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354 Berichte und Diskussionen Zur Geschichtsphilosophie R. G. Collingwoods Von Ernest W OLF-GAZO (Yale) I. 7.um Begriff der „Geisteswissenschaft“ Die Geschichtstheorie Collingwoods finden wir im „Essay on Metaphysics“, der „Autobiographie“, und der „Idea of History“ dargelegt und in seinen historisch-archäologi- schen Werken angewendet. Die geschichtstheoretischen Essays, die als Teil V „Epilegome- na“ der „Idea of History“ veröffentlicht wurden, sollten außerdem, was Fragen der Methodologie angeht, mit dem Werk „Roman Britain“ und „The Archaeology of Roman Britain“ im Zusammenhang gelesen werden. Die Rezeption der Collingwoodschen Geschichtstheorie ist bis zur Gegenwart ambiva- lent gewesen. Im Juli 1947 waren die Ideen Collingwoods zum erstenmal Gegenstand von Diskussionen in der „Aristotelian Society“, an der besonders William Walsh Anteil hatte. In den fünfziger und sechziger Jahren waren es die Arbeiten von William Dray, Alan Donagan und William Johnston, die ein größeres Verständnis der Ideen Collingwoods ermöglichten. Seit den siebziger Jahren und gegenwärtig haben sich besonders Lionel Rubinoff, Louis Mink und Michael Krausz um Collingwoods Werk verdient gemacht. Um den Ansatzpunkt der Frage Collingwoods nach dem Sinn und Zweck menschlicher Geschichte und Geschichtswissenschaft richtig zu verstehen, ist es notwendig, zuerst kurz etwas zum Thema „Geisteswissenschaften“ zu sagen. - Wann der Terminus „Geisteswissen- schaft“ zum ersten Mal erscheint, bleibt ungeklärt. In seiner Pluralform, also „Geisteswis- senschaften“, erscheint er nach Erich Rothacker zuerst in der Schielschen Übersetzung von „moral Science“, in der „Logik“ von J. S. Mill (1849). Schiel übersetzt die Überschrift des 6. Buches im 2. Band „On the logic of moral Sciences“ mit „Von der Logik der Geisteswissenschaften". Die Schielsche Übersetzung hat entscheidend dazu beigetragen, daß der Terminus „Geisteswissenschaften“ sich in der deutschen Wissenschaftssprache eingebürgert hat. Durch Diltheys „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ (1883) hat er seine klassische Bestimmung als „Erfahrungswissenschaft des geistigen Erscheinens“ erhal- ten. Diltheys Programm sollte dann als „Kritik der historischen Vernunft" begründet werden. In Anlehnung an Dilthey definiert Rothacker „GeistesWissenschaften“ in folgender Weise: „Die Wissenschaften, welche die Ordnungen des Lebens in Staat, Gesellschaft, Recht, Sitte, Erziehung, Wirtschaft, Technik und die Deutungen der Welt in Sprache, Mythos, Kunst, Religion, Philosophie und Wissenschaft zum Gegenstand haben, nennen wir Geisteswissenschaften.“ (LSG 3ff.) Einerseits sind die Ordnungen des Lebens Diltheys „Mannigfaltigkeit gegliederter Ordnungen“, die im Prozeß der Objektivierung des Lebens zum Ausdruck kommen, andererseits versteht Dilthey die Deutungen der Welt als eine Hermeneutik, die „...die Allgemeingültigkeit der Interpretation gegenüber dem beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität in das Gebiet der Geschichte theoretisch..." begrün- det (GS V, 331). Diltheys Programm zur Grundlegung der Geisteswissenschaften beinhaltet also,1 2 3 4 1) Den Zusammenhang aller Erfahrung aufzuzeigen; 2) eine kritische Analyse der „inneren“ Erfahrung durch Erleben, Ausdruck und Verstehen zu sichern; 3) den Anspruch der Welt als Geschichte zum Ausdruck zu bringen; 4) die Gültigkeit des „Lebens“ zu begründen, und

Zur Geschichtsphilosophie R. G. Collingwoods...Zur Geschichtsphilosophie R. G. Collingwoods Von Ernest WOLF-GAZO (Yale) I. 7.um Begriff der „Geisteswissenschaft“ Die Geschichtstheorie

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  • 354 Berichte und Diskussionen

    Zur Geschichtsphilosophie R. G. Collingwoods

    Von Ernest W O L F-G A Z O (Yale)

    I . 7.um B e g riff der „G eistesw issenschaft“

    Die Geschichtstheorie Collingwoods finden wir im „Essay on Metaphysics“ , der „Autobiographie“, und der „Idea of History“ dargelegt und in seinen historisch-archäologischen Werken angewendet. Die geschichtstheoretischen Essays, die als Teil V „Epilegome- na“ der „Idea of History“ veröffentlicht wurden, sollten außerdem, was Fragen der Methodologie angeht, mit dem Werk „Roman Britain“ und „The Archaeology of Roman Britain“ im Zusammenhang gelesen werden.

    Die Rezeption der Collingwoodschen Geschichtstheorie ist bis zur Gegenwart ambivalent gewesen. Im Juli 1947 waren die Ideen Collingwoods zum erstenmal Gegenstand von Diskussionen in der „Aristotelian Society“, an der besonders William Walsh Anteil hatte. In den fünfziger und sechziger Jahren waren es die Arbeiten von William Dray, Alan Donagan und William Johnston, die ein größeres Verständnis der Ideen Collingwoods ermöglichten. Seit den siebziger Jahren und gegenwärtig haben sich besonders Lionel Rubinoff, Louis Mink und Michael Krausz um Collingwoods Werk verdient gemacht.

    Um den Ansatzpunkt der Frage Collingwoods nach dem Sinn und Zweck menschlicher Geschichte und Geschichtswissenschaft richtig zu verstehen, ist es notwendig, zuerst kurz etwas zum Thema „Geisteswissenschaften“ zu sagen. - Wann der Terminus „Geisteswissenschaft“ zum ersten Mal erscheint, bleibt ungeklärt. In seiner Pluralform, also „Geisteswissenschaften“, erscheint er nach Erich Rothacker zuerst in der Schielschen Übersetzung von „moral Science“, in der „Logik“ von J. S. Mill (1849). Schiel übersetzt die Überschrift des6. Buches im 2. Band „On the logic of moral Sciences“ mit „Von der Logik der Geisteswissenschaften". Die Schielsche Übersetzung hat entscheidend dazu beigetragen, daß der Terminus „Geisteswissenschaften“ sich in der deutschen Wissenschaftssprache eingebürgert hat. Durch Diltheys „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ (1883) hat er seine klassische Bestimmung als „Erfahrungswissenschaft des geistigen Erscheinens“ erhalten. Diltheys Programm sollte dann als „Kritik der historischen Vernunft" begründet werden. In Anlehnung an Dilthey definiert Rothacker „GeistesWissenschaften“ in folgender Weise:

    „Die Wissenschaften, welche die Ordnungen des Lebens in Staat, Gesellschaft, Recht, Sitte, Erziehung, Wirtschaft, Technik und die Deutungen der Welt in Sprache, Mythos, Kunst, Religion, Philosophie und Wissenschaft zum Gegenstand haben, nennen wir Geisteswissenschaften.“ (LSG 3ff.)

    Einerseits sind die O rdnungen des Leben s Diltheys „Mannigfaltigkeit gegliederter Ordnungen“, die im Prozeß der Objektivierung des Lebens zum Ausdruck kommen, andererseits versteht Dilthey die D eu tun gen der Welt als eine Hermeneutik, die „...die Allgemeingültigkeit der Interpretation gegenüber dem beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität in das Gebiet der Geschichte theoretisch..." begründet (GS V, 331).

    Diltheys Programm zur Grundlegung der Geisteswissenschaften beinhaltet also, 1 2 3 4

    1) Den Zusammenhang aller Erfahrung aufzuzeigen;2) eine kritische Analyse der „inneren“ Erfahrung durch Erleben, Ausdruck und Verstehen zu sichern;3) den Anspruch der Welt als Geschichte zum Ausdruck zu bringen;4) die Gültigkeit des „Lebens“ zu begründen, und

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    5) objektive Erkenntnis so zu sichern, daß das „Leben" aus sich selbst zu verstehen ist. Denn es ist eineGrundüberzeugung von Dilthey, daß die Erkenntnis der Geschichte dem Menschen zur Selbsterkenntnis verhelfen kann und ihm dadurch bewußt wird, daß er ein Produkt seiner eigenenGeschichtlichkeit ist.

    Vor diesem Hintergrund müssen wir noch einmal den Begriff „moral Science" näher betrachten. J. S. Mill versuchte, die induktive Logik, der alle Erfahrungswissenschaften zugrunde liegen, auch für die sogenannten „moral Sciences“ geltend zu machen. Mill beanstandet, daß die „moral Sciences“, oder im heutigen Sprachgebrauch die „Sozialwissenschaften“, ein Zweig der „natural Sciences“ seien und damit die „moral Sciences“ den Kriterien und Normen von „natural Sciences“ unterstellt seien. Auch für die „moral Sciences“ erhebt Mill den für die Erfahrungswissenschaften geltenden Anspruch der Allgemeingültigkeit der induktiven Logik. Die Millsche Problematik einer Übertragung von induktiver Logik und naturwissenschaftlichen Kriterien auf die „moral Sciences“ wird besonders deutlich, wenn man versucht, den Begriff „Geisteswissenschaften“ im Englischen wiederzugeben. Hier stößt man auf erhebliche Schwierigkeiten, die nicht auf eine einfache Übersetzungsproblematik zurückzuführen sind, sondern ein Problem des Übersetzens oder Übertragens einer ganzen Wissenschaftstradition und -spräche. Einige Beispiele sollen diese Schwierigkeiten veranschaulichen.

    Ernst Cassirer versuchte in seinem Werk „An Essay on Man“ die amerikanische akademische Öffentlichkeit in das deutsche Traditionsverständnis von „Geisteswissenschaften“ einzuführen. Bezeichnenderweise heißt der Untertitel des besagten Werkes „An Introduction to a Philosophy of Human Culture“ . Cassirer findet also kein adäquates Synonym in der anglo-amerikanischen Wissenschaftssprache für den Begriff Geisteswissenschaften und entschied sich, diesen als „A Philosophy of Human Culture“ zu umschreiben. Als eine Zusammenfassung der Philosophie Cassirers der symbolischen Formen ist dies zutreffend. Aus anglo-amerikanischer Sicht aber würde man Cassirers „Essay“ in die akademische Rubrik der „Cultural anthropology" einreihen - aus deutscher Sicht kann man den „Essay“ als „philosophische Anthropologie“ gelten lassen -, doch als akademische Disziplin gibt es diese „philosophische Anthropologie“ im anglo-amerikanischen Wissenschaftsspektrum nicht. Der Überbegriff wäre „humanities“ oder „human studies“ . Ein amerikanischer Student studiert im deutschen Sinne „Geisteswissenschaften“, wenn er sich für ein „liberal arts curriculum“ in einem College für „arts and Sciences“ einschreibt. „Humanities“ wären Classics, Philosophy, Art History, Music, Anthropology, Religious Studies und Literary Criticism. Keine der aufgeführten Disziplinen der „humanities“ werden als „science“ bezeichnet. „Science“ wird in der anglo-amerikanischen Wissenschaftssprache ausschließlich den exakten oder mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern zuerkannt. Interessanterweise wird das Forschungsgebiet Wissenschaftsgeschichte, also „History of Science“, als „interdisziplinär“ bezeichnet und in das „Department of History" eingereiht.

    Wir sehen, daß die akademische Disziplin „Geisteswissenschaften“, und dies gilt auch für Begriffe wie „Geist“, „Wissenschaft“ und „Bildung“, als Resultat einer spezifischen deutschen kulturellen Tradition entspringt, die sich nicht einfach in anglo-amerikanische Wissenschaftsbegriffe übersetzen oder übertragen läßt. Ein analoges Übertragen z. B. des Humboldtschen „humanistischen Bildungsideals“ einer transformierten Paideia entspräche dem englischen Ideal einer Erziehung zum Gentleman. Das Erziehungsziel der amerikanischen Universität besteht in einer „liberal education“, d. h. einer Erziehung (also education und nicht Bildung) zum „Gentleman“ oder „Citizen“ und nicht zu einem wissenschaftlichen Beruf. Dafür sind die sogenannten „Professional schools“, also hauptsächlich Medizin und Jura (aber nicht Theologie), verantwortlich, oder das sogenannte „Ph. D. Programm“ . Was

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    ich damit sagen will, ist, daß die Idee der Geisteswissenschaften und ihr kulturelles Erbe schwerlich in einen anderen kulturellen Kontext übertragen werden können, ohne die geschichtlichen Voraussetzungen der deutschen Wissenschaftstradition und -spräche zu berücksichtigen.

    Erinnern wir uns an meine Ausführung zu Rothackers Bestimmung der Geisteswissenschaften, so sehen wir, daß die Frage nach der begründbaren Einheit dieser Geisteswissenschaften ein Hauptthema von Rothackers wissenschaftlichem Interesse gewesen ist. Obwohl ihm klar war, daß auch die Geisteswissenschaften einer Spezialisierung unterliegen würden, müßten diese speziellen Sachgebiete, also „Kultursysteme“, miteinander verwandt sein, um eine „Wissenschaftsfamilie“ zu bilden. - Eine zeitgenössische Definition von Geisteswissenschaften finden wir in „Wahrheit und Methode“ von H.-G. Gadamer, und zwar:

    „Was die Geisteswissenschaften zu Wissenschaften macht, läßt sich eher aus der Tradition des Bildungsbegriffs verstehen als aus der Methodenidee der modernen Wissenschaften.“ (WM 15)

    Gadamer sieht in der geschichtlichen Entwicklung des Bildungsbegriffs einen Weg zum Verständnis der Geisteswissenschaften. Dieses Verständnis liegt in dem reziproken Verhältnis zwischen Bildung und hermeneutischer Verwicklung. Wir sehen sofort, wie schwierig es wird, in Anbetracht der Ansätze von R. G. Collingwood eine Geschichtsphilosophie (Philosophy of History) zu entwickeln und den Gadamerschen Sachverhalt in einen anglo- amerikanischen Wissenschaftskontext zu übertragen und zu realisieren.

    In seiner „Autobiographie“ umreißt Collingwood seine Aufgabe folgendermaßen:

    „How could we construct a Science o f human affairs,. .. , from which men could learn to deal with human situations as skilfully as natural Science had thought them to deal with situations in the world of nature? The answer was now clear and certain. The Science o f human affairs was history." (A 115)

    Collingwood hatte sich entschieden, daß der deutsche Wissenschafts begriff „Geisteswis- senschaften“ die Grundlage sein sollte für seine „Science of human affairs“ . Collingwood stellt sich damit offensichtlich ganz bewußt und einige Zeit vor Cassirer auf die Seite dieser „kontinentalen“ Tradition. „Science“ im Collingwoodschen Sinne bedeutet „Wissenschaft“ im deutschen Wortgebrauch und nicht „Naturwissenschaft“ im anglo-amerikanischen Verständnis. Daraus ergeben sich für ihn verschiedene schwerwiegende Probleme, deren erstes ich unter dem Stichwort der „absoluten Voraussetzung“ oder „absolute presupposi- tion“ behandeln möchte.

    II . D ie F rage nach den „absoluten Präsuppositionen“ oder Voraussetzungen

    Thematisch finden wir die Frage nach der „absoluten Präsupposition“ behandelt in dem Collingwoodschen „Essay on Metaphysics“ und in seiner „Autobiographie“ . Die Frage nach der „absoluten Präsupposition“ im Collingwoodschen Verständnis ist letztlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichte und Metaphysik.

    Ich möchte eine These aufstellen, die weitere Diskussionen um den Wissenschaftsbegriff anregen könnte, nämlich: D ie F rage nach der „absoluten Präsupposition“ ist letztlich die F rage nach dem B e g r iff und V erständnis von „P a ra d ig m a“, wie er von Thom as S. K uhn in seinem Werk „T h e Structure o f Scientific R evolu tion s“ (1962, New Ed. 1969, dt. 1967) in die W issenschaftsdiskussion eingeführt wurde. Der folgende autobiographische Bericht von

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    Collingwood über Descartes’ „Principia philosophiae“ (von 1644) soll diese These im Ansatz erhellen:

    „Er weihte mich in ein Geheimnis ein, das moderne Bücher mir nicht offenbart hatten: daß die Naturwissenschaften ihre eigene Geschichte haben und daß die Lehren, die sie über einen gegebenen Gegenstand zu irgendeiner gegebenen Zeit verbreiten, nicht durch irgendeinen nach Zeiten des Irrtums zur Wahrheit vorgedrungenen Entdecker gewonnen wurden, sondern durch die allmähliche Verwandlung von Lehrmeinungen, die man früher für unumstößlich gehalten hatte und die zu einem späteren Zeitpunkt nicht weniger modifiziert sein würden - es sei denn, das Denken hört auf..

    Collingwood kam zum Schluß, Wissenschaft (ist) weniger ein Schatz stückweise ermittelter Wahrheiten, als vielmehr ein Organismus, der im Laufe seiner Geschichte einer mehr oder weniger fortlaufenden Wandlung an jedem seiner Glieder unterworfen ist“ (A dt. 2).

    Diese „gradual modification of doctrines“ beschreibt in der Sache nichts anderes als Kuhns „Paradigma-Wechsel“ , also die Transformation eines von der etablierten Wissenschaftsgemeinschaft akzeptierten Wissenschaftsmodells in ein neues wissenschaftliches Weltbild. Die „Paradigmen“ wissenschaftlicher Forschungsprozesse sind nichts anderes als „Präsuppositionen“ oder Konstellationen von historischen Fakten, die eine Gesellschaft, Epoche oder Wissenschaftsgemeinschaft „unbewußt“ in ihrer entsprechenden Tradition mitwirken lassen und mittragen. Wie ein wissenschaftliches Weltbild konstituiert wird, ist letztlich bedingt durch Präsuppositionen oder Paradigma-Ingredienten. - In diesem Zusammenhang nun ist Collingwoods Definition von Metaphysik von Interesse, und zwar gilt: „Metaphysics is the Science which deals with the presuppositions underlying ordinary Science. “ (EM 11) Doch was ist eine „absolute Präsupposition“, und wie verhält sie sich zu dem Kuhnschen Paradigmabegriff? Collingwood definiert: „An absolute presupposition is one which Stands, relatively to all questions to which it is related, as a presupposition, never as an answer.“ (EM 31) Dies bedeutet, daß eine „absolute Präsupposition“ in jeder wissenschaftlichen Frage immer vorausgesetzt wird. Solch eine Präsupposition (Voraussetzung) wird nie befragt, weil sie eben nicht verifizierbar, weil sie keine Proposition (Aussage) ist. Um mit Wolfgang Wieland zu sprechen, „absolute Präsuppositionen“ gehören in die Wissensform von „nichtpropositionellem Wissen“, während „relative Propositionen" zu der Form des Wissens angeordnet werden kann, die Wieland „propositioneiles Wissen“ nennt. Wissen in der Form von Aussagen ist entscheidbar, kann verifiziert werden; doch dies trifft nach Collingwood nicht auf „absolute Präsuppositionen“ zu, z. B. ,God exists' im Unterschied zu ,There are many people who believe in a God‘.

    Eine „absolute Präsupposition“ hat a) keinen Wahrheitswert, ist b) weder falsch noch wahr und ist c) kulturell überliefert. Sie konstituieren nach Collingwood die ontologische Basis einer jeden wissenschaftlichen Untersuchung. Doch, wie schon angedeutet, unterscheidet Collingwood zwischen „absoluten Präsuppositionen" und „relativen Präsuppositionen“ . Unter „relativen Präsuppositionen" versteht er, „By a relative presupposition I mean one which Stands relatively to one question as its presupposition and relatively to another question as its answer“ (EM 29). Also kann eine „relative Präsupposition“ verifiziert werden, weil sie eine Antwort gibt auf die Frage nach ihren Voraussetzungen oder ,presuppositions' im engeren Sinne. Die Frage nach der Wahrheit ist daher für Collingwood immer die Frage nach den „relativen Präsuppositionen“, denn Wahrheit setzt immer schon andere Wahrheiten voraus. Die essentielle Problematik zwischen „absoluten und relativen Präsuppositionen“ liegt in der Möglichkeit einer Transformation von der einen Präsupposi- tionsform in die andere. Dies ist möglich, da absolute Präsuppositionen historische Konstrukte sind, deren Konstitution wir durch metaphysische Analysen, und allerdings nur durch sie, aufdecken können. Das ist der Grund, warum Collingwood Metaphysik als eine

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    „historical Science“ bezeichnet, d. h. . it shares the presupposition of all history“ (EM 63). Die Aufgabe des Metaphysikers ist also, Konstellationen von absoluten Präsuppositio- nen aufzudecken, diese zu vergleichen und herauszufinden, welche Prozesse es waren, die diese Präsuppositionen, obwohl nicht,verifizierbar' im restriktiven Sinn der Naturwissenschaften, so doch transformierbar machten. Die Frage nach den begrifflichen Änderungen oder Transformationen, dem Prozeß der Umstrukturierung solcher Präsuppositionen, entspricht damit der Kuhnschen Frage nach dem Prozeß des Paradigmen-Wechsels in den Wissenschaften.

    Um die unmittelbare Korrelation zwischen Collingwoods Theorie der Präsupposition und Kuhns Begriff des Paradigmas zu sehen, wollen wir diesen letzten kurz charakterisieren.

    Eine Wissenschaftsgemeinschaft forscht auf der Basis eines Wissenschaftskonsenses; d. h. die etablierte Wissenschaft hat sich geeinigt, was unter dem Begriff „Wissenschaft“ zu verstehen ist. Kuhn nennt dies „normal Science“ - er definiert: „Normal Science, the activity in which most scientists inevitably spend almost all their time, is predicated on the assum ption that the scientific community knows what the world is like.“ (SR 5) Durch die Übereinstimmung hinsichtlich des Gegenstandes der Wissenschaft besteht so auch Übereinstimmung in bezug auf die Wissenschaft selbst. Diese Welt der Wissenschaftsgemeinschaft wird durch „normal Science“ als Paradigma repräsentiert. Es stellt letztlich die Norm eines wissenschaftlichen Einverständnisses darüber dar, was als Leitfaden für Forschungsprozesse vorausgesetzt wird. Kuhn charakterisiert ein Paradigma der Wissenschaft als eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Errungenschaft, welche in einer Epoche modellhaft die Probleme und Lösungen für die praktizierenden Forscher wissenschaftlich geltend und bindend macht. Dieses Paradigma schlägt sich nieder in den durch den Wissenschaftskonsens geachteten Klassikern oder Textbüchern, z. B. Platons „Timaios“, Aristoteles’ „Physik“, Newtons „Principia“ oder Darwins „Origin of Species“. Kuhn spricht also Fragekonstellationen an, welche eine Wissenschaftsgemeinschaft im Kontext von stillschweigenden oder selbstverständlichen Überzeugungen stellt, wobei sich die Antworten aber schon im Rahmen des Wissenschaftskonsenses befinden. Das begriffliche Repertoire wird den Forschern vorgegeben vom Paradigma, durch die Tradition; und jede Abweichung wird skeptisch beurteilt, insofern eben eine Abweichung nicht zur „normalen Wissenschaft“ als Wissenschaft gehört. Die Krise dieser Wissenschaft entsteht dadurch, daß die Grundüberzeugungen durch A nom alien im Forschungsprozeß und dadurch das etablierte Paradigma erschüttert werden, - Kuhn: „All crises begin with the blurring of a paradigma and the consequent loosening of the rules for normal research“ (SR 84), so z. B. wurde der Begriff des Äthers bis zum Michelson-Morley-Experiment, das sich als experimentum crucis erwies, von der klassischen Physik beibehalten. Auch die Phiogistontheorie in der Chemie hat gezeigt, daß wissenschaftliche Überzeugungen als historische Konstrukte, also Präsuppositionen, zu verstehen sind. Ich möchte somit den Schluß ziehen:

    Collingwood und Kuhn akzentuieren die Rolle der Geschichte in der Aufdeckung von Präsuppositionen in den Wissenschaften, welche durch einen Teil der jeweiligen kulturellen Tradition konstituiert wird. Damit ist übrigens nicht ausgeschlossen, daß hierbei auch mythologische Momente, sofern diese in einer bestimmten Kultur eine Rolle spielen, mehr oder weniger mitbestimmend sein können. Die ethnologischen, psychologischen und weltanschaulichen Elemente, die in ein Paradigma oder in eine Präsupposition miteinflie- ßen, sind bei Collingwood angedeutet, aber nicht ausgearbeitet worden. Wir sehen bei ihm eine Komplementarität zwischen einer Metaphysik, die die Aufgabe hat, absolute Präsuppositionen aufzudecken, und einer Wissenschaftsgeschichte Kuhnschen Typs. Collingwood spricht im Sinne Kuhns, wenn er behauptet:

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    „In my own experience I have found that when natural scientists express hatred of ,metaphysics‘ they are usually expressing this dislike of having their absolute presuppositions touched.“ (EM 44)

    Es erhebt sich nun die weitere Frage, mit welcher Methode wir an die Geschichte herantreten müssen, um Klarheit über die Hierarchie von ,Präsuppositionen‘ zu gewinnen. Das führt uns auf das Problem einer Logik von Frage und Antwort.

    I I I . Z u r L ogik von F rage und A ntw ort

    Daß Collingwood in den Logik-Textbüchern seiner Zeit nur formalistische Logik oder in einem noch engeren Sinn nur Aussagenlogik vorfand, hielt er für eine methodologische Einseitigkeit. Seine archäologischen Forschungen und Ausgrabungen haben Collingwood davon überzeugt, daß eine Logik des Fragens in den Logik-Textbüchern bisher vernachlässigt worden ist. Man kann es auch so formulieren: Collingwood stellt eine Kuhnsche Anomalie im tradierten Logik-Paradigma fest. Wie wir schon gesehen haben, geht für ihn jeder Frage eine absolute oder relative Präsupposition voraus. Das Verhältnis zwischen Präsupposition und Fragestellung mußte geklärt werden. Dieses Schema hat Collingwood versucht, auf das historische Wissen anzuwenden. Die induktive wie auch die deduktive Methodik war ihm unzureichend, um adäquate Lösungen für seine archäologisch-historischen Forschungen zu finden. An dieser Stelle läßt sich noch eine andere Parallele innerhalb der angelsächsischen Geschichte der Methodologie und Wissenschaftstheorie ziehen: War es vorhin der Bezug zu Th. Kuhn, so möchte ich jetzt sagen: Diese Wissenschaftssituation ähnelte sehr stark der von C. S. Peirce. Auch Peirce hielt die Klassifikation von Schlüssen in induktive oder deduktive für unzureichend, die Logik wissenschaftlichen Forschens aufzudecken. Peirce führte eine dritte Form des Schließens ein und nannte diese „abduction" oder Hypothesenbildung. Collingwood hingegen führt, um das induktiv-deduktive Schema zu sprengen, seine sogenannte „Frage-und-Antwort-Logik“ ein. Beide, Collingwood und Peirce, entwerfen also eine Ergänzung für die Logik der Forschung. Meine zweite These lautet demzufolge: C ollingw oods „Frage-u n d -A n tw ort-L ogik“ stellt eine praktische Form der Peirceschen A bduktionslehre dar. Peirce hatte seine Abduktionstheorie als alternative Forschungslogik zum Positivismus von J. S. Mill konzipiert, aber nicht voll ausarbeiten können. Collingwoods Forschungslogik vollzieht in ihrer Praxis, z. B. angewandt im archäologischen Forschungsbereich, genau das, was Peirces Abduktion zu sein beansprucht: die Methode einer Hypothesen-Bildung oder Hypothesen-Suche. Collingwood und Peirce sprechen beide im Grunde dasselbe Problem an: Was ist eigentlich eine Hypothese oder Präsupposition? Wie kommen wir zu einer Hypothesen-Bildung? Die Fragen sind also direkt mit dem eigentlichen Problem einer Logik der Forschung verbunden.

    Ich möchte nun zunächst einige Zitate von Collingwood und Peirce vorführen, um meine These zu bekräftigen. Die Methode des Fragens in der Forschung ist für Collingwood von entscheidender Bedeutung, und zwar, weil dadurch sein Begriff von „Science“ mitbestimmt wird. Collingwood versucht, wie ich ja schon zu Anfang sagte, aus der typisch anglo- amerikanischen Haltung, wonach „Science“ ausschließlich mit Naturwissenschaften identifiziert wird, auszubrechen. Er definiert seinen Begriff von „Science“ nun genauer wie folgt: „ ... the word ,Science' means any organized body of knowledge..." (und weiter) „ ... what we call the Sciences: that is, the forms of thought whereby we ask questions and try to answer them“ (IH 249). Eine Logik des Fragens und Antwortens aber schließt Bedingungen von seiten der beteiligten menschlichen Subjekte notwendig mit ein. Dies bedeutet, daß der Collingwoodsche Wissenschaftsbegriff direkt eine Logik des Forschens einschließt unter

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    der Rücksicht, daß es die spezifisch menschliche Subjektivität, genauer noch: Inter- Subjektivität, ist, die Forschung in Gang setzt und dadurch eine Einheit der Wissenschaften impliziert. Systematische Fragen sind in spezifischer Weise anwendbar, sowohl auf die Natur- als auch auf die Geisteswissenschaften. Der Flistoriker versucht seinen Forschungsgegenstand mit strategischen Fragen im Sinne eben dieser Forschungslogik anzugehen. Collingwood erläutert diesen praktischen Vollzug des historischen Forschens, und zwar so :

    „The historian cannot first collect data and then interpret them. It is only when he has a problem in his mind that he can begin to search for data bearing on it.“ (IH 137)

    Diesen „search“ initiiert der kritische Historiker mit der „Frage-und-Antwort-Logik". Im Gegensatz zum kritischen Historiker praktiziert der „normale“ Historiker, den Collingwood als „Schere-und-Kleister-Historiker“ bezeichnet, Autoritätengläubigkeit. Hier haben wir eine weitere Gemeinsamkeit mit Peirce: Beide versuchen eine Forschungslogik zu entwickeln, die das Ziel hat, die „Methode der Autorität“ (wie es Peirce ausdrückt) aufzuheben. Dabei spielt die Frage-und-Antwort-Logik und die Abduktionslehre eine entscheidende Rolle. Peirce hat es so ausgedrückt: „Ziel des Schlußfolgernden Denkens ist, durch die Betrachtung dessen, was wir bereits wissen, etwas anderes herauszufinden, das wir nicht wissen.“ (CP 5,365) Diese Maxime aus Peirces „The Fixation of Belief“ ist genau die Strategie des kritischen Historikers, wie ihn uns Collingwood vorstellt in seinem Werk „The Idea of History“. Der Kontrast zu dem „Schere-und-Kleister-Historiker“ wird von Collingwood deutlich gemacht:

    „Eine Geschichtsschreibung, die aus Quellenauszügen und durch Kombination verschiedener Quellenzeugnisse zusammengesetzt ist, nenne ich Geschichtsschreibung der Schere-und-Kleister- Methode (scissors-and-paste-history), kompilatorische Methode... Die historische Schere-und-Klei- ster-Methode ist die Einstellung, die man vor Bacon hatte. Damals nahm der Historiker seinen Quellen, seinen,Autoritäten' gegenüber eine ehrfurchtsvoll abwartende Haltung ein... Der im Baconschen Sinn auf wissenschaftlicher Grundlage fußende Historiker hingegen tritt an die Lektüre bereits mit einer Frage heran; er nimmt von vornherein eine aktive Haltung ein, indem er sich vor der Lektüre die Fragen zurechtlegt, die er an die Werke zu stellen hat." (IH 270/280) Collingwood ist allerdings der Ansicht, daß die unkritische Haltung - entgegen dem öffentlichen Anspruch - sich in verdeckter Form auch immer wieder bis in seine Gegenwart durchgehalten hat.

    Hier sehen wir sehr deutlich, daß die entscheidende Phase des historischen Forschens nicht in der einfachen Rezeption von historischen Fakten liegt, sondern in der kritischen Haltung des Historikers als Fragesteller.

    Das Frage-und-Antwort-Verfahren beantwortet auch die Kuhnsche Frage, wie Paradigmawechsel zustande kommen. Tatsächlich finden wir in der Fragephase wissenschaftlichen Forschens eine Gemeinsamkeit zwischen Peirce, Collingwood und Kuhn. Die folgende Erörterung Collingwoods verleiht dieser Gemeinsamkeit Nachdruck:

    „The technique of knowing proper, or what is called the scientific method, depends on replacing questions, which, being vague or confused, are unanswerable, by real questions, or questions which have a precise answer.“ (N L 74)

    Und in Peirces „Collected Papers“ lesen wir höchst interessante Ansichten, die der Collingwoodschen Auffassung von Forschungsprozeß sehr nahe kommen. Peirce definiert „abduction“ wie folgt:

    „The first starting of a hypothesis and the entertaining of it, whether as a simple interrogation or with any degree of confidence, is an inferential Step which I propose to call abduction.“ (CP 6,25)

  • Berichte und Diskussionen 361

    Der praktische Vollzug dieser Hypothesenanwendung, sagt Peirce, should be distinctly put as a question before making the observations which are to test its truth“ (CP 2,634). Es sind also die Fragekomplexe, die im Wissenschaftsprozeß das entscheidende Element geworden sind, um die Wahrheit eines Sachverhaltes zu ergründen. Und hier endlich erhalten wir auch einen Hinweis - der auch von Collingwood gedeckt wird -, einen Hinweis nämlich auf den G egenstand dieser ,Geistes-“ oder Geschichtswissenschaft im Ganzen.

    Dieses Objekt ist für Collingwood wie für Peirce jedweder Sachverhalt, der und insofern er sich für diese Frage-und-Antwort-Logik als ,tauglich“ erwiesen bzw. an welchem sich diese Frage-und-Antwort-Logik als Erkenntnis fördernd bewährt hat. Bei Peirce finden wir Passagen, die mit Collingwoods Thesen in dieser Hinsicht in Einklang stehen - Peirce schreibt z. B.:

    „Zahlreiche Dokumente und Denkmäler beziehen sich auf einen Eroberer, der Napoleon Bonaparte hieß. Obwohl wir diesen Menschen nicht gesehen haben, können wir doch, was wir gesehen haben, nämlich all diese Dokumente und Denkmäler, nicht erklären, ohne zu unterstellen, daß er wirklich existierte. Wieder eine Hypothese.“ (CP 2,625)

    Letztlich greifen Peirce und besonders Collingwood mit dieser Methode aber auf Francis Bacon zurück, besonders auf das „Novum Organum“ , in dem Bacon eine Forschungslogik entwarf, die den Menschen als „Interpret“ und Historiker der Natur vorstellte. Diese Interpretation der Natur beschreibt Bacon bekanntlich in folgender Weise:

    „I propose to establish progressive stages of certainty. The evidence of the sense, helped and guarded by a certain process of correction, I retain“ (Preface); „ . . . questions... should be added in Order toprovoke and stimulate further inquiry... und er kommt zum berühmten Schluß: ___ examine natureherseif and the arts upon interrogatories“ (Aphorism X, Toward Natural and Experimental History).

    Die wissenschaftlichen Gemeinsamkeiten von Collingwood und Peirce seien noch einmal zusammenfassend genannt:

    1) Beide entwickeln ihre jeweiligen Theorien aus praktischer wissenschaftlicher Arbeit - Collingwood aus der Archäologie und Peirce aus der Chemie.

    2) Beide nennen ihre Wissensform, die aus dieser wissenschaftlichen Praxis entstand, „laboratory knowledge“, was an Bacon erinnert.

    3) Beide haben das Systematische, d. h. das grundsätzlich Kritische in den Vordergrund ihrer Wissenschaftsstrategie und Forschung gestellt. Die detektivische Mentalität ist stets in den Werken von Collingwood und Peirce vorhanden.

    4) Beide entwickeln eine Logik der Forschung, die ferner auf dem Fundament einer „economics of research“ aufgebaut ist. Es muß mit gezielten Fragen und gezieltem Forschungsvorhaben gearbeitet werden, um somit in der Forschung auch den Z eitfak tor zu erfassen.

    5) Beide bekämpfen die Wissenschaftsmentalität der Autoritätsgläubigkeit, die Collingwood am Beispiel des „Schere-und-Kleister-Historikers“ und Peirce an der sogenannten „Method of Authority“ deutlich machen.

    6) Für Collingwood und Peirce ist der Zweck der Wissenschaften letztlich das Wohlergehen der Menschheit. Darin liegt für beide der ethische Anspruch an jede Wissenschaftstätigkeit.

    Hier erhebt sich nun die weitere Frage: Wie können wir sicher sein, daß wir die richtige Frage stellen? Gibt es eine Methode zur kritischen Auswahl relevanter Fragen, so daß wir

  • 362 Berichte und Diskussionen

    dann die relevanten Antworten erwarten können? Das führt uns auf den Begriff des Verfahrens des re-enactment der Vergangenheit bei Collingwood.

    IV . Geschichte als N ach vollzug (re-enactm ent) der Erfah rung der Vergangenheit

    Man darf nicht vergessen, daß Collingwood als Historiker und Philosoph die Konsequenzen seines Denkens aus seiner archäologischen Forschungsarbeit gezogen hat. Historische Probleme entwickeln sich nach Collingwood aus praktischen Situationen; historische Probleme studiert der Historiker als praktische Probleme. Dies wird klar herausgestellt in seiner Frage: „What kinds of things does history find out? I answer, res gestae: actions o f hum an beings that have been done in the past.“ (IH 9) Die Geschichtswissenschaft oder das historische Wissen wird einer Handlungstheorie der Geschichte zugeordnet. Wir erinnern uns an den Anfang meiner Ausführung, wo darauf hingewiesen wurde, daß Collingwood nach der Grundlage einer „Science of human affairs“ sucht. Collingwood findet diese Grundlage also in einer „Science of res gestae“ . Wie schon gesagt, bemerken wir, daß eine Verschiebung des traditionellen anglo-amerikanischen Verständnisses von „Science“ stattgefunden hat. „Science“ wird jetzt als Handlungstheorie von „human affairs“ verstanden. Doch dies ist noch nicht ausreichend. Collingwood stellt die weitere These auf: „All history is the history of thought.“ (A 110) Diese etwas unglücklich formulierte These hat Collingwoods Kritiker irregeführt.

    Die These könnte den Eindruck erwecken, daß Geschichte ausschließlich Geistesge- schichte sei. Das entscheidende Problem liegt aber in der Bedeutung des Begriffs „thought“, wie ihn Collingwood besonders in seiner Interpretation von „The New Leviathan“ versteht und anwendet. „Thought“ beinhaltet nicht nur Denkprozesse, sondern auch die Affekte, Emotionen, Gefühle und Willensentschlüsse. Daher ist es für Collingwood möglich, eine Relation herzustellen zwischen Denken und Handeln (thought and action). Er formuliert seine zweite These also in diesem Sinne:

    „Historical knowledge is the re-enactment in the historian’s mind ofthe thought whose history he is studying.“ (A 112)

    Dieses re-enactm ent bedeutet modern gesprochen: eine komplexe „Rekonstruktion“, d. h. ein bewußt kritisches Fragen betreffs der historischen Ereignisse und deren Bedeutung für diejenigen, die am Ereignis beteiligt waren. In dieser Phase wird die Logik von Frage und Antwort angewandt, indem das handelnde Subjekt im historischen Ereignis nach seinen Motiven, Zielen und Zwecken befragt wird. Collingwood erläutert diese These am Beispiel der Rubikon-Überschreitung durch die gallischen Legionen und ihres Feldherrn Caesar. Das Überschreiten des Rubikon als ein physischer, von Emotionen begleiteter Vorgang ist an sich noch kein historisches Ereignis. Collingwood nennt dies „the outside of an event“ . Dieser physische Akt wird erst zu einem historischen Ereignis dadurch, daß Caesar diesem Vorgang eine militärische und politische Bedeutung verleiht. In der Art und Weise, wie Caesar handelt, können wir Caesars Denkprozeß und Handlungsstrategie nachvollziehen. Doch dieser Nachvollzug ist keine einfache Phantasiekonstruktion, sondern ein „re- enactment“ der historischen Handlung mittels Fragekomplexen, warum Caesar veranlaßt wurde, so und nicht anders zu handeln. Collingwood unterscheidet also zwischen dem „outside“ und dem „inside" eines historischen Ereignisses. Der „outside-event“ ist das Übersetzen von Caesar und seinen Legionen über den Rubikon; mit „inside-event“ wird der Wille und das Ziel bezeichnet, die Caesar zur Entscheidung bewogen, den Rubikon zu

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    überqueren. Es geht also um eine begründete Darstellung der Ereignisse, die sowohl möglichst alle geschichtlichen Fakten, die berichtet werden, widerspruchsfrei erklärt, als auch den subjektiven Faktor oder das „Motiv" verstehbar macht: Beides zusammen ist notwendig. - So wäre es einseitig, sich nur „idealistisch“ zu dem betreffenden Ereignis zu verhalten. Diese idealistische Interpretation würde sich ausschließlich mit dem Gedanken („thought“) von Caesar beschäftigen. Collingwood erläutert,

    „The historian is never concerned with either of these (i. e. outside-inside) to the exclusion of the other. He is investigating not mere events... but actions, and an action is the unity of the outside and inside o f an event... His work may begin by discovering the outside of an evcnt, but it can never end there; he must always remember that the event was an action, and that his main task is to think himself into this action, to discern the thought of its agent.“ (IH 213)

    Diese Passage beinhaltet, 1) daß das handelnde historische Subjekt stets im Mittelpunkt der Collingwoodschen Analyse steht; 2) daß das Handeln den Ausdruck von ,Geist“ und ,Körper“ des Ereignisses beinhaltet; 3) daß das handelnde Subjekt seine Entscheidung, so oder anders zu handeln, unmittelbar als Denkprozeß erfährt. Genau diese unmittelbare Erfahrung von „thought“ nun versucht Collingwood kritisch durch die Methode der „Frage-und-Antwort-Logik“ nachzuvollziehen.

    Ich möchte nun noch einen Schritt weiter gehen und somit als meine dritte These formulieren: C ollin gw ood antizipierte die essentielle Them atik und ihre eigentüm liche M ethodik, die w ir in einem Teil der gegenw ärtigen sogenannten „analytischen Geschichtsph ilo sophie" vorfin den ; näm lich, das handelnde historische Su b jek t in den M ittelpunkt der R eflexion zu stellen sow ie die praktischen A rgum ente, die der H istoriker diesem Su b jek t zuschreibt, um dessen H an d lu n gen zu begründen; also: als begründet zu verstehen. Es ist ohne Zweifel, daß analytisch orientierte Geschichtsphilosophen, wie etwa W. H. Walsh, W. H. Dray oder A. Danto, ihre eigenen Ansätze einer „Science of human affairs“ in Collingwoods Gedankengut wiederentdeckten. Die analytische Geschichtsphilosophie versucht durch Analysen von Handlungs- und Entscheidungsprozessen den historischen Ereignissen näherzukommen. Die analytische Geschichtsphilosophie versteht sich als eine Philosophie, die sich an der Handlungsweise des historischen Subjekts orientiert. Sowohl Collingwood als auch die analytische Geschichtsphilosophie versuchen durch die Methodik des Fragens, historische Ereignisse zu erfassen, zu erklären und zu begründen. Danto, einer der ersten, die eine umfassende Konzeption einer analytischen Philosophie der Geschichte vorlegten, sieht die Aufgabe der analytischen Geschichtsphilosophie folgendermaßen:

    „Nach der Bedeutung eines Ereignisses im historischen Wortsinn fragen, heißt eine Frage stellen, die nur im Kontext einer Geschichte (störy) beantwortet werden kann.“ (An Introduction to the analytical Philosophy of History; 27)

    Dieser Ansatz einer Geschichtsbetrachtung und -methodik stimmt mit Collingwood überein. Diese Methodik führt durch strategisch gezielte Fragen zur Auffindung teils spezieller, aber auch umfassender Kontexte. Einer Hierarchie von Fragen entspricht so eine Hierarchie von Sachkontexten, deren oberste Prinzipien die sogenannten „absoluten Präsuppositionen" sind. Der Sinn solcher teleologischen Forschungsvorhaben kann folgendermaßen umformuliert werden: Der Zweck eines Studiums der Geschichte muß sein, dem Menschen methodisch und systematisch zur Selbsterkenntnis zu verhelfen; in diesem Sinne ist Geschichte, im Collingwoodschen Sinne, schon immer Philosophie gewesen.

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    V. Zu G ad am ers C ollingw ood-K ritik

    Zum Schluß möchte ich mich noch kurz der Gadamerschen Collingwood-Kritik zuwenden. Im deutschen Sprachraum hat sich außer Gadamer niemand ernsthaft mit Collingwood beschäftigt. Der von Gadamers Urteil über Collingwood beeinflußte Historiker Karl-Georg Faber kritisiert in seiner „Theorie der Geschichtswissenschaft“, „...die Interpretation der Geschichte als Geschichte der menschlichen Gedanken durch Collingwood würde eine unzulässige Verengung des Gegenstandes Geschichte bedeuten“ (35). Hier wird deutlich, daß Collingwoods Begriff „thought“ ausschließlich, wie in der deutschen Übersetzung von „The Idea of History“ , als „Denken“ bezeichnet und nicht in Bezug auf Collingwoods erweiterten Begriff von „thought“ und dessen Relation zum handelnden Subjekt gesehen wird. Eine noch einseitigere Interpretation Collingwoodschen Geschichtsverständnisses finden wir in Karl-Otto Apels „Transformation der Philosophie“ , Bd. I, in dem Apel Collingwood eine extreme These unterstellt, nämlich „ ... daß der Historiker es nur mit den ,Gedanken' der Menschen zu tun habe“ (51 f.). Auch hier liegt ein Mißverständnis von Collingwoods Begriff „thought“ vor.

    Gadamer hat sich mit Collingwood besonders im Abschnitt „Die Logik von Frage und Antwort“ in „Wahrheit und Methode“ auseinandergesetzt. Die thematische Bearbeitung von Autorität und Tradition, der Bedeutung des Zeitenabstandes im hermeneutischen Prozeß, des Problems der hermeneutischen Situation, der hermeneutischen Erfahrung der Voraussetzungen der zu interpretierenden Texte und nicht zuletzt der zentralen Thematik der Fragestruktur zeigen, daß Gadamer sich in „Wahrheit und Methode“ mit Collingwood intensiv beschäftigt hat. Gadamer sieht sehr genau, daß die Struktur der Frage ein wichtiges Moment hermeneutischen Verstehens darstellt. Er geht soweit und behauptet: „Die Logik der Geisteswissenschaften ist,..., eine Logik der Frage.“ (WM 352) Und im folgenden Punkt stimmt Gadamer mit Collingwood überein: Um die Vollzugsweise der hermeneutischen Erfahrung zu erfassen, muß das Wesen der Frage selbst geklärt werden. Der sogenannte „Fragehorizont“ muß im entsprechenden Verstehensprozeß berücksichtigt werden; er ist ein Teil der hermeneutischen Erfahrung. Doch dieser „Fragehorizont“ orientiert sich für Gadamer ausschließlich an einem Text, während für Collingwood ein beliebiges, durch menschliches Handeln gesetztes Faktum, so z. B. die Resultate einer archäologischen Ausgrabung im Mittelpunkt stehen. Man muß fragen, inwiefern unterscheidet sich die hermeneutische Erfahrung bei der Auslegung eines schriftlichen Textes und einer Ausgrabung eines archäologischen Fundes? Fordert die historische Analyse eines archäologischen Fundes eine andere Fragemethodik als die eines Textes?

    Gadamer spricht in seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe der Collingwoodschen Autobiographie „Denken“ von einem radikalen Historismus Collingwoods und siedelt ihn zugleich in einer idealistischen Tradition an anstatt bei Francis Bacon. Gadamer interpretiert Collingwoods Begriff des „re-enactment“ als Nachvollzug eines als reines „Denken“ geschehenden Prozesses. Wie schon einmal gesagt, ist Collingwood nicht ganz unschuldig an diesem Mißverständnis einer idealistischen Interpretation seines Verständnisses von Geschichte. Hingegen läßt sich der späte Collingwood von Bacon her verstehen, insofern er versucht, eine Handlungstheorie der Geschichte zu entwerfen (und keine Geistesgeschichte zu schreiben).

    Gadamer spricht von einem Verstehen, das schon „...immer mehr ist als ein bloßes Nachvollziehen einer fremden Meinung“ (WM 357), oder von der „...hermeneutischen Reduktion auf die Meinung des Urhebers, die ebenso unangemessen (ist) wie bei geschichtlichen Ereignissen die Reduktion auf die Absicht der Handelnden“ (WM 355). Die Problematik der Gadamerschen Auseinandersetzung mit Collingwood liegt darin, daß er

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    von einem anderen hermeneutischen Kontext aus argumentiert. Gadamer wirft Colling- wood vor, daß ihm in seiner Theorie von „re-enactment“ die Dimension der hermeneutischen Vermittlung entgeht. Diese Aussage geht auf Gadamers These zurück, daß die Aufgabe des Verstehens . .in erster Linie auf den Sinn des Textes selbst“ zurückgehen muß (WM 345). Wiederum steht das Textmodell in Gadamers Mittelpunkt.

    Ich glaube, wir sind wieder bei unserem ursprünglichen Problem angelangt, und zwar, was die Bestimmung der Geisteswissenschaft eigentlich sein soll. Ist sie Textinterpretation als Verstehens-, Auslegungs- und Anwendungsprozeß hermeneutischer Erfahrung von „Horizontalverschmelzung“ oder eine Wissenschaft von „human affairs“ , wie Collingwood letzten Endes Geschichte verstand. - Trotz aller Bemühungen von Collingwood, sich die deutsche idealistische Tradition anzueignen, und Gadamers Bemühungen, Collingwoods Gedankengut zu übersetzen, bleiben beide doch ihren jeweiligen kulturellen Wissenschaftstraditionen verbunden. Aber beide haben uns auf den hermeneutischen Vorrang der Frage hingewiesen und damit das sokratische Fragen wieder in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Vorgehensweise gestellt.

    Abkürzungen der Werke R. G. Collingwoods

    A Autobiography (1939) (Oxford repr. 1982);dt. Denken (Stuttgart 1955).

    EM An Essay on Metaphysics (Oxford repr. 1980).IH The Idea of History (1946) (Oxford repr. 1980);

    dt. Philosophie der Geschichte (Stuttgart 1955).N L The N ew Leviathan (1942) (New York 1971).

    Abkürzungen anderer Werke im Text

    CP Collected Papers of Charles S. Peirce, hg. von Ch. Hartshorne und P. Weiss (Cambridge/Mass. 1931-1935, repr. 1965).

    GS W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Band V, TL 1: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, hg. von G. Misch (Stuttgart, Göttingen 71982).

    LSG E. Rothacker, Einleitung in die Lehre und Systematik der Geisteswissenschaften (Darmstadt 1970).

    SR T. S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (Chicago 1970).WM H .-G . Gadamer, Wahrheit und Methode (Tübingen 1965).

    Sekundärliteratur zu R. G. Collingwood

    Brühning, J., R. G. Collingwood und das Problem des Historismus (Diss. Kiel 1969).Collingwood, W. G., The Life of John Ruskin (1983) (London 71911).Danto, A., An Introduction to the analytical Philosophy of History (Cambridge 1972).Donagan, A., The Later Philosophy of R. G. Collingwood (Oxford 1962).Dray, W. (Hg;), Philosophical Analysis and History (New York 1966).Erdmann, K . D ., Das Problem des Historismus in der neueren englischen Geschichtsphilosophie, in;

    Historische Zeitschrift 170 (1950) 73-88.Johnston, W., The Formative Years of R. G. Collingwood (The Hague 1967).Mink, L. O ., Mind, History and Dialectic in the Philosophy of Collingwood (Bloomington 1969). Rubinoff, L., Collingwood and the Reform of Metaphysics (Toronto 1970).Schneider, H ., Die Geschichtsphilosophie R. G. Collingwoods (Diss. Bonn 1950).Suranyi-Unger, N ., Die politische Philosophie R. G. Collingwoods (Diss. München 1960).Van der Dussen, W. J., History as Science - The Philosophy of Collingwood (The Hague 1981).