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Hauptseminar: Psycholinguistik der Wortproduktion Dozent: Prof. Dr. Dr. Peter Indefrey Semester: WS 09/10 Zur Funktion des Wernicke- und Brocaareals Geschichte und aktueller Stand von Jens Ullrich 20. Semester, M.A., Allgemeine Sprachwissenschaften Talstraße 162 40764 Langenfeld

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Hauptseminar: Psycholinguistik der WortproduktionDozent: Prof. Dr. Dr. Peter IndefreySemester: WS 09/10

Zur Funktion des Wernicke- und BrocaarealsGeschichte und aktueller Stand

von Jens Ullrich

20. Semester, M.A., Allgemeine SprachwissenschaftenTalstraße 16240764 Langenfeld

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Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Geschichte des Wernicke- und Brocaareals

1. Verständnis von Sprache und Hirn in der Antike

2. Die Ventrikeltheorie im Mittelalter

3. Entwicklungen der Neuzeit

4. Aphasieforschung im 19. Jahrhundert 5. Die Forschung nach Broca

Teil 2: Aktueller Stand zur Funktion des Wernicke- und Brocaareals

1. Bildgebende Verfahren

2. Lokalisation und Aufbau des Brocaareals

3. Lokalisation und Aufbau des Wernickeareals

4. Die Lokalisation von Funktionen

5. Funktionen des Brocaareals

6. Funktionen des Wernickeareals

7. Das Zusammenspiel in der Wortproduktion

8. Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Zur Funktion des Wernicke- und Brocaareals Geschichte und aktueller Stand

Zu des Caesar Zeiten lebte in der Stadt Magdeburg der Dekan Hepo, ein heiterer, für sein Kloster und besonders für den Chor sehr brauchbarer Mann. Der verlor im hohen Alter nach einem ausgereiften Lebenswerk plötzlich vom Schlag getroffen die Sprache, doch durch die Hilfe des höchsten Arztes vermochte er sehr schön mit den Brüdern die Psalmen zu singen. Sonst freilich konnte er kaum noch flüstern. Wir erkennen an diesem Wunder die preiswürdige Kraft Christi, die einem treuen Diener offensichtlich in Vielem Kräfte verleihen kann.1

Thietmar von Merseburg, Chronik, ca. 1012 n. Chr.

Durch die Jahrtausende hindurch beobachteten Menschen Verletzungen und Erkrankungen des Hirns und deren Konsequenzen auf die Sprachfähigkeit. Naturgemäß blieben sie in ihren Folgerungen aus diese Beobachtungen beschränkt, da es an diagnostischen Methoden und anatomischen Kenntnissen fehlte, um weiterführende Schlüsse ziehen zu können. Erst mit dem Aufblühen der Neuroanatomie im 19. Jahrhundert und der rasanten Entwicklung der bildgebenden Verfahren in den letzten Jahrzehnten sind wir in der Lage tiefer gehende Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns zu erlangen und so die nötige Grundlage für die Weiterentwicklung der Neurolinguistik zu schaffen. Um die Bedeutung und die Ursprünge dieser Entwicklung besser zu begreifen, soll im Folgenden ein kurzer Überblick über die neuroanatomischen Studien von der Antike bis zur Aufklärung zusammen gestellt werden, um dann mit den Beobachtungen Wernickes und Brocas die Zeitenwende der Neuroanatomie und Neurolinguistik greifbar zu machen. Im zweiten Teil dieser Arbeit werden nach einem kurzen Exkurs zu den bildgebenden Verfahren die nach Wernicke und Broca benannten Hirnareale in Augenschein genommen und ihre anatomischen Besonderheiten ins Blickfeld gerückt, um dann die Funktion der beiden Areale nach dem aktuellen Forschungsstand näher zu beleuchten und beispielhaft ihr Zusammenspiel in der Wortproduktion aufzuzeigen.

Teil 1: Geschichte des Wernicke- und Brocaareals1. Verständnis von Sprache und Hirn in der AntikeDie Sprache als Teil der Vernunft galt seit der Antike als Indikator für den Sitz der Seele. Die Suche nach der Verortung der Seele trieb daher Philosophen wie Theologen seit der Antike um, und mit dieser Frage war die Suche nach der Lokalisation der Sprachfähigkeit eng verflochten.Der Hohepriester und Arzt Imhotep schrieb bereits unter Pharao Djoser (2700 v. Chr.) im Edwin-Smith-Papyrus2 seine Beobachtungen bei Schädelverletzungen nieder. Unter anderem im Fall 20 beschreibt Imhotep eine den Knochen durchdringende Verletzung des Schläfenbereichs, in deren Folge der Patient „sprachlos“ blieb,3 was eine traumatische Aphasie

1 HOLTZMANN, Robert, Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg, Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum germanicarum nova series Band 9, Berlin 1935, Buch 4, Kapitel 64, Übersetzung nach: Thietmar von Merseburg, Chronik, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters Band 9, TRILLMICH, Werner (Übers.), Darmstadt 1966, S. 181.2 Benannt nach seinem Käufer, dem Antikenhändler Edwin Smith, der dieses Papyrus 1862 erwarb.3 WILKINS, Robert, Neurosurgical Classics, Washington 1992, S. 4.

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wahrscheinlich macht. Eine Therapie sah er für diesen Fall als fruchtlos an, empfahl jedoch den Kopf des Patienten einzureiben, vermutlich um die Schädelverletzung zu behandeln. Obwohl diese und ähnliche Beobachtungen den Schluss ermöglichten, dass die Sprachfähigkeit auf direkte Weise mit dem Hirn in Zusammenhang steht, dominierte im altägyptischen Raum die Vorstellung, dass das Herz der Sitz der Seele und damit auch des Verstandes sei4, weshalb bei den vor Bestattungen üblichen Einbalsamierungen die inneren Organe aufbewahrt wurden, das Hirn jedoch mit einem Haken durch die Nase entfernt und weg geworfen wurde. Diese Kardiozentristik zieht sich bis weit in die griechische Antike hinein und findet ihren Niederschlag in Aristoteles‘ Betrachtung des Gehirns. In seinem Werk de partibus animalium stellt er fest, dass das Hirn nicht der Sitz der Seele, des Denkens und der Wahrnehmung sein kann, da es blutlos, frei von Schmerzempfinden und kalt sei und keine Verbindung zu den Sinnesorganen besitze. Stattdessen habe es den Zweck das Blut zu kühlen, das durch die Hitze des Herzens, dem eigentlichen Sitz der Seele, erwärmt wird.5 Auch wenn Alkmaion bereits um 500 v. Chr. feststellt, dass die Sinnesorgane mit dem Hirn verbunden sind und sich in ihm Wahrnehmung und Denken vereint6 und Platon, der Lehrer Aristoteles, die Vernunft als göttlichen Teil der Seele im Kopf verortet,7 finden sich Elemente der Kardiozentristik selbst noch im 18. Jahrhundert.8 Wenn man sich das Gesamtbild der Vorstellungswelt des antiken Griechenlandes, und damit auch des römischen Reiches, näher betrachtet, sind die Theorien von Aristoteles nicht überraschend. Es dominiert die Grundidee, dass die Welt aus den vier Elementen Luft, Feuer, Erde und Wasser zusammen gesetzt ist und daraus abgeleitet nach Hippokrates auch der menschliche Körper durch vier Körpersäfte dominiert wird, denen man die verschiedenen Eigenschaften der Elemente zurechnet und die sich auch auf die Psyche des Menschen auswirken. Wenn also das Hirn blutleer, kalt und frei von Schmerzempfinden ist, dann kann es, dieser Grundidee folgend, nicht der Sitz der Seele, sein, da diese mit Feuer gleichgesetzt wird.

Element Eigenschaft Körpersaft CharakteristikaLuft Trocken gelbe Galle CholerikerFeuer Warm Blut SanguinikerErde kalt Phlegma (Schleim) PhlegmatikerWasser Feucht schwarze Galle Melancholiker

Dieser Lokalisationsversuch blieb jedoch auf Dauer bestritten. Da der Umgang mit Elektrizität in der Antike noch nicht bekannt war und basierend auf dem Gedanken, dass die Funktionen des menschlichen Körpers durch Flüssigkeiten dominiert werden, liegt es fast auf der Hand, dass in der alexandrinischen Schule unter Herophilus und Erasistratos (um 300 v. Chr.) die Theorie aufgestellt wurde, dass sich in den Ventrikeln des Hirns die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen befinden. Hiernach manifestiert

4 BOUTON, Charles, Neurolinguistics: historical and theoretical perspectives, Norwell 1991, S. 26ff.5 ARISTOTELES, on the parts of animals, James LENNOX (hg.), Oxford 2001, Book II, 652b.6 DIELS, Hermann und KRANZ, Walther (hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, Dublin/Zürich 1966, Band 1, S. 211f.7 PLATON, Timaios, in: RUFENER, Rudolf (übers.), Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke zum 2400. Geburtstag, Band IV, Spätdialoge II, München 1974, S. 269.8 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 17.

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sich in den beiden Lateralventrikeln die Vorstellungskraft, im dritten Ventrikel die Vernunft und im vierten Ventrikel das Gedächtnis. Die Nervenbahnen wiederum werden in ihrer Funktion ähnlich wie Adern betrachtet, über die der spiritus animalis, also das Nervenfluidum, aus den Ventrikeln in die Muskeln geleitet wird. Die Seele findet ihren Platz im rete mirabile, einem Nervengeflecht an der Hirnbasis.9 Im römischen Reich werden die anatomischen Studien weiter voran getrieben, nicht zuletzt durch den römischen Arzt Galen, unter anderem aufgrund seiner Tätigkeit als Gladiatorenarzt erfahrener Anatom, der 7 Paare Hirnnerven und 30 Paare Wirbelsäulennerven beschrieb10 und feststellte, dass das Bewusstsein bei Tieren vom Hirn und nicht vom Herzen abhängig ist. Dass die Hirnwindungen im größeren Maße eine Auswirkung auf den menschlichen Verstand haben, lehnt er mit dem Hinweis darauf ab, dass auch Esel große Hirne mit vielen Windungen besäßen.11 Auch er hielt an der Ventrikeltheorie fest, obwohl er verstellte, dass das Öffnen eines Ventrikels nicht sofort alle Lebensfunktionen lähmte, was beim Entweichen des Phneumas eigentlich zu erwarten wäre.12

2. Die Ventrikeltheorie im MittelalterDie Aufteilung der Hirnfunktion in die drei Ventrikel blieb neben der platonischen Dreiteilung das am häufigsten genutzte Modell im Früh- und Hochmittelalter. Starken Einfluss entwickelte unter anderem das Werk De natura hominis von Nemesios von Emesa (um 500 n. Chr.).13 Nemesios betrachtet in diesem unter anderem den Aufbau des Hirns und die Funktion der Nerven im Kontext der Ventrikeltheorie, auch hier immer mit dem Blick auf die Lokalisation der Seele.14 Eine ähnliche Funktion hatte De spiritu et anima, das fälschlicherweise dem Kirchenvater Augustinus (354-430 n. Chr.) zugerechnet wurde, jedoch wahrscheinlich aus dem Umfeld der Abtei St.Victor bei Paris stammt.15 Erweitert wurde die Ventrikeltheorie im weiteren Verlauf des Mittelalters durch eine Art Flussdiagrammmodell. Nach diesem übermitteln die äußeren Sinnesorgane dem sensus communis (gemeiner Sinn) Informationen von der Außenwelt. Vom sensus communis werden diese in die erste Zelle geleitet, in der imaginativa und fantasia (Vorstellungen) gebildet werden. In der zweiten Zelle werden diese Vorstellungen durch aestimativa (Beurteilungskraft) und cognitiva (Denken) verarbeitet und bewertet, und in der dritten Zelle der memorativa (Gedächtnis) zugeführt.16

Ein Beispiel der Gesamtrezeption des Themenkomplexes findet sich im ersten Buch des Traktates De natura corporis et animae des Zisterziensermönchs Wilhelm von Saint-Thierry (1075-1148), in dem er den Aufbau des Körpers aus den vier Elementen, die Bildung der vier Körpersäfte, die Lokalisation der drei virtutes (virtus naturalis, spiritualis 9 POVACZ, Fritz, Geschichte der Unfallforschung, Heidelberg 2007, S. 268.10 Seine Betrachtungen des menschlichen Nervensystems sind beispielsweise bemerkenswert exakt, siehe GOSS, Charles Mayo, On Anatomy of Nerves by Galen of Pergamon, in: American Journal of Anatomy, Vol. 118,2, 1966, S. 327-335.11 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 17f.12 STROHMAIER, Gotthard, Avicenna, München 1999, S. 74.13 MORENO, Morani (Hrsg.): Nemesii Emeseni de natura hominis, Leipzig 1987.14 LEIBBRAND, Werner, Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie, S. 143f.15 DITTRICH, Constance, Augustinus, ein Lehrer des Abendlandes: Einführung und Dokumente, Wiesbaden 2009, S. 47.16 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 24.

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und animalis) in Leber, Herz und Hirn und die Funktionsweise der Sinnesorgane erläutert. Die direkten Anleihen an antike Quellen finden ihre Ursache in der nach den ersten Kreuzzügen in den mitteleuropäischen Raum drängenden arabischen Kenntnisse der Medizin, die wiederum auf den antiken Lehren basierten. Diese wurden aufgearbeitet und angepasst, um sie in einen christlichen Kontext zu stellen.17 Beispiele für neuroanatomische Betrachtungen aus dem arabischen Raum sind beispielsweise das Werk Al-Mansūrī des persischen Arztes Rhazes (820-922 n. Chr.), der die Ventrikeltheorie von Galen übernimmt18, oder der Universalgelehrte Avicenna, der Galens Modell auf fünf Zellen erweitert.19

Wie das Eingangszitat bereits zeigt, war auch der Zusammenhang zwischen Schlaganfällen und dem Verlust der Sprache bekannt. Die Aphasien wurden hierbei als Ausfall der sprachlichen Leistung und damit als Gedächtnisstörung verstanden.

3. Entwicklungen der NeuzeitMit der zu Anfang kirchlich immer noch verbotenen Wiederaufnahme von Sektionen an Menschen und Tieren, der Weiterentwicklung der Künste und dem Kerngedanken der Renaissance das Mittelalter auch ideengeschichtlich hinter sich zu lassen, ist es nicht überraschend, dass ein Mann wie Andreas Vesalius 1543 De humani corporis fabrica veröffentlicht, ein siebenbändiges Werk über die Anatomie des menschlichen Körpers mit plastischen Zeichnungen20 seiner anatomischen Studien, dessen siebter Band einzig dem menschlichen Hirn gewidmet ist.21 Er lokalisiert das Gedächtnis und damit die Sprachfähigkeit im Cerebellum und betont, dass man aus der Hirnanatomie nicht auf die Funktionen der einzelnen Hirnbereiche schließen könne. Im 1666 in Amsterdam erschienenen cerebri anatome arbeitet Thomas Willis nicht nur das Themenfeld der Neuroanatomie, sondern auch das der Hirnfunktionen weiter aus. Im Gegensatz zu Vesalius sieht er den Cortex als Sitz des Gedächtnisses und das Corpus Callosum als Sitz der Vorstellungskraft an und vermutet im Striatum die Wahrnehmung.22 Mit der Suche nach dem Sitz der Sprache rückt ab diesem Zeitpunkt auch die Erforschung der Aphasie, ihrer Ursprünge und ihrer Folgen auf die Sprache ins Zentrum des Interesses. Für die Betrachtung der Aphasie relevant ist das Werk Observationes medicae de capite humano von Johannes Schenck von Grafenberg aus dem Jahr 1585, im dem er unter anderem 16 Fälle von Aphasien aus antiker und mittelalterlicher Überlieferung und den Untersuchungen seiner Zeitgenossen sammelte, in denen sich Fälle von Aphasien mit Alexie und Agraphie nach einem Fieber und Hemiplegie und Aphasie nach einer „Paralyse“, vermutlich einem Schlaganfall, finden.23 Aus ihnen schloss er, dass Schädigungen des Hirns das Gedächtnis für Worte verschwinden lassen können oder zumindest den Zugriff auf eben dieses 17 KÖHLER, Theodor, Grundlagen des philosophisch-anthropologischen Diskurses im dreizehnten Jahrhundert, Leiden 2000, S. 67.18 DE KONING, Pieter, Trois traités d´anatomie arabes, Leyden 1903, S. 8f.19 STROHMAIER, Gotthard, Avicenna, München 1999, S. 74f.20 SAUNDERS, J.B. de C.M., The illustrations from the works of Andreas Vesalius of Brussels, Mineola 1950.21 In englischer Übersetzung: VESALIUS, Andreas, On the fabric of the human body, Book VII: The Brain, RICHARDSON, William Frank (übers.), Novato 2009.22 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 27.23 LUZZATTI, Claudio, WHITAKER, Harry, Johannes Schenck and Johannes Jakob Wepfer: Clinical and anatomical observations in the prehistory of neurolinguistics and neuropsychology, in: Journal of Neurolinguistics, Volume 9, Issue 3, July 1996, S 159f.

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verhindern.24 In diesem Zusammenhang lehnte er die Ventrikeltheorie ab, da Läsionen an den jeweiligen Ventrikeln nicht den zu erwartenden Gedächtnisverlust nach sich ziehen. Bahnbrechend ist zudem das 1658 von Johannes Jakob Wepfer veröffentlichte Werk Anatomische Beobachtungen an Leichen von Personen, die einer Apoplexie erlegen sind, in dem er den Schlaganfall als Folge von Hirndurchblutungsstörungen beschrieb.25 1727 posthum veröffentlicht folgte unter dem Titel Observationes medico-practicae de affectibus cupitis internis & externis eine Sammlung seiner Diagnosen mit 13 Fällen von Sprachstörungen. Im Gegensatz zu Schenck waren diese gezielter ausgesucht und wurden soweit möglich mit den Ergebnissen nachfolgender Sektionen unterfüttert. Er gibt daraus folgend in den meisten Fällen an, auf welcher Seite des Cortex die jeweilige Läsion zu finden ist, wobei die linke am häufigsten betroffen ist.26

Im Fahrwasser der Aufklärung entwickeln sich auch die Theorien im Themenfeld Sprache und Gehirn weiter und lösen sich zumindest zum Teil vom Themenkomplex der Lokalisation der Seele. Isaac Newton (1642 – 1727) postuliert beispielsweise, dass Nerven keine Röhren sondern Fasern sind und sie unter anderem Vibrationen von den Augen zum Hirn weiter leiten.27 John Locke (1632 – 1704) wiederum stellt die These auf, dass alle Ideen auf Wahrnehmungen und den Reflektionen und Assoziationen mit diesen basieren28 und beschäftigt sich eingehend mit der Sprachproduktion, ihrer Vermittlerposition zur Verbreitung von Ideen und Gedanken und ihrer Bedeutung zur Generierung und Vermittlung von Wissen.29 David Hartley (1705 – 1757) nimmt diese Gedankengänge in seinem Werk Observations on man, his frame, his duty, and his expectations auf und leitet daraus ab, dass sich aufgrund assoziativer Prinzipien durch Reizwiederholungen komplexe Ideensysteme aufbauen, indem sensorische Nerven durch Vibrationen die äußeren Reize in die medulläre Substanz senden, in der sie sich mit der Zeit einprägen.30 Einen bemerkenswerten Beitrag zur Lokalisationslehre liefern die Arbeiten des schwedischen Gelehrten Emanuel Swedenborg (1688 – 1772), der davon ausgeht, dass der Cortex über die Nerven Befehle an die verschiedenen Körperteile sendet, wobei seine unterschiedlichen Funktionen an anatomisch unterschiedlichen Stellen repräsentiert sein müssen. Diese Gedankengänge verblassten jedoch in der wissenschaftlichen Rezeption nicht zuletzt durch seine spätere, theologische Arbeit. Sein Werk De Cerebro wurde erst im späten 19. Jahrhundert publiziert.31

Einen ersten Schritt in Richtung theoretischer Betrachtung der Aphasie findet sich bei Johann Gesners 1770 erschienenem, mehrbändigen Werk Samlung von Beobachtungen aus der Arzneygelahrheit und Naturkunde, in dem er sich unter dem Titel Die Sprachamnesie mit einem Fall von Aphasie 24 BRYSBAERT, Marc, RASTLE, Cathy, Historical and Conceptual Issues in Psychology, Harlow 2009, S. 164.25 KARENBERG, Axel, Lexikonartikel „Wepfer, Johann Jakob“, in: Enzyklopädie Medizingeschichte, Werner Gerabek u.a. (hg.), Berlin 2005, S. 147226 LUZZATTI, Claudio, WHITAKER, Harry, Johannes Schenck and Johannes Jakob Wepfer: Clinical and anatomical observations in the prehistory of neurolinguistics and neuropsychology, in: Journal of Neurolinguistics, Volume 9, Issue 3, July 1996, S 162ff.27 NEWTON, Isaac, Opticks, London 17182, S. 320.28 LOCKE, John, An Essay Concerning Humane Understanding, London 183623, S. 50ff.29 Ebd., S. 289ff.30 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 34f.31 CROMPTON, Samuel Willard, Emanuel Swedenborg, Broomall 2005, S. 44ff.

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beschäftigt, bei dem es sich um einen Aphasiker handelt, der Jargon spricht, Stereotypen, passend wie unpassend, verwendet und eine Reihe von Neologismen nutzt und diese auch perseveriert. Auch das Schreiben und Lesen und das Sprachverständnis sind beeinträchtigt, wobei der Patient sich über seine Fehler bewusst ist. Wissen und Wesen des Patienten sind jedoch nicht beeinträchtigt. Als Schluss aus seinen Beobachtungen zieht er folgendes Fazit:„Die unmittelbare Ursache der Krankheit, von der die Rede ist, ist eine Schwäche oder Lähmung desjenigen Theils des Sensoriums, vermittelt dessen die Seele das, was sie in dem Augenblik mit Worten auszudrükken beschlossen hat, so auch in der That ausdrukt, daß andere daraus sehen können, was sie gedacht hat. Die Krankheit selbst ist also das Unvermögen, seine Gedanken mit gesprochenen oder geschriebenen Worten irgend einer Sprache andern zu verstehen zu geben.“32

Die Ursache dieser Erkrankung ist für ihn jedoch nicht bestimmbar, er geht jedoch von einer wie auch immer gearteten Verstopfung der Nerven aus33, und auch die Behandlungsempfehlungen wie Aderlass, Einläufe und Heilwasser wirken recht hilflos,34 womit sich der Therapiestand seit Imhotep nicht geändert hat.

4. Aphasieforschung im 19. JahrhundertUnter der Herrschaft Napoleons bildete sich eine liberale Atmosphäre, die auch von Medizinern zur Publikation umstrittener Literatur genutzt wurde. Für die Neurolinguistik besonders bedeutend ist hierbei Franz Joseph Gall (1758 – 1828), der auf Basis verschiedener Fallstudien die erste Sprachlokalisationstheorie aufstellt.35 Er verortet den Sprachsinn oberhalb der Augenhöhlen neben dem Wortsinn.36 Der Sprachsinn ist eine angeborene Fähigkeit, die sich bereits im Kindesalter auswirken kann, aber nicht an die sonstigen „höheren Anlagen“ gebunden ist. Während sich im Sprachsinn die Fähigkeiten sich auszudrücken, Sprachen zu erlernen und zu kommunizieren summieren, hat der Wortsinn eine eher lexikalische Funktion im Sinne eines Wort- und Namensgedächtnisses. Seine Thesen stützt er mit einer Fallsammlung von Patienten mit Sprachverlust, mit denen er unter anderem begründet, dass der Verlust der Sprache durch Schädigungen bestimmter Hirnbereiche erzeugt wird, dass es verschiedene Formen des Sprachverlustes gibt und dass dieser Verlust nicht zwingend mit dem Verlust anderer geistiger Fähigkeiten oder der Kommunikationsfähigkeit allgemein einher geht. Er trennt zudem zwischen Sprech- und Sprachstörungen.37 Seine Lehren werden später aufgrund der eher unwissenschaftlichen Ausführungen der Phrenologie zum Teil diskreditiert, jedoch bleibt seine These zur Position der Sprachfähigkeit im orbitalen Bereich des Frontallappens weiter im wissenschaftlichen Diskurs.Unter anderem nahm Jean-Baptiste Bouillaud (1796 – 1881) Galls Argumentationen auf und führte sie weiter, indem er basierend auf Fallbeobachtungen zwischen der Artikulation von Worten und der von

32 GESNER, Johann, Samlung von Beobachtungen aus der Arzneygelahrheit und Naturkunde, Nördlingen 1770, S. 131f.33 Ebd., S. 119.34 Ebd., S. 131f.35 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 50f.36 BLÖDE, Karl, F. J. Galls Lehre über die Verrichtungen des Gehirns, Dresden 1806, S. 84.37 GALL, Franz Joseph, Vollständige Geisteskunde, Nürnberg 18332, S. 322ff.

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Gesten unterschied.38 Zudem trennte er die Störungen in Artiulationsstörungen und Sprachstörungen, die aufgrund einer Störung des Gedächtnisses entstehen und entweder die Abrufbarkeit der Worte erschweren oder verhindern, oder aber die Form der Worte schädigen.39

In diesem Diskurs stellt den argumentativen Widerpart Pierre Fourens (1794 – 1867), der als Verfechter des Holismus postulierte, dass das Cortexgewebe überall die gleiche Funktion hat.40 Dies leitete er aus Versuchsreihen mit Wirbeltieren ab, bei denen er Teile des Hirns zerstörte und die Wirkung auf das Verhalten der Tiere beobachtete.41 Die aus diesem Widerspruch resultierende Debatte wurde mehrere Jahrzehnte geführt, bis Paul Broca (1824 – 1880) mit seinen neuroanatomischen Studien dem Diskurs eine neue Richtung gab. Neben Anthropologie42 und Chirurgie beschäftigte er sich mit Neurologie, und aufgrund der Ankündigung seines Kollegens Ernest Auburtin, er werde die Lokalisationstheorie öffentlich widerrufen, sollte einer seiner aphasischen Patienten bei der Autopsie keine Frontalhirnschädigung aufweisen. Da er in seiner Klinik einen ähnlichen Patienten behandelte, dessen Tod absehbar ist, lud er Auburtin ein dessen Fall gemeinsam zu untersuchen. Der Patient namens Leborgne, ein 51-jähriger Epileptiker, hatte in seinem dreißigsten Lebensjahr seine Sprache verloren und zeigte mit 41 zudem Lähmungen des rechten Arms und später des rechten Beines.43 Zudem kam in den letzten Jahren seines Lebens eine Degeneration der intellektuellen Fähigkeiten hinzu. Er war in der Sprachproduktion auf die Silbe „tan“ und einige Flüche reduziert, was ihm den Beinamen „Monsieur Tan“ einbrachte, jedoch war sein Sprachverständnis intakt und auch eine Kommunikation über Gesten war möglich.44 Paul Broca nannte dieses Problem Aphemie, also Verlust des Sprechens. Bei der Autopsie stellte sich heraus, dass Leborgnes linker Frontallappen eine größere Läsion aufwies und allgemein stark degeneriert war. Da der Verlust der Sprachproduktion vor den Lähmungserscheinungen auftrat, verortete er den Kern der Läsion, die dritte Frontalhirnwindung, als Ursache für die Aphemie, womit er Bouillaud mit seiner Lokalisation des Sprechsinns recht gab. Gestützt wird seine Ansicht von mehreren weiteren Fällen, deren Autopsie bis auf einen Fall linkshemisphärische Läsionen der dritten frontalen Hirnwindung zeigten. Später stellt er die Theorie der Sprachlateralisation auf, also die Annahme, dass bei Rechtshändern die Sprachfähigkeit in der linken Hemisphäre zu finden ist, während dies bei Linkshändern umgekehrt sein kann. Außerdem vermutete er, dass das Hirn Schädigungen kompensieren kann und stellte somit die kortikale Plastizität fest. Bei seinen Untersuchungen betont er, dass die von ihm betrachtete Aphemie nichts mit verbaler Amnesie gemein hat, also motorische und sensorische Aphasien getrennt betrachtet werden müssen. Auf letztere geht er jedoch in seinen anatomischen Betrachtungen nicht weiter ein. Basierend auf diesen Erkenntnissen generiert er ein System aus vier Aphasieformen, 38 NELLES, Gereon (hg.), Neurologische Rehabilitation, Stuttgart 2004, S. 88.39 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 56.40 HERGENHAHN, B.R., An Introduction to the History of Psychology, Wadsworth 20055, S. 226.41 FLOURENS, Pierre, Versuche und Untersuchungen über die Eigenschaften und Verrichtungen des Nervensystems bei Thieren mit Rückenwirbeln, Leipzig 1824.42 Beispielsweise zum Thema der menschlichen Rassenvermischung und deren möglichen Folgen: BROCA, Paul, On the Phenomena of Hybridity in the genus homo, London 1864.43 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 62.44 SCHILLER, Francis, Paul Broca – Founder of French Anthropology, Explorer of the Brain, Los Angeles, 1979, S. 186.

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der Aloglie (Folge einer Intelligenzverminderung), der verbalen Amnesie (Verlust der Beziehung zwischen Sprache und Ideen), der Aphemie (Verlust der Fähigkeit zur artikulierten Sprache) und der mechanischen Alalie (Unfähigkeit die Artikulationsorgane zu steuern).45

Entgegen der Vorstellungen Brocas kann sich Armand Trousseau nach verschiedenen Vorträgen und Diskussionen in Fachzeitschriften mit dem Wort Aphasie gegen den Begriff Aphemie für die von Broca beobachteten Erkrankungen durchsetzen.46 Seiner These der Aphasie als kognitive Störung, die mit der Minderung der intellektuellen Leistung einher geht, ist hingegen keine längerfristige Wirkung beschieden.

5. Die Forschung nach BrocaBasierend auf Brocas Studien entwickelt sich eine breite Diskussion, die in Großbritannien mit der Veröffentlichung von Darwins Origins of Species zusammen fällt und entsprechend Synergieeffekte frei setzt. Hughlings Jackson (1835 – 1911) beispielsweise geht davon aus, dass die verschiedenen Teile des Hirns verschiedener Schritte der Evolution entsprechen und durch Ausfälle im phylogenetisch jüngsten Teil des Hirns, dem Neo-Cortex, ältere Teile nicht mehr inhibiert werden und es dadurch zu unerwünschten Wirkungsverstärkungen kommen kann. Für ihn sind das unter anderem bei der Aphasie Sprachautomatismen und Jargon, die sich durch die wegfallende Kontrolle des Neo-Cortex Bahn brechen. William Ogle wiederum postuliert mehrere Sprachzentren und aufgrund ihres Ausfalls unterschiedliche Formen der Aphasie. Er unterscheidet hierbei die amnemonische Aphasie, bei der vorhandene Konzepte nicht in die richtigen Symbole umgewandelt werden können, die atakische Aphasie, bei der es sich um den expressiven Teil der globalen Aphasie handelt, und zieht zudem die Agraphie hinzu, die sich sowohl in einer amnemonischen als auch in einer atakischen Version manifestiert. Er stellt fest, dass die verschiedenen Formen der Aphasie im Rahmen eines Symptomwandels mit der Zeit in die jeweils andere übergehen können, geht jedoch nicht davon aus, dass Aphasien sich auch als Verstehensdefizit äußern können.47

Die erste Monographie zum Thema Aphasie wurde 1870 von Frederic Bateman (1824 – 1904) unter dem Titel On Aphasia, on Loss of Speech, and the Localisation oft he Faculty of Articulate Language veröffentlicht. Auf der Basis ausgiebiger Fallstudien stellt er die Aphasie als einen Sammelbegriff für alle Arten von Sprachverlust dar, die sich in verschiedenen Symptomen ausdrücken kann, und somit als Syndrom. Die verschiedenen Symptome können in unterschiedlicher Schwere auftreten und linguistisch selektiv und modalitätsspezifisch auftreten. Hinzu kommen Paraphrasien und Suchverhalten bei Wortfindungsstörungen, selektive Sprachausfälle bei mehrsprachigen Personen etc, nur Defizite bei Syntax und Sprachverständnis führt er nicht bei den Symptomen auf. Aufgrund seiner weitreichenden Studien und dem Abgleich der verschiedenen zu diesem Zeitpunkt kursierenden Thesen kommt er zum Schluss, dass es aufgrund der vielen Ausnahmen keinen Beweis dafür gibt, dass ein zerebrales Zentrum für Sprache existiert.

45 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 64f.46 British Medical Journal, Ausgabe vom 14. Mai 1864 und Gazette des Hopitaux civils et militaires, Ausgabe vom 12 Januar 1864.47 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 74ff.

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Zu guter Letzt sei noch Byron Bramwell (1847 – 1931) erwähnt, der sich mit der crossed aphasia beschäftigt hat, also nach heutigem Wissensstand einer Aphasie durch eine Läsion in der rechten Hemisphäre bei einem Rechtshänder, wobei es sich bei Bramwell um einen Linkshänder mit einer Läsion in der linken Hemisphäre handelte. Er beschrieb damit die Möglichkeit, dass die Lateralisation der Sprache komplett invertiert sein kann. Zudem beschrieb er einen selten Fall von Wortbedeutungstaubheit, also der Unfähigkeit gehörte Worte zu verstehen. Seine Patientin hatte kaum Schwierigkeiten mit der Sprachproduktion, konnte laut lesen und Gelesenes verstehen, konnte Fragen zudem wiederholen, jedoch nur verstehen, wenn sie diese selbst niedergeschrieben hatte. 48

Im deutschsprachigen Raum fällt im neuroanatomischen Bereich zuerst die Faserlehre von Theodor von Meynert (1833 – 1892) auf, der unter anderem Mentor von Carl Wernicke wurde.49 Meynert unterscheidet die verschiedenen Nervenfasern im Hirn in Projektionsfasern, die Verbindungen zu den Sinnesorganen und dem Bewegungsapparat aufrecht erhalten, und Assoziationsfasern, die Teile des Cortex untereinander verbinden und so Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedächtnisinhalte weiter leiten. Wiederholte Nutzung dieser Fasern verfestigt diese Bahnen, wodurch funktionale Differenzierungen entstehen.50 Hiermit stützt er auch die Theorie der assoziativen Prinzipien von David Hartley, da Meynert davon ausgeht, dass sich hierdurch Klangbilder und Erinnerungbilder durch Assoziationen verbinden. Zudem relevant ist seine Betrachtung über Sprachverständnisstörungen, deren Ursache er in einem von ihm so genannten Klangfeld bei der Sylvischen Furche vermutete, also dem Bereich, dem sich später auch sein Schüler Wernicke widmete.51 Auf Meynerts Thesen bezugnehmend stellt Johann Baptist Schmidt auf Basis der Beobachtung von phonematischen und semantischen Abweichung bei einer Patientin fest, dass es im menschlichen Gehirn einen eigenen Bereich geben muss, der Klangbilder erzeugt, die dann in das Sprachzentrum gesendet werden.Zum endgültigen Durchbruch der Lokalisationstheorie verhelfen die Experimente von Eduard Hitzig (1838 – 1907) und Gustav Fritsch (1838 – 1927), die durch die Elektrostimulation von verschiedenen Hirnregionen bei Hunden aktiv spezifische Funktionen in unterschiedlichen Hirnregionen nachweisen können.

Gegenstimmen zur sich ausbreitenden Lokalisationstheorie finden sich bei Ferdinand Carl Finkelnburg (1832 – 1896), der Aphasien nur für ein Teilproblem der Asymbolie hält, bei der die Fähigkeit jegliche Art von Symbolen zu verstehen oder zu produzieren gestört ist, und bei Heymann Steinthal, der als Sprachwissenschaftler feststellt, dass die Neuroanatomen zu wenige Kenntnisse über die Struktur der Sprache besitzen, um ihre funktionalen Elemente im Gehirn lokalisieren zu können. Er stellt als Gegenkonzept zum rein anatomischen Ansatz ein psychologisches Modell der Sprachverarbeitung vor, das sich auf drei Mechanismen stützt. Die organische Mechanik deckt dabei die Funktionen des Artikulationsapparates

48 CODE, Christopher, TESAK, Jürgen, Milestones in the history of aphasia: theories and protagonists, New York 2008, S. 63ff.49 MARNEROS, Andreas, PILLMANN, Frank, Das Wort Psychiatrie wurde in Halle geboren. Von den Anfängen der deutschen Psychiatrie, Stuttgart 2005, S. 115.50 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 81.51 GESCHWIND, Norman, Wernicke´s Contribution to the Study of Aphasia, in: GESCHWIND, Norman, Selected Papers on Language and the Brain, Dordrecht 1974, S. 287.

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ab, die psychische Mechanik übernimmt die Funktion der Sprachverarbeitung und der Anschauungs- und Begriffsinhalt stellt die Redeabsicht dar. Diesen drei Elementen ordnet er entsprechend die verschiedenen Sprachstörungen zu. 52

Auf den Grundlagen von Gall, Broca und Meynert erarbeitete Carl Wernicke, Meynerts Schüler, 1874 in seiner Monographie „Der aphasische Symptomencomplex“ die später so genannte klassische Lehrmeinung in der Aphasie. Sie basiert auf der Annahme, dass Sprachzentren existieren, die untereinander verbunden sind und dass diese durch Läsionen zu den relativ feststehenden Symptombündeln der aphasischen Syndrome führen.53 Diese Sprachzentren sieht er im von Paul Broca beschriebenen Areal auf der einen Seite und in der von Meynert skizzierten Hirnregion auf der anderen, die später als Broca- und Wernickeareale in die Fachliteratur eingehen.54 Diese Areale beschreibt er anatomisch präzise und weist ihnen ihre Funktionen zu. Er trennt hierbei motorische und sensorische Sprachfähigkeit. Jedes Wort wird in ein motorisches Bewegungsbild und ein sensorisches Klang- oder Erinnerungsbild zerlegt, wobei Bewegungsbilder im späteren Wernickeareal gespeichert sind und Erinnerungsbilder im Brocaareal. Verbunden sind sie durch den Reflexbogen, der im Spracherwerb durch Assoziationsbildung die Erinnerungsbilder mit den Bewegungsbildern verkettet, während er bei Erwachsenen das Nachsprechen ermöglicht.55 Hinzu kommt des Nervus Acusticus, der akustische Sinneseindrücke zum Wernickeareal leitet, und die zentrifugale Bahn der lautbildenden Bewegungsnerven, die letztendlich zum Artikulationsapparat führt. Aufgrund dieses simplen Modells konzeptualisiert er die Aphasie, die durch Störungen der verschiedenen Verbindungen und damit durch die Lokalisation der Läsion unterschiedliche Symptome entwickeln kann. Auf den Ausfall des Nervus Acusticus folgt bei Erwachsenen daher einfache Taubheit ohne aphasische Elemente, während dies in der frühkindlichen Entwicklung auch zur Stummheit führt, da sich noch kein Schatz von Klangbildern ansammeln konnte. Wenn das Wernickeareal betroffen ist, bedeutet das andererseits nicht den Verlust des Gehörs insgesamt, da der Nervus Acusticus sich weit über das Areal hinaus ausbreitet. Es kommt stattdessen zum Verlust der Klangbilder bei vollständig erhaltenem Gehör, wodurch die von ihm so benannte sensorische Aphasie entsteht,56 die Begriffe selbst aber noch erhalten bleiben. Er erwartet zudem im Falle einer sensorischen Aphasie auch eine Agraphie, da er den Schriftspracherwerb auf der Basis der gesprochenen Sprache vermutet.57 Beim Ausfall des Reflexbogens zwischen Broca- und Wernickeareal kommt es zur Leitungsaphasie, bei der der Patient alles versteht und auch alles sprechen kann, jedoch die Auswahl der Wörter gestört ist, da die Klangbilder im Wernickeareal nicht korrigierend auf die Spracherzeugung aus den Erinnerungsbildern heraus einwirken können. Bei einer Läsion im

52 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 83ff.53 TESAK, Jürgen, „Der aphasische Symptomenkomplex“ von Carl Wernicke, Idstein 2005, S. 10.54 WERNICKE, Carl, Der aphasische Symptomenkomplex, Breslau 1874, ND: Berlin 1974, S. 15.55 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 91.56 WERNICKE, Carl, Der aphasische Symptomenkomplex, Breslau 1874, ND: Berlin 1974, S. 19ff.57 WERNICKE, Carl, Der aphasische Symptomenkomplex, Breslau 1874, ND: Berlin 1974, S. 25.

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Brocaareal kommt es zur motorischen Aphasie, bei der die Sprechbewegungsbilder zerstört werden, weshalb der Patient entweder stumm wird oder nur noch einige wenige einfache Wörter beherrscht, die auch im falschen Kontext und aus dem Wunsch heraus genutzt werden, sich überhaupt äußern zu können. Zu guter Letzt stellt er die zumindest theoretische Möglichkeit dar, dass die Verbindung zwischen Brocaareal und Artikulationsapparat gestört werden könnte, was auch zu einer motorischen Aphasie führen würde.58 In keinem Fall aber führt nach Wernicke eine Aphasie zur Verminderung der Intelligenz.59

Die Wirkungsweise seines Modells schränkt er selbst insofern ein, dass es sich nur auf die Produktion einzelner Worte bezieht und für sich nur die Lokalisation elementarster Teile der psychischen Funktionen der Sprache in Anspruch nimmt, während er die höheren Funktionen im mosaikartig im Cortex verteilten Assoziationssystem sieht. Daher hält er reine Fälle der jeweiligen Aphasietypen auch nicht für wahrscheinlich, sondern erwartet häufig vermischte Formen.60

Mit diesem Modell der Sprachfunktion und der Aphasien als Folge der Störung seiner Elemente erschafft Wernicke das Fundament der klassischen Lehrmeinung der Neurolinguistik über den Ablauf der Sprachrezeption und der Spracherzeugung und der Wirkungsweisen der Aphasie, das trotz Modifikationen und Erweiterungen in Kernelementen bis heute Gültigkeit besitzt.61 Basierend auf Wernickes Erkenntnissen erarbeitet Adolf Kussmaul (1822 - 1902) im Jahre 1877 einen neuropsychologischen Ansatz, der sich nicht auf die anatomische Lokalisation bezieht, sondern im Sinne kognitiver Neuropsychologie modellorientiert Störungen der Wort- wie auch der Satzverarbeitung beleuchtet und damit Begriffe wie Paraphasie und Agrammatismus prägt.Im Zusammenspiel dieses Modells mit dem Sprachverarbeitungsmodell von Ludwig Lichtheim (1845 – 1928), das Wernickes Modell um eine „Bildungsstätte der Begriffe“, einen Bereich für optische Erinnerungsbilder für Buchstaben und eine Region, aus der die Schreibbewegungen innerviert werden, also um Lese- und Schreibfähigkeiten erweitert, arbeitet Wernicke unter Heranziehung anatomischer Qualifizierung die sieben Aphasieformen heraus, die durch die Störung der verschiedenen Hirnregionen und deren Verbindungen auftreten können (siehe Abbildung 1).Hierbei erzeugt die kortikale sensorische Aphasie Sprachverstehensprobleme und Nachsprechprobleme; das Sprechen ist durch Paraphasien beeinträchtigt. Gleiches gilt für die subkortikale sensorische Aphasie, allerdings ohne die Auswirkung auf das spontane Sprechen.

58 Ebd., S. 31f.59 Ebd., S. 35.60 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 96.61 MARNEROS, Andreas, PILLMANN, Frank, Das Wort Psychiatrie wurde in Halle geboren. Von den Anfängen der deutschen Psychiatrie, Stuttgart 2005, S. 116.

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B: BegriffscentrumA: Klangbildcentrumb: Sprachbewegungscentrum1:cortikale sensorische Aphasie2: subcortikale sensorische Aphasie3: transcortikale sensorische Aphasie4: cortikale motorische Aphasie5: subcortikale motorische Aphasie6: transcortikale motorische Aphasie7: Leitungsaphasie

Abb. 1: Wernicke-Lichtheim-Schema

Die transkortikale sensorische Aphasie ist durch Paraphasien in der Spontansprache, Verstehensprobleme, jedoch eine erhaltene Nachsprechfähigkeit geprägt, während die kortikale motorische Aphasie das Sprachverstehen intakt lässt, dafür das Nachsprechen stört und die Spontansprache nur auf wenige Wörter beschränkt. Die subkortikale motorische Aphasie wirkt sich ähnlich aus, jedoch können die Patienten aufgrund der noch funktionierenden Sprachbewegungsbilder noch Lautinformationen wie Silbenanzahl über die Wörter angeben. Die transkortikale motorische Aphasie schränkt Verstehen und Nachsprechen nicht ein, dafür wirken sich Paraphasien in der Spontansprache aus, während bei der Leitungsaphasie Spontansprache und Nachsprechen paraphasisch werden, das Sprachverstehen aber nicht beeinträchtigt ist. Zu guter Letzt verbleibt noch die amnestische Aphasie, die eine Folge von Gedächtnisproblemen ist und daher eine grundlegend andere Ursache als die anderen Aphasien hat.Dieses Wernicke-Lichtheim-Schema wirkt weit über die nachfolgenden Diskussionen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts hinaus und bildet zudem den Ansatz zum Konnektionismus62, den Henry Charlton Bastian 1898 ausarbeitet und der wiederum harsche Kritik durch Sigmund Freud erfährt. Diese Theorien und mit ihnen verbundenen Modelle prägen die Diskussionen weit hinein ins 20. Jahrhundert, und führen schlussendlich zur modernen Aphasiologie.63

62 Hierbei handelt es sich um den neurologischen Konnektionismus, nicht um den linguistischen.63 TESAK, Jürgen, Geschichte der Aphasie, Idstein 2005, S. 101ff.

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Teil 2: Aktueller Stand zur Funktion des Wernicke- und Brocaareals

Die Erkenntnisse von Broca und Wernicke sind nun über 130 Jahre alt, und heutzutage ist es nicht mehr nötig das Hirn zu sezieren, um einen Einblick in seine Funktionen zu gewinnen. Moderne bildgebende Verfahren bieten zumindest einen groben Einblick, wie das hochkomplexe Organ Gehirn im lebenden Zustand und aktiv genutzt funktioniert und welche Prozesse in ihm ablaufen, wenn Sprache erzeugt oder verarbeitet wird. Durch diese Verfahren ist es anhand verschiedener Methoden möglich Hirnaktivitäten zu beobachten und festzuhalten. Dies ermöglicht völlig neue Einblicke in die Sprachfähigkeit, ihre Entwicklung und ihre Störungen. Bei der Frage, welche Hirnregionen auf welche Art und Weise bei der Spracherzeugung und –rezeption beteiligt sind, und welche Rolle das Broca- und Wernickeareal hierbei übernehmen, kommt den bildgebenden Verfahren eine Schlüsselposition zu.

1. Bildgebende VerfahrenElektronenzephalografieDas Elektronenzephalogramm ist die älteste Möglichkeit Hirnaktivtäten aufzuzeichnen. Korrekterweise sei angemerkt, dass es sich nicht im klassischen Sinne um ein bildgebendes Verfahren handelt, da es ursprünglich keine Bilddaten erzeugt, sondern nur über Elektroden aus dem Hirn stammende Potentialschwankungen an der Kopfhaut erfasst und als Kurvendiagramm dargestellt. Diese Technik wurde ursprünglich von Hans Berger entwickelt, der 1929 im Archiv für Psychiatrie unter dem Titel Über das Elektrenkephalogramm des Menschen seine ersten Versuche veröffentlichte. Innerhalb der nachfolgenden 80 Jahre ist das EEG zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel in verschiedenen medizinischen Bereichen avanciert64, im neurolinguistischen Bereich wird es zunehmend in Kombination mit anderen Verfahren genutzt, da es eine vergleichsweise schlechte räumliche Auflösung besitzt, aber über eine exzellente zeitliche Auflösung verfügt und über statistische Methoden das event-related potential (ERP), also eine neuronale Reaktion auf einen spezifischen Stimulus, berechnet werden kann. Verwandt mit dem EEG ist die Magnetoenzephalographie, die die magnetische Aktivität des Gehirns misst, jedoch im Betrieb kostenintensiver ist.Eine Erweiterung der Möglichkeiten des EEGs stellt die EEG-Kohärenzanalyse dar. Hierbei werden die Messungen der üblicherweise 19 Elektroden des EEGs paarweise verglichen, statistisch analysiert und auf einem Kopfschema dargestellt. Genutzt wird es unter anderem zur Erfassung neuronaler Synchronisationsprozesse während der kognitiven Informationsverarbeitung.65

Positronen-Emissions-TomographieBei der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) wird dem Körper eine Lösung mit Positronen emittierenden Radionukliden injiziert, die bei Zusammenstößen mit Elektronen zwei Gamma-Quanten freisetzen, die im Winkel von 180° emittieren. Hierzu wird üblicherweise 11C, 13N, 15O, 30P 64 WEHRLI, Wilfried, LOOSLI-HERMES, Joke (hg.), Enzyklopädie elektrophysiologischer Untersuchungen, München 2003, S. 276.65 WEISS, Sabine et al., Kohärenz- und Phasenuntersuchungen und ihre Bedeutung für die Untersuchung von Sprachprozessen, in: MÜLLER, Horst, RICKHEIT, Gert (hg.), Neurokognition der Sprache, Tübingen 2004, S. 211ff.

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oder 18F genutzt. Spezielle Gammakameras, die zumeist ringförmig angeordnet sind, fangen die beiden zueinander korrespondierenden Gammaquanten auf und erfassen diese in einem Zeitfenster von 10-20ns. Die Gammaquanten liegen auf einer Linie mit ihrem Entstehungsort, der daher durch Ort und Zeit der Messung berechnet werden kann. Hieraus ergibt sich ein sogenanntes PET-Bild, in dem die Aktivitätsverteilung in einer Körperschicht dargestellt wird.66 Wird die Lösung in die Blutbahn injiziert, lässt sich mit diesem hämodynamischen Verfahren erhöhte metabolische Aktivität durch Veränderungen im regionalen zerebralen Blutfluss nachweisen und somit auch unterschiedliche Aktivitäten in verschiedenen Hirnregionen.67 Üblicherweise werden PET-Bilder mit durch einen Computertomographen gewonnenen Bildern des entsprechenden Hirns unterlegt, um eine Zuordnung der Aktivitäten zu erleichtern.

Funktionelle MagnetresonanztomographieÄhnlich wie das PET-Verfahren misst die funktionale Magnetresonanztomographie (fMRT) nicht direkt die elektrische Hirnaktivität, sondern die metabolische Reaktion auf diese. Wie bei der traditionellen MRT werden mit Hilfe von Radiowellen die Protonen in den Wasserstoffatomen des Körpers in Schwingung versetzt. Wenn sich die Protonen danach wieder dem normalen Magnetfeld folgend neu ausrichten, erzeugen sie Energiefelder, die von außen gemessen werden können. Beim fMRT wird hierbei besonderes Augenmerk auf die magnetischen Eigenschaften des Hämoglobins gelegt, die sich ändern, wenn bei metabolischen Prozessen Sauerstoff abgegeben und CO2 aufgenommen wird. Das fMRT bietet wie das PET-Verfahren eine gute räumliche und schlechte zeitliche Auflösung, ist jedoch aufgrund der fehlenden Injektion weniger invasiv als das PET-Verfahren.68

2. Lokalisation und Aufbau des BrocaarealsDas Brocaareal befindet sich in der Pars triangularis des Gyrus frontalis inferior, bei Rechtshändern zumeist und bei Linkshändern häufig in der linken Hemisphäre. Es wird mit der Brodmann-Area 44 (BA44) und

teilweise mit der Area 45 (BA45) gleichgesetzt, wobei zum Teil zwischen einer Brocaregion im engeren und einer Region im weiteren Sinne unterschieden wird. Die räumliche Ausdehnung variiert jedoch sowohl interindividuell als auch interhemisphärisch. So kann die Grenze zwischen BA44 und

66 HANDELS, Heinz, Medizinische Bildverarbeitung, Wiesbaden 20092, S. 34.67 TESAK, Jürgen, Einführung in die Aphasiologie, Stuttgart 20052, S. 40.68 GAZZANIGA, Michael et al., Cognitive Neuroscience: the Biology of the Mind, New York 20093, S. 151f.

Abb 2: Das Broca- und Wernickeareal (Quelle: http://www.nidcd.nih.gov/health/voice/aphasia.asp)

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BA45 durch den Sulcus diagonalis verlaufen, dieser kann komplett in BA44 liegen oder wie bei etwa der Hälfte der Fälle komplett fehlen. Ähnliche Variabilität findet sich in der Abgrenzung zum Sulcusgrund. Die Sulci, die das Broca-Areal begrenzen, geben daher nur einen ungefähren Anhalt zur Lage der Brodmann-Areale.In ihrer Zytoarchitektur verfügen BA44 und BA45 über den typischen Aufbau eines isokortikalen Areals, also über sechs Zellschichten. Auffällig sind besonders große Pyramidenzellen in der Lamina III, der inneren Pyramiden-zellschicht. Während BA44 nur über eine schwach entwickelte Lamina IV verfügt, in die Pyramidenzellen der benachbarten Schichten hinein ragen, ist die gleiche Lamina in BA45 deutlich entwickelter. Die Areale sind zytoarchitektonisch in beiden Hemisphären ähnlich, es gibt jedoch Unterschiede im mikroskopischen Bau. Zudem ist das Volumen von BA 44 in der linken Hemisphäre größer als in der rechten.69

Innerhalb der postnatalen Hirnentwicklung lässt sich beobachten, dass das Brocaareal seine höchste dendritische Verzweigung zwischen dem 18. und 36. Lebensmonat erreicht, zeitgleich mit dem Erlernen erster Silben- und Wortkombinationen. Die Zahl der Synapsen erreicht ihr Maximum im 15. bis zum 24. Monat, die Myeliniserung und die korrekte Zellschichtung ist zwischen dem 4. Lebensjahr und 6. Lebensjahr abgeschlossen.70

3. Lokalisation und Aufbau des WernickearealsDas Wernickeareal befindet sich im hinteren Bereich des Gyrus temporalis superior, umfasst das Planum temporale und reicht in Teile des Gyrus angularis und des Gyrus supramarginalis sowie in den Gyrus temporalis medius hinein. Die genaue Abgrenzung ist diffuser als beim Brocaareal. Es wird allgemein angenommen, dass die Brodmann-Area 22 (BA 22) zumindest in ihrem posterioren Anteil Teil des Wernickeareals ist und zudem Teile der Areale 42, 39, 40 und unter Umständen BA 37 dazu gehören.Zytoarchitektonisch ist die posteriore BA22 gekennzeichnet durch eine relativ zellarme Lamina II, während die Lamina III über große und dicht gepackte Pyramidenzellen verfügt und die Lamina IV eher schmal ausfällt. Zudem finden sich auch Unterschiede in der Rezeptor- und der Myeloarchitektur, also im Aufbau der Synapsenrezeptoren und der Nervenfasern, zwischen dem posterioren Teil von BA22 und den umliegenden Arealen.71

Im Rahmen der postnatalen Hirnentwicklung zeigt sich, dass das Wernickareal seine höchste Synapsendichte zwischen dem 8. und 20. Lebensmonat erreicht. In allen Cortexschichten des Wernickeareals ist bereits im Alter von zwei Jahren Myelin nachweisbar. Es entwickelt sich also deutlich schneller als das Brocaareal.72

69 SCHNEIDER, Frank, Funktionelle MRT in Psychiatrie und Neurologie, Heidelberg 2007, S. 311f.70 MARKOWITSCH, Hans, WELZER, Harald, Das autobiographische Gedächtnis: Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung, Stuttgart 2005, S. 121.71 SCHNEIDER, Frank, Funktionelle MRT in Psychiatrie und Neurologie, Heidelberg 2007, S. 313f.72 MARKOWITSCH, Hans, WELZER, Harald, Das autobiographische Gedächtnis: Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung, Stuttgart 2005, S. 121.

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Verbunden sind das Broca- und das Wernickeareal durch den fasciculus arcuatus, der einen direkten Informationsfluss zwischen beiden Arealen ermöglicht.73

4. Die Lokalisation von FunktionenDie klassische Lehrmeinung der Sprachlokalisation gilt heute als überholt. Das Wernickeareal als ausschließlicher Ort der Sprachrezeption und das Brocaareal als einziger Ort der Sprachproduktion lassen sich in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr halten. Sowohl die strikte Trennung von Rezeption und Produktion als auch die Konzentration auf diese beiden Hirnregionen musste aufgegeben werden. Dafür sind neue Hirnbereiche bei der Sprachverarbeitung als wichtig erkannt worden. Zudem können sich kurzzeitig frequenzspezifische kooperative Netzwerke in größeren Neuronenverbänden bilden und somit Neuronen in unterschiedlichen neuronalen Netzwerken aufgabenspezifisch interagieren, wodurch es nicht mehr möglich ist einzelnen Hirnregionen einzelne, spezifische Aufgabenfelder zuweisen zu können.74 Die zeigt sich nicht zuletzt in der Aphasiologie, die, wie schon dargestellt, im 19. Jahrhundert den Ausschlag auf dem Weg zum klassischen Ansatz gab. Eine Reihe von aktuellen Untersuchungen hat jedoch gezeigt, dass „die Korrelation zwischen Syndrom und Läsion mehr Wunschdenken als Realität ist“. 75 Läsionen und nach dem klassischen Ansatz zu erwartende Aphasien passen nur selten exakt zusammen. Hinzu kommt, dass bestimmte fokale Läsionen metabolische Veränderungen in ganz anderen Teilen des Hirns bewirken.76

Einerseits deutet dies an, dass ein holistischer Ansatz zumindest teilweise relevant werden könnte, andererseits zeigt sich aufgrund des Syndromwandels auch, dass durch die Plastizität des Hirns Symptome von Aphasien nicht zwingend einen dauerhaften Ist-Zustand darstellen, sondern nur die Konsequenzen aus einer zufälligen und zufällig proportionierten Störung. Daher ist es nötig einen Blick auf die Befunde zur Funktion der beiden Areale zu werfen.

5. Funktionen des BrocaarealsDas Brocaareal wird unter anderem durch syntaktische und phonologische Aufgaben, den semantischen Zugriff auf Worte und Bilder und die Verbgenerierung und –verarbeitung aktiviert77 und spielt zudem eine wichtige Rolle bei der lexikalischen Abfrage und der grammatischen Unterscheidung zwischen Nomen und Verb und bei morphologischen Prozessen, beispielsweise bei der Wortform.78 Das Brocaareal wird jedoch nicht nur zur Sprachproduktion genutzt. Auf Basis einer Metaanalyse von 28 Studien unter Verwendung von PET-Verfahren und fMRT lässt sich feststellen, dass auch phonologische Verarbeitung und syntaktische Analysen bei der Sprachrezeption hier stattfinden. In wie weit die syntaktische Verarbeitung bei der

73 SCHNEIDER, Frank, Funktionelle MRT in Psychiatrie und Neurologie, Heidelberg 2007, S. 310.74 MÜLLER, Horst, Arbeitsbuch Linguistik, Paderborn 2002, S. 41675 TESAK, Jürgen, Einführung in die Aphasiologie, Stuttgart 20052, S. 4076 Ebd., S. 4077 CAPPA, Stefano et al., Broca’s aphasia, Broca’s area, and syntax, A complex relationship, in: Behavioral and Brain Sciences, Band 32,1, Highfield 2000, S. 27.78 CAPPA, Stefano et al., Broca’s Area and Lexical-Semantic Processing, in: GRODZINSKY, Yosef, AMUNTS, Katrin (hg.), Broca’s Region, Oxford 2006, S. 193.

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Sprachrezeption das gleiche neurale Substrat wie das syntaktische Parsen und Enkodieren verwendet, ist jedoch unklar, da die Aktivierung während der Sprachproduktion weiter posterior liegt. In Diskussion ist zudem das Niveau der grammatischen Verarbeitung innerhalb des Brocareals. 79 Allgemein lässt sich die Funktion des Brocaareals auch auf Zeichensprache übertragen, zumindest was die lexikalische Bereitstellung bzw. die lexikalische Auswahl und die Artikulation angeht. In wie weit das Brocaareal auch für das Verständnis von Zeichensprache und innere Vorbereitung von Zeichen relevant ist, ist noch unklar.80

Aufgrund dieser enormen Bandbreite bei gleichzeitiger Fragmentierung der Aufgaben erscheint es sinnvoll in Zukunft das Brocaareal in kleinere Untersuchungsbereiche aufzuteilen und dabei die umgebenden Strukturen einzubeziehen. 81

Interessanterweise wird das in der rechten Hemisphäre gegenüber liegende Areal bei syntaktisch anspruchsvollen Verarbeitungen zusätzlich aktiviert, was eine Unterstützungsfunktion für das Brocaareal vermuten lässt. Diese Vermutung wird durch die stärkere Nutzung dieses Gebietes zur Kompensation bei Läsionen im Brocaareal gestützt, wobei nicht klar ist, ob das dem Brocaareal homologe Areal zur selbstständigen syntaktischen Analyse fähig ist oder nur zusätzliche kognitive Resourcen bereit stellt. Für Letzteres spricht, dass dieser Bereich bei einfacheren syntaktischen Verarbeitungen keine zuverlässigen Aktivierungen zeigt und Läsionen dieses Areals die Fähigkeit der syntaktischen Analyse nicht einschränken.82

Aber das Brocaareal ist nicht nur bei Sprachproduktion und –verständnis aktiv, dank PET- und fMRT-Studien finden sich noch eine Reihe anderer Funktionselemente in diesem Hirnbereich. Evolutionär betrachtet ist das Brocaareal mit dem ventralen praemotorischen Areal F5 von Affen vergleichbar, das für das Greifen mit Händen und Mund, der Einordnung von greifbaren Objekten, der Beobachtung von Hand- und Mundaktivitäten von Artgenossen und dem Hören von Geräuschen während dieser Aktivitäten zuständig ist. Ein Abgleich durch fMRT-Experimenten mit Menschen hat gezeigt, dass das Brocaareal auch aktiviert wird, wenn Versuchspersonen greifbare Objekte oder zielgerichtete Bewegungen anderer Personen mit Objekten beobachten. Diese Aktivierung fällt deutlich schwächer aus, wenn diese Bewegungen keine Zweckorientierung besitzen und dadurch bedeutungslos werden. Dies deutet zumindest an, dass sich Sprache aus einem auf Hände und Mund stützenden System der Gestenkommunikation gebildet haben könnte83 und korrespondiert mit der Bedeutung des Brocaareals bei der Erzeugung und dem Verständnis von Gesten. 84

79 INDEFREY, Peter, Hirnaktivierungen bei syntaktischer Sprachverarbeitung, in: MÜLLER, Horst (hg.), Neurokognition der Sprache, Band 1, Tübingen 2004, S. 41ff.80 EMMOREY, Karen, The Role of Broca’s Area in Sign Language, in: GRODZINSKY, Yosef, AMUNTS, Katrin (hg.), Broca’s Region, Oxford 2006, S. 180.81 CAPPA, Stefano et al., Broca’s Area and Lexical-Semantic Processing, in: GRODZINSKY, Yosef, AMUNTS, Katrin (hg.), Broca’s Region, Oxford 2006, S. 193.82 INDEFREY, Peter, Hirnaktivierungen bei syntaktischer Sprachverarbeitung, in: MÜLLER, Horst (hg.), Neurokognition der Sprache, Band 1, Tübingen 2004, S. 41ff.83 FADIGA, Luciano et al., Broca’s Region: A Speech Area?, in: GRODZINSKY, Yosef, AMUNTS, Katrin (hg.), Broca’s Region, Oxford 2006, S. 148f.84 CAPPA, Stefano et al., Broca’s aphasia, Broca’s area, and syntax, A complex relationship, in: Behavioral and Brain Sciences, Band 32,1, Highfield 2000, S. 27.

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6. Funktionen des WernickearealsIn den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts setzte sich nach einer Phase des Diskurses das Wernicke-Geschwind-Modell und mit ihm die Sprachlokalisation durch. Es stützte sich auf das Wernicke-Lichtheim-Schema und führte damit die Tradition von Paul Broca und Carl Wernicke fort.85 Erst in den letzten Jahren kamen immer mehr Zweifel auf, dass das Wernickeareal die ihm auch in diesem Modell zugeschriebene Aufgabe der Sprachrezeption wirklich erfüllt, nicht zuletzt, da Wernickes Beobachtungen auf Aphasien beruhten, die sich auf mehr als nur den Gyrus temporalis superior auswirkten. Eine nähere Betrachtung des Ablaufs der Sprachrezeption mit Hilfe von bildgebenden Verfahren hat nun gezeigt, dass diese Zweifel begründet waren. Die Sprachrezeption beginnt mit dem Gehör, von dem aus die Laute über den Hörnerv in die Heschlschen Querwindungen, den auditiven Cortex, geleitet werden. An diesen angrenzend befindet sich der auditive Assoziationscortex, der sich bis in den Gyrus temporalis superior ausbreitet.86 Dieser Bereich wird in beiden Hemisphären sowohl durch Sprache als auch andere Geräusche aktiviert. Die Trennung zwischen Sprache und anderen Geräuschen findet hingegen erst im ventral vom Gyrus temporalis superior gelegenen Sulcus temporalis superior statt.87 Es zeigt sich also, dass im Wernickeareal nicht die eigentliche Sprachrezeption, stattfindet, sondern es in einer früheren Verarbeitungsstufe vor der Trennung von Sprache und anderen Geräuschen aktiv ist. Trotzdem finden sich im Wernickeareal neben der akustischen Analyse auch Elemente der Sprachfähigkeit, so ist es für die syntaktische Verarbeitung von Sätzen mitverantwortlich88 und spielt eine wichtige Rolle bei der sprachlichen Selbstkontrolle. Es ist nicht nur aktiv, wenn eine Person sich selbst sprechen hört, sondern auch wenn sie innerlich mit sich selbst spricht.89 Im Folgenden wird zudem auf die Bedeutung des Areals in der Wortproduktion eingegangen.

7. Das Zusammenspiel in der WortproduktionFolgt man dem Modell Levelts zum Zeitablauf der Wortproduktion, in dem die Schritte der konzeptionellen Vorbereitung, der lexikalischen Auswahl, der phonologischen Codeauswahl, dem phonologischen Kodieren, dem phonetischen Kodieren und der Artikulation zeitlich aufeinander folgen, ergibt sich nach Abgleich mit Daten von PET- und fMRT-Untersuchungen für die Aktivitäten des Broca- und des Wernickeareals folgendes Bild:Während der konzeptionellen Vorbereitung und der lexikalischen Auswahl findet sich im Gyrus temporalis medius eine auffällige Aktivität. Es liegt also nahe anzunehmen, dass diese Prozesse hier ihren Ursprung finden. Anzumerken ist dabei jedoch, dass dies nur für die Wortbildung gilt und von 85 GESCHWIND, Norman, Specializations of the human brain, in: Scientific American 238, New York 1979, S. 190.86 GAZZANIGA, Michael et al., Cognitive Neuroscience: The Biology of the Mind, New York 20093, S. 401.87 BINDER, John, Human Temporal Lobe Acitivation by Speech and Nonspeech Sounds, Cerebral Cortex, 10,5, New York 2000, S. 526.88 INDEFREY, Peter, Hirnaktivierungen bei syntaktischer Sprachverarbeitung, in: MÜLLER, Horst (hg.), Neurokognition der Sprache, Band 1, Tübingen 2004, S. 45.89 INDEFREY, Peter, LEVELT, Willem, The Neural Correlates of Language Production, in: GAZZANIGA, Michael (hg.), The new cognitive neurosciences (2nd ed.), Cambridge 2000, S. 861f.

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semantischen Suchprozessen während der Wortbildung zu trennen ist, die eher im vorderen Frontallappen verortet sind, und prälinguistische konzeptionelle Prozesse wie Objekterkennung und –kategorizierungen, deren mögliche Quellen im ventralen Temporallappen und verschiedenen kategoriespezifischen Bereichen zu finden sind. Aufgrund der diffusen Abgrenzung des Wernickeareals kann man die Prozesse der konzeptionellen Vorbereitung und der lexikalischen Auswahl also zumindest partiell im Wernickeareal verorten. An der nachfolgenden phonologischen Codeauswahl ist wieder der Gyrus temporalis medius und zudem der hintere Gyrus temporalis superior beteiligt, also der Hauptteil des Wernickeareals. Während des phonologischen Kodierens ist hauptsächlich der Gyrus frontalis inferior, also das Brocaareal aktiv, zudem finden sich Aktivierungen des linken Thalamus und des linken Operculum frontale.Bei der phonetischen Kodierung und der Artikulation werden nicht überraschend motorische und sensorische Areale aktiviert, also beidseitig der Gyrus praecentralis, sowohl ventral als auch zum Teil dorsal, und beidseitig der ventrale Gyrus postcentralis, zudem der vordere Gyrus temporalis superior in der linken Hemisphäre und der rechte supplementär-motorische Cortex sowie das linke und mittlere Cerebellum.90

Schritte der Wortproduktion Aktive Regionen Zeit (in ms)91

Konzeptionelle Vorbereitung und lexikalische Auswahl

Gyrus temporalis medius 0-275ms

Phonologische Codeauswahl Gyrus temporalis medius Gyrus temporalis superior (Wernicke)

275-400ms

Phonologisches Kodieren Gyrus frontalis inferior (Broca)Linker ThalamusLinkes Operculum frontale

275-400ms

Phonetisches Kodieren und Artikulation

Gyrus praecentralisGyrus postcentralisGyrus temporalis superior (Wernicke)supplementär-motorischer Cortex linkes und mittleres Cerebellum.

400-600ms

In dieser Abfolge zeigt sich, dass sowohl Broca- als auch Wernickeareal bei der Wortproduktion, wenn auch in unterschiedlichen Funktionen, aktiv sind.

8. FazitMit Wernickes Modell der Sprachfunktion etablierte sich ein Lokalisationskonzept, dessen Wirkung bis heute anhält. Über die Jahrzehnte ausgearbeitet und verbessert bestimmte es noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts den Diskurs und erst die Ausbreitung der bildgebenden Verfahren ermöglichte, Modelle am lebenden Hirn zu überprüfen. Es zeigte sich, dass dank kurzfristiger kooperativer Netzwerke in Neuronenverbänden, der Belegung einzelner Bereiche mit mehreren Funktionen und zu guter Letzt schlichtweg aufgrund der enormen Komplexität und der Plastizität des menschlichen Hirns Funktionen nicht einfach wie auf einer Landkarte festgesetzt werden konnten. Zudem ist die Sprache kein monolithisches Gebilde, sondern differenziert sich grammatisch, phonologisch und auf viele andere Weisen, so dass eine Vielzahl von deutlich kleinteiligeren Elementen in einem viel

90 INDEFREY, Peter, LEVELT, Willem, The Neural Correlates of Language Production, in: GAZZANIGA, Michael (hg.), The new cognitive neurosciences (2nd ed.), Cambridge 2000, S. 864, 859f.91 Ebd., S. 860f.

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fragmentierteren Organ Platz finden, als es Wernicke oder Broca sich vorstellten. Wernicke- und Brocaareal tragen, wie gezeigt, eine ganze Reihe von Funktionen in sich, die sich zum Teil zudem in andere Hinregionen erstrecken, und es bleibt abzuwarten, in wie weit sich diese Erkenntnisse weiter entwickeln werden. Erst die immer weiter fortschreitende Entwicklung der verschiedenen bildgebenden Verfahren könnte in Zukunft einen ausreichend scharfen Einblick in die Aktivitäten des menschlichen Gehirns erlauben, um am praktischen Medium beobachten zu können, wie Sprache im Detail im menschlichen Gehirn erzeugt und verarbeitet wird.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen und Literatur zu Teil 1 der Arbeit

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