch dem zur inhaltlichenBeurteilung dieser Art von Literatur nicht kompetenten «Laien» zumindest der Vorwurf nichtzu ersparen, dass er über die Gefahr einer etwaigen (und tatsächlich wohl unvermeidlichen)übermäßigen Vereinfachung der Sachverhalte hinaus auch die einer dieser Vereinfachung dieRichtung weisenden Tendenz hätte in Betracht ziehen müssen; beispielsweise ist offenkundig,dass etwa Dawkins’ Blind Watchmaker 28 nicht nur keine naturwissenschaftliche Fachpublika-tion ist sondern zudem auch eine Agenda verfolgt, die keine naturwissenschaftliche sein kann(und den Philosophen vielleicht gerade deswegen interessieren muss).

In diesem Licht ist auch Nagels Eintreten für die Legitimität der Position des IntelligentDesign zu sehen: Mag auch sein Ausgangspunkt dafür ein rechtlich-politischer sein — «myaim is to address the constitutional issue»29 einer richterlichen Entscheidung zum Evolutions-theorieunterricht an Schulen — und grenzt er Intelligent Design deutlich gegen Kreationismusim Sinne des «traditional argument from design for the existence of God»30 ab (sodass dieAuseinandersetzung «clearly a scientific disagreement, not a disagreement between scienceand something else»31 betrifft), so nimmt er in Mind and Cosmos doch wesentliche, auchkreationistisch gebrauchte Argumente der Proponenten des Intelligent Design, insbesonderederen Abschätzungen der Entstehungswahrscheinlichkeit (bzw. genauer: -plausibilität) der unsbekannten Lebensformen, unkritisch auf. Dies wird Nagel (wie auch anderen Autoren, etwaAlvin Plantinga32) immer wieder mit teils scharfen Worten zum Vorwurf gemacht33; es scheint

23 Man vergleiche das Kapitel Brain Bisection and the Unity of Consciousness in Mortal Questions (S. 147–164) sowie Nagels kurzgefasste Folgerungen daraus in Psychophysical Nexus (S. 226).

24 Nagel, Geist und Kosmos, S. 14.25 Beispielsweise Steven Weinbergs Dreams of a Final Theory (Nagel, Mind and Cosmos, S. 4, Fußnote 1).26 Greifen wir etwa willkürlich einige wenige Seiten des zweiten Kapitels von Mind and Cosmos heraus,

so sind hier der unsinnige Bezug auf «particle physics» (S. 19), «theory of everything» (S. 20) und«mathematical physics» (S. 22) sowie auf die «most unified physical laws» (S. 20) zu beanstanden. Wasletzteres betrifft, so ist es in der deutschen Ausgabe, Geist und Kosmos, außerdem noch falsch aus demEnglischen übertragen; zur Qualität der Übersetzung insgesamt s. u., S. 53.

27 Nagel, Mind and Cosmos, S. 5.28 Von Nagel explizit referenziert: Nagel, Mind and Cosmos, S. 5, Fußnote 2.29 Nagel, Public Education, S. 188.30 Nagel, Public Education, S. 188.31 Nagel, Public Education, S. 197.32 Dessen Sicht der Teleologie ist, anders als die Nagels, klar theistisch begründet: «Plantinga’s work on

God and Christian philosophy makes no secret of his choice for the real source of teleology» (Perlman,Resurrection of Teleology , S. 8).

33 Beispielsweise zieht Ruse (Creationism, Abschnitt 12: Conclusion) das Resümee: «Until the criticisms put

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3.1. Autor und Text im Kontext

überflüssig, darauf hinzuweisen, dass diese Abschätzungen allgemein als nicht stichhaltigeingeschätzt werden34.Wo Nagel aber die v. a. in den usa so umstrittene Frage des Intelligent Design aufgreift,

da will er offenkundig auch eine entsprechende Breitenwirkung entfalten; dies ist freilich nurein Aspekt seines allgemeinen Interesses an über die akademische Tätigkeit hinausreichender,gesellschaftlich relevanter Anwendung seiner philosophischen Arbeit35, wie es sich etwa inder Mitbegründung der Zeitschrift Philosophy & Public Affairs aber auch in zahlreichen gutlesbaren, an eine weitere Öffentlichkeit gerichteten Texten niederschlägt. Unter letzteren sindetwa etliche Buchbesprechungen für die populäre New York Review of Books36, daneben aberauch die betont voraussetzungslose Einführung «for people who don’t know the first thingabout the subject»37 in philosophische Grundfragen What Does It All Mean? zu nennen;der Kontrast dieser Texte zu den stringenter ausgearbeiteten, an ein philosophisch versiertesFachpublikum adressierten Publikationen Nagels ist jedenfalls markant.

3.1.2. Nagels Teleologiebuch, Mind and Cosmos

3.1.2.1. Charakterisierung und Kontext

Es ist bereits angeklungen: Mit Mind and Cosmos vollzieht Thomas Nagel eine überraschen-de Wende hin zu einer teleologischen Weltdeutung, die zwar im Anliegen und in manchenGedankengängen, insbesondere wo es um die Auseinandersetzung mit theistischen und ma-terialistischen Positionen geht, in Kontinuität zu seinen früheren Veröffentlichungen zurPhilosophie des Geistes steht, in Durchführung und Begründung seines Lösungsvorschlagesaber als bedeutsame Positionskorrektur erscheint. Umso auffälliger ist, dass Nagel seinenTeleologievorschlag einzig in einem Text vorträgt, der nicht in die Kategorie philosophischerFachtexte fällt sondern unverkennbar mit dem Interesse weiter gesellschaftlicher Wirksamkeit

forward by Nagel, Plantinga, Fodor, etc. do start to take seriously modern science, we might justifiablycontinue to take them less than seriously.»

34 Freilich bietet selbstverständlich auch Nagels Unterstellung einer dominanten antikreationstisch-evolutionistischen «counterorthodoxy» (Nagel, Public Education, S. 187; ähnlich auch Nagel, Mindand Cosmos, S. 4 u. ö.) eine hinreichende Erklärung für diese negative Einschätzung. Allerdings istunübersehbar, dass Nagel in Mind and Cosmos nicht mehr als seinen Zweifel am Reduktionismus und seinRessentiment gegen die Verhöhnung der Vertreter des Intelligent Design zur Stützung von deren Thesenaufbietet. Was die Tragfähigkeit von Nagels Wahrscheinlichkeitsargument angeht, so verweisen wir aufGeorg Reimanns einschlägigen Vortrag Nagel, Darwin und Gott. Nagels Wahrscheinlichkeitsargument gegendie Evolutionstheorie in der Kritik im Rahmen des 8. Berliner Kolloquiums Junge Religionsphilosophie imFebruar 2015 (vgl. S. 3), in dem Reimann nachwies, dass Nagels Argument zum einen an einem unscharfenZufallsbegriff, der zwischen Voraussageunmöglichkeit und Ursachelosigkeit nicht unterscheidet, krankt,zum anderen aber diskreditierte «Zahlenspielereien» bekannter Vertreter des Intelligent Design aufnimmt.Für unsere eingeschränkte Fragestellung, die sich auf Nagels Teleologiekonzeption, nicht aber auf die zuderen Ausarbeitung Anlass gebenden Befunde bezieht, ist es jedenfalls nicht nötig, zu einer abschließendenBewertung der genannten Wahrscheinlichkeits- bzw. Plausibilitätsabschätzungen zu kommen; zur Stellungdes Wahrscheinlichkeitsargumentes innerhalb von Nagels Argumentation s. u., S. 59.

35 Man vergleiche Findlers eingangs zitierte Charakterisierung Nagels als «public intellectual» (s. o., Fußno-te 1).

36 Ein Verzeichnis seiner Beiträge findet sich unter http://www.nybooks.com/contributors/thomas-nagel/ (abgerufen 2015-10-06).

37 Nagel, What Does It All Mean? , S. 3.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

an eine breite Öffentlichkeit gerichtet ist: ein Umstand, der — neben dem gesellschaftlichenKlima, das in den Vereinigten Staaten gerade in der Frage menschlicher Welt- und Selbst-deutung zwischen Kreationismus und Evolutionismus noch wesentlich stärker polarisiert zusein scheint als in Kontinentaleuropa — für die eingangs skizzierte Widersprüchlichkeit derReaktionen wesentlich verantwortlich sein dürfte.Ein erstes Signal dafür ist der unverkennbar an eine Formulierung aus Richard Dawkins’

God Delusion angelehnte Untertitel Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Natureis Almost Certainly False bzw. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption derNatur so gut wie sicher falsch ist38: Unmissverständlich bekundet Nagel damit, sich in dieaktuelle, weithin von der Voraussetzung einer unausweichlichen Frontstellung von Gottesglaubeund Naturwissenschaft39 geprägte Debatte um das Selbstverständnis des Menschen als Teil derNatur einschreiben zu wollen: eine Debatte, die als solche wie eine aktualisierte Version jenerAuseinandersetzungen anmutet, die, in anderem gesellschaftspolitischem und historischemKontext, auch im Hintergrund von Robert Spaemanns Vorlesungen zur Teleologie 1976/77standen.Das in diesem Untertitel enthaltene Versprechen, Mind and Cosmos werde für die gleiche

Zielgruppe lesbar und verstehbar sein wie andere einschlägige, für die öffentliche Debattemaßgebliche Publikationen, allen voran Dawkins’ God Delusion und dessen direkte Zurück-weisungen40, löst Nagel mit seiner auch herzhafte Polemik gegen den dominanten Mainstreameines «Darwinismus der Lücken»41 nicht scheuenden, von erkennbarem Engagement getrage-nen und stets flüssig lesbaren42 Darstellungsweise, wie sie einem populären Werk angemessenist, denn auch zweifellos ein. Doch während teils einfachste Überlegungen breit ausgeführtwerden43, bleibt im Detail vieles unklar: ein Problem, das durch das weitgehende Fehlenexpliziter innerphilosophischer Bezüge zu Problemgeschichte und aktuellen Debatten der

38 Dawkins überschreibt das vierte Kapitel seines 2006 erschienen Buches mit Why there almost certainly isno God, von wo aus die «almost-certainly»-Formulierung weite Verbreitung gefunden hat.

39 Mehr noch als das Stichwort «delusion» — Dawkins’ God Delusion wurde prompt auch eine Dawkins Delusi-on entgegengestellt (McGrath, Dawkins Delusion) — hat mittlerweile die «almost-certainly»-Formulierungdurch die bekannte, mit Dawkins affiliierte und von ihm teilfinanzierte britische Atheistenkampagne sowiedurch die Auseinandersetzung um Dawkins’ Buch — Titel wie Keith Wards Why There Almost CertainlyIs A God: Doubting Dawkins belegen dies — den Charakter eines ausgesprochenen Signals für von dieserFrontstellung ausgehende und hier eindeutig Stellung beziehende populäre Darstellungen erlangt; so ist esnicht verwunderlich, dass selbst ein Bericht über den nach teilchenphysikalischen Standards ja bereitsgesicherten Nachweis eines Higgsbosons nicht ohne diese die Entdeckung eigentlich relativierende Wen-dung im Titel auskommt: «Scientists almost certainly located god particle» (Caldwell, Scientists). — Imdeutschen Sprachraum ist das Äquivalent von «almost certainly» übrigens «mit an Sicherheit grenzenderWahrscheinlichkeit», wie es auch in Österreich — ebenfalls im Rahmen einer Atheismuswerbung — mitSlogans wie «Gott ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein tschechischer Schlagersänger.Entspann dich. Er wird dir nichts tun» ihren Niederschlag im öffentlichen Raum gefunden hat (vgl. News.at,«Gottlose» Kampagne); dass der Untertitel der deutschen Übersetzung von Mind and Cosmos dies nichtaufnahm, stellt jedenfalls ein (wenn auch harmloses) Versagen von Übersetzerin und Lektorat dar.

40 Vgl. Fußnote 39 (S. 48).41 Nagel, Geist und Kosmos, S. 181.42 «Reading Nagel feels like opening the door on to a tidy, sunny room that you didn’t know existed. It is as

if his heart said to his head, I can’t help but feel that materialist reductionism isn’t right. And his headsaid to his heart, ok: let’s take a fresh look» (Vernon, Most Despised).

43 Beispielsweise reduzieren sich große Teile von S. 14–15 der amerikanischen Ausgabe auf einfache logischeÄquivalenzen wie (a⇒ b) = (¬b⇒ ¬a).

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3.1. Autor und Text im Kontext

philosophischen Anthropologie, die einen Abgleich der Position Nagels mit der anderer Phi-losophen erlaubten, zweifellos noch verschärft wird. Was die Darstellungsweise betrifft, soträgt zu jener gewissen Unklarheit, die Mind and Cosmos in zahlreichen Einzelfragen cha-rakterisiert, jedenfalls auch die (in der deutschen Übersetzung zudem noch gesteigerte, s. u.)ausgesprochen rhetorische Qualität des Textes bei, deren Gestus oft mehr suggeriert, alsdurch die argumentativen Passagen gedeckt ist44, und das durchaus auch bei nicht unwe-sentlichen Weichenstellungen45. Stellen wir zudem die durchgängig ambivalente Verwendungzentraler Begriffe des Buches, insbesondere von Intelligibilität46 und Wert47, in Rechnung48,so ergeben sich insgesamt bereits auf den Ebenen einzelner Formulierungen bzw. einzelnerArgumentationsschritte beträchtliche Schwierigkeiten für den an einer genaueren Erfassungbzw. Rekonstruktion der Position Nagels interessierten Leser. Doch auch auf der Ebene desGesamtwerks49 sind gewisse Unstimmigkeiten und Spannungen auszumachen, die ihrerseitszu einer gewissen Undeutlichkeit des von Nagel mit Mind and Cosmos verfolgten Teleolo-gieprojekts beitragen und etliche Fragen offen lassen: Vergleichsweise harmlos ist noch, dassNagel in Kapitel 3 («Consciousness») zu erkennen gibt, in jedem der drei Hauptkapitel 3bis 5 («Consciousness», «Cognition», «Value») die in Frage kommenden Erklärungstypenfür Möglichkeit wie Tatsächlichkeit der jeweils behandelten Phänomene systematisch zubetrachten, dieses Programm in den späteren Kapiteln aber nur mehr unvollständig undquasi als Ergänzung zu den eigentlich tragenden Argumentationen verfolgt, oder dass das zuBeginn (Kapitel 2) mit großem Gewicht eingeführte Konzept der Intelligibilität nach einem

44 Ein häufig wiederkehrendes Muster ist dabei das Einmünden zurückhaltend formulierter Abwägungen indaraus nicht zu gewinnende apodiktische Behauptungen, wie dies etwa das Ende von Unterkapitel 2.2zeigt (vgl. Fußnote 45); zur Frage der Bewertung solcher Passagen s. u., S. 50.

45 Als Beispiel sei auf das Ende von Unterkapitel 2.2 verwiesen (Nagel, Mind and Cosmos, S. 17): Auf eineHäufung vorsichtiger Wendungen («I am [dots] disposed», «it seems to me», «more likely to be true»,«assumption») folgt, durch die bereits zitierte philosophiehistorische Selbsteinordnung Nagels (s. o., S. 45)abgesetzt, als handle es sich um eine Schlussfolgerung aus dem Gesagten, die lakonische Feststellung «Theintelligibility of the world is no accident»; und tatsächlich stehen die nachfolgenden Überlegungen sämtlichauf dem Fundament dieser Annahme. Zudem wird im Gefolge dieser Weichenstellung noch ein neuesKonzept, nämlich das eines doppelten Zusammenhanges («doubly related») von Geist und Naturordnung,ohne eigentliche Begründung eingeführt und eine aus der vorher konstatierten Verstehbarkeit «at somelevel» offenkundig nicht zu gewinnende vollständige Verstehbarkeit der Welt gefolgert («therefore»).

46 S. u., Abschnitt 3.2.1.2.47 S. u., Abschnitt 3.2.1.4.48 Die deutsche Fassung des Buches wird zusätzlich durch ein terminologisches Schwanken zwischen «mental»

und «geistig» beeinträchtigt: Die Übersetzerin Karin Wördemann behandelt diese beiden Begriffe entgegendem deutschen Sprachgebrauch praktisch als Synonyme, was umso irritierender ist, als spezifisch Geistiges,über das bloß Bewusstseinshafte des Mentalen Hinausreichendes v. a. für die Kapitel über Kognitionund Werterealismus entscheidend sind. In Nagels Original jedoch besteht diese Schwierigkeit nicht, gilthier doch «mind» üblicherweise als Träger dessen, was «mental» ist, während der Aspekt des Geistigenetwa mit «reason» angesprochen ist; eine gewisse Ambivalenz ist allerdings in einzelnen Formulierungen,beispielsweise in der Wendung «conscious beings with minds» (S. 17) oder «mind in its full sense» (S. 72),auch bei Nagel auszumachen.

49 Bloß erwähnt werden soll, dass auch die mittlere Ebene der Kapitel- und Unterkapitelgliederung zurVerunklarung von Nagels Argumentation beiträgt: Zwar lassen sich etwa für die einzelnen Abschnitte inder Regel dominante Themen angeben, doch ist nicht nur deren Abfolge und Stellung im größeren Kontextnicht immer schlüssig sondern werden sie auch häufig erneut aufgenommen und so sukzessive mit neuenAspekten angereichert, sodass einzelne Motive und Gedankengänge über weite Teile des Buches verstreutbehandelt werden, ohne dass diese Zersplitterung sachlich notwendig erschiene.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

kurzen letzten Auftreten in Kapitel 4 keine Rolle mehr spielt50. Viel schwerer wiegt jedoch,dass die hierin greifbare Uneinheitlichkeit auch auf die Nagel’sche Gesamtkonstruktion einerauf Wert abstellenden Teleologie durchschlägt, was als Zwiespältigkeit des Telos bzw. alsNebeneinander zweier unterschiedlicher Teleologieformen in Erscheinung tritt51.Eine analoge Zwiespältigkeit betrifft aber auch die Frage nach dem von Nagel mit Mind

and Cosmos verfolgten Ziel und nach dem von ihm explizit wie implizit erhobenen Anspruch:Denn zum einen betont Nagel immer wieder, sein Projekt sei «modest»52, er wolle «nicht sosehr gegen den Reduktionismus [. . . ] argumentieren» als vielmehr «untersuchen, welche Konse-quenzen es hat, ihn zu verwerfen»,53 und in sorgfältigem Abwägen der Denkmöglichkeiten aufein antireduktionistisches Verständnis als ein «utopian long-term goal»54 zugehen, für dessenkünftige Erarbeitung im gegenwärtigen Stadium kaum mehr als Kriterien und Perspektivenzu benennen sind; zum anderen aber hält Nagel diese Zurückhaltung keineswegs aufrecht,schickt sich zu systematischem Vorgehen an (das dann nicht durchgehalten wird), erwecktmit gestalterischen Mitteln den Anschein größerer Kohärenz und Folgerichtigkeit, als einegenaue Lektüre nachzuvollziehen vermag55 und vermag doch bemerkenswert genaue Aussagenüber die Form des anvisierten Weltverständnisses zu tätigen, sodass der durchaus zwiespältigeEindruck entstehen muss, Nagel verfolge implizit ein viel weiter reichendes Ziel, als er explizitzugibt, und erhebe indirekt sehr wohl den Anspruch, wesentliche Aspekte eines umfassendenVerständnisses von Geist und Kosmos weitgehend (d. h. bis auf die immer bleibende Mög-lichkeit des Skeptizismus56) absichern zu können. Die Korrespondenz zum Nebeneinandervon sorgfältig abwägenden und von großer Zurückhaltung geprägten Passagen einerseits undmit großer Vehemenz vorgetragenen, apodiktischen, aus seiner Argumentation aber nichtmit Sicherheit ableitbaren Feststellungen andererseits liegt auf der Hand. Umgekehrt aberhängt offenbar die Bewertung der erwähnten Schwächen gerade von der Einschätzung vonNagels Ziel und Anspruch ab: was im einen Fall nämlich als unstatthafte Verschleierungargumentativer Lücken erscheinen muss (die immerhin noch auf der Linie jener Vereinfachun-gen liegen könnte, die Nagel auch popularisierenden Darstellungen naturwissenschaftlicherZusammenhänge zubilligt57), spiegelt im anderen einfach den Charakter einer Suche mitungewissem Ausgang, deren Zielpunkt erst mühsam erarbeitet werden muss und die in derjetzigen Phase eines ersten Aufbruchs zu einem neuartigen umfassenden Weltverständnis, der

50 Ähnlich aber weniger folgenreich verhält es sich mit dem neutralen Monismus, der gleich zu Beginneingeführt wird (Nagel, Mind and Cosmos , S. 5) und auch in den späteren Teilen des Buches immer wiederauftaucht, im Zusammenhang mit der Erwägung protomentaler Elemente sogar eine gewisse Bedeutungerlangt, ohne aber für die Gesamtargumentation eine Rolle zu spielen, die der Prominenz, die ihm auf denersten Seiten des Buches gegeben wird, entspräche.

51 S. u., Abschnitt 3.2.1.4. — An sich ist das Nebeneinander sowohl unterschiedlicher Tele als auch unterschied-licher Teleologien mit ihren je eigenen Wirkmechanismen konzeptuell unproblematisch, doch widersprichtNagels zweifache Teleologie dem seinen gesamten Entwurf prägenden und seine Argumentation, wie wirsie in Abschnitt 3.2.1 nachzuzeichnen suchen, bestimmenden, selbst gesteckten Ziel einer einheitlichenKonzeption, wie sie bereits in dem von Nagel geltend gemachten Erklärungsbegriff angezielt ist (s. u.,Abschnitt 3.2.1.1).

52 Nagel, Mind and Cosmos, S. 24, 25 u. ö..53 Nagel, Geist und Kosmos, S. 29.54 Nagel, Mind and Cosmos, S. 69.55 Vgl. Fußnote 44 (S. 49).56 Nagel, Mind and Cosmos, S. 24.57 Nagel, Mind and Cosmos, S. 5.

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3.1. Autor und Text im Kontext

nun an der Zeit ist, durchaus auch scheinbar widersprüchliche Alternativen zulassen darf.— Da unsere Fragestellung nicht so sehr die Bewertung der Nagel motivierenden und vonihm zur Stützung seiner Argumentation angeführten Überlegungen sondern vielmehr dietatsächlich aus dem Text von Mind and Cosmos zu erhebende Gestalt seines teleologischenKonzepts betrifft, können wir die Frage nach seinem Anspruch hier unbeantwortet lassen;auf jeden Fall ist aber dafür zu plädieren, die unleugbaren Schwächen und Ambivalenzen inDarstellung und Durchführung seines Projekts nicht zum Anlass zu nehmen, über den Gehaltder Nagel’schen Teleologiekonzeption hinwegzugehen, sowie dafür, die bewusst bescheidengehaltenen expliziten Zielangaben Nagels nicht zu gering zu veranschlagen.Denn ungeachtet der erwähnten Schwierigkeiten und Unklarheiten im Detail sind Nagels

Ansatz und seine Grundaussage, wonach das Auftreten von Geist von entscheidender Be-deutung für die gesamte Evolution des Kosmos ist, in materialistisch-neodarwinistischenDarstellungen aber keine adäquate Berücksichtigung findet, durchaus deutlich: anderenfallswäre jene Breitenwirkung, die Nagel mit Mind and Cosmos offenkundig anzielt, auch vonvorneherein ausgeschlossen. Mit seinem dem dominanten materialistisch-reduktionistischenMainstream entgegensetzten Vorschlag einer dezidiert teleologischen Weltsicht begibt sichNagel unzweifelhaft in jenen Wettstreit um gesellschaftliche Deutungshoheit, der (v. a. auchmedial, v. a. im us-amerikanischen Raum) im Allgemeinen zwischen den beiden dominanten,einander unversöhnlich gegenüber stehenden Positionen von Evolutionismus und Kreationis-mus in ihren mannigfachen Spielarten ausgetragen wird. Nagel hingegen ergreift mit Mindand Cosmos keinesfalls für eine der beiden Seiten Partei (denn auch sein Eintreten fürdie Legitimität selbst von Intelligent-Design-Argumentationen ist Reaktion auf vorschnelleAbqualifizierung, nicht Annahme der Position) sondern erhebt vielmehr zumindest diesenAnspruch: Evolutionismus und Kreationismus gleicherweise als ungenügend nachzuweisen undim tastenden Erkunden einer umrisshaft sich abzeichnenden objektiv-immanent teleologischenWeltdeutung, die er ihnen entgegen setzt, das Niveau nicht bloß der populären sondern auchder fachphilosophischen Diskussion nicht zu unterschreiten.

3.1.2.2. Aufbau und Argumentationsgang

Dementsprechend zieht sich die Insuffizienz v. a. des Evolutionismus — denn die Gegenpositiondes «Theismus», einer Weltbegründung also durch äußere Intention58, ist Nagel mehrfachnicht einmal der Zurückweisung wert59 — wie ein roter Faden durch das Buch, vom Beginn derim Übrigen bloß einige zentrale Motive benennenden Einleitung (Kapitel 1: Introduction) biszur letzten Seite der knappen Zusammenfassung (Kapitel 6: Conclusion); und auch Kapitel 2,Antireductionism and the Natural Order, ist wesentlich der Vorstellung dieser beiden gegen-

58 Wenn bei Nagel bzw. im Folgenden in unserer Nachzeichnung mehrfach von Gott die Rede ist, so istdamit, ungeachtet Nagels gelegentlicher Bezugnahme auf Vorstellungen konkreter Religionen (Nagel, Mindand Cosmos, S. 25 u. ö.), nur eine philosophische Gottesvorstellung angesprochen, die beispielsweise vonvorneherein ausschließt, dass dieser «Gott der Philosophen und Gelehrten» (um mit Pascal zu sprechen)sich anders als durch die Naturordnung selbst oder durch deren willkürliche Störung — Nagel betontgegenüber der potestas ordinata v. a. die potestas absoluta (Nagel,Mind and Cosmos, S. 25–26) — offenbare.

59 Beispielsweise berücksichtigt das Kognitionskapitel den Theismus nur mit der lapidaren Wendung «if weare skeptical about an intentional (theistic) explanation» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 89).

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

sätzlichen Positionen, die er im Sinne einer Sprachregelung60 als «materialism»61 (oder auch«materialist naturalism»62, «(psychophysical) reductionism»63) bzw. «theism» bezeichnet,gewidmet. Dabei ist der Theismus freilich nur eine besondere Form von Antireduktionismus,dem auch Nagels eigene Position zuzuordnen sein wird. Da aber Theismus wie Naturalismusgleichermaßen unser Verlangen nach Erklärung zuletzt auf «brute facts» — sei es des trans-zendenten, nicht hinterfragbaren Willens Gottes64, sei es eines immanent-empirischen «this isjust how things are»65 — stoßen lassen, bleiben sie beide im Letzten rein deskriptiv66 undkönnen kein vollständiges Verständnis der Welt bieten. Dementsprechend muss nach Nageleine umfassende, damit notwendig auch antireduktionistische Erklärung gesucht werden, die ingewissem Sinne zwischen den Extremen von Theismus und Naturalismus angesiedelt ist67, wiediese über ein Verständnis nur «von innen» hinausgeht68 und sich in eine gesamthafte Sichtder Welt einordnet, anders als Naturalismus und Theismus aber auch im Grundlegendstennoch über bloße Beschreibung hinausreicht, um so plausibel zu machen, «how we fit intothe world»69. Dies aber kann nur eine gänzlich innerweltliche Erklärung leisten, die die«Intelligibilität» der Welt — mit diesem für Mind and Cosmos insgesamt bedeutsamen Begriffwerden wir uns eigens auseinanderzusetzen haben70 — als innerhalb der Welt begründeteverstehbar machen kann und als solche auch «life, consciousness, reason, and knowledge»71

als dem Kosmos zugehörig aufweist.Während Nagel reduktionistische Erklärungen der Entstehung von Leben nur nebenbei

abweist72, widmet er sich in je eigenen Kapiteln den Phänomenen von Bewusstsein (Kapitel 3,Consciousness), Realität und Wahrheit erreichender, mit dem Anspruch von Geltung ver-bundener Erkenntnis (Kapitel 4, Cognition, womit «reason» und «knowledge» gleichermaßenangesprochen sind) sowie schließlich dem Auftreten von Wert (Kapitel 5, Value). Dabei trittdie Behandlung der denkbaren Erklärungstypen für Konstitution und Auftreten sukzessive inden Hintergrund (s. o.), da sich Nagel spätestens ab Kapitel 4 auf eine in einem Werterealismusgründende teleologische Sicht festlegt73, deren Elemente freilich bereits in früheren Kapitelnauszumachen sind; es ist diese Sicht, die im Folgenden skizziert (s. u., Abschnitt 3.2) und mit

60 Nagel räumt ein, dass seine sehr grobe Klassifizierung durchaus am Selbstverständnis mancher Autorenvorbeigeht (Nagel, Mind and Cosmos, S. 13f); als ein Beispiel sei Nancey Murphy genannt, die sichexplizit dagegen verwahrt, schon die Bezeichnung «nonreductive physicalism» für ihre Theorie sei unsinnig(Murphy, Nonreductive Physicalism).

61 Nagel, Mind and Cosmos, S. 13.62 Nagel, Mind and Cosmos, S. 13.63 Nagel, Mind and Cosmos, S. 4.64 Nagel, Mind and Cosmos, S. 26.65 Nagel, Mind and Cosmos, S. 17.66 Dies attestiert Nagel angesichts der Möglichkeit freien Eingreifens Gottes in die Naturordnung auch dem

Theismus (Nagel, Mind and Cosmos, S. 26), räumt aber auch die Möglichkeit eines nicht bloß deskriptivenTheismus ein, der dann allerdings — wiederum spielt die Frage der potestas absoluta herein — keineausreichende Erklärung für die tatsächliche Welt und ihre Entwicklung böte (ibid.).

67 Vgl. Nagel, Mind and Cosmos, S. 22: «My interest is in the territory between [theism and materialism].»68 Nagel, Mind and Cosmos, S. 23, 30.69 Nagel, Mind and Cosmos, S. 25.70 S. u., Abschnitt 3.2.1.2.71 Nagel, Mind and Cosmos, S. 32.72 Nagel, Mind and Cosmos, S. 48f.73 Nagel, Mind and Cosmos, S. 91f.

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3.1. Autor und Text im Kontext

Robert Spaemanns Konzeption ins Gespräch gebracht werden soll (s. u., Kapitel 4).

3.1.2.3. Weitere Vorfragen

Die Qualität der deutschen Übersetzung: Zunächst sind jedoch einige Hinweise zumVerhältnis von englischem Original und deutscher Übersetzung durch Karin Wördemannunerlässlich74. Denn kann hier auch nicht der Ort für philologische Erörterungen sein, so mussdoch die unerfreuliche Häufigkeit eindeutiger sprachlicher Fehler in Wortschatz75, Phraseo-logie76 und Fachsprache77 Erwähnung finden; so irritierend solche Fehler aber auch sind, soleicht sind sie für den Leser meist zu identifizieren. Problematischer, weil weniger augenfällig,sind hingegen stilistische Verschiebungen, zumal wenn sie, wie dies häufig der Fall ist, aufeine Zuspitzung der Aussagen des Originals hinaus laufen und so die ohnedies vorhande-ne rhetorische Qualität noch verstärken78. Als ganz besonders problematisch erweisen sichallerdings gewisse terminologische Entscheidungen der Übersetzerin, die mehr von sprachge-schichtlicher Nähe denn von der Übereinstimmung der Bedeutungsspektren in Ausgangs- undZielsprache motiviert zu sein scheinen: So wird etwa das englische «physical» durchgängigals «physikalisch» wiedergegeben, selbst wenn erkennbarerweise «physisch» oder «materiell»gemeint ist. Dieselbe Vorliebe der Übersetzerin für etymologisch verwandte Termini schlägtsich in der Übersetzung von «intention» mit «Intention» nieder, was zwar noch durchausim Sinn von «Absicht» verstanden werden kann (wenngleich im Englischen der Aspekt derIntentionalität völlig fehlt), doch ist die dadurch ausgelöste Wiedergabe des von «intention»wohl unterschiedenen «purpose» («Zweck, Ziel») mit «Absicht» keinesfalls akzeptabel, legtsie doch ein der Bedeutung von «intention» nicht entsprechendes Verständnis von «Intention»nahe. Ähnlich verunklarend wirkt etwa auch die Übersetzung von «subjectivity» als «Subjekti-vität», wo «Subjekthaftigkeit» das Gemeinte besser zum Ausdruck brächte, da «Subjektivität»im Deutschen ja geradezu durch jene Bedingtheit gekennzeichnet ist, die evolutionistischeDeutungen vorstellbarerweise wohl zu erklären im Stande sein sollten, während Nagel geradedas Unbedingte der Erste-Person-Perspektive herausstellen will. — Es sind diese und weitereBeobachtungen zur Qualität der deutschen Übersetzung, die es geraten erscheinen lassen, trotzder Unschönheit des häufigen Sprachwechsels möglichst durchwegs auf den englischen Textzu verweisen, wie dies auch bisher geschehen ist, und der deutschen Ausgabe entnommeneFormulierungen nur dort aufzugreifen, wo die Übersetzung als harmlos zu erachten ist.

74 Bei der Illustration der Problematik der Wördemann’schen Übersetzung beschränken wir uns hier aufeinen willkürlich herausgegriffenen Ausschnitt des zweiten Kapitels, Seiten 13–22 der englischen bzw. 26–39der deutschen Ausgabe. Die Zuordnung der angegebenen Seitenzahlen zu den beiden Sprachversionensollte offensichtlich sein.

75 Beispielsweise «straightforward» (S. 21; «geradlinig» statt korrekt «direkt, einfach, ganz normal, unkom-pliziert»: S. 37); «austere» (S. 22; «sparsam» statt korrekt «nüchtern, karg»: S. 39). — S. a. Fußnote 205(S. 72).

76 Beispielsweise «something more is needed» (S. 20; «etwas mehr» statt korrekt «noch etwas anderes istnötig»: S. 36).

77 Beispielsweise «basic physics» (S. 19; «Elementarteilchenphysik» statt korrekt «Grundlagenphysik»: S. 34);«most unified physical laws» (S. 20; «einheitlichste physikalische Gesetze» statt korrekt «vereinheitlichstephysikalische Gesetze»: S. 36): auf die inhaltliche Problematik dieses Ausdruckes wurde bereits hingewiesen(vgl. Fußnote 26 (S. 46)); man vergleiche auch Fußnote 48 (S. 49).

78 Beispielsweise wird aus «The situation may be more serious than that» (S. 14) das deutlich dramatischere«Die Situation könnte aber auch noch ernster sein» (S. 27).

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

Weitere einschlägige Texte Nagels: Aus der bisherigen Charakterisierung von Autorund Text wird deutlich, dass Mind and Cosmos in seiner Betonung der Irreduzibilität derErste-Person-Perspektive auf eine Dritte-Person-Perspektive, wie sie v. a. Gegenstand desBewusstseinskapitels (Kapitel 2) ist, durchaus in Kontinuität zu früheren Arbeiten steht;dementsprechend ist es wenig überraschend, dass unter den spärlichen Literaturhinweisenin Mind and Cosmos immer wieder auch Nagels eigene Texte als Ausgangspunkt oderWeiterführung einer Argumentation explizit Erwähnung finden: Allen voran ist hier jedenfallsThe Psychophysical Nexus79,80, «a flagrant example of metaphysical realism»81, zu nennen,in welchem Aufsatz Nagel nachzuweisen sucht, dass die Verbindung von Physischem undMentalem, von Gehirn- und Bewusstseinszuständen, entgegen dem Anschein im Sinne einer«nonconceptual but necessary truth that each conscious mental state has the physiologicalproperties that it has»82 notwendig ist; bemerkenswerterweise wird bereits hier ausgesprochen,dass die bloße Addition von Qualia etc. zum Physischen ohne eine tiefere, monistisch zudenkende Verbindung nicht ausreichen kann83. — Daneben referenziert Mind and Cosmosauch noch das Panpsychism-Kapitel in Mortal Questions84, und Unterkapitel 4.3 verstehtsich als Fortführung des letzten Kapitels von The Last Word85.

Doch all diese (angesichts seines gleichbleibend antireduktionistischen Anliegens verständli-chen) Ähnlichkeiten und Berührungspunkte ändern nichts daran, dass Nagel, wie wir bereitsim Zusammenhang mit What is it like to be a bat? erwähnten86, mit Mind and Cosmos einedurchaus andere Position vorlegt, als er sie früher vertreten hat: Nicht mehr die Subjektivitätder phänomenalen Eigenschaften eines Quale ist der Hebel, den Nagel gegen ein reduktivesSelbst- und Weltverständnis ansetzt, sondern mit Geltungsansprüchen verbundenes Geistiges;und mit seinem Vorschlag einer immanenten Teleologie versucht Nagel den Weg zu einereinheitlichen und gesamthaften Erklärung des Kosmos in Existenz und Entwicklung zu weisen.

3.2. Nagels Teleologiekonzeption

3.2.1. Teleologie als Prägung des Kosmos

3.2.1.1. Erklärung und Wahrscheinlichkeit

«I am putting a great deal of weight on the idea of explanation»87: Nicht wenig hängt beiThomas Nagel an einem anspruchsvollen — vielleicht auch zu anspruchsvollen88 — Erklärungs-

79 Nagel, Mind and Cosmos, S. 42, 57f.80 Dieser Text verweist seinerseits auf Nagels The View From Nowhere sowie auf die in Mortal Questions

enthaltenen Artikel Brain Bisection and the Unity of Consciousness und What is it like to be a bat?(Nagel, Psychophysical Nexus, S. 202, 226, 233).

81 Nagel, Concealment , Preface.82 Nagel, Psychophysical Nexus, S. 213; ähnlich auch Nagel, Mind and Cosmos, S. 41.83 Nagel, Psychophysical Nexus, S. 224.84 Nagel, Mind and Cosmos, S. 57f.85 Nagel, Mind and Cosmos, S. 79.86 S. o., S. 45.87 Nagel, Mind and Cosmos, S. 47.88 «One potential point against Nagel is that the kind of explanation he demands is too strong since we do

not demand it of other brute facts of physical science» (Ritterbush, Mind and Cosmos, S. 290).

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

begriff. Zum einen erlaubt ihm dieser, den Naturalismus als nicht ausreichend erklärungsstarkanzugreifen; zum anderen aber zielt er direkt auf das Konzept der Intelligibilität, einen derSchlüsselbegriffe seiner Sicht; und zum dritten ist er direkt für die auf getrennte Behandlungvon konstitutiver wie historischer Frage abstellenden Struktur der Darstellungen in denKapiteln 3 bis 5 verantwortlich89. Wesentlich ist dabei, dass eine Erklärung ein durchgängi-ges und einheitliches Verstehen erlauben, also einen Sachverhalt unter einem einheitlichenGesichtspunkt verständlich machen können muss, was jedenfalls mehr ist als das bloße Nach-vollziehen eines Zustandekommens; es ist diese Differenz, die Nagel gegen reduktionistischeErklärungsversuche in Anschlag bringt, um deren Ungenügen aufzuweisen. Unmittelbar deut-lich wird diese Differenz bei der auch von Nagel als Beispiel herangezogenen90 Operation einesTaschenrechners bei Stellung der Rechenaufgabe «3 + 5 = ?»: Während es einerseits keinprinzipielles Problem darstellt, empirisch die Potentiale an den einzelnen elektronischen Bau-teilen zu verfolgen und so das Zustandekommen jenes Musters geschalteter Displayelemente,das vom Benutzer als 8 gelesen wird, zu erforschen, mithin die deterministische Folgerung derAusgabe aus der Eingabe zu erkennen und — sogar unabhängig von jeglichem Wissen um dievon uns Menschen entwickelte Mathematik — die von dem Gerät implementierte Algebrazu erheben, ist damit doch noch lange nicht die Tatsache erklärt, dass Ein- und Ausgabe,nach konventioneller mathematischer Notation interpretiert, einen wahren Zusammenhangdarstellen. Ist aber, um die Korrektheit beliebiger Berechnungen zu verstehen, der Rekursauf die die Übereinstimmung mit in konventioneller Notation ausgedrückten mathematischenWahrheiten anzielende Absicht des Konstrukteurs91 erforderlich, so erweist sich das Beispieldes Taschenrechners92 damit als ein Fall einer größeren Klasse von Erklärungen.Die Denkfigur der «konjunktiven Erklärung» («conjunctive explanation»93) erweist sich

dabei insgesamt entscheidend für die Anlage des Buches wie für die Gestalt seiner Argumen-tation: Dabei handelt es sich um eine in zwei Schritten erfolgende, aus der Erklärung einesDritten und der Folgerung94 aus diesem Dritten zusammengesetzte, über diese Zusammen-setzung aber vermittels der Erkenntnis eines inneren Zusammenhangs der beiden Schritte89 S. u., Abschnitt 3.2.1.3.90 Nagel, Mind and Cosmos, S. 48, 51f. — Unsere Ausführung an dieser Stelle geht allerdings über Nagels

recht knappen Verweis hinaus.91 «Designer» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 48); dass Nagel in diesem Zusammenhang von «algorithm»

statt von der Konstruktion des Taschenrechners spricht, werten wir als einen weiteren harmlosen Irrtum.Dem steht freilich das Faktum mehrfacher ungenügender Berücksichtigung der konkreten materiellenGegebenheiten in Mind and Cosmos entgegen, das sich in einem der Idee eines neutralen Monismus Hohnsprechenden, insgesamt zweifelhaften Status der Materie niederschlägt (s. u., Abschnitt 3.2.2.1). Jedenfallssteht auch der neutrale (Substanz-)Monismus, den Nagel «in irgendeiner Form» favorisiert («some form ofneutral monism»: S. 5) zumindest in großer Nähe zum Mentalismus (wie sie unweigerlich entsteht, wennin einer [nach Illies’ Nomenklatur] synthetischen Konzeption ein Vernunftprinzip als verbindendendesDrittes zu Geist und Materie tritt: vgl. Illies, Philosophische Anthropologie, S. 38–44) bzw. wird vielfach— so etwa von Popper, so anscheinend auch von Nagel selbst (Nagel, Psychophysical Nexus, S. 210) —als versteckter Mentalismus analysiert: die vorgeblich «neutralen» Elemente seien in Wahrheit «mental»(Stubenberg, Neutral Monism, Abschnitt 7.1).

92 Man beachte, dass das zu Erklärende in diesem Beispiel nicht das durch die Eingabe der Rechenaufgabe«3 + 5 = ?» ausgelöste Erscheinen der Ziffer 8 in der Anzeige sondern vielmehr die Korrektheit allerinnerhalb der Spezifikationen des Gerätes liegenden Rechenaufgaben ist.

93 Nagel, Mind and Cosmos, S. 51–53.94 Nur an einer Stelle wird auch dem zweiten Schritt der Status einer Erklärung zugewiesen; zur diesbezügli-

chen Diskussion s. u., S. 61.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

hinausgehende Form von Erklärung. Bedauerlicherweise diskutiert Nagel diese Struktur kaumabstrakt und allgemein sondern stellt sie vorwiegend anhand nur zweier Beispiele dar, bevor ersie auf seine Fragestellung anwendet; wie wir sehen werden, ist dabei eine gewisse Ambivalenzzwischen den Beispielen und ihrer Diskussion durch Nagel auszumachen und erweist sichder so spezifizierte Erklärungsbegriff letztlich als nicht neutral bezüglich der Möglichkeitteleologischer Begründung.

Interpretation von Unterkapitel 3.3: Gerade aufgrund unleugbarer Spannungen zwischenBeispielen und zugehörigem Kommentar bereitet das Verstehen der einschlägigen Passage95

gewisse Schwierigkeiten; um angesichts dessen etwas mehr Klarheit zu gewinnen, sollen im Zugder nun folgenden exegetischen Bemühungen die relevanten Inhalte in eine kompakte formaleNotation übersetzt werden, als deren Grundlage wir die je zwei äquivalenten Schreibweisen96

exy ≡ x ; y

für die Erklärung durch x von y sowie

fxy ≡ x→ y

für die (u. U. die Form kausaler Verursachung97 annehmende) Folgerung aus x von y einführen.Offenkundig sind beide Relationen, exy wie fxy, transitiv, und der stärkere Erklärungsbegriffenthält auch den schwächeren der Folgerung, exy ⇒ fxy; des Weiteren hält Nagel fest, dassfür keine der beiden Relationen eine völlige Regelmäßigkeit des Zusammenhangs zu fordernist sondern vielmehr auch nur dessen hinreichende Plausibilität unter die Relation fällt98.Eine in diesem Sinne «konjunktive» Erklärung von C durch A wäre eine solche, die, vonder Erklärung A ; B und der Folgerung B → C ausgehend, C aus A erklärt, A ; C. ImAllgemeinen können dies nach Nagel die beiden Ausgangsrelationen selbst nicht leisten,

eAB ∧ fBC 6⇒ eAC . (3.1)

Nun läge es nahe, dies auf die unterschiedliche Erklärungskraft von Folgerung und Erklärungzurückzuführen99, doch formuliert Nagel einmal auch das Äquivalent von

eAB ∧ eBC 6⇒ eAC

und liegt unserem Verständnis nach der eigentliche Grund in der fehlenden Einheit derErklärung100. Jedenfalls illustriert Nagel das in Gl. (3.1) ausgedrückte Ungenügen des Zusam-

95 Es handelt sich i.W. um Unterkapitel 3.3 (Nagel, Mind and Cosmos, S. 47–53).96 Die Wahl zwischen Subscript- oder Pfeilnotation erfolgt rein pragmatisch bzw. nach Maßgabe der Lesbarkeit.

Von den im Folgenden verwendeten Symbolen treten bei Nagel nur A, B und C für die drei in einerkonjunktiven Erklärung verbundenen Sachverhalte auf.

97 «Causation» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 47).98 Nagel, Mind and Cosmos , S. 52; ähnlich auch S. 46, 47, 53. — Für die Problematik von Nagels Insistieren

auf Wahrscheinlichkeitsargumentationen, die wir an dieser Stelle noch aussparen wollen, s. u., S. 59.99 Diese Sichtweise stützte auch Nagels (in unserer Lesart irreführende) Gegenüberstellung von «causation»

und «explanation» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 47).100 S. u., S. 61.

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

mentreffens von Erklärung und Folgerung an einigen Beispielen: Im Fall des Taschenrechners(s. o.) sind die Elemente jedenfalls dessen Konstruktion101 A, der durch die Konstruktionerklärte Rechenprozess B vom Tastendruck bis zur Ergebnisanzeige sowie die nach Maßgabeder Übereinstimmung der in Eingabe und Anzeige (Tastenbeschriftung, Displayelemente)gebrauchten Symbole zu beurteilende mathematische Korrektheit C des angezeigten Ergeb-nisses102; ein anderes Beispiel betrifft die Todesursachen A einer einzigen Familie angehörigerPersonen, deren dadurch erklärte Todesfälle B und die Häufung C von Todesfällen in ei-ner Familie: «We can explain why four people died who are in fact members of the samefamily, without explaining why four members of the same family died»,103 bringt Nagel denUnterschied, um den es ihm zu tun ist, auf den Punkt.

Für jene Nachvollziehbarkeit des Gedankenganges von A über B zu C, die die Verstehbarkeitvon C aus A, mithin dessen Erklärung eAC durch A, begründet, ist demnach ein zu eAB undfBC hinzutretender, engerer innerer Zusammenhang zAC von A und C erforderlich104, unddas Schema konjunktiver Erklärung stellt sich als

eAB ∧ fBC ∧ zAC ⇒ A ; C (3.2)

dar. Nun besteht aber nach Nagel der Zusammenhang zAC in «something about A that makesC a likely consequence»105, also

zAC =(A ; (A→ C)

), (3.3)

doch lässt sich von den Beispielen, die Nagel bringt, nur eines, nämlich der Fall einer erblichen,in Familien somit gehäuft auftretenden Krankheit als Todesursache, diesem Modell, in demdas «something» dem A anhaftet, subsumieren.

Entgegen Nagels expliziten Aussagen verlegen die übrigen Beispielfälle zAC in das Auftreteneines zusätzlichen äußeren Faktors, ZAC , nämlich die Intention des Konstrukteurs des Ta-schenrechners, konventionell verstandene Rechnungen korrekt zu implementieren,106 bzw. ineine Blutrache («Vendetta»107) oder auch in den bereits genannten erblichen Gendefekt108

(der aber, wie eben erwähnt, als Voraussetzung der Erbkrankheit A auch dieser zugerechnetwerden kann), und geben so dem Zusammenhang zAC die Form

zAC = z(ZAC) = (ZAC ; A) ∧[∀B : (ZAC ; B) ∧ (B → C)⇒ (B ; C)

]. (3.4)

Der äußere Faktor ZAC erklärt demnach sowohl das Auftreten von A als auch, dass für eindurch ZAC erklärtes109 B, das seinerseits C zur Folge hat, die Folge fBC zu einer Erklärung

101 Vgl. aber Fußnote 91 (S. 55).102 Nagel, Mind and Cosmos, S. 48.103 Nagel, Mind and Cosmos, S. 51.104 Nagel, Mind and Cosmos, S. 52.105 Nagel, Mind and Cosmos, S. 52. — Zu Nagels für die Herstellung eines erklärenden Zusammenhanges ja

nicht benötigtes Insistieren auf einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit («likely») s. u., S. 59.106 Nagel, Mind and Cosmos, S. 48.107 Nagel, Mind and Cosmos, S. 48.108 Nagel, Mind and Cosmos, S. 48, 52.109 Diese Erklärung kann dabei durchaus über A vermittelt sein, also durch das Hinzutreten von A ; B zur

in z(ZAC) ohnedies enthaltenen Erklärung ZAC ; A entstehen.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

eBC wird; letztere liefert wegen der durch ZAC gestifteten Einheit der Erklärung110 und inVerbindung mit der Transitivität der Erklärungsrelation zusammen mit dem vorausgesetzteneAB tatsächlich die gesuchte Erklärung eAC von C durch A und erfüllt somit Gl. (3.2); Nagels«something about A» erweist sich dann als dessen Erklärtheit durch ZAC , die vermittels desvon ZAC gestifteten Zusammenhanges z(ZAC) auch auf C durchschlägt.

Fassen wir die so erhaltene Struktur der Erklärung nach Gln. (3.2) und (3.4) kompaktzusammen, so sehen wir, dass hier ZAC letztlich einen Kontext eröffnet, innerhalb dessen eineFolge als Erklärung auftreten und in weiterer Folge A, über B vermittelt, C erklären kann.Doch bereits die Notation — nach Anwendung von Gl. (3.4) tritt ZAC nur auf der linken Seiteder Gl. (3.2) als freie Variable auf — gibt uns einen Hinweis auf die Problematik dieser ausNagels Kommentaren und Beispielen gewonnenen Sichtweise. Naheliegender wäre es, entwederdas Zusammenwirken aller auftretenden Faktoren insgesamt als Erklärung von C anzusetzen,(

eAB ∧ fBC ∧ z(ZAC)); C ,

oder aber dem bei Nagel nicht explizit gemachten Zusätzlichen, ZAC , die entscheidende Rollefür die Erklärung zuzusprechen,(

eAB ∧ fBC ∧ z(ZAC))⇒ (ZAC ; C) ,

wie dies auch Nagels Beispiele nahe legen: viel eher würden wir nämlich die Intention desTaschenrechnerkonstrukteurs, den Gendefekt oder die Blutrache denn die faktische Konstruk-tion oder die einzelnen Todesursachen zur Erklärung von Korrektheit des Rechenergebnissesbzw. familiärer Todesfallshäufung heranziehen; zudem gerät die Begründung der ZAC nichtmehr explizit enthaltenden Erklärungsrelation A ; C in eine gewisse Nähe zu einer unvoll-ständigen Erklärung, wie Nagel sie oftmals ablehnt. Damit aber zielen Nagels Ausführungenzur konjunktiven Erklärung eigentlich auf jenes Zusätzliche, ZAC , ab, das den inneren Zu-sammenhang von A und C stiftet. — Ein möglicher Grund, weshalb Nagel A statt ZAC

herausstellt, ist deren unterschiedliche Zugänglichkeit bzw. Konkretheit: eine Konstruktionist jedenfalls weniger abstrakt als eine Intention, tödliche Krankheiten sind greifbarer als dieGendefekte, die diese verursachen können u.s.w., sodass sich erstere eher als Ausgangspunktder Erklärung, letztere hingegen als Endpunkt der Suche nach Verständlichmachung anbieten.

Teleologienähe des Erklärungsbegriffs: In Nagels Text freilich ist ZAC sowohl, wie ebenbemerkt, gegenüber A als auch, wo von den Erfordernissen einer konjunktiven Erklärung dieRede ist, gegenüber dem Zusammenhang zAC deutlich unterbetont. Die Folge ist eine gewisseVerunklarung der über die in ZAC enthaltene, über A und voraussetzungsgemäß aus diesemerklärtes B verlaufende Gerichtetheit auf C signifikant hinausgehenden Nähe der von Nageldiskutierten Erklärungsstruktur zu teleologischen Deutungen, die sich nahtlos in jene Struktureinfügen: Betrachten wir nämlich die beiden Terme von z(ZAC) nach Gl. (3.4), ZAC ; Aund ∀B : (ZAC ; B) ∧ (B → C)⇒ (B ; C), etwas genauer, so legt sich eine Interpretationnach dem Paradigma zielgerichteten Handelns zwanglos nahe: Spezialisieren wir nämlichzunächst den zweiten Term auf das uns jeweils interessierende B, so erhalten wir offensichtlich

110 Dieser Aspekt ist bei Nagel nicht hinreichend deutlich herausgestellt; für die Rechtfertigung unserer Lesartund weitere Überlegungen dazu s. u., S. 61.

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

(ZAC ; B)∧ (B → C)⇒ (B ; C). Dies aber besagt, dass innerhalb des von ZAC eröffneten,besagte Gerichtetheit auf C enthaltenden und B erklärenden (ZAC ; B) Kontexts zurErklärung (B ; C) von C aus B nur des letzteren Tauglichkeit (B → C) als Mittel zurErreichung von C genügt. Wie das Beispiel der durch einen Gendefekt hervorgerufenenTodesfallhäufung deutlich macht, impliziert die in den aus Nagels Text zu erhebende Strukturkonjunktiver Erklärungen notwendig auftretende Tauglichkeit als Mittel keineswegs denbewusst handelnden, an Zielen orientierten Gebrauch als solches, und tatsächlich tritt solcheTauglichkeit in Nagels teleologischer Konzeption letztlich in Gestalt von Zuständen «onthe path to a certain outcome»111 auf; die Kombination von Gerichtetheit und Eignungals Mittel112 jedoch ergibt unmittelbar eine große Nähe zu Zwecke ergreifendem und Zieleverfolgendem Handeln. Wo dieses tatsächlich vorliegt, die Gerichtetheit von ZAC und derdurch ihn gestiftete, Verständlichkeit bewirkende innere Zusammenhang z(ZAC) mithinals Zweckhandeln zu verstehen sind, wird A als direkt ergriffenes Mittel zum Zweck Cverständlich — der erste Term von z(ZAC) sagt dies explizit aus: ZAC ; A —, wobei in dieWahl dieses Mittels die Verstehbarkeit des vorausgesetzten Zusammenhangs eAB und dasWissen um die Tauglichkeit von B als Mittel für C, fAB, somit genau die beiden am Beginnder Auseinandersetzung mit der Frage konjunktiver Erklärungen stehenden Informationen(vgl. die linke Seite von Gl. (3.1)), eingehen.

Insgesamt erweist sich damit Nagels Wahl des Erklärungsbegriff, den er ja seiner ganzenDarstellung in Mind and Cosmos zugrundelegt, als Vorentscheidung, die eine teleologischeDeutung zwar noch nicht zwingend nach sich zieht, sie aber unzweifelhaft nahelegt undgegenüber der Frage der Teleologie jedenfalls nicht als neutral anzusehen ist.

Nagels Wahrscheinlichkeitsargument: Weitgehend ausgespart haben wir in der bisherigenDarstellung von Nagels Theorie konjunktiver Erklärungen einen nicht auf diese beschränkten,sie aber ebenso betreffenden Aspekt, nämlich Nagels Insistieren auf Wahrscheinlichkeits-bzw. Plausibilitätsaussagen und -abschätzungen; beispielsweise schreibt Nagel, dass derZusammenhang von A und C dergestalt sein soll, dass A C als wahrscheinliche Folge nachsich zieht113, und auch die als Beispiel erwähnte tödliche Erbkrankheit muss nach Nagel eineseltene sein114, um als Erklärung familiärer Todesfallhäufung zu taugen.Stellt man diesen Aspekt in den Vordergrund und interpretiert die Wahrscheinlichkeit in

statistischem Sinn — «likely» wäre dann einer Eintretenswahrscheinlichkeit p > 12gleichzu-

setzen —, so ergeben sich mannigfache Schwierigkeiten bis hin zu Unsinnigkeiten, wie sieetwa von David Yates in seiner Rezension115 von Mind and Cosmos in den Vordergrundgestellt werden116. Vor allem aber ist unmittelbar einsichtig, dass eine solche Interpretationan der Gesamtlinie der Passage vorbeigeht und der Zielrichtung von Nagels Argumentation111 Nagel, Mind and Cosmos, S. 93.112 Wegen exy ⇒ fxy ist übrigens auch A als Mittel zur Erreichung von B geeignet.113 «That makes C a likely consequence» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 52).114 «The same rare hereditary disease» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 52).115 Yates, Mind and Cosmos.116 Unserem Verständnis nach erkennt Yates zwar richtig die grundlegende Stellung des Erklärungsbegriffs für

Nagels Darstellung, und auch die erhobene Kritik an dessen Wahrscheinlichkeitsaspekt ist teilweise valide;die Übersetzung von «likely» in p > 1

2 aber bringt eine Zuspitzung mit sich, die u. E. nicht gerechtfertigt ist,und letztlich verhindert Yates’ Fokus eine adäquate Befassung mit Nagels Vorschlag einer teleologischenWeltdeutung.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

geradewegs zuwider läuft: Ginge es nämlich tatsächlich um Wahrscheinlichkeiten, so könntedie Erklärtheit von A durch ZAC (s. o.) diesem Erklärten wie auch seiner wahrscheinlichenFolge gänzlich äußerlich sein, während Nagel ja gerade auf einem verständlichen innerenZusammenhang117 beharrt; und dass bloße Korrelation Nagel als Erklärung nicht genügenkann und vielmehr den Vorwurf einer faulen Vernunft118 zeitigte, liegt ebenso auf der Hand.Ein Beispiel für eine solche Korrelation, bei der nichts zu verstehen ist, nämlich die funktionalbedeutungslose, nicht in Nagels Sinn zu verstehende und doch naturwissenschaftlich nach-vollziehbare Röte von Blut, erwähnt Nagel übrigens in Auseinandersetzung mit Elliott Soberexplizit119; und auch andere empirisch auffindbare und zumindest statistisch absicherbareKorrelationen — unter ihnen nicht zuletzt die nicht unwesentliche Korrelationen bestimmterphysiologischer Strukturen wie Gehirn und Zentralnervensystem mit Bewusstsein oder auchGeist — sind leicht zu benennen, die schon als Erkärung zu akzeptieren einen Verzicht aufVerständnis und letztlich auch schon die Akzeptanz der materialistisch-reduktionistischenAgenda bedeutete: immerhin machen gerade deren Vertreter solche Befunde (sowie ihrenOptimismus120, eine weiter reichende Erklärung werde schon noch gelingen) geltend. Eine aufWahrscheinlichkeiten und Korrelationen abstellende Interpretation von Nagels Aussagen zurStruktur konjunktiver Erklärungen muss jedenfalls als nicht sachgerecht abgewiesen werden.

Doch kann es legitim sein, sich über Nagels Wortlaut einfach hinwegzusetzen? Dafür musszumindest gezeigt werden, was jener Gehalt sein könnte, der Nagels Rede von Wahrscheinlich-keiten motivierte, uns aber ein konsistentes Verstehen seiner Position als sinnvolle erlaubt. Hiersei deshalb kurz auf dreierlei verwiesen: Zum einen mag es terminologische Schwierigkeitengeben, weil in der Alltagssprache, deren sich Nagel in Mind and Cosmos, der populärenZielsetzung des Werkes entsprechend, ja bedient, vielleicht aber auch in einer von der Befas-sung mit gewissen statistischen Methoden, insbesondere mit Schätztheorie, nicht belastetengeisteswissenschaftlichen Fachsprache die Scheidung von Wahrscheinlichkeit («probability»)und Plausibilität («likelihood») nicht ausreichend stark verankert ist, wie auch Nagel beideWortfelder äquivalent zu verwenden scheint; zum zweiten aber tritt die keineswegs auf dieBehandlung konjunktiver Erklärungen beschränkte Bezugnahme auf «Wahrscheinlichkeiten»primär an einem ganz spezifischen Ort auf, nämlich dort, wo Nagel die sich eben sehr starkauf Wahrscheinlichkeits- und Plausibilitätsabschätzungen stützende Naturalismuskritik derVertreter des Intelligent Design aufnimmt121,122, und so liegt es für Nagel vielleicht nahe, nicht

117 «Some further, internal relation» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 52).118 Diesen Vorwurf erhebt Nagel an anderer Stelle unmissverständlich gegen szientistische Positionen: «But

perhaps part of the appeal of this conception is that if the laws are simple enough, we can come to restwith them and be content to say that this is just how things are» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 20).

119 Nagel, Mind and Cosmos, S. 50.120 «Scientific optimists» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 20).121 Für die Frage der Stichhaltigkeit der von Vertretern des Intelligent Design vorgelegten und von Nagel

aufgegriffenen Wahrscheinlichkeitsspekulationen s. o., Fußnote 34 (S. 47).122 Bei jener Spielart des Wahrscheinlichkeitsarguments, die von einem «fine tuning» grundlegender Natur-

konstanten ihren Ausgang nimmt, erhebt sich zudem der Verdacht einer unbegründeten und unzulässigenHypostasierung dieser Kopplungsfaktoren: Soweit sie in dem jeweiligen Naturgesetz beschrieben ist, wirddie Welt dann offensichtlich als eine gedacht, in der der mathematischen Form unserer Beschreibung eineRealität zukäme, die von der der in dem Gesetz auftretenden Parameter zu unterscheiden wäre — undauch dies nur, solange die empirisch gefundenen Werte nicht durch Zusatzüberlegungen, durch die Evidenzglatter Zahlen oder durch Zurückführung auf noch grundlegendere Größen plausibilisiert sind.

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

den Status als bloße empirisch erhobene Korrelation (die ja im Prinzip auch im Nagel’schenSinne noch erklärt werden könnte) sondern vielmehr deren fälschlich als Unwahrscheinlichkeitangesprochene Implausibilität hervorzuheben, woraus sich im Umkehrschluss die Forderungnach Wahrscheinlichkeit bzw. Plausibilität des Erklärungszusammenhanges ergibt123; zumdritten aber zeigt gerade Nagels Betonung der im Beispiel für eine Erklärung erforderlichenSeltenheit der Erbkrankheit124 (s. o.), dass es ihm vielmehr um die Erkennbarkeit (qua Signi-fikanz) eines erklärungskräftigen Zusammenhanges angesichts eines bemerkenswerten (weilseltenen) Sachverhalts zu tun ist, denn offenkundig erklärte eine weit verbreitete Erbkrankheitdie Häufung der Todesfälle innerhalb einer Familie mindestens ebenso gut125.

Einheit der Erklärung als eigentlicher Zielpunkt Nagels: Sehen wir im Folgenden dahervon Wahrscheinlichkeiten und Korrelationen als für Nagels Konzeption unwesentlichen, teilsauch irreführenden Elementen seiner Darstellung ab, so ist doch ein anderer, für Nagelzentraler und doch in der Behandlung der Struktur konjunktiver Erklärungen nicht ausreichendbetonter Gehalt auszumachen, der vermittels einer «internal relation»126 von Teilerklärungenden Wahrscheinlichkeitszuwachs des Ergebnisses wie auch die Korrelation unterschiedlicherSachverhalte plausibel zu machen in der Lage ist: denn immerhin erklärt ZAC , wie denGleichungen unschwer abzulesen ist, sowohl A als auch B als auch C; und die in ZAC

begründete Einheit der Erklärung zieht auch eine allenfalls auch statistisch fassbare Korrelationvon A, B und C nach sich.

Unserem Verständnis nach ist nämlich gerade diese Einheit der konjunktiven (und folglichzusammengesetzten) Erklärung der eigentliche Sinn von Nagels Wahrscheinlichkeitsbezügenzumindest in diesem Kontext sowie der Zielpunkt seiner Ausführungen in Unterkapitel 3.3überhaupt; dies belegt v. a. die weitere Anwendung auf die Fragestellung von Mind andCosmos, mithin die Stellung in Nagels Gesamtkonzeption. Gestützt wird dies freilich auchdurch eine bereits erwähnte Formulierung, die nicht das Zusammentreten von Erklärungund Folgerung sondern vielmehr zweier unabhängiger Erklärungen in einer konjunktivenErklärung impliziert: So legt die Wendung «between the way A explains B and the way Bexplains C»127, den sonstigen Ausführungen und Beispielen Nagels entgegen, nahe, dass seineÜberlegungen zu konjunktiven Erklärungen selbst dann noch gelten, wenn auch der zweiteSchritt von B zu C den Status einer Erklärung (im Gegensatz zu bloßer Implikation) hat. MitBlick auf die sonstigen Formulierungen und die Beispiele ist dies zwar als ein Versehen Nagelszu werten, doch liegt es tatsächlich ganz auf der Linie seiner Argumentation, insoferne diese

123 In diesen Zusammenhang gehört auch Nagels unangemessen oberflächliches und polemisches kurzesEingehen auf das sog. schwache anthropische Prinzip, also die einfache Überlegung, dass wir nur zu einemUniversum, in dem es uns gibt und in dem daher auch die Bedingungen menschlichen Lebens vorliegen,Zugang haben (Nagel, Mind and Cosmos, S. 95, Fußnote 9). Soferne nämlich eine Pluralität von Weltena priori nicht ausgeschlossen werden kann, ist das anthropische Prinzip offensichtlich geeignet, Nagelsdiesbezügliche, an einer Unspezifiziertheit der zugrundeliegenden Gesamtheit und des anzusetzendenstatistischen Maßes krankenden Wahrscheinlichkeitsargumentationen den Boden zu entziehen.

124 Nagel, Mind and Cosmos, S. 52.125 Entsprechend ist an anderer Stelle auch nur von «a genetic disease» ohne Häufigkeitsbezug die Rede

(Nagel, Mind and Cosmos, S. 48).126 Nagel, Mind and Cosmos, S. 52.127 Nagel, Mind and Cosmos, S. 52.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

nicht auf Wahrscheinlichkeiten oder die Differenz von Erklärung und Folgerung abstellt128

sondern vielmehr die ein einheitliches Verständnis ermöglichende Einheit der anzustrebendenErklärung anzielt. Dies zeigt das Beispiel der Häufung von Todesfällen in einer Familieaufgrund einer «vendetta» deutlich: Während nämlich bei unzusammenhängenden, jeweilsfür sich tödlichen Krankheiten und Unfällen nur eine Erklärung, «why four people died whoare in fact members of the same family»129, erreicht wird, tut die Disparatheit der im Zugeiner Familienfehde gewählten Mordmethoden der Einheit der Erklärung und damit derVerstehbarkeit, «why four members of the same family died»130, keinen Abbruch.

Geben wir aber mit Nagel die Festlegung auf eine bloße Folgerelation B → C im zweitenTeilschritt der konjunktiven Erklärung auf (was schon deshalb angeraten ist, weil ein andererStatus der konstitutiven gegenüber der historischen Antwort auf die Frage nach Geist undKosmos131 nicht auszumachen ist), so schält sich der Aspekt der Einheit selbst einer zusam-mengesetzten Erklärung immer mehr als eigentlicher Gehalt von Nagels anspruchsvollemErklärungsbegriff heraus: Um Nagel als Erklärung zu gelten, müssen sämtliche auftretendenElemente auf ein einziges grundlegendes Explanans bezogen sein.

Beziehen wir uns wie in Nagels expliziten Ausführungen von Unterkapitel 3.3 auf isolierteErklärungszusammenhänge mit nur wenigen Teilschritten, so muss diese starke Einschränkungdes Erklärungsbegriffes als willkürlich und wenig überzeugend erscheinend: Immerhin solltedoch aus A ; B und B ; C jedenfalls eine befriedigende Erklärung von C folgen, selbst wenndie beiden Erklärungsrelationen eAB und eBC ohne inneren Zusammenhang nebeneinanderstehen; gerade dies sagt ja die Transitivität der Erklärungsrelation, von der wir mehrfachGebrauch zu machen hatten, aus. Verständlich wird Nagels Einheitskriterium aber im Blickauf eine umfassende und vollständige Erklärung, wie sowohl Naturalismus132 und Theismusals auch Nagels eigenes Projekt eine zu bieten beanspruchen: Wollen wir uns nämlich nichtNagels Vorwurf eines verfrühten Abbruchs der Naturuntersuchung aussetzen (der eine aufnaturwissenschaftlicher Faktizität aufbauende Sicht freilich immer treffen muss, da die Natur-gesetze selbst keine notwendigen Wahrheiten sein können133), so müssen wir immer weiternach Begründungen fragen, solange dies möglich ist; am Ende kann aber nur ein einzelnes,sich selbst tragendes Erklärendes stehen, da bei einem Nebeneinander mehrerer erklärenderFaktoren deren kontingentes Zusammentreten selbst wieder erklärungsbedürftig wäre.Freilich ist die Existenz einer letzten, sich selbst begründenden, notwendigen Wahrheit —

und damit erst recht die auch nur prinzipielle Möglichkeit eines Vorstoßes zu ihr — keineswegs

128 Deshalb ist auch die Gegenüberstellung von «causation» und «explanation» (Nagel, Mind and Cosmos,S. 47) als missverständlich zu bezeichnen.

129 Nagel, Mind and Cosmos, S. 51.130 Nagel, Mind and Cosmos, S. 51.131 S. u., Abschnitt 3.2.1.3.132 Tatsächlich gehört die Vorstellung einer «completeness in principle of an explanation of everything in

the universe through [the] unification [of the sciences]» zu den «Postulaten» der von Nagel attackierten«naturalistic Weltanschauung» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 4), sind also (nicht nur) in Nagels SichtVollständigkeit und Einheit, damit aber auch Lückenlosigkeit konstitutiv für den materialistischen Natura-lismus, was für Nagels Betonung dieser Aspekte eine Rolle spielen mag; dass diese Vollständigkeit bei denals gegeben hinzunehmenden Naturgesetzen einschließlich der in ihnen auftretenden Naturkonstanten anein Ende kommt, versteht sich dabei von selbst.

133 Nagel, Mind and Cosmos, S. 20f.

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

gesichert134, und nicht wenige (zumal reduktionistisch argumentierende) Teilnehmer an dergrößeren philosophisch-gesellschaftlichen Debatte dürften sie auch verneinen: es ist einebewusste Entscheidung Nagels135, den «worst case» einer Welt mit «only disconnected formsof understanding»136 abzulehnen, vielmehr das «ideal of completeness»137 als maßgeblichanzunehmen und die Suche nach einer «unified conception of the natural world», die die Weltso, wie sie ist, adäquat erklärt, aufzunehmen138.Unausgewiesenermaßen und durch die Stellung im Buch verunklart trifft Nagel mit dem

von ihm anhand der Diskussion konjunktiver Erläuterungen eingeführten Erklärungsbe-griff also wesentliche Vorentscheidungen, die sowohl die Struktur der weiteren Darstellung(s. u., Abschnitt 3.2.1.3) als auch wesentliche Motive und Kriterien seiner Überlegungenund Abwägungen weitgehend bestimmen: Sein Erklärungsbegriff ist nämlich zum einen einteleologienaher, wie denn auch Nagels Projekt insgesamt das einer teleologischen Weltsichtist, enthält zum anderen aber in sich bereits die Forderungen von Vollständigkeit und Einheit,die Nagel an jedes Weltverständnis gestellt wissen möchte; sie finden in den beiden zusam-menhängenden Begriffen einer (durchgängigen und einheitlichen) Naturordnung sowie der(vollständigen) Intelligibilität der Welt ihre Entsprechung.

3.2.1.2. Naturordnung und die Verstehbarkeit der Welt

Diese beiden Begriffe führt Nagel freilich längst vor seinem anspruchsvollen Erklärungsbegriff,wie wir ihn im vorigen Abschnitt herausgearbeitet haben, nämlich v. a. im zweiten Kapitel,ein; der Sache nach aber kann kein Zweifel bestehen, dass es sich dabei um mit Nagels «ideaof explanation» mitgegebene Aspekte handelt: diese ziele nämlich, so Nagel ausdrücklich,«[at] the goal of intelligibility [. . . ] — a goal that assumes the fundamental intelligibility ofthe universe»139, in welcher Verstehbarkeit freilich die Voraussetzung einer zu verstehendenOrdnung der Natur enthalten ist.

Primärer Intelligibilitätsbegriff: Zu den grundlegenden, v. a. in den frühen Teilen vonMind and Cosmos prominent herausgestellten Motiven der Argumentation Nagels zähltzweifellos das der Intelligibilität («intelligibility») der Welt. Diesen Begriff gebraucht Nagelsystematisch zweideutig; als primäre Bedeutung lässt sich unserem Verständnis nach aber,über die eigentliche Wortbedeutung hinausgehend, die vollständige Verstehbarkeit der Weltdurch dieses Verstehens fähige Geistwesen, die selbst Teil dieser Welt sind, ausmachen. Freilichformuliert Nagel dies nie in dieser Klarheit140: das so umrissene Verständnis wird vielmehr vonuns mit Blick auf den Gesamttext und im Interesse einer möglichsten Kohärenz der erfasstenPosition unterstellt, wofür v. a. der aus diesem primären Begriff verständlich zu machende,

134 «Not everything has an explanation in this sense» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 47).135 Man vergleiche etwa den programmatischen Eröffnungsabsatz von Unterkapitel 3.3: «But systematic

features of the world are not coincidences, and I do not believe that we can regard them as brute facts notrequiring explanation. Regularities [. . . ] call out for explanation» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 47).

136 Nagel, Mind and Cosmos, S. 16.137 Nagel, Mind and Cosmos, S. 19.138 Nagel, Mind and Cosmos, S. 46 u. ö..139 Nagel, Mind and Cosmos, S. 47.140 «[Nagel] offers suggestive remarks on what ‹intelligible› means, without ever approaching a definition»

(Yates, Mind and Cosmos, S. 801).

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

durchgängig ambivalente Gebrauch des Intelligibilitätskonzepts141 sowie die Korrespondenzzu Nagels argumentativem Endpunkt, der von uns so genannten «Wahlteleologie»142, denAusschlag geben143.

In dieser seiner vollen, von uns als primär angesehenen, das objektive Charakteristikumder Welt mit dem notwendig subjektiven geistigen Akt eines Wesens derselben Welt zusam-menbindenden Bedeutung begegnet der Intelligibilitätsbegriff in Nagels Text nur selten: zumeinen in der funktionalen Charakterisierung der Intelligibilität als «background condition»144

von (Natur-)Wissenschaft; zum anderen in der quasi als Folgerung präsentierten, tatsächlichaber den nie explizit gemachten Kern des Intelligibilitätsbegriffs ausmachenden «doublerelation of mind to the natural order»145: Die Natur bringt als Teil ihrer selbst Geistwesenhervor, ist aber so beschaffen, dass sie für diese Geistwesen verstehbar ist, was letztlichdie Verstehbarkeit auch der Geistwesen für sich selbst nach sich zieht146. — Eine weitereFolge dieses Doppelverhältnisses besteht in der unlöslichen Verbindung mental-geistiger wiephysischer Aspekte in der Ordnung der Natur, die in der gleichrangigen Behandlung mentalerwie physischer Aspekte der Welt in der Konstruktion eines neuartigen Weltverständnisses,somit in der Zugrundelegung eines neutralen Monismus (oder vorstellbarerweise auch einesDualismus, den Nagel jedoch nicht verfolgt), ihren Niederschlag finden muss.

Intelligibilitätstotalität und Erklärungsbegriff: Um freilich, wie eben angedeutet, in die-sem Doppelverhältnis von Geist und Kosmos den Schluss von der Weltverstehensfähigkeit derGeistwesen «at some level»147 auf deren prinzipielle Selbstverstehensfähigkeit tun zu können,muss freilich mit Thomas Nagel die Vollständigkeit der Intelligibilität der Welt in Anschlaggebracht werden; diese erweist sich dabei als bestimmender Teil einer umfassenderen Totalitätder Intelligibilität, an der die Aspekte von Einheit, Lückenlosigkeit und Umfassendheit unter-schieden werden können. Deren Auftreten und ihre zentrale Stellung (s. u.) müssen dabei inNagels Darstellung durchaus problematisch erscheinen, werden sie doch wie selbstverständlichin Anspruch genommen und sind für etliche seiner argumentativen Schritte unerlässlich, ohneje gesondert eingeführt und begründet worden zu sein148; von der erst später nachgetragenen

141 Zu den abgeleiteten Intelligibilitätsbegriffen s. u., S. 65.142 S. u., Abschnitt 3.2.1.4.143 Darüber hinaus stützt sich unser Verständnis maßgeblich auf die bereits in Fußnote 45 (S. 49) betrachtete,

einige Schwierigkeiten bereitende Passage am Ende von Unterkapitel 2.2: «The intelligibility of the worldis no accident. Mind, in this view, is doubly related to the natural order. Nature is such as to give riseto conscious beings with minds; and it is such as to be comprehensible to such beings» (Nagel, Mindand Cosmos, S. 17). Diese müsste bei einem Verständnis als bloße Verstehbarkeit von außen wie einunstatthaftes rhetorisches Manöver erscheinen; mit dem vorgeschlagenen Intelligibilitätsbegriff hingegenfolgt aus der behaupteten «Intelligibilität der Welt» tatsächlich auch der im Begriff dann bereits enthaltene«doppelte Zusammenhang» von «Geist» und «Naturordnung» unmittelbar.

144 Nagel, Mind and Cosmos, S. 16.145 Nagel, Mind and Cosmos , S. 18; ähnlich auch: «Mind [. . . ] is doubly related to the natural order» (S. 17).146 Nagel, Mind and Cosmos, S. 17.147 Nagel, Mind and Cosmos, S. 17.148 Auch Nagels Darstellungsweise mag hier einen verunklarenden Beitrag leisten: Beispielsweise erwägt er die

Möglichkeit, Verstehbarkeit und Verstehen sei eine prinzipielle Grenze gesetzt, «where there is nothingmore to be said, except ‹This is just how things are.›», zwar kurz, verwirft sie an dieser Stelle aber wieselbstverständlich und argumentationslos — «I am not disposed to see [the situation] in this way» istalles, was er zur Begründung anzuführen hat —, was auf den Leser befremdlich und unlauter wirken mag

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

Behandlung des Erklärungsbegriffes her, wie wir ihn im vorigen Abschnitt präsentiert haben,werden all diese für Nagels Argumentation erforderlichen Elemente aber unmittelbar ver-ständlich: auch dies belegt die von uns vorausgesetzte logische Priorität des von uns an denAnfang dieser Nachzeichnung von Nagels Teleologievorschlag gestellten Erklärungsbegriffesgegenüber den Konzepten von Intelligibilität und Naturordnung.Leitet sich die Totalität der Intelligibilität aber von Nagels Erklärungsbegriff ab, wird

des letzteren überragende Bedeutung für seinen Teleologievorschlag durch die prominenteRolle des Vollständigkeitskriterium in seiner Zurückweisung des Materialismus noch weitergestützt: Nagel macht nämlich geltend, dass wesentlich empirische Zugänge im Letzten nieüber ein «This is just how things are»149 hinaus gelangen können, mithin sämtlich hinterder vorausgesetzten Vollständigkeit der Intelligibilität weit zurückbleiben; v. a. aber ist esgerade die Vollständigkeitsforderung, die uns zwingt (und, a fortiori, berechtigt), auch unsereeigene, von Nagel v. a. in den Kapiteln 4 (Cognition) und 5 (Value) von Mind and Cosmos inihrer Irreduzibilität gegenüber physischer Faktizität verteidigte Wahrheitsfähigkeit, d. i. dieMöglichkeit zur Erhebung von Geltungsansprüchen, zu thematisieren und als Teilaspekt derumfassenden Intelligibilität in ein zu erarbeitendes vollständiges (d. h. lückenloses, umfassendesund einheitliches), folglich auch Geistiges adäquat berücksichtigendes Konzept des Kosmoseinzuordnen. — Umgekehrt erhellt aus der großen Bedeutung der Vollständigkeitsforderungfür Nagels Auseinandersetzung mit reduktiven Materialismen in Kombination mit ihrerAbleitbarkeit aus Nagels anspruchsvollem Erklärungsbegriff auch die enge Verbindung zwischendiesem Erklärungsbegriff und seiner schon kurz angesprochenen Positionskorrektur gegenüberfrüheren Beiträgen zum Leib-Seele-Problem (s. o.): Nicht mehr das rein Mentale der Qualiasondern das in einer auf Verstehenstotalität abstellenden Konzeption unausweichliche genuinGeistige belegt die Existenz auf physische Faktizität nicht reduzibler Phänomene und kannso von Nagel gegen den «bis auf die Zähne bewaffneten» «dominanten wissenschaftlichenNaturalismus»150 angesetzt werden; vermittels der Einheit der Naturordnung als objektiveSeite der totalen Intelligibilität aber kann Nagel auch die dem Buch seinen Titel gebendedurchgängige Prägung des Kosmos durch die Möglichkeit von Geist geltend machen.

Abgeleitete Intelligibilitätsbegriffe: Kam in unseren Überlegungen bislang nur der ur-sprüngliche, in der Verstehbarkeit der Welt für Geistwesen in und als Teil dieser Welt (s. o.)bestehende Intelligibilitätsbegriff zum Tragen, so lassen sich an ihm doch unmittelbar je einesubjektive bzw. objektive Seite ausmachen; von diesen wiederum leiten sich die in NagelsText hauptsächlich begegnenden abgeleiteten Bedeutungen von Intelligibilität ab: zum einendie der objektiv geltenden, prinzipiellen Verstehbarkeit der Welt unter Absehung vom Subjektdieses Verstehens (das etwa zu einem gegebenen Zeitpunkt im Zuge der Evolution noch nichtaufgetreten sein muss); zum anderen aber die einer bestimmten, von konkreten Menschenvertretenen und damit notwendig subjektiven Weise des Verstehens unserer Welt. Dabei istdie Unterscheidung dieser Bedeutungen nur aus dem jeweiligen Kontext möglich (sodass derGebrauch des Intelligibilitätsbegriffes insgesamt zwiespältig ist) und treffen beide Bedeutungenbisweilen auf engstem Raum aufeinander: so etwa, wenn «scientific naturalists» zu wissen

(Nagel, Mind and Cosmos, S. 17).149 Nagel, Mind and Cosmos, S. 17.150 Nagel, Geist und Kosmos, S. 181.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

meinen, dass «mentalistic, teleological, or evaluative intelligibility» überholt sei — hier sindoffensichtlich Verstehensweisen aus der philosophischen Tradition angesprochen —, gleichdarauf aber annehmen «that the natural order is intelligible» sowie dass «its intelligibility hasa certain form», was sich offenkundig auf eine Eigenschaft des Kosmos bzw. der Naturordnungbezieht151. — (Eine dritte Bedeutungsnuance ist übrigens mit dem einmaligen Bezug aufeine «intelligibility (to us)»152 gegeben, die, wie aus dem unmittelbar vorausgehenden Bezugzur «double relation of mind to the natural order» erhellt, beide Aspekte anspricht, dasSchwergewicht aber auf die subjektive Verstehensfähigkeit legt.)

Als subjektive Verstehensform aufgefasst, ist jedenfalls mit einer Pluralität unterschiedlicher,auch inkompatibler und gegebenenfalls dem Totalitätskriterium nicht genügender Intelligi-bilitäten zu rechnen, deren einige Nagel auflistet153, wie ja auch Kapitel 3 bis 5 von Mindand Cosmos wesentlich mit der Abwägung unterschiedlicher Formen möglichen Verstehensbedeutsamer, weil mental-geistiger Aspekte des Kosmos befasst sind; ungeachtet ihrer Ver-schiedenheit und vielfachen Inkompatibilität ist mit ihnen allen der Anspruch verbunden, dieWelt nicht bloß zu beschreiben sondern vielmehr zu verstehen154. — Objektive Intelligibilitätals das Charakteristikum prinzipieller Verstehbarkeit der Welt ist hingegen nur im Singulardenkbar; sie setzt eine die Verstehbarkeit begründende Geordnetheit der Natur, also eine«natural order», voraus und bedarf Nagel zufolge selbst einer Erklärung, die in weiterer Folgein ein umfassendes Verständnis der Welt einzugehen hat.Dieselbe Scheidung eines subjektiven von einem objektiven Aspekt im Intelligibilitätsbe-

griff spiegelt sich auch in dem aus dem Erklärungsbegriff stammenden Totalitätsaspekt: ImObjektiven nimmt dieser die Form völliger Verstehbarkeit der Welt, somit der Einheit, Durch-gängigkeit und Umfassendheit der Naturordnung, an; ihre subjektive Kehrseite hingegen bildetdas Ideal der vollständigen Erklärung, somit eines lückenlosen, umfassenden und einheitlichenVerstehens des gesamten Kosmos, wie er es unter wechselnden Bezeichnungen155 und mitgroßem emotionalem Engagement unterlegt156 vertritt und sogar der Naturwissenschaft selbstals Ziel unterstellt157. Letzteres ist sicherlich unsinnig158 — zumindest im physikalischenMainstream wird niemand die Erkennbarkeit und Absicherbarkeit notwendiger Wahrheitendurch Empirie vertreten159, wie Nagel anlässlich seiner Auseinandersetzung mit dem Theismus

151 Nagel, Mind and Cosmos, S. 20.152 Nagel, Mind and Cosmos, S. 18.153 Nagel, Mind and Cosmos, S. 20.154 Nagel, Mind and Cosmos, S. 16.155 Vgl. «ideal of completeness» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 19); «demand for an all-encompassing form of

understanding» (S. 21).156 Der Mangel vollständiger Verstehbarkeit stellte den «worst case» dar (Nagel, Mind and Cosmos, S. 16).157 «Physics and chemistry have pursued this aim with spectacular success» (Nagel, Mind and Cosmos , S. 19).158 Nagel bezieht sich eindeutig nicht auf einen der Empirie vorausliegenden Kern apriorisch-synthetischer

Prinzipien der Physik (Kant, Kritik der reinen Vernunft , Einleitung, B 17), der es erlaubt, reine Naturwis-senschaft (physica pura bzw. rationalis: B 21) zu betreiben. (Zu erörtern, ob Kants Sicht der von ihm indiesem Zusammenhang genannten Beispiele heute noch geteilt werden kann, ist hier nicht der Ort.)

159 Anders mag die Situation historisch angesichts der berückenden ästhetischen Qualität der klassischenPhysik ab Newton gewesen sein, die eine solche Vollständigkeit der Erkenntnis durchaus nahe gelegt habenkann: Bekannt ist etwa die Anekdote — oder sollte es sich um eine urban legend handeln? —, wonachWerner Heisenberg mit dem Hinweis, die Physik wäre ohnedies schon so gut wie abgeschlossen, vomStudium abgeraten wurde.

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

auch zugibt160 — und anmaßend, wobei Nagels Missverständnis der offensichtlich nicht alsterminus technicus erkannten Bezeichnung «Theory of Everything» für eine vereinheitlichteFeldtheorie161 für diese Grenzüberschreitung eine Rolle spielen mag.

Teleologienähe als Erbe des Erklärungsbegriffs: Bauen aber die Konzepte von objektiverNaturordnung und subjektiver Verstehensfähigkeit, also die beiden abgeleiteten Bedeutungenvon Intelligibilität, samt der sie begleitenden Vollständigkeitsforderung, wie wir gesehen haben,auf Nagels Erklärungsbegriff auf, so ist unmittelbar zu sehen, dass dessen Teleologienähe (s. o.)auf erstere durchschlägt: Immerhin legt die Voraussetzung der Intelligibilität der Welt alsobjektive, selbst bei Fehlen aktuell verstehensfähiger Subjekte prinzipiell bestehende Eigen-schaft der Natur offenkundig eine Gerichtetheit derselben auf subjektives Verstehen, somit aufSubjekte des Verstehens zumindest nahe: Denn wie wäre völlige Verstehbarkeit denkbar, wiekönnte vollständiges Verstehen möglich sein, wo Verstehendes prinzipiell ausgeschlossen ist?Entsprechend zeichnet sich bereits an dieser Stelle ab, dass die Voraussetzung vollständigerIntelligibilität (im Sinne des primären Begriffsinhaltes), dem äußeren Dritten ZAC im Schemakonjunktiver Erklärung vergleichbar, einen Kontext eröffnet, innerhalb dessen die materiell-mental-geistige Konstitution des Kosmos mit dessen gesamter Evolution einschließlich desAuftretens sich selbst verständlichen Geistes in ein erklärungskräftiges, sinnvolles Ganzeszusammengebunden werden.

3.2.1.3. Teleologiehinweise in den Stufungen des Daseins

Intelligibilitätstypen und -abwägung nach konjunktivem Schema: Ausdrückliche An-wendung findet das Schema konjunktiver Erklärung freilich nur einmal in Mind and Cosmos :Der Stellung des einschlägigen Unterkapitels innerhalb des Buches entsprechend handelt essich dabei um die Frage des Auftretens von Bewusstsein innerhalb des Kosmos, wobei A«the evolutionary history», B «the appearance of certain organisms» und C «their cons-ciousness»162 (bzw. entsprechend auch andere Seinsstufen) sind. Gesucht ist demnach einElement, das eine substanzielle Verbindung stiftet zwischen der Erklärung, wie die (nichtnotwendigerweise darwinistisch-evolutionistisch zu beschreibende) Entwicklung des Kosmoshistorisch zum Auftreten solcher Wesen, wie wir sie als Träger von Bewusstsein kennen,geführt hat, und der Implikation tatsächlichen Bewusstseins so konstituierter Wesen. Konkretbenannt wird ein solches Element von Nagel freilich nie, doch ist hier auf das erst als Abschlussvon Nagels Konzeption eingeführte Telos der umfassenden Wahlteleologie163 zu verweisen,das freilich in engem Zusammenhang zur Intelligibilität der Welt steht164.

Hatten wir bereits gesehen, dass nicht so sehr der Unterschied zwischen Erklärungs- (A ; B)und Folgerelation (B → C) als vielmehr die Einheit der zusammengesetzten Erklärung denZielpunkt von Nagels Überlegungen zum konjunktiven Schema darstellt165, so erklärt sich160 Nagel, Mind and Cosmos, S. 21.161 Nagel, Mind and Cosmos, S. 20; vgl. auch Fußnote 26 (S. 46).162 Nagel, Mind and Cosmos, S. 52.163 S. u., Abschnitt 3.2.1.4.164 Dies deshalb, weil nach Nagel evaluative gegenüber epistemischer Wahrheitsfähigkeit das anspruchsvollere

Phänomen ist, ein Wert als Grund aufnehmendes Verhalten damit zumindest dem Telos nach nicht ohneVerstehensfähigkeit zu denken ist.

165 S. o., S. 61.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

Nagels Wahl dieser Verteilung von Teilerklärungsschritten aus der Art, wie materialistisch-reduktionistische Theorien das Auftreten etwa von Bewusstsein plausibel machen wollen:Zunächst nämlich argumentieren sie, wie im Zuge der Evolution bestimmte Organismenentstanden sein könnten (A ; B), und attestieren diesen dann — «This is just how thingsare»166 — bewusste Lebendigkeit als Folge dieser Konstitution (B → C); zur Stützungaber legen sie eine mehr oder weniger plausible, mehr oder weniger detaillierte reduktiveRekonstruktion167 (etwa von Bewusstsein oder Leben) vor.Dagegen macht jedoch Nagel — nun in anderer Weise als mit seinen auf die Realität

phänomenaler Erlebnisqualitäten abstellenden Beiträgen zur Debatte — die gegenseitigeIrreduzibilität des Physischen wie des Mentalen geltend: beide Aspekte der Welt sind als gleichfundamental zu behandeln (was Nagel auf einen neutralen Monismus führt), und angesichtsder Durchgängigkeit und Einheit der Naturordnung (s. o.) muss diese doppelte Prägungdes Kosmos in jedem Stadium seiner Entfaltung angesetzt werden, sodass insbesondere dasAuftreten höherer Daseinsstufen keine bloße nachträgliche Ergänzung168 einer etwa primärenphysischen Konstitution des Kosmos sein kann. — Diese Irreduzibilität insbesondere desMental-Geistigen auf das Materielle (denn die Gegenposition des Theismus nimmt er nichtwirklich ernst) illustriert Thomas Nagel v. a. anhand der Stufungen des Daseins, die, wieer jeweils argumentiert, zunehmende Schwierigkeiten für eine materialistische Erklärungbieten169; diese wiederum motivieren Nagel zu dem Versuch, die Naturwissenschaften in ihreSchranken zu weisen (worin er sogar so weit geht, einen Determinismus für das Verhaltender letzten Bausteine der Welt auszuschließen170) und somit die Autorität der auf sie sichstützenden, unser Selbstverständnis aber untergrabenden171 «naturalistic Weltanschauung»172

abzuweisen.Die Methode, deren sich Nagel in der Abwägung unterschiedlicher Erklärungstypen bedient,

folgt unmittelbar aus seinen Überlegungen zu konjunktiven Erklärungen mit ihrer Anwen-dung auf die Evolution des als von Anfang an auch mental geprägt anzusehenden Kosmos.Den beiden Teilerklärungsschritten entsprechend, sind dabei jeweils zwei unterschiedlicheFragestellungen im Hinblick auf das Zustandekommen des nicht auf Materielles reduzierbarenPhänomens C zu unterscheiden173: Die nach Nagel einfachere ahistorisch-konstitutive Fragebehandelt, der Folge B → C entsprechend, die Verbindung zu C von dessen materiellerGrundlage B und somit — da B mit den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt vereinbar ist — dieprinzipielle, d. h. nach Maßgabe der Kompatibilität mit den Gesetzen der Natur zu beurtei-lende Möglichkeit des Auftretens von C in diesem Kosmos; zulässige Antworttypen für dieseFrage sind entweder als «emergent» oder als «reductive» zu klassifizieren, wobei letzteresgerade keinen Reduktionismus impliziert sondern insbesondere auch die Option des neutralen

166 Nagel, Mind and Cosmos, S. 17.167 «Reduction followed by reconstruction» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 36).168 Nagel, Mind and Cosmos, S. 16 u. ö..169 Beispielsweise motiviert er seine Befassung mit Cognition (Kapitel 4) damit, dass «[the] capacity [of thought]

to transcend subjectivity and to discover what is objectively the case» qualitativ andere antimaterialistischeEinwände bietet als «the [mere] subjectivity of thought» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 71f).

170 S. u., Abschnitt 3.2.2.1.171 Nagel, Mind and Cosmos, S. 25 u. ö..172 Nagel, Mind and Cosmos, S. 4; deutsch im Original.173 Nagel, Mind and Cosmos, S. 54.

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

Monismus einschließt174. Schwieriger noch ist die Beantwortung der historischen Frage, alsodie Erklärung A ; B des faktischen Auftretens von B im Zuge der EvolutionsgeschichteA, die in weiterer Folge, im Verbund mit der jeweiligen Lösung des konstitutiven Problems,B → C, in einer konjunktiven Erklärung die Tatsächlichkeit des Auftretens von C in unsererWelt plausibel und verständlich zu machen geeignet wäre; die möglichen Lösungstypen fürdas historische Problem sind dabei «causal», «teleological» und «intentional»175.

Bei jedem der betrachteten Phänomene C sind damit sechs Kombinationen von historischerund konstitutiver Teilerklärung zu betrachten, und tatsächlich schickt sich Nagel an, einemEntscheidungsbaum vergleichbar, durch Abwägung der Optionen und Elimination seinenAnforderungen an eine vollständige, lückenlose und einheitliche Erklärung nicht genügen-der176 Möglichkeiten den Weg zu einer Lösung des Problems zumindest auf dem Niveau derErklärungstypen, wenn schon nicht der noch auszuarbeitenden, im gegenwärtigen Stadiumerst umrisshaft skizzierbaren Erklärung, zu beschreiten. Allerdings wird dieses im Kapitel 3noch dominante Programm in den späteren Kapiteln zugunsten der Thematisierung mitdem jeweiligen Phänomen mitgegebener Aspekte zunehmend verlassen (wenn auch nie ganzaufgegeben)177, behandelt Nagel nicht immer alle Optionen gleichermaßen178 oder gibt fürdie Verwerfung mancher Positionen keine sachlichen Gründe an179, ja, lässt gelegentlich dieweitere Behandlung einfach beiseite, ohne dies zu thematisieren180, was jedenfalls der Klarheitvon Nagels Argumentation nicht zuträglich ist und in einem stärker systematisch orientiertenText, als Mind and Cosmos es sein möchte, zweifellos ein Ärgernis darstellte181.

Da die von uns behandelte Fragestellung aber nur die positive Teleologiekonzeption ThomasNagels, nicht aber seine Abwehr konkurrierender Positionen, soferne aus dieser nicht Bedeutsa-mes über seine positive Sicht abgeleitet werden kann, anzielt, betrifft uns diese argumentativeSchwäche nicht. Wesentlich ist für uns wie auch für die Gesamtlogik von Nagels Darstellungnur zweierlei: bei all den betrachteten Phänomenen (s. u.) gibt es zumindest gewisse Hinweise,dass eine teleologische Deutung sinnvoll ist und Verstehen ermöglichen kann; und gleichzeitig

174 Nagel, Mind and Cosmos, S. 54.175 Nagel, Mind and Cosmos, S. 58.176 Die Bedeutung dieses Kriteriums spricht eine Passage in Unterkapitel 3.3 deutlich aus: ohne ausreichenden

inneren Zusammenhang zwischen den Teilerklärungsschritten bliebe das Auftreten von C «an accidentaland therefore unexplained concomitant of something else — the genuinely intelligible physical history»(Nagel, Mind and Cosmos, S. 51).

177 Signifikanterweise verzeichnet der Index unter den Stichwörtern «Constitutive» bzw. «Historical accounts»nicht einmal die (zugegebenermaßen knappe) Behandlung in Kapitel 5 (Nagel, Mind and Cosmos, S. 115,118–121); ein Zusammenhang mit der seltsamen Formulierung der Fragestellungen (S. 112) als aufWertsensibilität des Subjekts und Werthaltigkeit des Universums bezogen scheint denkbar.

178 So wird die intentional-emergente Erklärungskombination für Bewusstsein nur im knappen Hinweis, dass«either answer to the constitutive question» — neben der reduktiven könnte dies also auch die emergentesein — «can be combined with an intentional answer to the historical question» gestreift, im Übrigen abernicht behandelt (Nagel, Mind and Cosmos, S. 65f).

179 Beispielsweise hält er die Erklärung von Bewusstsein als emergentes Phänomen zwar ausdrücklich fürmöglich, wendet sich aber wegen ihres unbefriedigenden Charakters («unsatisfactory») einer reduktivenSicht zu (Nagel, Mind and Cosmos, S. 55); nicht einmal den Anschein einer Begründung wahrt hingegendie Verwerfung einer intentionalen Erklärung für das Aufkommen von Wert: «I will again set aside thehypothesis of an intentional explanation, even though it, too, could meet this condition» (S. 121).

180 Nagel, Mind and Cosmos, S. 49, 66.181 «Unfortunately, the book is let down throughout by a lack of clarity and precision, and is as likely to

frustrate as it is to inspire» lautet der letzte Satz der Rezension von Yates (Mind and Cosmos, S. 806).

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

ist an der Irreduzibilität der von ihm im Einzelnen betrachteten Phänomene auf reine physi-sche Faktizität jedenfalls festzuhalten, weshalb eine verlustfreie Beschreibung und Erklärungvon reduktionistisch-materialistischen Positionen nicht geleistet werden kann. Einen Beweisfür Notwendigkeit oder Gültigkeit einer teleologischen Sicht stellen diese Hinweise freilichnicht dar, wie auch so manche von Nagels Formulierungen deutlich macht.

Dies gilt im Übrigen auch deshalb, weil Nagel fraglos auf die Vorstellung einer den gesamtenKosmos umfassenden Teleologie aus ist, die aber mit punktuellen Betrachtungen zum Auftretender einzelnen für C im Schema konjunktiver Erklärungen einstehenden Phänomene nichtgefasst werden kann; dementsprechend ist es auch für unsere Zwecke nicht erforderlich, aufNagels Behandlung der Phänomene, seine jeweiligen Abwägungen oder auch die Frage derSchlüssigkeit seiner Überlegungen im Einzelnen einzugehen. Für sie alle gilt jedoch, dassangesichts der von Nagel vertretenen Einheit der Naturordnung und der zum Ziel erhobenenVollständigkeit und Einheit des Naturverstehens das zu erklärende tatsächliche Vorliegen desPhänomens zu einem gewissen Zeitpunkt die Sicht des gesamten Prozesses der Evolutiondes Kosmos, also insbesondere auch der bereits vor diesem Zeitpunkt liegenden Teilprozesse,mitbestimmen muss — die gegenwärtige Wirklichkeit von «consciousness, perception, desire,action, and the formation of both beliefs and intentions on the basis of reasons»182 «castsits shadow back»183 und «pushes back to impose itself on the understanding of the entireprocess»184 —, da zum einen die konstitutive Möglichkeit aktuell oder latent immer bestandund auch weiterhin bestehen bleibt, zum anderen aber die Totalität des Erklärungsanspruchesauch die Plausibilität des historischen Prozesses, der zur Tatsächlichkeit der Realisierungdieser Möglichkeit geführt hat, erfordert.

Die einzelnen Seinsstufen: Zumindest kurz genannt seien doch die verschiedenen Seins-stufen, die Nagel explizit betrachtet, um an ihnen seine teleologische Betrachtungsweiseplausibel zu machen und zu illustrieren: Dabei kann das vormentale Phänomen des Lebensnur wenig zu Nagels auf genuin Geistiges abstellender Argumentation beitragen; Nagel streiftes nur gelegentlich am Rande, hält es jedenfalls für «not just a physical phenomenon»185 underweckt den Eindruck einer vergleichsweise geringen Problematik. Die eigentliche Bedeutungdes Lebens für Mind and Cosmos entsteht durch seine Stellung als Vorbedingung186 für«all three» der anschließend gesondert behandelten Phänomene, «the consciousness, theknowledge, and the choice»187 und die von Nagel angenommene Koextensivität von Wertbzw. Wertsensibilität (s. u.) mit Leben; tatsächlich hält Nagel es für möglich, dass in seinerteleologischen Gesamtschau des Universums «the added features of the natural order neededto account for mind will in the end contribute to the explanation of life as well»188.

Mit der Behandlung des Bewusstseins (Kapitel 3 von Mind and Cosmos) begibt sich Nagelganz auf das Terrain seiner eigenen früheren Arbeiten zum Leib-Seele-Problem; neben der

182 Nagel, Mind and Cosmos, S. 32; ähnliche Aufzählungen finden sich auch sonst.183 Nagel, Mind and Cosmos, S. 8.184 Nagel, Mind and Cosmos, S. 47.185 Nagel, Mind and Cosmos, S. 33.186 Vgl. etwa Nagels Ansicht, wonach «intentionality, thought, and action [. . . ] can exist only in the lives of

beings that are also capable of consciousness» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 68).187 Nagel, Mind and Cosmos, S. 124.188 Nagel, Mind and Cosmos, S. 69.

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

Skizzierung historischer Positionen handelt es sich dabei weitgehend um eine Fortführungseiner bis auf What is it like to be a bat? zurückreichenden Überlegungen zur Irreduzibilitätphänomenologischer Erlebnisqualitäten, v. a. aber um Rückverweis auf bzw. Weiterführungvon Nagels Essays Psychophysical Nexus189 und, weniger prominent, Panpsychism190; aufdie Problematik seiner früheren, qualia-bestimmten Position und die daraus resultierendeUntauglichkeit des Ansatzes dieser Bewusstseinsinhalte als Hebel gegen den reduktionistischenMaterialismus haben wir bereits hingewiesen191.Doch nicht alle Bewusstseinsinhalte sind so subjektiv wie etwa die Empfindung des Ge-

schmacks von Schokolade, um ein Beispiel aus Nagels Psychophysical Nexus heranzuziehen192;manche von ihnen sind vielmehr von der Überzeugung begleitet, es sei mit ihnen objekti-ve193 Geltung verbunden. Die Entstehung dieser Inhalte ist jedenfalls Sache von «mentalfunctions such as thought, reasoning, and evaluation», die uns Menschen194 ermöglicht ha-ben «to transcend the perspective of the immediate life-world given to us by our sensesand instincts, and to explore the larger objective reality of nature and value»195 — eineFormulierung, die für Nagels Text quasi als Definition des Geistigen überhaupt fungiert.Mit der Zuordnung der als objektive auftretenden und von Thomas Nagel als solche auchanerkannten Inhalte zu den Bereichen von «mathematics, science, and ethics»196 ist abernicht nur die Gültigkeit der in Nagels Bezugnahme auf die vollständige Intelligibilität derWelt (s. o.) vorausgesetzten Fähigkeit «to form true beliefs» in «the timeless domains of logicand mathematics»197 sondern auch eine klar realistische erkenntnistheoretische Position198

(«science») angesprochen. Doch selbst dort, wo unserem Denken kein direkter sinnlicherBezug zu einem Gegenstand als Ausgangspunkt dient (infolgedessen auch evolutionistischeine gewisse Verlässlichkeit plausibel ist199), ist nach Nagel an unserer Wahrheitsfähigkeitfestzuhalten und somit der Schluss zu ziehen, dass wir auch in diesem Bereich — wenn auchnotwendig fallibel und immer auf die Korrektur der Gemeinschaft der Denker angewiesen200 —die Wahrheit unmittelbar erreichen, sodass die Autorität des Erkannten unabhängig von seinerunbestreitbaren biologischen Grundlage besteht201. Demgegenüber würde eine materialistische

189 Nagel, Mind and Cosmos, S. 42, 57f.190 Nagel, Mind and Cosmos, S. 57f.191 S. o., S. 45.192 Nagel, Psychophysical Nexus, S. 198f.193 Während gelegentlich der Eindruck entsteht, Objektivität und Intersubjektivität wären für Nagel praktisch

gleichbedeutend, betont Nagel hier die Objektivität «independent of the thinker’s beliefs, and evenindependent of the community of thinkers to which he belongs» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 72).

194 Dabei legt Nagel immer wieder erkennbar Wert darauf, einem Anthropozentrismusvorwurf zu entgehen(Nagel, Mind and Cosmos, S. 32, 71).

195 Nagel, Mind and Cosmos, S. 71.196 Nagel, Mind and Cosmos, S. 72.197 Nagel, Mind and Cosmos, S. 72.198 Nagel, Mind and Cosmos, S. 72, 74f u. ö.. — Erkenntnistheoretischer Realismus zählt überhaupt zu den

Grundannahmen neutraler Monismen (Stubenberg, Neutral Monism, Abschnitt 4).199 Nagel, Mind and Cosmos, S. 80.200 Nagel, Mind and Cosmos, S. 86, 103. — Wenn auch letztere Passage — «our judgments, tested by

reflection, subject to correction by the counterarguments of others, modified by the imagination and bycomparison with alternatives» (S. 103) — im Kontext von Nagels Diskussion des Werterealismus steht,bezieht sie sich doch explizit auf «every area of thought».

201 Nagel, Mind and Cosmos, S. 79, 80, 82.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

Theorie die Objektivität all dieser Gehalte als bloßen Anschein entlarven, ihre Geltung alsoauf einen (zumindest dem Anspruch nach) letztlich noch auf Physik zurückzuführendenpsychologischen Zwang («logical phobias and instincts»202) reduzieren und darin negieren.— Eine Argumentation Roger Whites204 aufnehmend, wonach es unzulässig ist, angesichtsder die Zurückführung auf ungerichteten Zufall verbietenden Qualität des Explanandum ausder mangelnden Wissenschaftlichkeit intentionaler Erklärungen auf die Notwendigkeit einernicht-intentionalen physischen Erklärung zu schließen205 — White selbst spricht sich klar fürdie Hypothese der Entstehung dessen, was uns bemerkenswert erscheint, durch einen reinzufälligen, ungerichteten Naturprozess («Chance Hypothesis»207) aus209 —, präsentiert Nagelerstmals etwas ausführlicher210 seine Alternative einer auf Wert als «explanatory end»211

hinauslaufenden — «not just any outcome could qualify as a telos»212 — und die Möglichkeitvon Evolution tragenden213 «natural teleology»214 mit weit reichenden Konsequenzen fürzulässige Gestalt und Charakter grundlegender Naturgesetze215.

Nimmt Nagel im Bereich der Erkenntnis der Außenwelt einen realistischen Standpunkt ein,so findet dieser in der von ihm vertretenen These eines Realismus auch bezüglich Werten(Kapitel 5) seine Entsprechung im Bereich der Ethik: neben «mathematics» und «science» istdie Möglichkeit objektiver Geltung eben auch für «ethics»216 in Anspruch zu nehmen, wiedies mit den Stichworten «evaluation» und «value» auch schon in Nagels Quasidefinition desGeistigen217 (s. o.) angeklungen war. Dabei grenzt Nagel seinen Werterealismus scharf gegenjegliche Metaphysik ab218: «metaphysical baggage»219, insbesondere in Form der Annahme«that something other than value must make value judgments true or false»220, also einer«metaphysical postulation of extra entities or properties»221, wird von ihm gerade nicht inAnspruch genommen sondern vielmehr die Vorstellung, moralische Wahrheit bedürfe einergesonderten Begründung als eine Art Kategoriefehler abgewiesen222 — eine Position, die freilichnicht beweisbar sondern nur durch die Fruchtbarkeit ihrer Annahme plausibel zu machenist223, offenkundig aber, indem sie die Eigenständigkeit moralischen (oder vielleicht auch

202 Nagel, Mind and Cosmos, S. 83.204 White, Origins of Life Research.205 An dieser Stelle, in der ja gerade äußeres Handeln als Erklärung abgewiesen wird, ist die Übersetzung

von «bias» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 90f) als «Beeinflussung» (Nagel, Geist und Kosmos, S. 131f)besonders unglücklich.

207 White, Origins of Life Research, S. 460 u. ö..209 White, Origins of Life Research, S. 454 u. ö..210 Nagel, Mind and Cosmos, S. 91–93.211 Nagel, Mind and Cosmos, S. 92.212 Nagel, Mind and Cosmos, S. 92.213 Nagel, Mind and Cosmos, S. 91.214 Nagel, Mind and Cosmos, S. 91.215 S. u., Abschnitt 3.2.2.1.216 Nagel, Mind and Cosmos, S. 72.217 Nagel, Mind and Cosmos, S. 71.218 Nagel, Mind and Cosmos, S. 101.219 Nagel, Mind and Cosmos, S. 98.220 Nagel, Mind and Cosmos, S. 101.221 Nagel, Mind and Cosmos, S. 105.222 Nagel, Mind and Cosmos, S. 103.223 Nagel, Mind and Cosmos, S. 104; dabei vertreten wir die durch den Kontext sowie die auf eine «realist

interpretation» abstellende Fortsetzung gestützte Annahme, dass es sich bei «the fruitfulness of evaluative

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

ästhetischen224) Wertes gegenüber innerweltlich Materiellem wie Mentalem sowie gegenüberTranszendentem betont, auch dessen Irreduzibilität enthält. — Bedeutsam ist Wert für NagelsArgumentation freilich nicht nur für die Zurückweisung eines reduktionistischen Darwinismusund als ein weiteres Element, das in einer die völlige Intelligibilität der Welt realisierendenKonzeption seinen Platz finden muss, sondern v. a. deshalb, weil diese Konzeption in NagelsSicht in zwei Modi der Vermehrung von Wert ihren Abschluss findet.

3.2.1.4. Wert als evolutionäres und kosmisches Telos

Dabei tritt Wert innerhalb der Architektur von Thomas Nagels teleologischer Weltsicht an zweisehr unterschiedlichen Stellen auf, nämlich auf dem Niveau der einzelnen Spezies einerseitssowie mit Blick auf die innere Zielhaftigkeit des ganzen Universums andererseits; ihnenbeiden sind Teleologieformen zuzuordnen, die wir abkürzend als Lebens- bzw. Wahlteleologiebezeichnen wollen.

Teleologie speziesrelativen Werts als invertierter Darwinismus (Lebensteleologie):Ist also nach Thomas Nagel jeglicher metaphysische Ballast225 zurückzulassen, so bedeu-tet dies zunächst, dass einzig «empirical facts» — die freilich, empiristischen Ansätzenentgegen, im Sinne des von Nagel vertretenen neutralen Monismus auch mentale Aspekteaufweisen werden226, in die andererseits aber dezidiert keine zusätzlichen, spezifisch eva-luativen Eigenschaften eingehen227 — als existent anzusehen sind228 und in das auf diesesich beziehende Werturteil eingehen können; wenn aber Wert nicht erst durch «somethingother than value»229 wertvoll gemacht wird, so muss der Aspekt des Wertes der empirischerfassbaren Konstellation unmittelbar anhaften. Wie dies möglich sein kann, wird am Beispielvon Lust und Schmerz unmittelbar einsichtig230: deren positiver bzw. negativer Wert ist

and moral thought in producing results» um eine der nicht ausreichend sorgfältig formulierten Stellenhandelt.

224 Nagel, Mind and Cosmos, S. 104f, 114; vgl. Fußnote 245 (S. 75).225 «Metaphysical baggage» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 98).226 Vgl. Fußnote 231 (S. 74).227 Nagel, Mind and Cosmos, S. 103; dies steht im Kontrast zu Nagels Überlegungen zu einer auf proto-

psychische Eigenschaften der elementaren Bausteine der Natur basierenden, reduktiven konstitutivenTeilerklärung für Bewusstsein (S. 61–66).

228 Nagel, Mind and Cosmos, S. 101f.229 Nagel, Mind and Cosmos, S. 101.230 Nagel, Mind and Cosmos, S. 111; tatsächlich ist Nagel, wiewohl er keine anderen Phänomene als die

uns vertrauten von Schmerz und Lust diskutiert, darum bemüht, eine Lesart, die in ihnen den Kernallen Werts ausmacht, abzuwehren: «It would be a mistake to try to find a common denominator suchas pleasure and pain to accomodate in a single realist conception the diverse values that are generatedby all the actual, not to mention imaginable, forms of life» (S. 119); dafür ist zum einen wohl NagelsBetonung der Unzugänglichkeit der Erste-Person-Perspektive verantwortlich, zum anderen aber will erdamit möglicherweise auch den Argumenten Sharon Streets gegen eine werterealistische Interpretationvon Lust und Schmerz (Street, Darwinian Dilemma, Abschnitt 9, S. 144–152) entgehen. Die größereAllgemeinheit der Nagel’schen Wertkonzeption ändert jedoch nichts daran, dass die Struktur von Wert,durch diesen modifiziertem Verhalten und der evolutionären Bedeutung des letzteren Vorbedingung fürNagels wertbasierte Konzeption ist; vgl. dazu auch Fußnote 245 (S. 75) zur Anwendbarkeit auf ästhetischenWert.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

evident231, im diesbezüglichen Werturteil wird demnach, ungeachtet der immer bestehendenFallibilität (s. o.), «a basic kind of truth»232 erreicht, und seine Gültigkeit ist nicht dadurchbeeinträchtigt, dass Schmerz und Lust, wo sie Verhalten beeinflussen, auch evolutionär relevant(«adaptive»233) sind. Dieselbe Struktur wie bei dem Beispiel von Lust und Schmerz zeigtsich nach Nagel aber überhaupt: evidentermaßen mache den Kern positiven bzw. negativenWerts eines Geschehens nämlich die wesensmäßig mit ihm verbundene Tendenz von Verlangenbzw. Vermeidung aus, wobei aber die Zuordnung der jeweiligen Erlebnisqualitäten zu selekti-onsrelevanten Vorgängen kontingent bleibt234,235. — Mit «desire» (bzw. «attraction»236) und«aversion» ist aber unmissverständlich nur der Bereich des Lebendigen angesprochen: der wieeben skizziert von Nagel entwickelte Wertbegriff ist somit von vorneherein ausschließlich aufLebendiges anzuwenden, Leben ist eine notwendige Bedingung für so verstandenen Wert.Die angesprochene «double nature»237 dieses objektiven — Schmerz etwa ist schlecht,

und «when we suffer» ist das, wie Nagel schon 1987 schreibt, «not just bad for us but bad,period»238 —, rein immanenten (weil im Kern ganz auf die Qualität des Erlebens abstellenden)aber evolutionär wirksamen (weil von den evolutionären Erfolg der Spezies beeinflussendenVerhaltensweisen angezielten) Werts ist zentral für Nagels Wertteleologie auf dem Niveauder einzelnen Spezies, ist sie es doch, die die Vermehrung von Wert im Zuge des darwinis-tisch beschreibbaren evolutionären Prozesses ab dem Auftreten von Leben sicherzustellenvermag239. Beispielsweise ist aus darwinistischer Perspektive offensichtlich davon auszugehen,dass eine hypothetische Spezies, bei der überstarke Unlustempfindung den Ablauf überlebens-bzw. fortpflanzungsnotwendiger Prozesse übermäßig hemmen, binnen weniger Generationenausstirbt240; umgekehrt aber ist als stabiles Ergebnis des evolutionären Prozesses gerade dieZuordnung von Lust- bzw. Unlustempfindungen des Individuums samt begleitendem «desire»bzw. «aversion» zu für das Überleben der Spezies förderlichen respektive schädlichen biologi-schen Abläufen zu erwarten, stimmt also das positive bzw. negative Vorzeichen des Wertes

231 Dies setzt freilich voraus, dass die entsprechenden Erlebnisqualitäten als real angesehen werden. Demgegen-über könnte einer materialistisch-darwinistischen Sicht zufolge, die einzig den Maßstab des Selektionsvorteilskennt, Schmerz durchaus an sich gut bzw. Lust schlecht sein (Nagel, Mind and Cosmos, S. 109 u. ö.).

232 Nagel, Mind and Cosmos, S. 114.233 Nagel, Mind and Cosmos, S. 110 u. ö..234 Die wertrealistische Position besage «that these experiences which have desire and aversion as part of their

essence also have positive and negative value in themselves, and that this is evident to us on reflection,even though it is not a necessary part of the evolutionary explanation of why they are associated withcertain bodily episodes, such as sex, eating, or injury» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 110).

235 Wie weit diese Kontingenz reicht, spezifiziert Nagel freilich nicht; ausgeschlossen ist, denkt man NagelsArgument weiter, nur eine solche Umkehr der Tendenz, dass schädliches Verhalten übermäßig gefördertoder überlebensnotwendiges zu sehr gehemmt wird. Eine völlige Austauschbarkeit unterschiedlicher Lust-bzw. Unlustqualitäten aber ist jedenfalls abzulehnen: zum einen, weil uns allen die tiefe Verbindungmit den jeweiligen körperlichen Geschehnissen bekannt ist, zum anderen aber wegen des (analog zurKonstitution des Werturteils des Subjekts [Nagel, Mind and Cosmos, S. 115] zu argumentierenden)vermutlich emergenten Charakters der Empfindung.

236 Nagel, Mind and Cosmos, S. 111.237 Nagel, Mind and Cosmos, S. 111.238 Nagel, What Does It All Mean? , S. 67. — Die alltagssprachliche Formulierung mit emphatischem «period»

steht in What Does It All Mean? generell für eine bloßer Subjektivität entgegengesetzte Objektivität, soz. B. auch bei Nagels Diskussion von Sinn (S. 101).

239 Diese zentrale Stellung scheint uns in Nagels Darstellung nicht ausreichend deutlich herausgestellt zu sein.240 Vgl. Nagel, Mind and Cosmos, S. 117.

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

mit dem seines Beitrags zum evolutionären Erfolg der Spezies überein. In Summe wird alsoim Zuge der Evolution vermittels des auf die entsprechenden Verhaltensweisen einwirkendenSelektionsdrucks Lust tendenziell vermehrt und Unlust abgebaut, die Wertbilanz somit zumPositiven verschoben, und die Steigerung des in Nagel’schem Sinn verstandenen Werts kanntatsächlich als naturteleologisches Ziel verstanden werden. Dabei ist die Argumentation, dieNagel für den spezifisch teleologischen Charakter des evolutionären Prozesses in Anspruchnimmt, freilich denkbar schwach: eine intentionale Erklärung ist ihm nicht der Berücksich-tigung würdig «even though it, too, could meet» Nagels Kriterien, die kausale Erklärungscheitert an den hohen Ansprüchen seines Erklärungsbegriff, und «that leaves teleology»,als deren Telos sich der ursprünglich nicht teleologisch sondern wertrealistisch begründeteZuwachs von Wert anbietet241. Das Ergebnis ist quasi eine Umkehrung der darwinistischenSicht: nicht das Überleben selbst ist der Maßstab des Guten sondern der (entsprechend ver-standene) Wert selbst bewirkt seinen evolutionären Erfolg; Evolution wird dabei weder negiertnoch als Erklärung akzeptiert sondern als Mittel in diesem Prozess gesehen, tritt sie doch indieser Konzeption als ein kontingenter, die «Details»242 regelnder, objektiv bestehenden Wertverarbeitender Mechanismus auf, durch den der Zuwachs an Wert im Universum erreicht wird.— Ist Leben als Voraussetzung des Wertbegriffs aber schon immer im Spiel, wenn von Wert indiesem Sinne die Rede ist, und sind auf das Verhalten wirkende Empfindungen anzusetzen,sobald Bewusstsein vorliegt, so ist Wertsensibilität zumindest allen Formen bewussten Lebenszuzusprechen; welche Sachverhalte aber als positiver oder negativer Wert ausgemacht werdenkönnen, ist dabei offenkundig speziesabhängig und der Erfahrungsperspektive anderer Artenu.U. unzugänglich243, sodass insgesamt eine nach biologischen Arten differenzierte Pluralitätfür die Nagel’sche Wertkonzeption kennzeichnend ist: «If we were more like bees or lions,what seems good to us would be very different,» greift Nagel Sharon Street auf244.

Eine Konzeption moralischen245 Werts, die im Kern auf das Erleben von Lust oder Unlusthinausläuft, mag auf den ersten Blick sehr beschränkt erscheinen, und bei sehr einfachenLebensformen ist dies wohl auch anzunehmen. Doch bei Geistwesen, die auf Wert nichtnur unwillkürlich reagieren sondern ihn auch als solchen erkennen, ihrem Urteil Geltungbeilegen und im Werturteil Fakten zu Gründen («reasons») machen, die ihr eigenes Handeln

241 Nagel, Mind and Cosmos, S. 121.242 Nagel, Mind and Cosmos, S. 123.243 Vgl. Nagel, Psychophysical Nexus, S. 233, wobei die Unzugänglichkeit der Erste-Person-Perspektive über

Speziesgrenzen hinweg bekanntlich bereits Teil der Argumentation von What is it like to be a bat? war.244 Nagel, Mind and Cosmos, S. 119.245 Nur ganz am Rande erwähnt Nagel gelegentlich die Möglichkeit auch nicht-moralischen, insbesondere

auch ästhetischen Werts (Nagel, Mind and Cosmos, S. 104, 105, 114; auch die Formulierung «judgmentsabout the value of things other than experience» [S. 99] mag in diese Richtung deuten). Dieser fügt sichallerdings in zweifacher Weise nicht in seine Wertkonzeption ein: Zum einen nämlich ist jenes Objektive, das,Schmerz und Lust im Moralischen entsprechend, die Realität des im subjektiven Erleben entdeckten Wertesbegründen könnte, nicht auszumachen; vielmehr ist, wiewohl, um Kant aufzunehmen, im ästhetischen Urteiljedenfalls der Anspruch auf objektive Geltung erhoben wird, mit diesem keine Aufweisbarkeit (und damit,a fortiori, keine auch nur prinzipielle Rückführbarkeit auf empirisch Fassbares) verbunden (vgl. Kant,Kritik der Urteilskraft , Analytik des Schönen, § 6, § 8: AAV, 211–216). Zum anderen aber ist auch nichtzu sehen, wie ästhetischer Wert, soll er nicht per Naturalisierung zum Verschwinden gebracht werden,selektionsrelevant sein könnte; eine immanente Absicherung der Verlässlichkeit ästhetischer Werturteile inAnalogie zu der moralischer Urteile kommt damit wohl nicht in Frage.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

motivieren246, ist ein voreiliger Schluss auf eine hedonistisch-epikuräische Moral von Lust-maximierung und Unlustvermeidung nicht zulässig: Nagel skizziert eine Aufstiegsfigur, diedurch Abstraktion und Verallgemeinerung bis hin zu «much more complex values such ashonesty and dishonesty, justice and injustice, loyalty and betrayal»247 führt248 und letztlichdie Realisierung mit sich bringt, dass Wert nicht an Bewusstsein gebunden ist: «things can gowell or badly» sogar für ein Bakterium249, und Geistwesen können «good and bad» verstehen«wherever it is found, [. . . ] perhaps even in forms of life devoid of conscious experience»250:Wert wird so als mit Leben koextensiv 251, in Bezug auf den Nagel’schen, Leben immer schonvoraussetzenden (s. o.) Wertbegriff somit als maximal erkannt. Innerhalb dieses werthaltigenBereichs des Lebendigen aber sind damit durchaus unterschiedliche Formen von Wertbe-zogenheit angesprochen, die Nagel einer logischen (und, soweit das erstmalige Auftretenangesprochen ist, auch chronologischen) Abfolge von Daseinsstufen einordnet252: Auf bloßesLebendigsein (dem bereits mehr oder weniger Gutes widerfahren kann) folgen bewusstes (wiemenschliches Wert empfindendes), selbstbewusstes (damit eigenes Gut aktiv anzustrebenfähiges) und reflektierendes (Gut und Schlecht erkennendes und daraus Handlungsgründegewinnendes) Leben, das schließlich in einer kollektiven, individuellen oder gegebenenfallsauch speziesweiten Eigennutz hinter sich lassenden, zumindest beim Menschen auch kulturellgeprägten253 Denkbewegung seine letzte Entfaltung findet254.

Entspricht die von Nagel in Anschlag gebrachte Stufung der Wertbezogenheit auch einemevolutionsgeschichtlichen Nacheinander, das zu einem aktuellen Nebeneinander verschiedensterArten mit je eigenen Werten geführt hat, so ist aus der bislang skizzierten Entwicklung einerauf dem Niveau der Evolution der einzelnen Gattungen angesiedelten Naturteleologie, der imWesentlichen auch ein die Umkehrung der Blickrichtung akzeptierender Darwinist zustimmenkönnen müsste, jedenfalls keine eigentliche255 Hierarchisierung der Daseinsstufen zu gewinnen;in diesem Sinne steht der kollektive Denkprozess als eine Form von Wertgewinnung gleichrangigneben dem bloßen Lebendigsein sich vermehrender vormentaler Lebensformen. Die Tatsacheaber, dass im Laufe der Geschichte des Universums zunehmend komplexere und höhereDaseinsweisen realisierende Spezies entstanden sind, ist damit nicht verständlich gemacht:

246 Nagel, Mind and Cosmos, S. 113. — Da in der bewussten Reaktion des zu einer Handlung motiviertenGeistwesens auf empirische Tatsachen in Nagels werterealistischer Sicht Wert und, als dessen Kern, Erlebenhandlungsbestimmend werden, ist an dieser Stelle auch die Zurückweisung eines bloßen Epiphänomenalis-mus zur Erklärung des Bewusstseins möglich (S. 113, 115f). Ob dieses Argument freilich auch angesichtsvon Nagels betont immanentem Wertbegriff schlüssig ist, wäre eigens zu diskutieren.

247 Nagel, Mind and Cosmos, S. 112f.248 Nagel, Mind and Cosmos, S. 112–114, 117–118.249 Nagel, Mind and Cosmos, S. 117.250 Nagel, Mind and Cosmos, S. 118.251 Nagel, Mind and Cosmos, S. 118; ähnlich S. 117.252 Nagel, Mind and Cosmos, S. 117f.253 Nagel, Mind and Cosmos, S. 76, 85.254 Hier klingt bereits die die Evolution des Lebendigen umfassende «Wahlteleologie», der wir uns gleich

zuwenden werden, an. Im Übrigen entsprechen die genannten Lebensstufen offenkundig den Kapiteln vonThomas Nagels Mind and Cosmos.

255 Natürlich bleibt jene formale Implikationshierarchie, die darin besteht, dass jene Charakteristika, dieLeben der niedrigeren Stufe kennzeichnen, sachliche Voraussetzungen auch der höheren Stufen sind, diesealso jene in gewissem Sinn umfassen.

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

plausibel wird in Nagels «revision of the Darwinian picture»256, wie sie bislang skizziert wurde,höchstens eine völlig unbestimmte Vielfalt unterschiedlicher, je eigenen Wert besitzenderLebensformen, und auch das nur, wenn Leben als einmal entstanden vorausgesetzt werdenkann. Dass dies den hohen Ansprüchen von Nagels Erklärungsbegriff nicht gerecht werdenkann, liegt auf der Hand; auch träfen Nagels häufig und mit großem Nachdruck vorgebrachtenZweifel am Evolutionismus, insbesondere was die historische Plausibilität des Auftretensvon Leben angeht, offenkundig auch seine eigene Konzeption, ließe er es bei dieser sehreingeschränkten und schwach ausgeprägten257 Form von Teleologie bewenden.

Teleologie des erwachenden Universums (Wahlteleologie): Eine ganz andere, viel um-fassendere und weitgehendere Sicht legt hingegen Nagels mehrfache Aufnahme des unzweifel-haft Schelling entlehnten Bildes eines erwachenden Universums nahe: Unser aller mentalesLeben sei «part of the lengthy process of the universe gradually waking up and becomingaware of itself»258 — eine direkte Paraphrase von Schellings Allegorie der im Menschen dieAugen aufschlagenden und ihr eigenes Dasein erkennenden Natur —, und der gesamte Prozesskosmischer Entwicklung erscheine als ein «[process] of the universe gradually waking up»259.Ob Nagel damit Schellings Intention trifft, bleibe hier dahingestellt260; jedenfalls liegt dasSchwergewicht dieses Bildes bei Nagel nicht so sehr auf dem Wissen um sich selbst261 alsvielmehr in der in einem speziesübergreifenden kollektiven Prozess teilweise selbstbestimmtenWahl der eigenen Zukunft des Universums. Indem nämlich Individuen wertsensibler Artendurch Wert zu wertsteigernden Verhaltensweisen bzw. Handlungen motiviert werden, schlägtdie im Wesentlichen auf die Entfaltung vielfältigen wertsensiblen Lebens gerichtete, aufSpeziesniveau angesiedelte «Lebensteleologie», wie wir die zuvor charakterisierte Umkehr desdarwinistischen Bildes mit Blick auf dessen «all the actual and possible forms of life»262

einschließendes Telos nennen wollen, um in die «rather different teleology of intentionalaction [. . . ], resulting in the creation of new value»263: eine neuartige Form von Teleologie,die Wert in einem kollektiven, über zahllose Lebewesen unterschiedlicher Arten verteiltenProzess spürend, urteilend und wählend aufnimmt, sodass das Universum insgesamt fähigwird «in some respects of choosing its path into the future»264: Aus der Perspektive dieser«Wahlteleologie» eines «erwachenden» und seine Zukunft vermittels wertsensiblen Lebens

256 Nagel, Mind and Cosmos, S. 123.257 Wie bei seinem Schluss auf den teleologischen Charakter des wertsteigernden Prozesses deutlich wird,

identifiziert Nagel das Telos nachträglich als das, was im Zuge der Evolution in Folge des Werterealismusvermehrt wird (s. o.).

258 Nagel, Mind and Cosmos, S. 85.259 Nagel, Mind and Cosmos, S. 117.260 Markus Gabriel geht in einiger Ausführlichkeit auf diese Frage ein und gelangt, auf Hogrebe gestützt,

zur Ansicht, dass Schelling eine sehr viel schwachere Sicht vertreten habe als Nagel: Bei Schelling sei nureine dem schwachen anthropischen Prinzip entsprechende grundlegende Kompatibilität der Natur mit derExistenz des Menschen, nicht aber Nagels notwendige und vollständige Intelligibilität (als Verstehbarkeit)der Welt angesprochen (Gabriel, Schelling , S. 94). Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass Nagel dieIntelligibilität keineswegs aus dem Motiv des erwachenden Universums ableitet sondern vermutlich mitihm nicht mehr bezweckt, als eine Folge der Intelligibilität (im ursprünglichen Sinn) zu illustrieren.

261 Freilich fehlt auch dieser Aspekt bei Nagel nicht völlig (Nagel, Mind and Cosmos, S. 124).262 Nagel, Mind and Cosmos, S. 121.263 Nagel, Mind and Cosmos, S. 124.264 Nagel, Mind and Cosmos, S. 124.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

teilweise selbst wählenden Universums erweist sich die Lebensteleologie somit als Mittel,ohne freilich in diesem Mittelsein aufzugehen (s. u.). Die umfassende, nun viel allgemeinerwertbezogene, speziesumgreifende und den Kosmos in seiner Evolution insgesamt formendeWahlteleologie hingegen erklärt nun zwanglos die genuin hierarchische Ordnung der Stufungenunterschiedlicher Lebensformen, deren Auftreten im Rahmen der Lebensteleologie bloß alsNebeneinander in Vielfalt verstehbar war (s. o.), steigern höhere Formen von Wertbezogenheitdoch die Fähigkeit zu Wertverfolgung265. — Dass jedoch das eben skizzierte, von uns imSinne einer Sprachregelung als «Telos des erwachenden Universums» bezeichnete wahlteleolo-gische Ziel die Entwicklung des gesamten Kosmos bestimme266, wird bei Nagel freilich bloßkonstatiert, nicht aber begründet267.

Verhältnis von Lebens- und Wahlteleologie: Der einheitliche Gebrauch von «Wert»,«value», als wesentliches Element in Kapitel 5 von Mind and Cosmos ist freilich dazu angetan,den Eindruck einer größeren Einheitlichkeit der Argumentation zu erwecken, als unser Versucheiner Nachzeichnung ergeben hat, in dem sich zwei auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelteFormen von Teleologie, wiewohl sie beide eine Vermehrung desselben immanent-objektiven,speziesrelativen Wertes nach sich ziehen, als klar zu unterscheidende dargestellt haben. ThomasNagel spricht sich jedenfalls nicht näher zu dem Verhältnis der beiden aus, doch legen, wiewir eben vorweggenommen haben, seine Ausführungen keinesfalls den Schluss nahe, dassdie als Umkehrung des Darwinismus verstehbare Lebensteleologie ganz in der kosmischenWahlteleologie aufginge: Wäre dem nämlich so, erwiese sich erstere somit als nicht mehrdenn als bloßes Mittel für zweitere, so bliebe schließlich kein Raum mehr für die scheinbarteloswidrige Vielfalt untergeistiger Lebensformen; zudem erwiese sich die sorgfältig auf reineImmanenz achtende Konstruktion des untergeordneten Telos gegenüber dem viel unklarerenUrsprung des wahlteleologischen als unnütz. Insgesamt ist somit von einem Nebeneinanderzweier Teleologien unterschiedlicher Tele auszugehen, deren eine freilich auch die andere

265 Man betrachte etwa das Beispiel einer Pflanze: Auch dieser kann es gut oder schlecht gehen, auch sie istsomit auf Wert bezogen; eine handelnde Reaktion auf diesen Wert ist aber ebensowenig wie ein Bewusstseindes Werts anzunehmen. Andererseits aber ist im Gefolge eines speziesweiten, kulturell wirksamen ethischenDiskurses durchaus auch die bewusste Förderung der Güter anderer Spezies denkbar, wie die Entwicklungetwa von Tier- oder ökologischen Ethiken zeigt.

266 Dies ist zumindest unser Verständnis der nicht sehr deutlichen Passage: Tatsächlich spricht Nagel nur vonder aus der Wahlteleologie folgenden «creation of new value» (Nagel, Mind and Cosmos , S. 124), ohne aberdiesen neuartigen Wert oder das Telos der neuartigen Teleologie zu benennen; aus dem Gesamtduktus vonUnterkapitel 5.6 sowie in Anbetracht der offenkundig die Kapitelgliederung aufnehmenden, die Bezogenheitvon Wert auf Wahl belegende Formulierung «all three, the consciousness, the knowledge, and the choice»(S. 124) scheint uns diese Gleichsetzung aber gerechtfertigt zu sein.

267 Gewisse Hinweise gibt es freilich in Form der von Nagel explizit hergestellten Bezüge: Zum einen verweister auf John Leslies Axiarchismus, also der «theory that the world exists because it should», wie der überaustreffende Titel eines seiner Artikel lautet (Nagel, Mind and Cosmos , S. 67); allerdings ist insbesondere dieNagels Wahrscheinlichkeitsargument, auf das er, ungeachtet seiner massiven Schwächen, so viel Wert zulegen scheint, vermittels des schwachen anthropischen Prinzips konterkarierende Konsequenz zahlreicherdurch Wert begründbarer Welten (Leslie, Theory That The World , S. 298) für ihn wohl inakzeptabel. Vieleher dürfte Nagels Sicht der Derek Parfits nahekommen, wonach am Ende der Erklärungskette jedenfallseine nicht mehr weiter zu erklärende rohe Tatsache — in Parfits Terminologie: der «Brute Fact Selector»,der die Erklärung dennoch nicht zur «Brute Fact View» verkommen lässt — stehen muss (Parfit, Why? ;vgl. Nagel, Mind and Cosmos, S. 123).

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

ermöglicht und die beide über die gemeinsame Wirkung der Proliferation desselben Werteszusammenhängen.

Während nämlich die Lebensteleologie die Zunahme des objektiven, rein immanenten Wertsdurch die evolutionär vorangetriebene Ausdifferenzierung zahlreicher, teils auch sehr basalerFormen von Wertbezogenheit zu erklären vermag, bringt die Wahlteleologie demgegenüber alscharakteristisches Neues die Erklärung der Tendenz zur Höherentwicklung der Arten hin zuzunehmend komplexen, im letzten auch den kollektiven Wahl- und Selbststeuerungsprozesstragenden Lebensformen. Damit dieses Telos aber erklärungsmächtig werden kann, darfTeleologie keine bloße an ein Geschehen herangetragene Verstehensweise eines etwa auchintentional oder kausal gleich adäquat beschreibbaren Prozesses sein sondern muss das Telosals solches wirksam sein; in Nagels Konzeption schlägt sich dies in einer klaren Ablehnung desDeterminismus der physikalischen Grundgesetze nieder268. Sobald aber der Schritt vollzogenist, zu jedem Zustand keinen determinierten Folgezustand sondern vielmehr eine Verteilungmöglicher Folgezustände anzunehmen, deren Wahrscheinlichkeit dadurch beeinflusst wird, obsie «on the path to a certain outcome»269, nämlich der Proliferation von Wert, liegen, ist auchdie Entstehung von Leben, also gerade der Vorbedingung der Lebensteleologie, verständlichund wahrscheinlich: Ganz der Einheit der Naturordnung als einer Seite der vollständigenIntelligibilität der Welt entsprechend präsentiert sich somit die gesamte Geschichte desUniversums als ein einziger Prozess, der, auf neutral-monistischer Grundlage aufbauend, vonAnfang an von der Möglichkeit von Geist geprägt und auf sein Wirksamwerden — «dispersedover a vast crowd of beings, acting both individually and collectively»270 — hin angelegt ist.

3.2.2. Einzelaspekte

Bevor wir uns den nicht unbeträchtlichen Anfragen, die an Nagels vielleicht so geschlossenund einheitlich anmutende Teleologiekonzeption zu richten sind, kurz zuwenden271, soll diepositive Darstellung seiner Konzeption noch durch den Hinweis auf ausgewählte Aspektekomplettiert werden272.

3.2.2.1. Naturwissenschaftliche Implikationen: Physik

Bemerkenswerterweise beschränkt sich Thomas Nagel keineswegs darauf, den Stand natur-wissenschaftlichen Wissens als gegeben hinzunehmen, zu reflektieren und gegebenenfallsszientistische Grenzüberschreitungen, wie sie die von ihm attackierten Gegenpositionen sämt-lich kennzeichnen, zurückzuweisen, sondern er plädiert tatsächlich auf der Grundlage seinerin Mind and Cosmos entwickelten teleologischen Konzeption für eine Revision der Natur-wissenschaften in ihren Grundlagen wie in ihrem Gesamtgefüge. Dies wirkt sich zum einen,der grundlegenden Bedeutung des Lebens als Vorbedingung von Bewusstsein, Kognition undWertsensibilität sowie als der Lebensteleologie koextensives Phänomen entsprechend, in der

268 Nagel, Mind and Cosmos, S. 92.269 Nagel, Mind and Cosmos, S. 93.270 Nagel, Mind and Cosmos, S. 124.271 S. u., Abschnitt 3.2.2.3.272 Auf Nagels Wahrscheinlichkeitsargument sind wir bereits im Zusammenhang mit seinem Erklärungsbegriff

eingegangen, s. o., S. 59; s. a. Fußnote 34 (S. 47).

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

Stellung der Biologie gegenüber anderen Naturwissenschaften, zum anderen aber in seinenAussagen zur Physik überhaupt aus.

Gestalt und Charakter physikalischer Gesetze: Die Notwendigkeit gewisser Modifikatio-nen herkömmlicher Physik ist dabei für eine neutral monistische Konzeption, in der, wieNagel aus dem Werterealismus folgert273 aber bereits von Anfang an als Teil eines «way ofunderstanding ourselves that is not radically self-undermining, and that does not require usto deny the obvious»274 anzunehmen geneigt ist, Mentales wie Geistiges auch aktiv hand-lungsbestimmend werden können, unmittelbar einsichtig. Dabei entsteht freilich der Eindruck,Nagel gehe mit der Reichweite der von ihm vorgeschlagenen Modifikationen bereitwillig überdas durch seinen Ansatz unbedingt Geforderte hinaus: Um etwa die Möglichkeit aktivenBewusstseins (im Gegensatz zu epiphänomenalem) zu berücksichtigen, reichte es ja völligaus, zusätzliche, vermutlich die Koppelung der mentalen an die physischen Eigenschaftender Grundbausteine der neutral-monistischen Konzeption beschreibende Quellterme in dieGleichungen einzuführen, und dieselben Quellterme könnten, nehmen wir die Grundlage desneutralen Monismus ernst, auch schon vor dem Auftreten von Leben den «[bias] towardthe marvelous»275 sicherstellen, der dessen vermeintliche Unwahrscheinlichkeit überwindensoll. Umso mehr erstaunt, dass Nagel diese einfache Option nicht einmal erwähnt und stattdessen fundamentale Modifikationen, die wir schlagwortartig als Geschichtlichkeit, (zeitliche)Nichtlokalität und Indeterminismus bezeichnen wollen, vorschlägt.

Von diesen ist die Bedeutung von Nagels Forderung einer Geschichtlichkeit der Naturgesetze— «Teleology would mean that some natural laws [. . . ] are temporally historical in theiroperation»276 — am wenigsten klar: Die Formulierung legt, gerade auch durch den Kontrastmit den «timeless laws of physics»277, eine geschichtliche Variation der Naturgesetze nahe278;mit Blick auf Nagels Konzeption könnte dies heißen, dass etwa die Gesetze, die vor demAuftreten von Leben (und damit von Wert) galten, andere waren als danach279. Doch weshalbsollte dies angenommen werden? Immerhin ist gerade mit Blick auf das kosmische Teloskein Grund zu erkennen, weshalb eine erneute und unabhängige Evolution zu Leben bisGeist nicht ebenso zulässig sein sollte. — Eine plausiblere Lesart hingegen wäre, dass diegesamte Geschichte des Universums, von dessen Entstehung bis zu seinem Ende, an jedemRaumzeitpunkt auf sich selbst zurückwirkte280; während dies offenkundig jede Teleologie,selbst die eines aus der Zukunft ziehenden Ziels, tragen könnte, wäre darin aber der Begriff des

273 S. o., Fußnote 246 (S. 76).274 Nagel, Mind and Cosmos, S. 25.275 Nagel, Mind and Cosmos, S. 92.276 Nagel, Mind and Cosmos, S. 92.277 Nagel, Mind and Cosmos, S. 92; ähnlich S. 8.278 Eine solche wird zwar auf der Ebene der Grundgesetze zweifellos vom Mainstream der Physiker ausgeschlos-

sen, ist aber für die makroskopisch wirksamen Gesetze ebenso selbstverständlich zu bejahen: Offenkundigsieht die effektive Physik beispielsweise kurz nach dem «big bang» anders aus als im heutigen Zustand desUniversums.

279 Dieses Verständnis stützt der im nächsten Satz folgende Verweis auf «universal relations that hold atevery time and place» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 92).

280 Dieses Verständnis fügte sich besser in den Gesamtduktus ein, und auch einzelne Wendungen wie «principlesgoverning temporally extended development» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 92) oder «[being] on the pathtoward a certain outcome» (S. 93) sprechen eher dafür.

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

Naturgesetzes ad absurdum geführt, reduzierte sich doch die Rückwirkung des Gesamtprozesseslogisch auf das einfache Auslesen des Zustandes am interessierenden Raumzeitpunkt, waswiederum der irreduziblen Qualität dieses Geschichtlichkeitsprinzips281 widerspräche.

Möglicherweise handelt es sich bei dieser Geschichtlichkeit aber auch nur um eine der stilis-tischen Variation wegen gewählte Umschreibung der interessanteren zeitlichen Nichtlokalität,die Nagel deutlich für zumindest manche Naturgesetze fordert: letztere «would apply directlyto the relation between the present and the future, rather than specifying instantaneousfunctions that hold at all times»282. Sind auch der Wortlaut wie auch die Kontrastierung(«rather than. . . ») zu differentiellen Formulierungen — diese sind nämlich mit der langatmigenund unzutreffenden Charakterisierung aller «laws of physics» kurz zuvor283 wie auch mit den«instantaneous functions» (s. o.) gemeint — irregeleitet und erkennbar mangelndem Wissengeschuldet284, so ist doch ein doppeltes Anliegen der Überwindung gewisser «limits»285 derherkömmlichen Physik hinter dieser Forderung erkennbar: zum einen geht es darum, auch aufmikroskopischer Ebene eine globale Sicht auf den evolutiven Prozess zu ermöglichen und inden Fundamenten der Naturwissenschaft zu verankern; zum anderen aber ist wohl auch aneine den «[bias] toward the marvelous»286 sicherstellende Wirksamkeit des jeweiligen Telosgedacht, ohne dass diese, wie man den Eindruck haben könnte, notwendigerweise auf einezeitliche Rückwirkung hinauslaufen müsste287.Letzteres ist ganz klar auch der Grund für Nagels Bestehen auf «laws of physics — those

governing the ultimate elements of the physical universe, whatever they are — that are

281 «Irreducible principles governing temporally extended development» (Nagel, Mind and Cosmos , S. 92). —Dabei geht aus dem Text nicht einmal deutlich hervor, ob diese Prinzipien mit der im gleichen Absatzeingeführten Geschichtlichkeit ident sind.

282 Nagel, Mind and Cosmos, S. 93.283 «The laws of physics are all equations specifying universal relations that hold at every time and place among

mathematically specifiable quantities like force, mass, charge, distance, and velocity» (Nagel, Mind andCosmos, S. 92). — Wie diese Formulierung zeigt, ist Nagel nur mit differentiellen Bewegungsgleichungenvertraut.

284 Zum einen ist sich Nagel offenkundig der großen Bedeutung nichtlokaler Formulierungen in der Physik seitdem 18. Jahrhundert (Lagrange, Hamilton) bis zur Gegenwart (in Gestalt von Feynmans Pfadintegralund darauf aufbauender Formalismen) nicht bewusst, noch scheint er die mit den Euler-Lagrange-bzw. Hamilton-Gleichungen zu illustrierende Äquivalenz von Variations- und Differentialformulierungenfür möglich zu halten. (Max Planck [Religion und Naturwissenschaft , Abschnitt III, insb. S. 24–26] hatübrigens das der Variationsformulierung zugrundeliegende Hamilton’sche Wirkungsprinzip als Hinweisauf eine «Causa finalis» (S. 26) und eine «physikalische Ursächlichkeit» «ausgesprochen teleologischenCharakter[s]» (S. 26f) angesehen und aus ihr auf eine «Zweckbestimmung der Welt jenseits des menschlichenSinnes- und Erkenntnisapparats» geschlossen [Könnecker, Grenzen]). — Zum anderen aber weist schon dieoffenkundige Möglichkeit, das zeitverzögernde Verhalten etwa von Leitungen unterschiedlichster Art durchrecht einfache partielle Differentialgleichungen zu modellieren, den Weg zu einer möglichen Realisierungselbst ortsgebundener bzw. konvektiver zeitlicher Nichtlokalität durch lokal wirksame Differentialoperatoren.

285 Nagel, Mind and Cosmos, S. 3, 4, 12, 18.286 Nagel, Mind and Cosmos, S. 92.287 Zugegebenermaßen ist Nagel in diesem Punkt uneindeutig und legen manche seiner Formulierungen

den Eindruck zeitlicher Rückwirkung tatsächlich nahe. Die ganze Zwiespältigkeit findet sich in derGegenüberstellung «not [. . . ] in virtue of their intrinsic immediate characteristics, but only in virtue oftemporally extended developments of which they form a potential part» (Nagel, Mind and Cosmos , S. 93),in dem Unwirksamkeit der momentanen Konfiguration mit Wirksamkeit einer bloß möglichen Zukunft desProzesses eine seltsame Verbindung eingeht.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

not fully deterministic»288. Nicht, dass naturgesetzlicher Indeterminismus auch den nötigenSpielraum für die Ausübung freien Willens289 eröffnen könnte, geht in Nagels Argumentationein, sondern die Erhöhung der Übergangswahrscheinlichkeit zwischen Zuständen «on the pathtoward a certain outcome»290. Wiederum erkennbar gegen differentielle Formulierungen derGrundgesetze gewendet, postuliert Nagel, dass es für jeden physikalischen Ausgangszustand einganzes Spektrum möglicher Nachfolgezustände (bzw. eigentlich: ein ganzes Spektrum möglicherZustandsdifferentiale) geben müsse; die Wahrscheinlichkeitsverteilung über dieses Spektrumaber will Nagel als nach Maßgabe der Ausrichtung auf einen bevorzugten Endzustand gewichtetsehen. Diese Ausrichtung der «preferred transitions»291 ist freilich keinesfalls mit spätererVerwirklichung des Telos gleichzusetzen: ganz im Sinne des aristotelischen Bewegungsbegriffs292

ist der bevorzugte Übergang nur potentiell Teil der Realisierung des Ziels293, also ein solcher,der bloß die Möglichkeit der Realisierung aktuell sein lässt294.Doch wie schlüssig sind diese Modifikationen physikalischer Grundgesetze, die Nagel vor-

schlägt? Wenn unser Verständnis korrekt ist, dass ihr eigentlicher Zielpunkt die Realmöglichkeitdes teloskonformen, d. i. immanent werthaltigen Ergebnisses ist, so handelt es sich dabeioffenkundig um eine zeitlich lokale, also synchrone Eigenschaft der beteiligten Zustände, unddie Notwendigkeit zeitlicher Nichtlokalität dafür ist nicht einzusehen. Desgleichen ist dannnur schwer zu verstehen, weshalb die Realisierung der nach Maßgabe dieser Realmöglichkeitbestimmte Wahrscheinlichkeitsverteilung nicht auch durch einen deterministischen Prozesserfolgen können sollte: immerhin liegen weit verbreitetem Verständnis zufolge selbst im Be-reich der Quantenphysik (wo dies gelegentlich bestritten wird) den als zufällig beschriebenenphysikalischen Phänomenen dieser Welt sämtlich deterministische Prozesse zugrunde295. Undwas Nagel zur Geschichtlichkeit der Naturgesetze sagt, ist so undeutlich, dass auch dieserForderung nach einer Änderung unseres heutigen Naturverständnisses, wie es sich in «time-

288 Nagel, Mind and Cosmos, S. 92.289 Willensfreiheit erwähnt Nagel nur in anderem Zusammenhang, nämlich bei der Behandlung der Motivati-

onsfähigkeit von wertsensiblen Geistwesen, macht aber sehr deutlich, dass er eine diesbezügliche Diskussionnicht führen will (Nagel, Mind and Cosmos, S. 113, 114).

290 Nagel, Mind and Cosmos, S. 93.291 Nagel, Mind and Cosmos, S. 93.292 Aristoteles, Physica, III 2: «διὸ ἡ κίνησις ἐντελέχεια τοῦ κινητοῦ, ᾗ κινητόν» (202a7f); Robert Spaemann

übersetzt verdeutlichend: «Bewegung ist die Wirklichkeit des Möglichen als des Möglichen» (Spaemann,Löw, Natürliche Ziele, S. 47 sowie dazu S. 264, Fußnote 11); ähnlich die dreimalige Definition der Bewegungin Abschnitt III 1 (vgl. Aristoteles, Physica, Einleitung, S. XXXIV): «ἡ τοῦ δυνάμει ὄντος ἐντελέχεια, ᾗτοιοῦτον, κίνησίς ἐστιν» (201a10f); «ἡ δὲ τοῦ δυνάμει ὄντος [ἐντελέχεια], ὅταν ἐντελεχείᾳ ὂν ἐνεργῇ οὐχ ᾗαὐτὸ ἀλλ΄ ᾗ κινητόν, κίνησίς ἐστιν» (201a27f); «ἡ τοῦ δυνατοῦ, ᾗ δυνατόν, ἐντελέχεια φανερὸν ὅτι κίνησίςἐστιν» (201b4f).

293 «Temporally extended developments of which they form a potential part» (Nagel, Mind and Cosmos,S. 93).

294 Dadurch scheint Nagel auch dem Vorwurf einer Konzeption eines aus der Zukunft in die Vergangenheitzurückwirkenden, «ziehenden» Ziels zu entgehen.

295 Für eine klare und knappe Zusammenfassung vgl. Eder, Atomphysik , S. 51f. — Wegen der vernachlässig-baren praktischen Relevanz der Theorie des Messprozesses und nicht zuletzt aus didaktischen Gründenwird die Thematik in quantenphysikalischer Einführungsliteratur kaum mehr als gestreift, so z. B. beiCohen-Tannoudji et al., Quantum Mechanics, Bd. 1, S.226. Die Schwierigkeit besteht in der konzeptuellnotwendigen, theoretisch auch möglichen, praktisch aber nicht durchführbaren Einbeziehung auch derMessapparatur in die theoretische Beschreibung der physikalischen Situation.

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

less, mathematically formulated physical laws»296 niederschlägt, wenig abzugewinnen ist. —Unserem Verständnis nach hat Nagel jedenfalls mit seiner Spekulation über so weitreichendeund doch so schwach begründete Modifikationen sich selbst wie der von ihm propagiertenteleologischen Weltsicht keinen guten Dienst erwiesen. Zudem sei an dieser Stelle zumindestder Eindruck formuliert, der Grund dafür könnte die ungenügende Nutzung der Möglichkeiten,die ein neutraler Monismus ihm für die Verbindung des Mental-Geistigen mit dem Physischenböte, ausschlaggebend sein; und ist es auch tatsächlich schwierig zu sehen, wie ein tatsäch-lich neutraler Monismus, der, anders als ein verkappter Mentalismus297, das Materielle demMentalen gleichrangig behandelt, zu Nagels Selbsteinordnung in eine idealistische Traditionkompatibel wäre, so spricht doch etliches dafür, dass seine idealistische Seite in der gesamtenin Mind and Cosmos vorgelegten Konzeption bei weitem das Übergewicht gewonnen hat.

Status der Materie: Vielleicht ist es ebenfalls diese idealistische Tendenz Nagels, die sich— ohne größere inhaltliche Relevanz für die Gesamtgestalt seiner Weltdeutung — in einerden naturwissenschaftsaffinen Leser irritierenden Tendenz zur ungenügenden Berücksichti-gung konkreter materieller Gegebenheiten niederschlägt298, die ihrerseits den Eindruck einesinsgesamt recht zweifelhaften Status der Materie erweckt: Auffälligerweise spricht ThomasNagel nämlich durchgängig von den Naturgesetzen (deren mathematische Formulierbarkeiter, ein Missverständnis seinerseits nahelegend, übermäßig betont) als tragendem Grund derWelt unter ihrem materiellen Aspekt, kaum jedoch von der Materie selbst, und wo er diesdoch tut, geschieht es in unübersehbarer Distanzierung299. — Zwar wäre es wohl eine Über-interpretation, wollte man darin eine Transposition der platonischen Sicht, Sein komme inWahrheit den ewigen Ideen, nicht aber dem durch Kombination mit dem unterbelichtetenIndividuationsprinzip des Raumes durch Anteilhabe an der Idee entstehenden Einzeldingzu, nun aber umgelegt auf unveränderliche Naturgesetze, ungestalte Materie und Teilchen,sehen; die Tatsache einer durchgängigen Unterbewertung der Materie durch Nagel, wie siesich auch in seinem eben betrachteten Fokus auf die Modifikation der physikalischen Gesetzeunter Außerachtlassung der Möglichkeiten der von ihm vorausgesetzten neutral-monistischenGrundbausteine der Realität (s. o.) niederschlägt, bleibt jedenfalls bestehen.

3.2.2.2. Naturwissenschaftliche Implikationen: Biologie

Wenn Thomas Nagel gleich zu Beginn von Mind and Cosmos «a particular naturalistic Weltan-schauung» als «target» seiner Argumentation namhaft macht, so nennt er zwei Charakteristikadieses «comprehensive, speculative world picture»: die Voraussetzung eines hierarchischenVerhältnisses von Physik, Chemie und Biologie sowie die durch die Vereinigung dieser Diszi-plinen zu erreichende Vollständigkeit der Erklärung des Universums300. Während der zuletzt296 Nagel, Mind and Cosmos, S. 8.297 Dies scheint Nagels eigene Einschätzung des neutralen Monismus zumindest noch im Jahr 2000 anlässlich

des Psychophysical Nexus (S. 210) gewesen zu sein; vgl. Fußnote 91 (S. 55).298 So schon im Zusammenhang mit dem Taschenrechnerbeispiel zum Schema konjunktiver Erklärung konsta-

tiert, vgl. Fußnote 91 (S. 55).299 «An extremely comlicated consequence of the behavior of physical particles» (Nagel, Mind and Cosmos,

S. 19).300 Ob dieser Anspruch in dieser Form tatsächlich erhoben wird und nicht gerade im Widerspruch zu dem

von Nagel seinen Gegnern unterstellten Reduktionismus steht, muss an dieser Stelle nicht geklärt werden.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

erhobene Anspruch offenkundig zu dem von Nagel in Anschlag gebrachten Erklärungsbegriffinkompatibel ist, spricht er mit der ersten Facette des sog. naturwissenschaftlichen Weltbildesdas Gefüge der Naturwissenschaften insgesamt, v. a. aber — dies zeigt der weitere Verlaufvon Mind and Cosmos — die Stellung der Biologie innerhalb desselben an.

Gewiss hieße es, Nagel krass misszuverstehen, betrachtete man ihn als Vitalist, doch fälltjedenfalls auf, dass er eine unabhängige Sonderstellung der Biologie gegenüber Physik undChemie301 wiederholt andeutet oder klar voraussetzt302. Dass diese nicht in einem élan vitalBergson’scher Konzeption303 besteht, ist klar, und dies ungeachtet der bemerkenswerten Par-allelität der beiden Ausgestaltungen von Bergsons élan-vital -Konzeption zu Nagels zweifacherTeleologie: Die für die Frage des Verhältnisses von Biologie und Physik v. a. maßgebliche,vom früheren Bergson geltend gemachte individuelle Lebenskraft304 steht nämlich in einergewissen Korrespondenz zu Nagels Lebensteleologie, während umgekehrt die Entsprechungvon Bergsons Zuschreibung an den in seiner Evolution insgesamt vom élan vital bestimmtenKosmos in dessen späteren Schriften305 zu Nagels Wahlteleologie auf der Hand liegt.

Die von Nagel angesetzte Sonderstellung der Biologie ist im Kontext von Mind and Cosmosumso erstaunlicher, als er eine materialistische Erklärung des Lebens als des für die Biologiecharakteristischen Phänomens für durchaus möglich zu halten scheint, sich mit den Schwie-rigkeiten einer reduktionistischen Sicht darauf nicht aufhält und die Biologie andererseitsdurchaus in den Bereich der «physical sciences» einordnet306 und vom Biologischen auf dasPhysikalisch-Chemische schließt307. — Einmal jedoch scheint Nagel den Grund für die Sonder-stellung der Biologie deutlich zu formulieren: «So if mind is a product of biological evolution[. . . ] then biology cannot be a purely physical science»308: Die Schwierigkeit dieser Formulie-rung ist dabei zu entscheiden, ob «physical» hier Physikalisches oder nicht bloß Physisches (imSinne von Materiellem, Nichtmentalem) anspricht309. In letzterem Fall — unsere bevorzugteLesart — handelte es sich gar nicht um eine Aussage zum Verhältnis von Biologie und Physikund ist zur Frage der Sonderstellung nichts aus dieser Stelle zu erfahren; sollte «physical»hier hingegen tatsächlich «physikalisch» bedeuten, so könnte höchstens die herkömmliche,noch nicht nach Maßgabe des längst schon eingeführten310 neutralen Monismus modifiziertePhysik gemeint sein, will man Nagel nicht unterstellen, auch hier die Möglichkeiten, die einneutraler Monismus ihm bietet, ungenutzt gelassen zu haben.

301 Dabei ist die Nennung der Chemie ohnedies redundant, da Chemie dem Anspruch nach zur Gänze aufAtom- und Molekülphysik zurückzuführen ist. Demgegenüber scheint Nagel einmal die Eigenständigkeitauch der Chemie gegenüber der Physik anzudeuten, ohne freilich zu sagen, worin diese bestehen könnte(Nagel, Mind and Cosmos, S. 12).

302 Nagel, Mind and Cosmos, S. 4, 8, 13, 19, 33, 43.303 Das Folgende stützt sich auf die Zusammenfassungen bei Aster (Geschichte, S. 405–409) und Danzer (Wer

sind wir? , S. 18–29).304 Danzer, Wer sind wir? , S. 22.305 Danzer, Wer sind wir? , S. 22; Aster, Geschichte, S. 406.306 «Physical sciences, extended to include biology» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 13).307 «Some reason to doubt that a reductive materialism can apply even in biology, and therefore reason

to doubt that materialism can give an adequate account even of the physical world» (Nagel, Mind andCosmos, S. 14).

308 Nagel, Mind and Cosmos, S. 15.309 Karin Wördemann übersetzt «physical» durchgängig als «physikalisch» s. o., Fußnote 3.1.2.3 (S. 53).310 Nagel, Mind and Cosmos, S. 5.

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3.2. Nagels Teleologiekonzeption

3.2.2.3. Weitere Anfragen

Abschließend seien noch einige der an Nagels Konzeption zu richtenden Anfragen, wie siesich aus unserem Verständnis der in Mind and Cosmos vertretenen teleologischen Weltsichtergeben, zumindest kurz angeführt, freilich ohne dass hier der Raum für eine weitergehendeDiskussion wäre.

Immanenz der Teleologie: Nagel erhebt klar den Anspruch einer von allem metaphysischenBallast311 unbeschwerten wertteleologischen Konzeption. Umso gravierender scheint unsdaher der notwendige Hinweis, dass Nagels sorgfältig immanente Konstruktion nur für dieLebensteleologie sowie für den in beiden Teleologieformen beförderten immanenten Wert,nicht aber für die Wahlteleologie gilt. Wie wäre nämlich immanent einzusehen, dass das«Erwachen» des Universums mit seinem besonderen, das Nebeneinander beförderten Werts ineine Tendenz zur Höherentwicklung umformenden Modus der Wertsteigerung ein umfassendesZiel des Kosmos darstellt? Ohne die umgreifende Wahlteleologie bliebe Nagels Konzeptionunabgeschlossen; mit ihr aber scheint sie der Nähe zu Metaphysik und Theismus doch nichtgänzlich entgehen zu können.

Korrektur der Naturgesetze: Nagels Einwand gegen die breit als Theismen zusammenge-fassten Positionen ist — neben seinem persönlichen Fehlen eines «sensus divinitatis»312 —nicht so sehr, dass diese nichts erklären313, sondern vielmehr ihre mangelnde Produktivität:sie hätten «[no]thing more to say about how [divine] intention operates except what is foundin the results to be explained»314. Dieses Kriterium aber, wonach eine zur Erklärung herange-zogene Hypothese mehr verständlichen machen sollte, als was zu erklären sie eingeführt wurde,scheint an zumindest einem Punkt durchaus auch Nagels eigenen Vorschlag zu treffen: Dennwas, außer dem, wofür sie eingeführt wurden, stützte die von Nagel geforderten Ergänzungender bekannten, deterministischen physikalischen Gesetze durch «other laws of nature that are‹biased toward the marvelous›»315 bzw. durch die Aspekte von Geschichtlichkeit316, zeitlicherNichtlokalität und Indeterminismus317? Jedenfalls sind die von Nagel geforderten Modifikatio-nen so vage und erschließen sich überdies, wie wir gesehen haben, in ihrer Notwendigkeit sowenig, dass nicht zu sehen ist, welche Beobachtungen oder Überlegungen für sie sprächen.

Erklärungsbegriff: Schließlich ist mit Blick auf die grundlegende Bedeutung des anspruchs-vollen Nagel’schen Erklärungsbegriffs wie auch des daraus entwickelten Intelligibilitätsbegriffszu fragen, als wie plausibel die diese kennzeichnende Totalität und die von Nagel in Anschlaggebrachte Erfordernis der Einheitlichkeit erachtet wird. Sind diese nicht vielmehr in ihrerFunktion als gegen die von Nagel bekämpfte Position des reduktionistischen Materialismus

311 «Metaphysical baggage» (Nagel, Mind and Cosmos, S. 98).312 Nagel, Mind and Cosmos, S. 12.313 Nagel, Mind and Cosmos, S. 25f.314 Nagel, Mind and Cosmos, S. 25.315 Nagel, Mind and Cosmos, S. 92.316 Wie sollte Geschichtlichkeit im Sinne einer zeitlichen Variation der grundlegenden Naturgesetze ohne die

Voraussetzung von Zeitreisen auch nur prinzipiell einer empirischen Überprüfung zugänglich sein?317 S. o., Abschnitt 3.2.2.1.

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

anzusetzender Hebel besser verstanden, als wenn man die selbstverständliche Entsprechungzu einem verbreiteten Verständnis von Erklärung unterstellte? — Eine spezielle Facette dieserFrage betrifft die Plausibilität des wiederholt auftretenden Motivs, wonach, was für unsbedeutsam ist, in seiner Erstaunlichkeit nach einer Erklärung in Nagels anspruchsvollem Sinnverlangt318, sodass jeder vor dem Erreichen notwendiger Wahrheiten beendeten Untersuchungder Vorwurf der faulen Vernunft zu machen ist319. Und doch: ist nicht auch Nagels Konzeptionvor die Wahl zwischen einem Axiarchismus von der Art, wie John Leslie ihn vertritt320, undim Letzten anzusetzenden «brute facts» gestellt? Seine Bezugnahme auf Derek Parfits WhyAnything? Why This? 321 jedenfalls scheint dies nahezulegen.

3.3. Kritische Würdigung

An zwei Stellen, beim Erklärungsbegriff und bei der objektiv-selektiven Doppelnatur vonWert, mussten wir Elementen von Nagels Darstellung in Mind and Cosmos eine zentralePosition zuweisen, die so im Text nicht deutlich wird, und an einer dritten, nämlich derUnterscheidung zweier nicht ineinander überführbaren Formen von Teleologie, gelangtenwir zu einem Ergebnis, das der von Nagel für seine Sicht in Anspruch genommene Qualitätder Einheitlichkeit der Weltdeutung zuwiderläuft: Die Möglichkeit eines Missverständnissesoder einer an Nagels Position vorbeigehenden Lesart muss durchaus ins Auge gefasst werden.Unsere Darstellung im vorangegangenen Abschnitt 3.2 stellt jedenfalls den Versuch einerwohlwollenden Interpretation von Mind and Cosmos dar, wobei wir von der Möglichkeitausgingen, eine konsistente Position des Autors herauszuarbeiten und, da die im Buch sodominante Abwehr alternativer Sichtweisen keine Rolle spielen soll, im Positiven klarerzu präsentieren. — Eine scheinbar unabhängige Fragestellung betrifft die, nach welchemMaßstab zu beurteilen wäre, was doch nur tastendes Erkunden denkbarer Möglichkeitenmit dem Ziel einer erst umrisshaft erkennbaren, vom Urheber selbst immer noch als «fartoo unimaginative»322 erachteten teleologischen Konzeption sein will: Je nach Einschätzungdes von Nagel mit Mind and Cosmos explizit wie implizit erhobenen Anspruchs323 wirdman unterschiedliches Gewicht auf die unverkennbaren Schwierigkeiten des Textes legen.Dabei haben wir die Balance, die zwischen der Scheinbilligkeit einer übergenauen, überEinzelproblemen das Gesamt der Nagel’schen Konzeption aus dem Blick verlierenden Exegeseund einer sich der genaueren Befassung entschlagenden Oberflächenwahrnehmung zu finden ist,mit unserer Nachzeichnung für uns bereits entschieden: Die Grundgestalt dessen, worauf Nagel

318 Nagel, Mind and Cosmos , S. 7 u. ö.; Nida-Rümelin (Mind and Cosmos) sieht in diesem «exceptionalism» —«Remarkable things have to be explained as non-accidental» (S. 404) — das Hauptproblem von Mind andCosmos (S. 405), und auch Yates (Mind and Cosmos, S. 805) fragt: «But according to which objectivedefinition of ‹remarkable› does consciousness count as something remarkable, whereas a pleasant day inthe countryside does not? Nagel does not say, but it is difficult to avoid thinking that whether or notsome phenomenon is remarkable depends as much upon our attitudes towards it as upon the phenomenonitself.»

319 Nagel, Mind and Cosmos, S. 20.320 Für die Gründe, weshalb Nagel seine Distanz zu dieser Konzeption wahren muss, vgl. Fußnote 267 (S. 78).321 Nagel, Mind and Cosmos, S. 123.322 Nagel, Mind and Cosmos, S. 127.323 S. o., S. 50.

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3.3. Kritische Würdigung

in seinem Suchen zugeht, stimmt unseres Erachtens nämlich i.W. mit der systematischenSkizze von Abschnitt 3.2.1 überein; ihr gegenüber sind die im Zuge der Komplettierung inAbschnitt 3.2.2 teils aufgeworfenen Anfragen, so gravierend sie auch sein mögen, für dieGesamtkonzeption von nur sekundärer Bedeutung.

Und dieser Gesamtkonzeption ist, sehen wir über Detailfragen hinweg, eine gewisse Schlüs-sigkeit im Großen jedenfalls nicht abzusprechen. Die Beurteilung hängt somit wesentlich vonder Einschätzung der immer spekulativeren Folgerungen aus dem Werterealismus wie auchdes argumentativen Ausgangspunkts ab; diese beiden Aspekte aber erweisen sich als engmiteinander verbunden. Wo nämlich Nagel unserem Verständnis nach in seinem Vorhaben,mit einem geeignet gewählten Wertbegriff einen immanenten Schlusspunkt für seine Teleologieanzugeben, versagt324, ist zunächst nach der Funktion der von uns als «Wahlteleologie»bezeichneten Zielgerichtetheit des «erwachenden» Universums zu fragen, was uns wiederumgenau zu jenen Ausgangselementen der Nagel’schen Argumentation führt, die uns als nichtausreichend plausibilisiert zu beanstanden zu sein scheinen. — Ein Aspekt der Funktion derWahlteleologie betrifft dabei Nagels Wahrscheinlichkeitsargument325: Zum einen eröffnet sienämlich die Möglichkeit, die Einzigkeit unseres Universums trotz seiner Besonderheit — «Theworld is an astonishing place»326 — aufrecht zu erhalten; eine Viele-Welten-Hypothese aberwürde Nagels Wahrscheinlichkeitsargument über das schwache anthropische Prinzip völligdestruieren327. Zum anderen aber dient die Wahlteleologie direkt dazu, das Unwahrschein-liche dieses «erstaunliche[n] Ort[es]»328 wahrscheinlich zu machen. — Ein zweiter Aspekthängt hingegen mit Nagels Forderung nach Vollständigkeit und Einheitlichkeit sowohl jederakzeptablen Erklärung als auch der Intelligibilität der Welt zusammen: Wo nämlich dietatsächlich immanent konstruierte Lebensteleologie das Auftreten von «mind» in «cosmos»nur als glücklichen Zufall erscheinen ließe, macht Nagels Wahlteleologie nicht nur diesesAuftreten von Mental-Geistigem im Kosmos sondern auch die Möglichkeit von dessen (überdas Vorkommen von Geistwesen vermittelte, plausiblerweise vollständige) Verständnis seinerselbst verständlich; diese potentielle Transparenz des Universums für sich selbst — sie istoffenkundig bereits in Nagels Intelligibilitätsbegriff vorausgesetzt — gibt aber wohl auch denSinn des totalen Charakters seines Erklärungsbegriffs an. Gerade diese drei begründungslos anden Anfang seiner Argumentation gestellten Elemente von Wahrscheinlichkeit, Intelligibilitätund Erklärung aber ermangeln jener Evidenz, die sie ohne Weiteres zum Ausgangspunkt derEntwicklung geeignet machte: So erweist sich, dass, was mit diesen, wie wir gezeigt haben,nicht unproblematischen Elementen in die Argumentation eingeführt wurde, am Ende inForm der nicht minder schwierigen, dem «metaphysischen Ballast» erst recht nicht ganzentgehenden Wahlteleologie wiederum erscheint329.

324 S. o., Abschnitt 3.2.2.3.325 S. o., Fußnote 34 (S. 47) sowie die Überlegungen von S. 59.326 Nagel, Mind and Cosmos, S. 7.327 Nagels oberflächliche und polemische Bezugnahme auf das schwache anthropische Prinzip und sein

argumentationsfreier Vergleich mit der «Erklärung» des Kabinendrucks in einem Flugzeug (Nagel, Mindand Cosmos, S. 95, Fußnote 9) ist jedenfalls als unfair und inadäquat abzulehnen.

328 Nagel, Geist und Kosmos, S. 16.329 Dabei scheint Nagel das v. a. in Kapitel 5 betonte Ziel einer rein immanenten Konstruktion nicht immer

präsent gewesen zu sein, so etwa, wenn ihm erkennender Bezug auf «objective reality and objective value»die Weiterentwicklung von «consciousness into an instrument of transcendence» zu erfordern scheint(Nagel, Mind and Cosmos, S. 85).

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3. Thomas Nagel: Teleologie evolutionärer wie kosmischer Wertbezogenheit

Doch was bliebe, wenn wir von diesen problematischen Aspekten absähen? Zum Teil ändertesich an der positiven Konzeption nur wenig, denn so manches dient vorrangig dazu, Gegenpo-sitionen anzugreifen, einen — im Einzelnen dann doch wenig erfolgreichen — Nachweis fürdie Notwendigkeit einer teleologischen Sicht zu suggerieren und dem kreationistischen Lagerentstammende, allgemein als wenig überzeugend eingeschätzte Wahrscheinlichkeitsabschätzun-gen330 aufzunehmen. Die einschneidendste Änderung, die sich für Nagels Teleologiekonzeptionvermutlich ergäbe, ist hingegen der völlige Wegfall der kosmischen Wahlteleologie: Das Er-wachen des Universums in einem speziesübergreifenden kollektiven mental-geistigen Prozesswäre nur mehr zu konstatieren und sein spezifisch geistiger Aspekt bliebe unerklärt; dieevidentermaßen vorliegende materiell-mentale Realität aber wäre mit Nagels Lebensteleologiejedenfalls als kompatibel ausgewiesen, und die Umkehrung der Blickrichtung relativ zurdarwinistischen Weltsicht, wonach strikt immanenter Wert evolutionär wirksam wird, wiesevermutlich den Weg über evaluativen auch zu epistemischem Realismus sowie insgesamtzu einem «way of understanding ourselves that is not radically self-undermining, and thatdoes not require us to deny the obvious»331 und einem «plausible picture of how we fit intothe world»332: auch ohne Wahlteleologie sollte Nagel seine praktische Zielsetzung erreichenkönnen und wäre damit wohl nicht weniger gesellschaftlich relevant, als er es mit Mindand Cosmos ist. — Freilich handelte es sich dabei um eine bescheidenere Theorie als diein Mind and Cosmos zumindest umrisshaft vorgelegte: Kompatibilität träte an die Stelledes Anscheins zwingender Notwendigkeit, und die teleologische Erklärung beleuchtete nureinen Ausschnitt der Entwicklung des Kosmos; zudem bestünde wenig Grund, so antagonis-tisch gegen reduktionistischen Materialismus aufzutreten, wie Nagel es tut, und eröffnetesich vielmehr die Möglichkeit, naturwissenschaftliche Entwicklungen auch darwinistischenEinschlags, solange mit ihnen keine szientistischen Grenzüberschreitungen verbunden sind, alsBereicherung des noch vagen Bildes direkt aufzunehmen. Vermutlich333 wäre der Wert einessolchen Kompatibilitätsaufweises bei gleichzeitigem Angebot einer nichtreduktionistischenWeltsicht nicht geringer zu veranschlagen als der in Anspruch und Reichweite vielleicht dochüberdehnte Vorschlag von Mind and Cosmos.

330 Für den unserer Überzeugung nach maßgeblichen Gehalt dessen, was Nagel über Wahrscheinlichkeitsaus-sagen deutlich machen möchte, s. o. S. 61.

331 Nagel, Mind and Cosmos, S. 25.332 Nagel, Mind and Cosmos, S. 25.333 Allerdings fasst Street (Darwinian Dilemma, S. 144) bereits 2006 wertrealistische Strategien mit den

Worten «Realists frequently appeal to the case of pain when defending their views» zusammen und verweistdabei gleich auf das Beispiel von Nagels The View from Nowhere (Fußnote 52). Zwar gründet sich selbstdie immanente Wertkonzeption Nagels, anders als der von Street betrachtete Einwand, nicht auf das alsbloßes Beispiel gewählte Erleben von Lust und Schmerz, sodass Streets Argument die Grundlage derLebensteleologie zumindest nicht direkt trifft. Doch stellt sich jedenfalls die nur im Blick auf den weiterenKontext zu beantwortende Frage (der hier natürlich nicht nachgegangen werden kann), wieviel an NeuemNagels Entwurf nach Beschneidung um die umfassende Wahlteleologie in die Debatte noch einzubringenhätte.

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4. Die Teleologiekonzeptionen inkontrastierender Zusammenschau

4.1. Kontinuität und Gegensatz

4.1.1. Erfordernis einer Verhältnisbestimmung

It seems reasonable [. . . ] to evaluate hypotheses about the universe and how wehave come into existence by reference to ordinary judgments in which we have veryhigh confidence. It is reasonable to believe that the truth about what kind of beingswe are and how the universe produced us is compatible with that confidence. Afterall, everything we believe, even the most far-reaching cosmological theories, hasto be based ultimately on common sense, and on what is plainly undeniable. Thepriority given to evolutionary naturalism in the face of its implausible conclusionsabout other subjects is due, I think, to the secular consensus that this is the onlyform of external understanding of ourselves that provides an alternative to theism— which is to be rejected as a mere projection of our internal self-conception ontothe universe, without evidence.1

Stünde dem nicht der Unterschied von Sprache, Stil und Terminologie («Theismus») entge-gen, so könnte dieses Zitat aus Thomas Nagels Mind and Cosmos genauso gut von RobertSpaemann stammen. Die hier angesprochenen Motive belegen eine gewisse Nähe der beidenAutoren, die bemerkenswerterweise über das, was in den respektiven Zielsetzungen der Ent-wicklung eines in gewissem Sinn dezidiert teleologischen Verständnisses und der Zurückweisungder gemeinsamen Gegenposition eines reduktiven evolutionistischen Materialismus bereitsimpliziert ist, deutlich hinaus geht. Das von Nagel hier in den Vordergrund gerückte Vertrauenin menschliches Alltagsverständnis («It seems reasonable. . . »), das einen Maßstab auch fürdie Bewertung wissenschaftlicher (oder doch bloß wissenschaftlich auftretender, tatsächlichszientistischer?) Hypothesen abgibt («to evaluate. . . ») und, weil sich Naturwissenschaft imLetzten davon wie auch von unzureichend aufgenommenen und doch unleugbar realen Phäno-menen («undeniable») nicht abkoppeln kann, dieser gegenüber prioritär ist («After all. . . »),sowie die offenkundige Insuffizienz des Naturalismus, dessen Akzeptanz darauf beruht, dasser, dem «secular consensus» nach der endgültigen «Vollstreckung» der Teleologie zufolge, alseinzig wissenschaftlich akzeptable, weil nicht auf Intentionen eines Göttlichen rekurrierendeOption übrig bleibt («only form. . . »): all diese Motive sind leicht auch bei Spaemanns undLöws Teleologiebuch auszumachen. Tatsächlich könnte man versucht sein, noch weitere Be-rührungspunkte auszumachen: Entspricht denn nicht «what kind of beings we are» unserer

1 Nagel, Mind and Cosmos, S. 29.

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4. Die Teleologiekonzeptionen in kontrastierender Zusammenschau

(von Spaemann eben als teleologische bestimmten) Verfasstheit, und spricht nicht die Frage«how we have come into existence» bzw. äquivalent «how the universe produced us» dieKontingenz, die unser Werden und Erleben auszeichnet, direkt an? Alleine: der Kontext desZitats macht deutlich, dass Nagel hier keineswegs Spaemanns kontingente Unbedingtheit imSinn hat sondern vielmehr die Unterscheidung von konstitutiver und historischer Fragestellunganspricht. — Umgekehrt ließen sich genauso gut Zitate ausfindig machen, die den schärfstenGegensatz der beiden Positionen belegen: Einem rein immanenten Telos etwa, wie Nageles anstrebt, kommt nach Spaemann «kein[ ] Sinn» zu, und Spaemanns «sie sind eben so»2

wendet Nagels Vorwurf an Materialismus und Theismus, sie böten keine über «this is just howthings are»3 hinausreichende Begründung, fast wörtlich gegen ihn selbst. Überhaupt wäreNagels Position für Spaemann geradezu das Paradebeispiel jener «naiven Teleologisierungdes Universums»4, die gerade nicht angefragt ist; und läse man, anders als wir dies hier vor-schlagen, Mind and Cosmos im Sinne einer Universalteleologie5 mit einer «‹aus der Zukunftziehende[n] Zweckursache›, [einem] Dämon»6,7, so müsste man mit Spaemann gegen etwas «soObskures»8 — «Man möchte wissen, wer so etwas überhaupt gelehrt hat»9 — den doppeltenVorwurf eines falschen Zweckbegriffs10 und eines Verrats am «Primat des Wirklichen vor demMöglichen»11 geltend machen. Umgekehrt aber ist ein Verständnis von innen, wie Spaemannes vorzulegen beansprucht, das (ganz im Sinne Spaemanns) «just from the point of view thatwe naturally occupy in the world»12 ausgeht, für Nagel glatt ungenügend und eine auch einäußeres Verständnis unser selbst einschließende «larger world view»13 unumgänglich; und dieExtrapolation unseres Selbstverständnisses auf Nichtmenschliches ist der Spaemann’schenTeleologie mit ihrer Figur der Anerkennung von Selbstsein in nicht geringerem Maße zuattestieren als dem Theismus14.Trotz der unübersehbaren Kontinuität der Debatten, in deren Kontext Die Frage Wozu?

und, mehr als 30 Jahre später, Mind and Cosmos stehen, trotz eines weitgehend gemeinsamenAnliegens — denn Spaemanns «Frage danach, als was wir uns selbst verstehen wollen»15,findet in Nagels Suche nach einem Selbstverständnis «that is not radically self-undermining»16

seine direkte Entsprechung —, das beide Male auf eine Lösung teleologischen Charakters

2 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 61.3 Nagel, Mind and Cosmos, S. 17.4 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 225.5 Die Beurteilung des universalteleologischen Charakters der Nagel’schen Teleologie hängt ganz vom

Verhältnis der beiden von uns unterschiedenen Teleologieformen ab: Soferne aber tatsächlich, wie wirmeinen, Lebens- und Wahlteleologie nebeneinander bestehen, ohne dass erstere in letzerer aufgeht, fälltNagels Teleologievorschlag nicht unter Spaemanns Verdikt.

6 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 218.7 Wie in Abschnitt 3.2.2.1, insbesondere Fußnote 294 (S. 82) ausgeführt, geht eine solche Lesart u. E. an

Nagels Text vorbei.8 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 253.9 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 253.10 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 218.11 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 255.12 Nagel, Mind and Cosmos, S. 23.13 Nagel, Mind and Cosmos, S. 23.14 Nagel, Mind and Cosmos, S. 23.15 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 241.16 Nagel, Mind and Cosmos, S. 25.

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4.1. Kontinuität und Gegensatz

führt, für die die Autorität des Aristoteles wiederholt in Anspruch genommen wird17, undungeachtet der bei aller stilistischer Differenz von Spaemann, Löw und Nagel geteilten Neigungzu rhetorischem Überschwang, überspitzten, oft auch polemischen Formulierungen und eherlocker gefügter Darstellungsweise ist das Verhältnis der beiden Positionen somit keineswegs alsplatte Übereinstimmung noch als direkter Widerspruch zu charakterisieren. Einer genauerenBestimmung wollen wir uns nun zuwenden, wobei implizit auf das in den vorangegangenenKapiteln 2 und 3 erarbeitete Verständnis der beiden Positionen laufend Bezug genommenwird18. Zunächst jedoch sollen kurz noch einige Motive betrachtet werden, die in freilichunterschiedlicher Funktion und Gewichtung für beide Argumentationen von Bedeutung sind.

4.1.2. Gemeinsame Motive

4.1.2.1. Stufungen und Übergänge

In beiden Darstellungen, Natürliche Ziele wie Mind and Cosmos, erweisen sich Leben undLebendigsein als eine Scheide: bei Nagel demarkiert das Auftreten von Leben den Bereichimmanenten Werts, und auch bei Spaemann legt sich nahe, das, was als ein Lebendiges(dem es folglich mehr oder weniger gut ergehen kann) erkannt ist, als teleologisch verfasstund somit als ein Selbst anzuerkennen19. In dem damit eröffneten Daseinsbereich aber istunschwer eine gestufte Abfolge von Phänomenen auszumachen, die in ähnlicher Weise alszunehmend schwierig zu erklärende gegen die Gegenposition von Darwinismus bzw. reduktivemMaterialismus in Anschlag gebracht werden: es sind dies Leben, Bewusstsein, Geist undSittlichkeit bzw. Wertsensibilität20 — Stufungen des Daseins, die in zahlreichen Variationenschon von Alters her bedacht werden21; hier sei nur auf Aristoteles verwiesen, der etwa imBereich des Belebten die Stufen von Nährvermögen (θρεπτικόν), Wahrnehmungsvermögen(αἰσθητικόν), Vorstellungskraft (φαντασία), Überlegung und Vernunft (λογισμὸς καὶ διάνοια)sowie erkennendem Geist (θεωρητικὸς λόγος)22, als gestufte Lebensprinzipien aber die animae

17 Dabei könnte Spaemann gegenüber Nagel ein Missverständnis der aristotelischen Ursachenlehre geltendmachen, ist doch die Funktion der causa finalis in den heutigen Begriff des Naturgesetzes, von dem Nagelunveränderten Gebrauch macht, integriert (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 257), während umgekehrtNagel Spaemanns Position zwar vielleicht als aristotelesnahe, in Ermangelung eines wirksamen Telos aberkaum als teleologische akzeptierte: Spaemann vertritt ja, pointiert gesagt, eine Entelechie ohne Telos.

18 Explizite Verweise sowohl auf diese Kapitel als auch auf die Texte von Spaemann und Löw bzw. Nagelwerden daher nur bei wörtlichen Zitaten oder angesichts der Gefahr allzu großer Vereinfachung gesetzt.

19 In dieser Formulierung entsteht freilich die Gefahr einer Zirkularität, die bei Spaemann, der nie dieImplikation von Leben auf Selbstsein ausspricht, nicht besteht: Immerhin erforderte eine solche Implikationdie Verfügbarkeit eines vorteleologischen Lebensbegriffes, die Spaemann klar verneint. Die Betonung derMöglichkeit echten Maschinen- bzw. Computerschmerzes ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen.

20 Dabei behandelt Thomas Nagel das Leben nur am Rande und geht Spaemann auf mit Geltungsansprüchenverbundenes Geistiges, das tatsächlich in seiner Konzeption keine eigene Rolle spielt, nicht ein; andererseitsweisen Spaemann und Löw auch auf weitere, von ihnen nicht behandelte «Nahtstellen», nämlich dieAusbildung von Auge, Warmblütigkeit, Sexualität, Brutphase, Mehrzelligkeit und Schmerzempfindung,hin (Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 290, Fußnote 85 zu S. 191).

21 Sogar auf den lukanischen Paulus könnte man hier verweisen, der mit den Stufen von Sein, Bewegungund Leben (Apg 17,28a) bis hin zur Ähnlichkeit mit der Gottheit (Apg 17,28b) an die Denkgewohnheitenseines philosophisch gebildeten Publikums anzuschließen versucht.

22 Aristoteles, De Anima, II, 3, 415a 1–13.

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4. Die Teleologiekonzeptionen in kontrastierender Zusammenschau

sensitiva, vegetativa und rationalis23 sowie den von außen kommenden24, nicht mit demKörper vermischten25

νοῦς unterscheidet26.Dabei ist die hauptsächliche Funktion der Betrachtung der Seinsstufen bei Nagel und

Spaemann eine durchaus unterschiedliche: Wo es Nagel, der selbst ja eine dem Anspruchnach die ganze Wirklichkeit von Anfang an27 umfassende Weltdeutung vorlegt, anhand vonBewusstsein, Kognition und Wertrealismus, über die zunehmende Schwierigkeit für einenreduktiven Materialismus hinaus, v. a. um Hinweise auf die Plausibilität einer teleologischenKonzeption zu tun ist, will Robert Spaemann die punktuelle Betrachtung einzelner reduktio-nistischer Konzepte zu Leben, Bewusstsein und Sittlichkeit dazu verwenden, im Nachweis der«Erschleichung» einzelner Übergänge den Anspruch eines naturalistisch zu rekonstruierenden,lückenlosen Gesamtzusammenhanges zu diskreditieren. Auf die Problematik einzelner Argu-mentationsschritte hierbei wurde bereits hingewiesen28; v. a. aber sieht man leicht, dass bei dervon Spaemann gewählten punktuellen Betrachtung die jeweils relevante Übergangsproblematikvon der gewählten Definition des Phänomens abhängt29, weshalb durch den Nachweis derErschleichung im Einzelfall das Ziel einer reduktionistischen Gesamtdarstellung noch gar nichtgetroffen wird. Spaemanns Argumentation basiert ja darauf, jeden dieser Übergänge isoliertfür sich zu betrachten und dann darauf zu verweisen, dass der jeweils dargestellte Ansatz denÜberstieg zum jeweils Neuen nicht in adäquater Weise zu begründen vermag und vielmehrauf einer jeweils geeignet gewählten Definition beruht. Die interessierende Frage ist jedochkeinesfalls, ob eine konkrete Definition etwa von «Leben» die Realität dessen, was wir inunserer Selbsterfahrung als Leben vorfinden, trifft, die gewählte Terminologie also angemessenist, sondern vielmehr die, ob das dahinter stehende «große, vollständige Evolutionsprogramm,welches der Teleologie für immer und auf jeder Ebene den Garaus machen sollte»30 und aufdas Spaemann und Löw mit ihrer Kritik zielen, ohne argumentative Lücken durchführbar ist:das aber kann nur an einer Gesamtdarstellung abgelesen werden, die unstrittig beidseits desAuftretens des Phänomens liegende Endpunkte miteinander argumentativ verbindet. — Indiesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass mit Hoimar von Ditfurths Im Anfangwar der Wasserstoff jedenfalls bereits 1972 und somit längst vor Spaemanns Vorlesungen eineDarstellung verfügbar war, die dem Anspruch nach den Bogen von Urknall und primordialerNukleosynthese bis hin zu heutigem Menschen und künftigem «galaktischem» Bewusstseinspannt31, und angesichts der Dringlichkeit der von Spaemann aufgenommenen Debatte scheint

23 Aristoteles, De Anima, II, 3, 414a29–b6.24 «λείπεται δὲ τὸν νοῦν μόνον θύραθεν [v. l.: θύραθιν] ἐπεισιέναι καὶ θεῖον εἰναι μόνον» (Aristoteles, De

Generatione Animalium, II, 3, 36 (736b)).25 «οὐθὲν γὰρ αὐτοῦ ἡ ἐνέργεια κοινωνεῖ σωματικῇ ἐνεργείᾳ»: Aristoteles, De Generatione Animalium, II, 3,

36 (736b); ähnlich Aristoteles, De Anima, III, 4, 429a24–2726 Darüber hinaus finden sich noch weitere Stufungen bei Aristoteles, beispielsweise die der Erkenntnis

(Aristoteles, Metaphysica, I, 1, 980a27–981a12).27 Eine Rekonstruktion «aus dem Urknall» wäre hingegen nach Spaemann wegen der angeblich unendlich

großen Zahl der erforderlichen Schritte nicht realisierbar und prinzipiell «überschwänglich» (Spaemann,Unvollendbarkeit , S. 102).

28 Vgl. Fußnote 78 (S. 21).29 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 211.30 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 216.31 Dahingestellt bleiben muss freilich, inwieweit Ditfurths Im Anfang war der Wasserstoff im eigentlichen

Sinne als antiteleologisch einzustufen ist: Immerhin geht Ditfurth von biologischen Prinzipien, etwa derTendenz zur «Zusammenfassung elementarer Leistungen, die es auf darunter gelegenen Entwicklungsstufen

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4.1. Kontinuität und Gegensatz

es wenig gewagt, noch etliche weitere vergleichbare Entwürfe der damaligen Zeit zu vermuten.Ein weiterer Aspekt dieser Daseinsstufen, der bei beiden Konzeptionen von Bedeutung

ist, liegt jedenfalls in der Abwehr einer nach dem Modell bewussten Handelns gedachtenTeleologie und im Anliegen, den Bereich des Teleologierelevanten weiter offen zu halten: fürbloßes Lebendigsein, ja, u.U. sogar für eine von uns hergestellte und in der Konstruktionvöllig bestimmte Maschine. In der Beurteilung der praktischen Bedeutsamkeit nichtmensch-licher Tele für menschliches Handeln wiederum unterscheiden sich Spaemann und Nagelhingegen deutlich, was mit deren unterschiedlicher Einschätzung der Zugänglichkeit derInnenperspektive zusammenhängt.

4.1.2.2. Lust, Schmerz und die Zugänglichkeit der Innenperspektive

Wenn Spaemann teleologische Verfasstheit selbst bei einem echten Schmerz empfindendenComputer anzuerkennen bereit ist und Nagel seine immanente Wertkonstruktion auf demevidenten Unwert von Schmerz (und dem ebenso evidenten Wert von Lust) aufbaut, rekurrie-ren beide auf ein subjektives Erleben, das als solches von außen sicherlich nicht zugänglichist. Bei Nagel kann die Frage, wie wir von Schmerz bei nichtmenschlichen Wesen überhauptwissen könnten, gar nicht aufkommen: nur die Tatsache, dass Lust und Schmerz (bzw. Erfah-rungen, mit denen die Tendenz von Anstreben bzw. Vermeiden wesentlich verbunden sind) imUniversum überhaupt auftreten — und bei zumindest einer Spezies, dem Menschen, ist diesmanifest der Fall —, geht in seine Konstruktion ein. Tatsächlich würde Nagel bekanntlich dieZugänglichkeit dessen, wie es für Nichtmenschen ist, Schmerz zu empfinden, glatt abweisen:gerade dies war ja die Pointe seines berühtem Essays What is it like to be a Bat? : Wissbarist für uns ausschließlich das aus der Dritte-Person-Perspektive Erfassbare, auf das aberdie Erste-Person-Perspektive nicht reduziert werden kann; dementsprechend ist immanenterWert bei Nagel konsequent speziesrelativ und will er keineswegs einfach bejahen, dass (selbsteinmal erkannter) Wert einer anderen Spezies Grund des Handelns werden soll32. — Ganzanders stellt sich dies in Spaemanns prononciert anthropomorpher Teleologiekonzeption dar:Die Zuschreibung einer der eigenen bis zu einem gewissen Grade analogen Verfasstheit aneine andere Existenz ist geradezu gebunden an eine zumindest rudimentäre Zugänglichkeitvon deren Innenperspektive, und die Weise dieses «sympathetischen»33 Zugangs besteht ineiner Art «Identifikationsvorgang. Wir können uns vorstellen, was wir täten, wenn wir in derLage des [im Netz zappelnden] Fisches wären. Denn wir können uns tatsächlich bis zu einemgewissen Grade in die Lage des Fisches ‹hineinversetzen›, da auch wir wahrnehmen und Ziele

schon gab» (S. 306), aus, die sich aber «zu [ihrer] Verwirklichung sehr wohl ganz unterschiedlicherMaterialien bedienen» (S. 318) und deren Verwirklichung darauf zurückzuführen ist, dass «Geist, Phantasie»(im Sinne von Antizipation) «und Zielstrebigkeit» im Universum von Anfang an wirksam sind (S. 14).Zweifellos aber wird das Moment des grundlegend Neuen, wie Spaemann es etwa bei Leben, Bewusstsein undSittlichkeit so stark herausstellt, zugunsten der Kontinuität zwischen den Entwicklungsstufen relativiert,was sich etwa in der bezeichnenden Setzung von Anführungszeichen im Titel des vierten Teils des Buchesniederschlägt: «Die Erfindung der Warmblütigkeit und die Entstehung von ‹Bewusstsein›».

32 Nagel, Mind and Cosmos, S. 120.33 Spaemann, Unvollendbarkeit , S. 105.

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4. Die Teleologiekonzeptionen in kontrastierender Zusammenschau

verfolgen»34,35. Der Kontrast zu Nagel, der ja gerade betont, wir könnten nicht wissen, wie esetwa für eine Fledermaus ist, Fledermaus zu sein36, könnte kaum schärfer sein, und fast istman versucht, hier eine indirekte Bezugnahme auf Nagel zu vermuten37.

4.1.2.3. Telosverfehlung und Reichweite der Teleologie

Spaemanns Beispiel des im Netz zappelnden Fisches zeigt es: die für teleologische Verfasstheitcharakteristische plastische Zielverfolgung kann ebenso scheitern wie auch die von Nagelpostulierte teleologische Modulation der Zustandsübergangswahrscheinlichkeiten nur zu einererhöhten Wahrscheinlichkeit des Erreichens des präferierten Ziels führt, und die Wirksamkeitder Entelechie des Selbst bzw. des teleologisch modulierten Indeterminismus38 ist somit reininstantan. (Die Möglichkeit, dass ein Telos nicht erreicht wird, besteht im Übrigen immer,wenn unterschiedliche Tele nebeneinander stehen und folglich in Konflikt geraten können: Sobei Spaemann im durchaus gegensätzlichen Aus-sein-Auf teleologisch verfasster Individuen,bei Nagel hingegen im Nebeneinander kosmischer Wahlteleologie und auf für jede Spezies jeneu zu bestimmenden Wert bezogener Lebensteleologie.)

Woferne Spaemann aber plastische Zielverfolgung zum Kriterium der Erkennbarkeit macht,spielt Perzeption eine wesentliche Rolle: tatsächlich ist, ganz der von ihm betonten Un-möglichkeit einer scharfen Grenze zwischen teleologischer und ateleologischer Verfasstheitentsprechend, zweifelhaft, ob Spaemann vorbewusstem, der Wahrnehmung nicht fähigem Le-bendigsein, wie es etwa für ein Bakterium anzunehmen ist, den Status eines Selbst zuschreibenwürde, auch wenn es angesichts sowohl seiner Bezugnahme auf denkbaren Computerschmerzwie auch aufgrund des Wissens, dass auch ein Bakterium «auf etwas aus» ist, nicht unplau-sibel erscheint39. Bei Nagel hingegen ist deutlich, dass bewusstes Leben bereits die zweiteStufe immanent-werthaltiger Existenz ist: als Lebewesen fällt selbst ein Bakterium nochunzweifelhaft in den Bereich immanenten Wertes, während dies für ein noch so kompliziertesArtefakt ebenso klar nicht zutrifft, und während die Reichweite der Teleologie für Spaemannnur annähernd zu bestimmen ist, vertritt Nagel eine Sicht, der zufolge der ganze Kosmosteleologisch strukturiert ist, was wiederum aus den Hinweisen, die Empirie und unser Erlebenuns bieten, (wenn auch nicht mit letzter Sicherheit, denn die Option des Skeptizismus bleibtimmer40) zu erschließen sei.

34 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 232.35 Doch kann diese vermeintliche, auf Mitfühlen und Sich-Hineinversetzen beruhende Zugänglichkeit nicht

auch eine völlig illusorische sein? Zumindest legen dies Berichte über die Reaktion von Probanden auf Bilderverletzter Roboterhände nahe (Stanzl, Herzensangelegenheit), will man den Maschinen nicht tatsächlicheine Innenperspektive unterstellen.

36 Nagel, Bat , S. 168f.37 Dazu kommt noch, dass Nagel, in deutlichem Gegensatz zu Spaemann, einen auf «empathy or the

imagination» beruhenden Zugang zum What-it-is-Like der Fledermaus klar ablehnt (Nagel, Bat , S. 179).38 Zur besonderen Problematik der von Nagel vorgeschlagenen Korrekturen zur Physik s. o., Abschnitt 3.2.2.1.39 Vgl. auch Fußnote 102 (S. 24). — Weniger klar ist die Situation etwa bei Viren: Da diese keinen eigenen

Stoffwechsel aufweisen, gelten sie allgemein als nicht belebt, und doch ist auch bei ihnen ein Aus-Sein-Aufnicht zu leugnen. Doch wie immer die Frage nach dem Selbstsein im Einzelfall auch gelöst wird, kann einkurzschlüssiger Rekurs auf eine noch so gebräuchliche Definition des Lebens als Antwort jedenfalls nichtgenügen.

40 Nagel, Mind and Cosmos, S. 24.

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4.1. Kontinuität und Gegensatz

4.1.2.4. Erklärung, Teloswirksamkeit und Wahrscheinlichkeitsargument

Dieser umfassende Charakter der Nagel’schen Teleologie ist, wie wir gesehen haben, einErbe des von ihm angesetzten Erklärungsbegriffs, der als Erklärung nur gelten lässt, waseinen einheitlichen, lückenlosen und vollständigen Zusammenhang stiftet. Doch wenn auchim Einzelnen, insbesondere bei Nagels Einheitlichkeitsforderung, Unterschiede auszumachensind, ist dieselbe Totalität der Erklärung zumindest als Anspruch auch bei Robert Spaemannpräsent; verständlich wird diese Koinzidenz vermutlich durch das gemeinsame Anliegen,darwinistisch-naturalistische Erklärungen als völlig ungenügende Rekonstruktionen auszuwei-sen, die das eigentliche Phänomen nur mehr simulieren und darin nicht einmal eine verlustfreieWiedergabe erreichen. Wenn Spaemann aber in seiner philosophischen SelbstcharakteristikVersuche, das Ganze zu denken «entweder so etwas wie ‹Letztbegründung› oder aber einGanzes von einander wechselseitig vollständig tragenden Selbstverständlichkeiten» als den«Traum aller Philosophie» bezeichnet41 — wo nämlich kein vollständiges Verständnis erreichtist, könnten wir gar nicht wissen, dass wir überhaupt etwas verstanden haben und nichtbloß die «Voraussetzungen geschickt versteckt» sind42 —, so sind damit neben einer zuNagel analogen Totalitätsforderung auch die möglichen argumentativen Endpunkte, «Letzt-begründung» bzw. «Selbstverständlichkeit», angesprochen. Aus Nagels Auseinandersetzungmit Materialismus und Theismus wird sein Anspruch einer Letztbegründung unmittelbardeutlich43, während Spaemann in seiner Auseinandersetzung damit, was es denn eigentlichheiße, die Frage «Wozu?» zu stellen,44 vielmehr auf die Wiedergewinnung einer Normalität,in der weiter zu fragen unsinnig wäre, abstellt: eine Normalität, die er mit dem stoischenMotiv der οἰκείωσις in Verbindung bringt. In der für Spaemanns Teleologie entscheiden-den anthropomorph-sympathetischen Verstehensweise geht es um Nachvollziehbarkeit desGeschehens durch und für ein Subjekt und muss jede Suche nach einer weniger subjektiv gefärb-ten Letztbegründung als versuchte, notwendig aber misslungene Entanthropomorphisierungbzw. Entteleologisierung abgelehnt werden.Demgegenüber strebt Nagel keine Erklärung nur für das einzelne fragende Subjekt an

sondern zielt jedenfalls auf eine gewisse Objektivität des Explanans, wie etwa, um seineBeispiele aus der Diskussion konjunktiver Erklärungen45 aufzugreifen, ein Fall von Blutracheoder eine Erbkrankheit sie aufweist: Wo Spaemann naturwissenschaftliche Ergebnisse46

inhaltlich so, wie sie sind, selbstverständlich akzeptiert, Naturwissenschaft aber in einenanthropomorph-teleologischen Horizont eingebettet und seine Argumentation somit der Ebeneder Wissenschaft übergeordnet sieht, erhebt Nagel, der sich andererseits auch nicht scheut,weitreichende Korrekturen zum Gefüge der Naturwissenschaften vorzuschlagen, den Anspruchgleicher Wissenschaftlichkeit wie die von ihm angegriffenen Positionen, insbesondere die desreduktionistischen Materialismus; und dieser Anspruch erfordert von vorneherein die — beiSpaemann völlig fehlende — wenigstens prinzipielle Überprüfbarkeit der Teleologie, somiteine tatsächliche Wirksamkeit des Telos (freilich ohne dass diese Wirksamkeit als zeitliche41 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 8.42 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken, S. 8f.43 Wie weit er diesem Anspruch gerecht wird, muss an dieser Stelle nicht untersucht werden; vgl. dazu

Kapitel 3, insbesondere Abschnitte 3.2.1.4 und 3.2.2.3.44 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 13–19.45 S. o., Abschnitt 3.2.1.1.46 Natürlich immer bei gleichzeitiger Zurückweisung szientistischer Grenzüberschreitungen.

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4. Die Teleologiekonzeptionen in kontrastierender Zusammenschau

Rückwirkung zu verstehen wäre): bloße Interpretation wäre Nagel kaum genug47.Doch auch bei Thomas Nagel ist eine Entsprechung zu jener Normalität der οἰκείωσις aus-

zumachen: Sein wiederholtes Beharren auf ausreichender Wahrscheinlichkeit bzw. Plausibilität— ein Motiv, das in unterschiedlichen Kontexten auftritt48 — zielt nämlich offenkundig auf dasErreichen einer Situation, in der aufgrund der Erwartbarkeit des Explanandum eine weitereErklärung nicht mehr nötig ist: die motivliche Nähe zu Spaemanns «Wiederherstellung desVertrautseins»49 ist offenkundig. Die diesbezügliche Ähnlichkeit wie Unterschiedlichkeit derbeiden Positionen zeigt sich etwa auch im Umgang mit der von manchen Autoren — nichtzuletzt von kreationistisch motivierten — als extrem gering behaupteten Wahrscheinlichkeitdes Werdens des heutigen Zustandes des Universums einschließlich der Existenz irdischenLebens, wie wir es kennen: Im Lichte nämlich von Nagels Wahlteleologie und insbesondere derteleologischen Zustandsübergangswahrscheinlichkeitsmodulation ist diese Wahrscheinlichkeitals keineswegs so gering zu veranschlagen, und wenn Spaemann jeglichen Anspruch aufein nicht vom fragenden Subjekt ausgehendes Verständnis abweist, sieht er sich umgekehrtberechtigt, all das, was mit der Existenz des Subjekts mitgegeben ist, als gewiss anzusetzen:die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Entstehens von Leben, die er im Zusammenhangmit Jacques Monod diskutiert50, ist demnach innerhalb seiner Teleologiekonzeption gar nichtsinnvoll zu stellen.

4.2. Versuch einer Verhältnisbestimmung

4.2.1. Unterschiedlichkeit der Fragestellungen

Vergegenwärtigen wir uns zunächst, um die Unterschiedlichkeit der beiden Teleologiekon-zeptionen von Spaemann und Löw bzw. Nagel zu erfassen, bei Aussparung aller Details diehöchst unterschiedlichen Fragestellungen samt ihren jeweiligen, dezidiert teleologisch gefärbtenAntworten: Von der Unterschiedlichkeit der Fragerichtung aus erschließt sich nämlich dieGegensätzlichkeit der Antworten zumindest zum Teil und gewinnen wir einen Maßstab zurBeurteilung von Differenz wie Kompatibilität der beiden Positionen.

Spaemann und Löw — das Subjekt in seiner Umwelt: Ausgangspunkt ihrer Konzeptionist das in seine Umwelt eingebettete, mit ihr vertraute und verschiedenen Gegebenheiten inihr fragend begegnende, je einzelne Subjekt. Wie kann dieses Subjekt seine Umwelt adäquat— und das heißt auch: unter Absehung vom naturwissenschaftlichen Programm möglichstvollständiger Aufklärung der Entstehungs- und Funktionsbedingungen — verstehen? Und,praktisch gewendet: Wie kann es angesichts unterschiedlich interpretierbarer Geschehnissebzw. unterschiedlicher, von außen herangetragener Interpretationen jene Vertrautheit wie-dergewinnen, die ihm ein auf Einfügung (statt Beherrschung) gerichtetes Naturverhältnis47 An der analogen Stelle der Spaemann’schen Argumentation, nämlich nach der Zurückweisung natura-

listischer Erklärungsansprüche im Zusammenhang mit Leben, Bewusstsein und Sittlichkeit, erfolgt dieWendung vom Theoretischen ins Praktische, sodass die Frage, wie denn jenes Neue, das naturalistischnicht adäquat rekonstruiert wird, konstituiert ist, keine Beantwortung findet.

48 S. o., Abschnitt 3.2.1.1, insbesondere S. 59.49 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 15.50 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 210.

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4.2. Versuch einer Verhältnisbestimmung

ermöglicht? Die Antwort, die Spaemann und Löw hier geben, ist eine gänzlich synchrone; sierichtet sich auf das Erkennen und Anerkennen etwa vorliegender, von ihnen als teleologischebezeichneter Verfasstheit.

So nimmt das fragliche Subjekt in seiner Umwelt unterschiedliche Gegenstände wahr: man-che davon sind teleologisch verfasst und demnach in ihrem Selbstsein anzuerkennen, anderewiederum nicht; die Bedingungen, denen sie alle unterliegen, können mit naturwissenschaftli-chen Mitteln teilweise (und wohl auch immer detaillierter und verlässlicher) aufgeklärt werden.Erlebt sich das Subjekt selbst aber als ein Ganzes, als geschlossenen Sinnzusammenhang,und findet es in sich selbst eine ursprüngliche Gerichtetheit vor, wie sie für Mensch und Tieretwa im Trieb greifbar wird, so legt sich ihm nahe, all jene Gegenstände, denen eine ähnlicheVerfasstheit zu eignen scheint, einen ähnlichen Status einzuräumen wie sich selbst. Wo soteleologischer Charakter unterstellt und Selbstsein anerkannt wird, ist der Bezug des Subjektsdarauf zum einen ein anthropomorph-sympathetisch erkennender und verstehender, zumanderen aber auch ein praktisch-handlungsbestimmender. Ungeachtet aller Bedingtheit inWerden und Konstitution ist dann von einem geschlossenen Sinnzusammenhang auszugehen,wiewohl dessen Kern in seinem Vorhandensein nur erschlossen, nicht aber aufgeklärt oderausgesagt werden kann: eine theoretische Leerstelle als Platzhalter für ein (in seinem Entstehenbedingtes) Absolutes, das im Anspruch auf Achtung praktisch schlagend wird.

Nagel — der Kosmos in seinem Werden: Demgegenüber stellt Nagel, den Anspruchdes umfassenden darwinistisch-materialistischen Narrativs aufnehmend, eine ganz andereFrage in den Mittelpunkt: Als wie beschaffen muss das Universum gedacht werden, um unsMöglichkeit und Tatsächlichkeit all dessen, was wir darüber wissen, einschließlich unsereseigenen Vorkommens darin, verständlich zu machen? Synchrone Überlegungen können beidiesem umfassenden Erklärungsanspruch nur unzureichende, bloß die Konstitution gewisserPhänomene betreffende Teilantworten liefern; insgesamt aber legt uns Nagel das Bild einessich immer weiter differenzierenden diachronen Prozesses vor.

Die gesamte Zeitspanne vom «big bang» über die Gegenwart bis in fernere Zukunft umfas-send, ist dieser Prozess nach Nagel als ein von Möglichkeit und Tatsächlichkeit von Geist aufden Ebenen von Individuum bzw. Spezies einerseits sowie durch die über zahllose Individuenunterschiedlicher Spezies verteilte Wahl von speziesrelativ Werthaltigem andererseits gepräg-ter, durch und durch teleologischer zu erkennen. Ist das umfassende Telos des «erwachenden»Universums, somit der «Wahlteleologie», zwar zu allen Zeiten aktiv und in Form nach Maßgabeder Teloskompatibilität modulierter Zustandsänderungsraten zumindest prinzipiell empirischfassbar, so ist es v. a. für die nur von Physik bestimmte Frühphase der Entwicklung desUniversums von Bedeutung, um das Auftreten von Leben sicherzustellen. Mit dem Lebenaber tritt ein neues, «lebensteleologisches» Telos, nämlich die Vermehrung objektiven Werts,auf, denn allem Lebendigen vermag es mehr oder weniger gut zu ergehen. Aufgrund derdoppelten, d. i. sowohl objektiven als auch adaptiven Natur des auf mit dem Phänomenwesensmäßig verbundenen Tendenzen von Verfolgung oder Vermeidung aufbauenden, folglichrein immanenten Werts ist nun die Proliferation des mit Leben gegebenen Werts in einerVielzahl von Individuen und Lebensformen im Rahmen eines i.W. darwinistisch-evolutionärenProzesses zu verstehen. Die Tendenz zur Höherentwicklung der Arten in einem gestuftenProzess unterschiedlicher Teleologien bis hin zum Auftreten wertsensibler, aufgrund dessen

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4. Die Teleologiekonzeptionen in kontrastierender Zusammenschau

handlungs- und wahlfähiger und in speziesweite kulturelle Prozesse eingebundener Individuenals Teil des kollektiven Geists eines «erwachenden» Universums hingegen ist wiederum Folgedes umfassenden Zuges der Wahlteleologie.

4.2.2. Wechselseitige Anfragen

Zwei sehr unterschiedliche, in je eigener Weise teleologische Bilder skizzieren also Spaemannund Löw einerseits sowie Nagel andererseits, worin sich die sehr unterschiedlichen Fragestellun-gen mit ihren jeweiligen impliziten Voraussetzungen spiegeln. Diese schränken freilich sowohldie Vergleichbarkeit als auch die Aussagekraft auf der Ebene motivlicher Teilargumentationenangesiedelter Übereinstimmungen und Diskrepanzen ein. Dennoch ergeben sich aus den allge-meiner gehaltenen Passagen wie auch aus der Gesamtkonzeption durchaus auch wechselseitigeAnfragen an die jeweils andere Theorie, die wir im Folgenden kurz bedenken wollen; eineSonderstellung nimmt hierbei der historische Teil von Die Frage Wozu? bzw. Natürliche Zieleein, dem wir direkt auch Spaemanns Wertungen von ihm nicht vertretener, insbesondereuniversalteleologischer, sowie seine Interpretation für ihn bedeutsamer Positionen, insbe-sondere der aristotelischen, entnehmen können. Ausgespart seien hier jedoch wiederum alleDetailfragen sowie die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Gegnern, soferne sie kein Lichtauf die je andere der beiden von uns betrachteten Teleologiekonzeptionen wirft.

4.2.2.1. Verstehbarkeit der Welt und empirische Teloswirksamkeit

Sowohl Spaemann und Löw als auch Nagel legen eine dem Anspruch nach teleologischeErklärung der Welt, wie wir sie heute faktisch vorfinden, vor. In der Wahl des Explanandumallerdings unterscheiden sie sich deutlich: Wo erstere nämlich, vom Subjekt ausgehend, alleBedingungen von dessen Existenz als gewiss voraussetzen können und mit ihrer Erklärung zurNormalität von Selbstverständlichkeit und Fraglosigkeit zurückkehren wollen, hält letzterergerade das von ihnen Vorausgesetzte ebenso wie ihren Zielpunkt für erklärungsbedürftig.Nagels Grund dafür ist ein doppelter51: Zum einen verlangt nämlich die mit dem Schlagwortder Intelligibilität (im ursprünglichen Sinn) angesprochene, als unbeschränkte angesetzteVerstehbarkeit der Welt durch Teile derselben sachlich nach einer vollständigen, folglichauch die Genese der vorfindlichen Situation einschließenden Erklärung; zum anderen aber istdoch die Normalität unseres Selbstverständnisses, wie auch Spaemann fraglos zugäbe, durchdie Entwicklung moderner Naturwissenschaft und darauf aufbauender Narrative nachhaltigerschüttert — immerhin zielen ja beide, Spaemann wie Nagel, nicht zuletzt auf die Stärkungdieses normalen Selbstverständnisses und bemühen sich um die Legitimität der, um mit Nagelzu formulieren52, «untutored reaction»53 und «incredulity of common sense»54 gegenüber einerszientistischen «naturalistic Weltanschauung»55. Trotz dieses gemeinsamen Anliegens bleibt

51 Darüber hinaus bietet die von Nagel (im Rückgriff auf kreationistische Positionen) als problematischeingeschätzte Frage der «Wahrscheinlichkeit» (tatsächlich: Plausibilität) der historischen Seite der mate-rialistischen Gesamtsicht auch eine argumentativ willkommene Angriffsfläche.

52 In Natürliche Ziele steht die Textpragmatik viel mehr im Vordergrund als in der mit der tatsächlichenVerfasstheit der Welt befassten Darstellung von Mind and Cosmos.

53 Nagel, Mind and Cosmos, S. 6.54 Nagel, Mind and Cosmos, S. 7.55 Nagel, Mind and Cosmos, S. 4.

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4.2. Versuch einer Verhältnisbestimmung

eine Differenz, die etwa darin greifbar wird, dass aus Nagels Sicht der Vorwurf eines allzufrühen Abbruchs der Untersuchung auch Spaemann nicht zu ersparen wäre, wobei diese «fauleVernunft» in ihrem betonten Anthropomorphismus auf der Höhe aktueller Naturwissenschaftzu argumentieren nicht einmal unternehme, während umgekehrt Spaemann Nagel allzu großenErkenntnisoptimismus, mithin ein ungerechtfertigtes Vertrauen in die Transparenz der Welt füruns und ein allzu ungebrochenes Verhältnis zur neuzeitlichen Naturwissenschaft vorzuwerfenhätte. Im Hintergrund dieser gegensätzlichen Sichtweise aber steht die bereits konstatierte56

unterschiedliche Beurteilung der Möglichkeit empirischer Teloswirksamkeit.Überzeugend legt Spaemann nämlich dar, dass die Funktion der causa finalis gemeinsam

mit der der causa efficiens in den neuzeitlichen Begriff des Naturgesetzes absorbiert istund diese Funktion auch in der aristotelischen Ursachenlehre nicht in einer zusätzlichenWirksamkeit sondern vielmehr nur in der Sicherstellung der Regelmäßigkeit des bewirktenErgebnisses bestand57. Daraus folgert er, dass die Annahme einer eigenständigen Wirksamkeitdes Telos zum einen ein Missverständnis der aristotelischen Theorie darstellt, zum anderenaber auch konzeptuell keinen Platz in unserer auf Naturgesetzlichkeit beruhenden modernenNaturbetrachtung haben kann58; Teleologie nimmt daher für ihn die Form der Entelechie miteinem inneren, von außen nicht zugänglichen und doch den Kern des Selbstseins ausmachendenTelos an. Ohne Teloswirksamkeit im Sinne von Zwecktätigkeit ist von außen also bloß eineZweckmäßigkeit von Organisation und Operation des Selbst zu konstatieren, während dasnicht zugängliche, nur erschließbare innere Telos jener theoretischen Leerstelle entspricht, dieSpaemann mit Wendungen wie der von der bedingten Unbedingtheit, ja sogar Heiligkeit desSelbst umschreibt.Eine solche theoretische Leerstelle ist jedoch mit Nagels Ausgangspunkt potentiell voll-

ständiger Intelligibilität nicht vereinbar, und ungeachtet der auf innere Erlebnisqualitätenabstellenden Konstruktion immanenten Wertes sind die Tele beider bei ihm zu unterschei-dender Teleologien den einzelnen Individuen äußerlich. Im Gegensatz zu Spaemann vertrittThomas Nagel denn auch klar eine zumindest prinzipiell empirisch fassbare Wirksamkeitdes Telos: Immerhin soll dieses, um nur ein Beispiel zu nennen, ausreichen, um die äußerstgeringe nach den Voraussetzungen einer ateleologischen Physik abgeschätzte Lebensentste-hungswahrscheinlichkeit in diesem Universum so groß werden zu lassen, dass das Telos selbstbei Nagels hohen Anforderungen als Erklärung genügt. Tatsächlich liegt es auf der Linie vonNagels Argumentation, ein wirkungsloses Telos, das demnach bloßes Interpretament bleibt,von vorneherein abzulehnen: Wie könnte eine bloße Verstehensform auch dazu angetan sein,moderner Naturwissenschaft gleichberechtigt zu begegnen und, mit nicht geringerem Wissen-schaftlichkeitsanspruch als diese auftretend, ihre Befunde zurückzuweisen59? Und bliebe beieiner bloßen subjektiven Verstehensform die Frage, ob die teleologische Redeweise die Natur,56 S. o., Abschnitt 4.1.2.4.57 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 257.58 Die Ansicht, dass eine derartige Teloswirksamkeit ein Missverständnis der aristotelischen Sicht darstelle,

scheint Nagel nicht zu teilen (Nagel, Mind and Cosmos, S. 93), und tatsächlich besteht die Wirksamkeitdes Telos bei ihm in einer Modulation der Zustandsübergangswahrscheinlichkeiten und somit in derVorgabe einer Richtung der Evolution, die durchaus mit der laut Spaemann ausrichtenden Funktion deraristotelischen causa finalis in Einklang zu bringen ist.

59 Auf das unterschiedliche Verhältnis zu den Befunden aktueller Naturwissenschaft — faktische Akzeptanzbei Spaemann, Aufnahme und Korrektur bei Nagel — wurde bereits hingewiesen (s. o., Abschnitt 4.1.2.4,insbesondere S. 95).

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4. Die Teleologiekonzeptionen in kontrastierender Zusammenschau

auf die sie sich bezieht, überhaupt trifft, nicht völlig offen? — Dass Nagels den Anspruchdes von ihm angegriffenen Narrativs aufnehmender Ansatz viel eher das Interesse der Zeittrifft als die in diesem Punkt sehr zurückgenommene Sicht Spaemanns, liegt auf der Hand;dieser jedoch könnte jenem eine allzu naive Reteleologisierung attestieren, seinem Projekteiner teleologischen Gesamtsicht aber den Vorwurf des in ungenügender Berücksichtigung desalle unsere Erfahrung immer mitbestimmenden, von unserer Leiblichkeit und Selbsterfahrungals bewusstes und sittliches Lebendiges konstituierten Horizontes gründenden Überschwangsmachen.

4.2.2.2. Unbedingtheit teleologischer Phänomene, Immanenz und Stellung derTeleologie

Die damit angesprochenen Stufen des Daseins — Leben, Bewusstsein und Sittlichkeit beiSpaemann, Bewusstsein, Erkenntnisfähigkeit und Wertsensibilität bei Nagel — werden, wieerwähnt60, in beiden Teleologiedarstellungen in unterschiedlicher Akzentuierung bedacht,ohne dass die Autoren darstellten, was die genannten Phänomene im Eigentlichen ausmacht:Nagel hält sich mit dem Versuch einer Definition gar nicht auf sondern setzt die Phänomeneals hinreichend bekannt voraus61, und Spaemann begnügt sich damit, das Ungenügen vonanderer Seite vorgelegter «einfallsreiche[r] Definitionen» gegenüber unserem «Selbstvollzugdes Lebens»62 (bzw. analog wohl auch der anderen genannten Phänomene) herauszustellen63.Verbunden ist bei ihm damit, wenn auch immer nur im Modus freier Anerkennung, derStatus des Selbstseins, als dessen praktisch relevanter Kern sich jene «eigentümliche Unbe-dingtheit» «kontingenten [. . . ] Selbstseins»64 erweist, die einem teleologisch geschlossenenSinnzusammenhang nach Spaemann unabhängig von seiner inneren Konstitution zukommt.Unbedingtes aber ist, was bei dem von ihm vertretenen epistemischen wie evaluativen

Realismus und der Totalität der angestrebten Erklärung überraschen mag, in Nagels Kon-zeption schwer auszumachen — auch die Objektivität des immanenten Wertes ist ja aus der(speziesrelativen) subjektiven Erfahrung von Wert gewonnen —, und die von Spaemann in denVordergrund gerückte Qualität des Selbstseins und entelechischer Verfasstheit des Einzelnensowie die damit verbundenen ethischen Ansprüche fehlen in Mind and Cosmos zur Gänze.Dabei handelte es sich bei Selbstsein und dem damit Mitgegebenen für Nagels Konzeption zwarum Fremdkörper, ohne dass aber in unserem Verständnis eine grundlegende Inkompatibilitätauszumachen wäre; vorausgesetzt ist hier freilich, dass, wie bei Nagel zwar angedeutet, nichtaber klar gesagt ist65, zumindest eine gewisse Form von Freiheit auch in Nagels Kosmos Platzfindet, was jedenfalls ein Verständnis des auf Zustandsübergangsratenmodulation beruhendenIndeterminismus als stochastischer Determinismus ausschließt.

60 S. o., Abschnitt 4.1.2.1.61 Dies ist im Kontext von Mind and Cosmos durchaus legitim, steht doch die Gewinnung von Hinweisen auf

das Erfordernis einer teleologischen Erklärung im Vordergrund seiner Befassung mit den Phänomenen,und auch seine zweifache Teleologie hängt nur von ihrer Tatsächlichkeit ab; eine genauere Abgrenzung istdamit für Nagels Argumentation tatsächlich nicht erforderlich.

62 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 212.63 Auch dies ist im Rahmen der Spaemann’schen Konzeption von Teleologie als subjektiver Verstehensform

durchaus konsequent (s. o., Abschnitt 2.2.1.2, insbesondere S. 22).64 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 245.65 Nagel, Mind and Cosmos, S. 84, 113–116.

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4.2. Versuch einer Verhältnisbestimmung

Dieselben Fragen stellen sich freilich auch im Zusammenhang mit Nagels metaphysikfreierKonzeption insgesamt: Auch wenn er, wie wir meinen, dem «Theismus» im Letzten nichtentgeht, ist sein Anspruch doch unzweifelhaft der einer rein immanenten Teleologiekonzeptionmit ausschließlich immanenten Tele. Eine solche ist aber nach Spaemann prinzipiell inTeleonomie übersetzbar und damit von Teleomatie nicht zu unterscheiden66, ein transzendenterBezugspunkt somit zur Wahrung des teleologischen Charakters unerlässlich67. Ob dieserEinwand die Nagel’sche Konstruktion trifft, ist allerdings nicht offensichtlich: SpaemannsArgumentation bezieht sich ja auf das Entstehen einer empirisch fassbaren Konfigurationder materiellen Konstituenten des jeweiligen Systems. Demgegenüber geht Thomas Nagelaber von einem neutralen Monismus aus, der zunächst auch mentale (und bei höherenLebensformen auch geistige) Eigenschaften umfasst; damit aber reicht auch eine empirischfassbare Konfiguration über den rein physischen Bereich hinaus, und die Beantwortung derFrage, ob sich ein Eindruck von Zweckmäßigkeit bewahrheite, hängt von der genauerenFassung dieser mental-geistigen Seite des betrachteten Individuums (bzw. der zugehörigenSpezies) ab.Eine gewisse Parallelität dazu weist auch die Frage nach der Stellung der Teleologie als

Verstehensform auf: Wenn Spaemann nämlich im Rückgriff auf Hegels Wissenschaft der Logikdas Verbot, Finalität zur höchsten Kategorie zu machen, mit der sonst drohenden Konsequenzdes Umschlagens echter Teleologie in deren «invertierte» Form der Selbsterhaltungsteleologiebegründet68, so ist von Nagel in Mind and Cosmos sicherlich keine die Teleologie noch einmalin Dienst nehmende Kategorie bedacht. Sowohl das Nebeneinander zweier unterschiedlicher,gegenseitig irreduzibler Teleologieformen bei Nagel als auch die in einer neutral-monistischenSicht mit dem Physischen untrennbar verbundenen mental-geistigen Aspekte aber scheinendem drohenden Umschlag, der nach Spaemann nur die Alternative einer «schopenhauerschenMetaphysik des Absurden» oder von «teleologische[m] Schein, [. . . ] Teleonomie»69 ließe,entgegen zu stehen.

4.2.3. Zur Perspektive einer Synthese

Gerade die zuletzt betrachteten Fragestellungen machen es deutlich: Manches ist in denbeiden Konzeptionen zu undeutlich, um aus Spannungen zwischen ihnen auf eine tatsächlicheInkompatibilität schließen zu können. Überblickt man die eben behandelten wechselseitigenAnfragen und stellt man zudem für die Unterschiedlichkeit der Konzeptionen maßgeblicheAspekte in Rechnung — zum einen entspricht deren Differenz nämlich dem zweifachen Ortdes Telos bei Aristoteles, nämlich als causa finalis70 (Nagel) bzw. in entelechischem Rahmen71

66 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 88f, 92, 157, 196, 244–246; s. o., Abschnitte 2.2.1.2 und v. a. 2.2.1.3sowie Fußnote 66 (S. 20).

67 S. o., Abschnitt 2.2.1.3, insbesondere S. 26.68 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 247.69 Spaemann, Löw, Natürliche Ziele, S. 247.70 Die aristotelische Vierursachenlehre findet sich an mehreren Stellen: Aristoteles, Physica, II, 3 (insb.

194b23–195a3); II, 7 (insb. 198a21–28); Aristoteles, Metaphysica, I, 3 (insb. 983a24–b1).71 Aristoteles führt den Begriff der Entelechie im Kontext des Aufweises der Priorität der Wirklichkeit vor der

Möglichkeit ein (Aristoteles, Metaphysica, IX, 8), und zwar im dritten der gebrachten Argumente, das denVorrang dem Wesen nach expliziert und in diesem Zusammenhang δύναμις und ἐνέργεια mit ὑλή und μορφήparallelisiert: Wie nämlich die ὑλή durch Verbindung mit der μορφή wirklich wird, so verhält es sich auch

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4. Die Teleologiekonzeptionen in kontrastierender Zusammenschau

(Spaemann), zum anderen führen die Fragestellungen der beiden Autoren im Verbund mitden in ihnen bereits enthaltenen Festlegungen einmal zu einer diachronen (Nagel), einmalzu einer rein synchronen (Spaemann) Betrachtung —, so eröffnet sich die Möglichkeit einergegenseitigen Ergänzung der beiden Positionen, ja vielleicht sogar einer Synthese zu einereinheitlichen Sichtweise; in gewisser Weise würden so die aristotelischen Finalitätsformen vonUrsachen- und Entelechielehre wieder zusammengeführt72 und entstünde ein reichhaltigeresBild des Individuums als Teil des erwachenden Universums. — Freilich ist hier mit Nachdruckdarauf hinzuweisen, dass, wie schon in Abschnitt 4.2.2.2, vieles von einer sorgfältigerenund detaillierteren Ausarbeitung der beiden Positionen abhinge, wie sie keiner der beidenHaupttexte, Natürliche Ziele und Mind and Cosmos, bieten möchte: Ohne ein genaueresWissen, wie die Konstitution jenes Kerns des Selbstseins, der als bedingte Unbedingtheitnach außen tritt,73 und die physische Wirkung des Telos des erwachenden Kosmos zu denkensind und welche Ausgestaltung der neutrale Monismus in Nagels Vorschlag annehmen soll74,ist hier nicht mehr als eine spekulative Perspektive zu skizzieren und auf grundsätzlicheUnstimmigkeiten hin zu befragen.Immer mit dieser alle nun folgenden Überlegungen betreffenden Einschränkung stellen

wir doch mit Blick auf das Gesamtbild der beiden Teleologievorschläge unschwer fest, dassim Rahmen einer kombinierten Theorie die Spaemann’sche Sicht in einer ersten Näherungals synchrone Auslegung der je momentanen Situation innerhalb des von der Nagel’schenKonzeption beschriebenen Prozesses ihren Platz fände75. Von Interesse ist hier insbesondere,dass dadurch die Stellung des konkreten Individuums gegenüber des Selbstseins ermangelndenGegebenheiten ein stärkeres Profil gewänne: So ausführlich sich Nagel nämlich mit Bewusst-sein und epistemischer wie evaluativer Wahrheitsfähigkeit als Indizien für die Insuffizienzreduktionistischer und die Fruchtbarkeit teleologischer Erklärungsweisen befasst, so gering istderen Rolle im Vergleich zu ihrer gemeinsamen Voraussetzung des Lebens in der Gesamtgestaltseines Vorschlags76, wie auch umgekehrt die universelle Wirksamkeit der Wahlteleologie dieSonderstellung des Lebens gegenüber gleichfalls teleologisch beeinflussten vorbiologischen

mit δύναμις und ἐνέργεια bei allem, dessen Ziel Bewegung ist (1050a15–17), und διὸ καὶ τοὔνομα ἐνέργειαλέγεται κατὰ τὸ ἔργον, καὶ συντείνει πρὸς τὴν ἐντελέχειαν (1050a22f). — Die Anwendung auf Organismenfindet sich in De Anima (II, 1), so insbesondere die berühmte allgemeine (nämlich allen drei animaezukommende) Bestimmung der Seele als erster Entelechie eines potentiell lebendigen, mithin organischenKörpers: διὸ ἡ ψυχή ἐστιν ἐντελέχεια ἡ πρώτη σώματος φυσικοῦ δυνάμει ζωὴν ἔχοντος. τοιοῦτον δὲ ὅ ἂν ᾖὀργανικόν (412a27–29).

72 Dies insoferne, als die bereits bei Aristoteles bestehende Einheit in Differenz von Finalursache undEntelechie, trifft man die angedeutete Zuordnung zu Nagel bzw. Spaemann, aus der Gegensätzlichkeit wieauch der Gemeinsamkeit ihrer Perspektiven in einer solchen Synthese wiederzugewinnen wäre.

73 Spaemann weist bekanntlich ein Wissen um diese Konstitution klar ab: gerade darin besteht ja die mehrfachangesprochene, nur in ihrer praktischen Relevanz erfasste theoretische Leerstelle seines Ansatzes. Woaber die Kombination mit einer, wie etwa die Diskussion protopsychischer Elemente zeigt, durchaus auchdie mikroskopische Ebene in den Blick nehmenden Theorie wie der Nagels angestrebt ist, kann die vonSpaemann ins Treffen geführte Unsagbarkeit nicht bestehen bleiben sondern muss in eine Konkretisierungder zugrundeliegenden neutral-monistischen Basis einmünden.

74 All dies aber will Nagel einer späteren Ausarbeitung der sich erst umrisshaft abzeichnenden Theorieüberlassen, da jede diesbezügliche Festlegung im jetzigen Stadium der Entwicklung verfrüht wäre.

75 Gestützt wird dies auch durch die allgemeinere Natur der causa finalis, der deren entelechische Form alswichtige Sonderform zu subsumieren wäre: Auch diese Überlegung legt eine Einbettung der Spaemann’schenin die Nagel’sche Konzeption nahe.

76 Man vergleiche etwa die kurze Skizze in Abschnitt 4.2.1, insbesondere S. 97.

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4.2. Versuch einer Verhältnisbestimmung

Prozessen «on the path to a certain outcome»77 gewissermaßen zu relativieren scheint. DaSpaemann aber gerade das einzelne Subjekt in seiner Suche nach Verstehen wie in seinerSelbsterfahrung in den Mittelpunkt stellt, gewännen in dieser Synthese Bewusstsein, Kognitionund Wert ihren eigentlichen Ankerpunkt und würden um den bei Nagel völlig fehlendenAspekt der im Selbstsein angesprochenen Individualität — wenngleich nicht ohne den fürSpaemanns Sicht so charakteristischen Ausfall der Kategorie innerer Zweckmäßigkeit — nichtunwesentlich ergänzt.Doch auch Spaemanns Konzeption könnte in dieser Verbindung deutlich gewinnen: Wie

unsere Diskussion der auffälligen, wohl als unausgewiesene Rücknahme zu interpretieren-den Kürzung des Vortrages über die Unvollendbarkeit der Entfinalisierung78 zeigt, bleibtder Ursprung der in der Teleologie auftretenden Gerichtetheit nämlich unklar und bedach-te Spaemann die Möglichkeit, dieses Manko durch eine ontologische Verankerung in Formeines «vektoriellen» Charakters des Existierens zu beheben. Auf die Schwierigkeiten die-ses Gedankens muss an dieser Stelle nicht erneut eingegangen werden; bei Einbettung derSpaemann’schen in die Nagel’sche Konzeption aber böte sich jedenfalls ganz zwanglos einealternative Begründung in Form von Nagels zweifacher Teleologie an. Dabei würde die in ihrerWirkung auf entstandenen Wert und somit auf Leben beschränkte Lebensteleologie, sieht manvom wenig plausiblen Fall des schmerzfähigen Computers einmal ab, eine Gerichtetheit genaujener Gegenstände, denen nach Spaemann Selbstsein zuzusprechen ist, begründen. Der Preisdafür ist freilich ein der Verstehbarkeit der faktischen Entstehung von Leben, Bewusstsein undGeist aus toter Materie, der beide Autoren in gewisser Weise zustimmen, entgegenstehender,konzeptuell nicht unproblematischer Hiatus zwischen Lebendigem und Totem bzw. Teleologi-schem und Nichtteleologischem. Im Gegensatz dazu beträfe die Nagel’sche Wahlteleologieganz wie schon der von Spaemann mutmaßlich verworfene Gedanke prinzipiell alles Seiende(was einer nach Verfasstheit gestuften Wirkung freilich nicht entgegenstünde), doch wäredie Gerichtetheit nicht in der bloßen Existenz sondern vielmehr in der Relation zu anderenSeienden und ihrer Tauglichkeit für teleologisch bevorzugte Konstellationen, begründet: eineBegründung, die insgesamt wohl als plausibler einzuschätzen wäre als der von Spaemannerwogene Ansatz. — Bevor wir dieser aus der Kombination beider Teleologiekonzeptionengewonnenen Vorstellung nähertreten, ist freilich der vermutliche Grund von Spaemanns Rück-nahme, nämlich die Unmöglichkeit, eine Sonderstellung teleologischer Verfasstheit ohne (aufder Ebene zeitlicher Dauer eben nicht zu treffende) Unterscheidung von bloßer physischerFaktizität aufrechtzuerhalten,79 in seiner Anwendbarkeit auf Nagels zweifache Teleologie zuuntersuchen: Was nun aber die Lebensteleologie betrifft, so fällt jene für die Sonderstellungnötige Unterscheidung offenkundig gerade mit der Grenze ihrer Reichweite zusammen, sodassdie genannte Schwierigkeit nicht zutrifft; aber auch die umfassende, den gesamten Kosmos inseiner Entwicklung betreffende Wahlteleologie würde aufgrund des mehr inhaltlichen Charak-ters der von ihr gewährleisteten Begründung der Gerichtetheit von dem vermuteten Argumentgegen Spaemanns Idee einer ontologischen Fundierung nicht getroffen und böte gleichzeitig dieMöglichkeit, eine etwa bestehende Gradualität des Übergangs unterschiedlich teleologischenCharakters abzubilden.

77 Nagel, Mind and Cosmos, S. 93.78 S. o., Abschnitt 2.2.2.79 Vgl. das Ende von Abschnitt 2.2.2.

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4. Die Teleologiekonzeptionen in kontrastierender Zusammenschau

4.3. Abschließende Bemerkungen

Mit diesen eher spekulativen Überlegungen zur wechselseitigen Kompatibilität der doch sounterschiedlichen Konzeptionen wollen wir unseren den Zielpunkt der vorliegenden Arbeitbildenden Versuch der Verhältnisbestimmung beenden. Wenn auch die tatsächliche Durch-führbarkeit einer Synthese beider Positionen von zahlreichen Unwägbarkeiten abhinge undinsbesondere auf beiden Seiten weiter ausgearbeitete, über das in Natürliche Ziele sowieMind and Cosmos Vorgelegte hinausgehende Darstellungen erforderte (s. o.), so erscheintes angesichts der großen Unterschiedlichkeit der Zugänge und der nicht unbeträchtlichenwechselseitigen Anfragen, deren Schwere keinesfalls negiert werden soll, doch bemerkenswert,dass wir zumindest bei unserer alle Details aussparenden Betrachtung auf der inhaltlichenEbene der maßgeblichen teleologischen Strukturen und ihrer Relationen nicht nur keineoffenkundige Inkompatibilität auszumachen in der Lage waren sondern sich sogar die Op-tion einer die Grundgedanken beider aufnehmenden vereinheitlichten Sichtweise als nichtnotwendig unsinnig darstellte. Ausschlaggebend hiefür war zum einen eine gewisse inhaltlicheUnbestimmtheit beider Positionen, wie sie bei Spaemann als Platzhalter für einen in derSphäre des Absoluten zu verortenden Gehalt tief in seiner Konzeption verankert ist, bei Nagelaber einfach aus dem nach Einschätzung des Autors zu frühen Stadium seiner tastendenUntersuchung resultiert. Darüber hinaus ist es aber doch gerade die Unterschiedlichkeitder Zugänge und Fragestellungen mit dem daraus folgenden eher geringen konzeptuellenÜberlapp, der für die putative Kombinierbarkeit ausschlaggebend ist; ein besonderes Gewichthat dabei die spezifische Form ihrer Unterschiedlichkeit, die in den sie charakterisierendenGegensatzpaaren von Synchronizität und Diachronizität, von causa finalis und Entelechiesowie von Individuum und Kosmos jeweils gleichsinnige Einschließungsrelationen, nämlich dieEinbettung der Spaemann’schen in die Nagel’sche Konzeption, nahe legen.Grundlage für diese Überlegungen war der Versuch einer möglichst genauen, von den

Verzeichnungen durch eine beständige Absetzung von den jeweiligen darwinistisch-reduktionis-tischen Gegenpositionen möglichst absehenden Erfassung der beiden Teleologiekonstruktionen.Dass dabei eine klare Trennung der uns interessierenden positiven Lehre von der für ihreAusarbeitung wohl anlass- und ausschlaggebenden Auseinandersetzung mit als insuffizientund wegen ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen abgelehnten Darstellungen nicht restlosmöglich ist, liegt auf der Hand; belegt wird dies etwa durch die Korrespondenz von SpaemannsFokus auf das Subjekt, dessen individuelle Freiheit wohl einen bedeutenden Aspekt derUnbedingtheit seines Selbstseins ausmacht, mit seiner Auseinandersetzung mit (auf bloßeBedingungsforschung herabgestufter) neuzeitlicher Naturwissenschaft lückenlosen kausalenDeterminismus wie auch von Nagels statt dessen auf der Ebene der Spezies angesiedelterSicht mit dem von ihm als Hauptgegner benannten reduktionistischen (Neo-)Darwinismus.In diesen maßgeblichen Gegenpositionen spiegelt sich freilich der weitere Kontext der

philosophischen (bzw. philosophisch-naturwissenschaftlichen) wie auch der allgemein gesell-schaftlichen Debatte, die sich in den mehr als drei Jahrzehnten, die zwischen SpaemannsVorlesungen und Nagels Mind and Cosmos liegen, bei aller Kontinuität der Grundproblematikin der Gewichtung unterschiedlicher Thematiken wie auch im Verständnis insbesondere desZusammenspiels der evolutionär wirksamen Mechanismen durchaus weiter entwickelt hat; daswohl als voneinander unabhängig anzusehende Eintreten zweier namhafter Philosophen für beialler Differenz doch jeweils als ausgesprochen teleologische zu charakterisierende Weltsichten

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4.3. Abschließende Bemerkungen

mag ein Indiz dafür sein, dass Teleologie im Kern für ein tragfähiges, unsere Selbst- undWelterfahrung angemessen berücksichtigendes und doch nicht einfach als anthropomorphzu verwerfendes sondern naturwissenschaftliche Erkenntnisse adäquat zu integrieren fähigesSelbstverständnis des Menschen unerlässlich ist. Die Frage danach, was der Mensch eigentlichsei, ist jedenfalls noch längst nicht erschöpfend behandelt, und möglicherweise zeichnet sichmedial gerade eine weitere Akzentverlagerung in diesem Themenbereich ab80: Die Debatte istjedenfalls weder auf fachlicher noch auf populärer Ebene auch nur annähernd abgeschlossen,und Vertreter teleologischer Weltsichten werden auch weiterhin in der Auseinandersetzungum die gesellschaftliche Deutungshoheit, in die einst Robert Spaemann und Reinhard Löwmit Die Frage Wozu? wie auch nun vor wenigen Jahren Thomas Nagel mit Mind and Cosmoseingetreten sind, mit je neuen Argumenten und vertieftem Verständnis ihre Stimme zu erhebenhaben.

80 Vgl. Abschnitt 1.1.

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A. Literatur

Anmerkung: Da es sich bei jstor und bei der Stanford Encyclopedia of Philosophy um inHinblick auf archivalische Verwendbarkeit entwickelte elektronische Ressourcen handelt, beidenen die von uns angegebenen stabilen urls jeweils dauerhaft und unverändert zugänglicheInhalte referenzieren, wird bei diesen wie bei Digital Object Identifiers (dois) auf die dannsinnlose Angabe eines Abrufdatums verzichtet. — Nicht namentlich gezeichnete Medienberichtesind am Ende des Verzeichnisses aufgeführt.

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1 Die Zitation in Mind and Cosmos (S. 90) ist inkorrekt.

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Zusammenfassung

Angesichts verbreiteter reduktionistisch-materialistischer Entwürfe legten im Abstand vonmehr als drei Jahrzehnten sowohl Robert Spaemann (gemeinsam mit seinem Co-AutorReinhard Löw) als auch Thomas Nagel dezidiert teleologische Konzeptionen vor, die denGegenstand der vorliegenden Studie bilden: Ausgehend von einer genauen, die Auslegungproblematischer Passagen einschließenden und terminologische Unschärfen klärenden Nach-zeichnung der beiden Positionen in ihrer zuletzt fassbaren Gestalt soll der Versuch einerVerhältnisbestimmung unternommen werden, wobei auf etwa greifbare Positionskorrekturenhinzuweisen, von der breiten Raum einnehmenden Auseinandersetzung der Autoren mitanderen Positionen aber abzusehen ist.

Die Spaemann’sche Teleologiesicht ist v. a. in dessen gemeinsam mit Reinhard Löw verfass-ten, im Wesentlichen aber auf Vorlesungen Spaemanns im Jahr 1976/77 zurückgehenden BuchDie Frage Wozu? (1981), das zuletzt unter dem Titel Natürliche Ziele neu herausgebrachtwurde (2005), enthalten. — Ausgehend vom je in seiner Umwelt sich findenden und nach einemadäquaten Verständnis der begegnenden Gegenstände der Erfahrung fragenden Individuum,erweist sich Spaemanns Teleologie als betont anthropomorphe, subjektive Verstehensweise. Ihrzentraler Begriff ist das «Selbstsein» des Individuums: Dieses wird, ausreichende Ähnlichkeitvorausgesetzt, in einem freien Akt der Anerkennung einem anderen Gegenstand zugesprochen,woraus die Forderung nach praktischer Achtung dieses anderen erwächst; theoretisch jedochbleibt der Begriff weitgehend unbestimmt, dient der Status des Selbstseins doch dazu, dieInnenseite von dessen Träger völlig zu verdecken: diese ist nämlich genauso unzugänglich wiesein inneres Telos, dem folglich keine reale, gar empirisch fassbare Wirksamkeit zukommt. —Die Möglichkeit einer Selbstkorrektur Spaemanns, der anscheinend eine ontologische Veranke-rung der Teleologie auf dem Niveau des bloßen Existierens angedacht hatte, und die Frageder Nähe des Spaemann’schen Selbstseins zur aristotelischen Entelechiekonzeption sowie zuKants Naturzweckmäßigkeit werden (nebst einigen Detailfragen) eigens betrachtet.

Mit Mind and Cosmos legte 2012 auch Thomas Nagel den Vorschlag einer auf Geistiges (imGegensatz zum bloß Mentalen der früher in den Vordergrund gestellten Qualia) abzielenden,die gesamte Entwicklung des Kosmos umfassenden teleologischen Weltdeutung vor. Ihr liegtein anspruchsvoller, auf Totalität des Verstehens zielender und als nicht teleologieneutralanzusehender Erklärungsbegriff zugrunde, der in Form der Konzepte von Naturordnung undIntelligibilität der Welt wie auch der getrennten Untersuchung von konstitutiver und histo-rischer Fragestellung zu Bewusstsein, Wahrheitsfähigkeit und Wertbezogenheit die gesamteArgumentation bis hin zur abschließenden Teleologiekonzeption prägt. Diese erweist sich alseine zweifache: Zum einen bewirkt nämlich eine entstandenes Leben bereits voraussetzende,rein immanente Teleologie mittels des evolutionären Prozesses die Vermehrung objektiven,für jede Lebensform aber unterschiedlichen Wertes; zum anderen aber setzt Nagel eine davonzu unterscheidende, nicht mehr als rein immanente anzusprechende Teleologie an, die dasAuftreten von Leben wie auch die Tendenz zur Höherentwicklung der Lebensformen erklärt,dazu aber bereits auf vorbiologisch-physikalischem Niveau wirksam sein muss und die teilwei-se Selbststeuerung der Entwicklung des Universums durch einen auf zahlreiche Individuenwertsensibler Arten verteilten Prozess zum Ziel hat.

Angesichts bedeutender gemeinsamer Motive Spaemanns und Nagels wie auch signifikanterUnterschiede bis hin zu Gegensätzlichkeiten, die sich freilich als Folge unterschiedlicher

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Fragestellungen verstehen lassen, ergeben sich wechselseitige Anfragen der beiden Positionen,die insbesondere die Wirksamkeit des Telos sowie die Sinnhaftigkeit rein immanenter Teleologiebetreffen. Schließlich eröffnet die spezifische Form der Unterschiedlichkeit auch die Perspektiveeiner Synthese zumindest der Grundgestalten der beiden Teleologiekonzeptionen, in derdie Spaemann’sche Sicht als synchrone Auslegung der nach Nagel als Teil eines diachronenkosmischen Entwicklungsprozesses aufgefassten, je momentanen Situation zu fungieren hätte.

Abstract

Faced with a dominance of reductionist and materialistic world views, both Robert Spaemann(together with co-author Reinhard Löw) and Thomas Nagel, though separated by morethan thirty years, proposed decidedly teleological conceptions: The characterization of these,as well as the elucidation of their relation, is the aim of the present study. To this end,we present a thorough reading of the relevant texts, clarifying some difficult passages aswell as terminological issues and pointing out where self-corrections with respect to earlierpublications can be made out, while setting aside the authors’ analyses of other positions.

Spaemann’s teleological project goes back to lectures of 1976/77 that were published later,with Reinhard Löw as co-author, under the titles of Die Frage Wozu? (1981) as well asNatürliche Ziele (2005). — In his view, teleology appears as a pointedly anthropomorphic,subjective way of understanding one’s surroundings. Its central notion is that of «Selbstsein»,denoting a quality of «being a self» such as the living individual invariably finds in its owninner experience: given sufficient similarity, it may transfer this status onto other elements ofits surroundings and thereby acknowledge the other’s entitlement to practical consideration.Theoretically, however, the notion of «Selbstsein» remains largely undetermined: indeed, itmerely serves as a placeholder for the inside of its bearer that is itself deemed inaccessible, justas no outward efficiency is attributed to the supposed inner telos of a «self». — The possibilityof a self-correction with respect to a lecture where Spaemann considered an ontologicalfoundation for teleology on the level of existence is considered in some detail, as is therelation of «Selbstsein» to Aristotelian entelechy and Kantian inner, or natural, purposiveness(«Naturzweckmäßigkeit»).

With Mind and Cosmos (2012), Thomas Nagel also proposed a teleological view of thecosmos that presents a striking contrast to his earlier, qualia based contributions to themind-body problem. At the heart of his project lies a demanding notion of explanationaiming at a totality of understanding: It can be shown to be not neutral with respect tothe question of teleology, and the consequences of its adoption can be traced — via theconcepts of intelligibility and the natural order, as well as the separate consideration of theconstitutive and historical questions regarding consciousness, cognition and value — throughall of Nagel’s presentation up to and including his final, value-based teleological proposal.Here we distinguish two forms of teleology placed side by side: Firstly, for every living speciesthere is a purely immanent conception of objective value the proliferation of which assumesthe role of telos in one kind of teleology; it is effected by the usual evolutionary process anddepends on life having arisen in due course of time. From this we distinguish a second, nolonger purely immanent teleology that effects both the emergence of life and the trend to everhigher forms of life; its telos is that of the universe partially governing itself in a collective

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process spread over countless individuals of value-sensitive species.Considering both striking similiarities and significant differences (most of which can be

traced to the different questions the authors want to answer) of the two positions just outlined,we present the mutual criticisms they afford, in particular those regarding the effectiveness ofthe telos and the status of a purely immanent teleology. Furthermore, the specific form thedifference takes opens up the possibility for a unified conception including the basic traitsof both Spaemann’s and Nagel’s points of view: In such a synthesis, Spaemann’s teleologywould have to figure as a synchronous interpretation at every moment of the all-encompassingevolution of the cosmos as described by Nagel.

Lebenslauf

1971 in Wien geboren und hier auch aufgewachsen, inskribierte Albert Reiner nach der Matura(1989) zunächst das Diplomstudium der Technischen Physik an der Technischen UniversitätWien, das er 2008 mit einer von Univ.-Prof. Dr. Heinz Oberhummer (Institut für Kernphysik,TU Wien) betreuten Arbeit über Neutron-Kern-Streuung bei 208Pb abschloss. Mit seinerDissertation bei Univ.-Prof. Dr. Gerhard Kahl (Institut für Theoretische Physik, TU Wien)über die sog. Hierarchische Referenztheorie (Hierarchical Reference Theory) von Reattound Parola wandte er sich endgültig dem Gebiet der Beschreibung von Phasenübergängeneinfacher Einkomponentenfluide mithilfe fortgeschrittener Flüssigkeitstheorien zu; auf diePromotion (2002) folgten eine Zeit als Post-Doc bei Univ.-Prof. Gerhard Kahl (TU Wien) bisSommer 2004. Parallel dazu hielt er von 2001 bis 2004 auch Vorlesungen und Übungen zuComputeralgebra und funktionaler Programmierung unter dem Titel «Symbolische Mathe-matik in der Theoretischen Physik» an der TU Wien. Von 2004 bis 2006 arbeitete Reinerals Erwin-Schrödinger-Stipendiat des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschungbei Prof. Johan S. Høye an der Norges teknisk-naturvetenskapelige universitet (NTNU) inTrondheim, Norwegen, an einem Forschungsprojekt über «Advanced liquid state theories forfluid criticality». Insgesamt sind von Reiner (teils mit Co-Autoren) im Zeitraum von 1998bis 2010 elf flüssigkeitstheoretische Arbeiten in referierten Zeitschriften erschienen. — Nachder Rückkehr aus Norwegen nach Österreich arbeitete Reiner 2007 bis 2008 bei ACE Con-sulting & Engineering GmbH für Magna Powertrain Engineering Center Steyr GmbH & CoKG in Wien in der Automobilentwicklung an 1D-Simulationen. Diese Beschäftigung fand imHerbst 2008 durch den Eintritt in das Priesterseminar der Erzdiözese Wien ein Ende: Nachdem einjährigen Propädeutikum für Priesterkandidaten in Horn nahm Reiner im Herbst 2009das Studium der Katholischen Fachtheologie an der Universität Wien auf, das mit der vorlie-genden Arbeit zu einem Abschluss kommen soll. Derzeit ist Reiner als Pastoralpraktikant derPfarre Perchtoldsdorf zugeteilt.

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