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Zur jüngeren Entwicklung der Wohlfahrtsökonomik Author(s): Theodor Wessels Source: FinanzArchiv / Public Finance Analysis, New Series, Bd. 23, H. 1 (1963/64), pp. 3-10 Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40909757 . Accessed: 17/06/2014 19:04 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Mohr Siebeck GmbH & Co. KG is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to FinanzArchiv / Public Finance Analysis. http://www.jstor.org This content downloaded from 62.122.73.250 on Tue, 17 Jun 2014 19:04:40 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Zur jüngeren Entwicklung der Wohlfahrtsökonomik

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Zur jüngeren Entwicklung der WohlfahrtsökonomikAuthor(s): Theodor WesselsSource: FinanzArchiv / Public Finance Analysis, New Series, Bd. 23, H. 1 (1963/64), pp. 3-10Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KGStable URL: http://www.jstor.org/stable/40909757 .

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Zur jüngeren Entwicklung der Wohlfahrtsökonomik

von

Theodor Wessels

Die Wohlfahrtsökonomik ist unzweifelhaft der älteste und umfassendste Versuch, mit den Mitteln unserer Wissenschaft Regeln für die Handhabung der praktischen Wirtschaftspolitik zu gewinnen. Trotz ständiger Neuformu- lierungen und Revisionen ihres Inhaltes ist noch nahezu jeder Satz, den sie aufgestellt hat, umstritten. Gerade in den beiden letzten Jahrzehnten, in denen die Wohlfahrtsprobleme besonders intensiv untersucht worden sind, kamen Zweifel auf, ob diese Lehre irgendwelche für die Wirtschaftspolitik brauchbare Leitsätze aufzustellen vermöchte. Aber der Wert dieser Theorie für unsere Wissenschaft hängt längst nicht mehr allein davon ab, ob ihre Resultate praktisch verwertbar sind. Im Laufe der langen Auseinanderset- zungen, die sie auslöste, sind nahezu alle Versionen des Wohlfahrtsbegriffes diskutiert und alle Faktoren untersucht worden, die auf die Höhe der Wohl- fahrt Einfluß zu nehmen vermögen. Daher kann kein Nationalökonom, den Wohlfahrtsprobleme in modernen Gesellschaften beschäftigen, diese Richtung unserer Wissenschaft übersehen.

I

Die Wohlfahrtsökonomik ist in England entstanden. Ihr Aufbau und ihre Ziele sind entscheidend durch die Nationalökonomie der klassischen Schule beeinflußt worden. Die englischen Nationalökonomen dieser Epoche betrachteten die Volkswirtschaftslehre als einen Teil der Sozialphilosophie; es entsprach dem pragmatischen Charakter dieser Philosophie, daß sie Grund- sätze für die Gestaltung der Gesellschaft aufzustellen versuchte. Die Wirt- schaft ist für die Klassiker nur ein Teilstück der Gesellschaft, und daher er- kannten sie sehr wohl, daß in den Urteilen über die Wohlfahrt im Grunde eine Bewertung zum Ausdruck kommt, die sich auf alle Gebiete des menschlichen Zusammenlebens erstreckt: sie bezieht sich auf das „Wohlbefinden" von Indi- viduen in der Gesellschaft. Obwohl diese Nationalökonomen durchaus wuß- ten, daß der Mensch nicht nur ökonomische Ziele verfolgt, setzten sie sich kaum mit dem Problem auseinander, wie der Wohlfahrtsbegriff zu fassen ist,

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wenn er allen und nicht nur den ökonomischen Interessen der Gesellschafts- mitglieder Eechnung tragen soll. Vielmehr identifizierten sie soziale Wohl- fahrt weitgehend mit ökonomischem Wohlstand und engten ihre Fragestel- lung auf die rein wirtschaftliche Problematik ein. Sie gingen so vor, weil sie glaubten, daß sich in der Gesellschaft ökonomische und nichtökonomische Werte parallel entwickeln. Für sie war „Wohlfahrt" gleichbedeutend mit , »wirt- schaftlichem Wohlstand", und nach ihrer Meinung konnten alle sinnvollen Ziele der Gesellschaftsgestaltung in Verbindung mit dem wirtschaftlichen Fortschritt erreicht werden. Diese Annahme entspricht dem Grundgedanken der utilitaristischen Gesellschaftsphilosophie, die der Wohlfahrtstheorie zu- grunde liegt. In dieser Konzeption kommt aber auch die Aufgabe zum Aus- druck, die der damaligen englischen Politik als die wichtigste erschien: die Überwindung des Pauperismus der vorkapitalistischen Ära. Daher war in England ein Wirtschaftssystem, das eine höhere wirtschaftliche Effizienz be- saß als die früheren, lange Zeit unbestritten, wenn auch einzelne Kritiker, wie John Stuart Mill, schon früh bezweifelten, daß die Erhöhung des Wohlstandes ständig das eigentliche Ziel der Gesellschaftspolitik sein kann.

Anders in Deutschland. Hier lag das „kapitalistische" Wirtschafts- system lange Zeit in einem offenen Konflikt mit Versuchen, ältere Ordnungen, die dem Zeitalter des Feudalismus entstammten, zu erhalten; so wurde für die deutsche Situation ein Pluralismus wirtschaftspolitischer Ziele charak- teristisch. Daher erschien die englische Wohlfahrtsvorstellung der deutschen Volkswirtschaftslehre zu einfach. Als Deutschland in der Historischen Schule eine eigenständige Konzeption der Volkswirtschaftslehre entwickelte, wen- dete sich diese sehr betont gegen die englische, von vielen sozialen Gegeben- heiten abstrahierende Betrachtung und gegen die Isolierung des rein Ökono- mischen. In England selbst aber blieb diese Betrachtungsweise angesichts der lange unbestrittenen Herrschaft der liberalen Wirtschaftsordnung domi- nierend; sie drang von hier aus auch in die Vereinigten Staaten und andere Länder vor, die der Tradition der klassischen Nationalökonomie folgten. In der Weiterentwicklung der Lehre wurden daher auch nicht ihre Annahmen über den Zusammenhang wirtschaftlicher und sozialer Werte preisgegeben, ob- wohl sie die soziale Wirklichkeit stark vereinfachten. Dagegen löste ein ande- rer Teil der ursprünglichen Wohlfahrtsökonomik zahlreiche Diskussionen aus, die ihre späteren Versionen wesentlich beeinflußt haben. Die Wohlfahrts- ökonomik ging von der individualistischen Struktur der englischen Gesell- schaft und damit von Wohlfahrtszuständen von Einzelpersonen aus, die man dann zu der Wohlfahrt der Gesellschaft aggregierte. Ursprünglich be- trachtete man in der klassischen Schule den Stand der Versorgung mit Gütern als den eigentlichen Index für die Wohlfahrtshöhe ; die Güter erschienen als der materielle Niederschlag der Wohlfahrt. Unter dem Einfluß der subjektiven Wertlehre erkannten dann die späteren Vertreter der Klassik, daß in den Wohlfahrtsempfindungen der Individuen Urteile über die Situation zum Aus- druck kommen, in der sich der einzelne in der Gesellschaft befindet. Die Wohl- fahrt stellt im Grunde eine Empfindungsgröße dar, daher kann sie nicht einfach in Güterquantitäten gemessen werden. Liegen aber der Wohlfahrt letztlich Nutzenerwägungen zugrunde und ist es das Ziel der Wohlfahrtsöko-

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nomik, den Nutzen in der Gesellschaft zu erhöhen, so muß zwangsläufig die Frage auftauchen, ob und wie Nutzenhöhen meßbar sind - und vor allem, ob die Nutzen verschiedener Individuen untereinander vergleichbar sind, so daß man durch eine Aggregation der Nutzen verschiedener Personen die Höhe des gesamten Nutzens der Gesellschaft bestimmen kann. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem hat die Wohlfahrtsökonomik besonders stark beeinflußt. Diskutiert wurde vor allem, wie der Nutzen der einzelnen Individuen zu messen sei und welche Maßeinheit der Nutzenmessung zugrunde gelegt werden müsse. Noch Alfred Marshall hielt die Nutzen der Individuen für meßbar und die Nutzenempfindungen verschiedener Personen für vergleichbar. Seit der grundlegenden Arbeit von Bobbins1 wurde die Auffassung herrschend, daß der interpersonelle Nutzen vergleich nicht vollziehbar sei. Damit aber war zwangsläufig auch die umfassende Erklärung der Wohlfahrt preisgegeben: die Höhe des gesamten Nutzens für die Gesellschaft galt nunmehr als nicht bestimmbar. Gerade dieses Ziel aber hatte sich die Wohlfahrtsökonomik ursprünglich gesetzt.

II

In dieser Krise übernahm die angelsächsische Wohlfahrtstheorie eine Konzeption, die auf Vilfredo Pareto zurückgeht und die einen Ausweg aus der Sackgasse zu bieten schien. Auch Pareto war überzeugt, daß die Nutzenemp- findungen nicht interpersonell meßbar sind. Er fragte aber nicht nach dem Nutzenmaximum für die Gesellschaft, sondern nach den Voraussetzungen für eine Erhöhung der Wohlfahrt. Für ihn ist der Wohlfahrtsstatus der Gesell- schaft verbessert, wenn die Wohlfahrt mindestens eines Individuums steigt, ohne daß die Situation irgendeines anderen verschlechtert wird. Nach Er- reichen des Optimums kann die Wohlfahrt einer Person nur noch auf Kosten anderer vergrößert werden ( Pareto-Optimum) . Diese Richtung der Lehre weicht der Aggregation der Nutzempfindungen eines Individuums zu einem Gesamtnutzen ebenso wie einem interpersonellen Nutzen vergleich aus, da sie lediglich die Veränderung des Nutzens eines Individuums bei Konstanz aller übrigen konstatiert. So entstand die „Neue Wohlfahrtsökonomik", die eine Antwort auf die von den älteren Formen der Lehre unbefriedigend gelösten Fragen nicht mehr erforderte. Sie unterstellt aber, daß die Individuen ihre Wohlfahrt nach der absoluten und nicht nach der relativen Höhe ihrer Ein- kommen beurteilen - sonst wäre dem Einzelnen die Verbesserung der wirt- schaftlichen Situation eines anderen bei Konstanz der eigenen nicht gleich- gültig. Unzweifelhaft wird jedoch die Höhe der subjektiven Wohlfahrt im Regelfalle durch die Einkommensverteilung mitbestimmt. Das Mitglied der Gesellschaft bewertet seine Position meist nicht allein nach dem Stand seiner Versorgung; es vergleicht sie vielmehr mit der anderer Personen, und sein „Wohlbefinden" hängt daher auch von der Verteilung der Einkommen ab. Pareto und seine Nachfolger sahen aber sehr deutlich, daß es ohne Übernahme

1 L. C. Rabbins: An Essay on the Nature and Significance of Economic Science, London 1932.

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bestimmter Werturteile nicht möglich ist, unterschiedliche Verteilungen der Einkommen nach ihrer Wohlfahrtsbedeutung zu beurteilen. Sie glaubten je- doch, die Problematik der Einkommensunterschiede ausklammern zu können, weil in ihrem Optimum die Einkommenslage nicht eines einzigen Individuums verschlechtert wird. Das aber gilt nur, wenn lediglich der eigene Versorgungs- stand die subjektive Bewertung der Situation bestimmt, eine Annahme, die zweifellos - wie bereits erwähnt - der Wirklichkeit nicht immer entspricht.

Vor allem aber kann man mit Hilfe des Parefo-Kriteriums nicht einen Zu- stand der Gesellschaft als den optimalen kennzeichnen. Vielmehr entsprechen sehr verschiedenartige Situationen mit unterschiedlicher Aufteilung des Volkseinkommens den Bedingungen des Parefo-Optimums. Es ist erreicht, wenn der Wohlstand des reichsten Mitgliedes der Gesellschaft noch gestiegen ist, die Lage der Ärmsten aber sich nicht verschlechtert hat. Seine Bedingun- gen sind ebenso erfüllt, wenn der Ärmste zu einem höheren Wohlstand gelangt, während die Lage aller anderen Personen unverändert bleibt. Bei einer Beur- teilung gesellschaftlicher Zustände aber werden die Individuen im allgemei- nen beide Situationen nicht als gleichwertig ansehen. Jedenfalls hat die Paretianische Wohlfahrtsökonomik den Versuch aufgegeben, den Zustand höchstmöglicher sozialer Wohlfahrt zu bestimmen. Das aber war das ur- sprüngliche Ziel der Wohlfahrtstheoretiker. In der „Neuen Wohlfahrtsöko- nomik" kommt eine starke Resignation zum Ausdruck, weil der Versuch der älteren Version dieser Theorie, einen allgemein gültigen Wohlfahrtsbegriff zu finden, preisgegeben werden mußte.

III

Das Parefo-Kriterium ist nur anwendbar, wenn Maßnahmen der Wirt- schaftspolitik lediglich einer Person oder einem Personenkreis Vorteile ver- schaffen. In den meisten Fällen aber werden durch die Wirtschaftspolitik bestimmte Personengruppen begünstigt, andere geschädigt. Die Beurteilung derartiger Situationen ist mit Hilfe der Paretianischen Wohlfahrtstheorie nicht möglich. Koldor und Hicks haben dann die Parefo-Konzeption erwei- tert, indem sie die Wohlfahrtsbedeutung eines Teils der Fälle zu erklären ver- suchten, in denen bestimmte Personen Vorteile, andere aber Nachteile erlan- gen. Für beide Autoren ist eine Erhöhung der Wohlfahrt dann gegeben, wenn die Geschädigten durch Kompensationszahlungen seitens der Begünstigten ihren alten Wohlfahrtsstatus wieder erreichen und die Gewinner trotzdem ihren Vorteil nicht ganz verlieren. Durch diese Erweiterung der Konzeption ist der Anwendungsbereich der Paretianischen Wohlfahrtsökonomik ausge- dehnt worden, wenn auch Scitovsky zeigen konnte, daß das Kaldor-Hicks- Kriterium zu Widersprüchen zu führen vermag. Keinesfalls aber gelingt es mit Hilfe dieses Kompensationskriteriums, die Situation zu erkennen, in der die höchstmögliche Wohlfahrt für die Gesellschaft realisiert ist. Wie bereits gezeigt, entsprechen dem Pareio-Kriterium sehr viele verschiedene Vertei- lungen des Einkommens und sehr unterschiedliche soziale Zustände. Bei An- wendung der Kompensationsgrundsätze von Kaldor und Hicks wird die

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Zahl der Situationen, die den Optimum-Bedingungen genügen, nur noch er- weitert, und das Ergebnis wird noch unbestimmter. Pareto, aber auch KaUor, Hicks und Sdtovsky glaubten, Bewußtseinszustände zu kennzeichnen, die von allen Individuen als eine Wohlfahrtserhöhung empfunden werden. Die spätere Kritik sah jedoch, daß diese Formen der Wohlfahrtsökonomik doch Aussagen über Fremdpsychisches enthalten und damit Nutzengrößen ver- gleichen, wenn auch in der abgeschwächten Form, die nur noch größere und kleinere Nutzempfindungen unterscheidet. Auch diese versteckte introspek- tive Messung unterliegt aber allen Einwänden gegen den Nutzenvergleich, die seit Bobbins immer wieder erhoben wurden. Die jüngste behavioristische Wohlfahrtstheorie hat diese Version aufgegeben, gleichzeitig jedoch den Er- klärungsbereich noch weiter eingeengt. Samuelson spricht nur noch von „offenbarten Präferenzen". Er will lediglich beobachten, was vorgezogen wird, gibt aber jede Sinndeutung dieser Entscheidungen auf. Im Grunde kon- statiert er nur Entscheidungen, ohne ihren Inhalt zu erklären.

Samuelson sieht aber auch, daß die Paretianische Wohlfahrtstheorie nur punktuell einzelne Wohlfahrtszustände unter bestimmten Kriterien unter- sucht hat und daß es dieser Situation der Wohlfahrtsökonomik entspricht, alle Wohlfahrtszustände darzustellen, die als „optimale" anzusehen sind. Das kann z. B. in der Form geschehen, die Samuelson u. a. entwickelt haben. Ihre Vorstellung der „Wohlfahrtsgrenze" oder „Wohlfahrtsfront" umfaßt alle opti- malen Situationen, die eine Gesellschaft zu erreichen vermag, im Sinne Pa- retos, d.h. alle Zustände, in denen ein Individuum bei gegebener Wohlfahrts- höhe der anderen ein Maximum an Wohlfahrt erzielt. Jedem dieser optimalen Zustände entspricht gemäß dem Parefo-Kriterium eine bestimmte Einkom- mensverteilung, bei der gleichzeitig alle Bedingungen für den optimalen Ein- satz der Produktionsfaktoren erfüllt sein müssen, d.h. die „Produktions- grenze" erreicht ist. Mit der Konstruktion der Wohlfahrtsgrenze aber bringt diese Version der Wohlfahrtsökoncmik zum Ausdruck, daß sie nicht in der Lage ist, einen bestimmten Zustand als den besten zu kennzeichnen. Es ist nicht möglich, eine Situation, die auf der Wohlfahrtsfront liegt, einer anderen vorzuziehen.

Das Bild der sozialen Wohlfahrt wird kaum deutlicher, wenn man es in Form von gesellschaftlichen Indifferenzkurven darstellt. Alle Punkte einer gesellschaftlichen Indifferenzkurve repräsentieren die gleiche Wohlfahrtshöhe der Gesellschaft. Sie unterscheiden sich lediglich dadurch, daß diese gesell- schaftliche Gesamtwohlfahrt unterschiedlich auf die einzelnen Individuen der Gesellschaft verteilt ist. Jede Wohlstandshöhe wird durch eine besondere gesellschaftliche Indifferenzkurve dargestellt. Die Kurven, die einen höheren Wohlstand der Gesellschaft repräsentieren, werden durch einen höheren Nut- zenindex gekennzeichnet. Um das gesellschaftliche Wohlstandsmaximum zu erreichen, wird nun derjenige Punkt auf der Indifferenzkurve mit dem höch- sten Nutzenindex erstrebt, der unter Berücksichtigung der Produktions- grenze erreichbar ist.

Mit der Konstruktion sozialer Indifferenzkurven ist aber das Problem, die soziale Wohlfahrt zu bestimmen, nicht gelöst. Bei der Interpretation der gesellschaftlichen Indifferenzkurven entstehen nämlich ähnliche Schwierig-

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keiten wie bei der Wohlstandsgrenze. Wenn eine gesellschaftliche Indifferenz- kurve eine bestimmte Wohlstandssituation der Gesellschaft beschreibt und wenn jeder Punkt dieser Kurve eine andere Verteilung dieses Wohlstandes auf die Individuen darstellt, dann müßte zugleich gesagt werden, nach welchem Kriterium man unterschiedliche Verteilungen eines gegebenen Wohlstandes als gleichwertig für die Gesellschaft einstufen kann. Ein solches Kriterium müßte zu interpersonalen Nutzenvergleichen führen, die aber nach Ansicht der meisten Wohlfahrtstheoretiker aufgrund objektiver Kriterien nicht mög- lich sind.

Das Problem der gesellschaftlichen Wohlfahrt kann also nur durch eine wertende Beurteilung der einzelnen möglichen Situationen gelöst werden. Es muß geklärt werden, was unter sozialer Wohlfahrt zu verstehen ist und wie materiell derartige erwünschte Wohlfahrtssituationen in einer konkreten Ge- sellschaft festgestellt werden sollen. Die Wissenschaft bemüht sich gerade in neuerer Zeit immer wieder darum, ein Verfahren anzugeben, durch das man aus den Wünschen aller einzelnen Individuen den Willen und die Wertungen der gesamten Gesellschaft ablesen kann. Es ist eine Anzahl von politischen Wahlsystemen entwickelt worden, mit deren Hilfe man jedoch nur unter sehr einschränkenden Bedingungen einen in sich widerspruchlosen Willen der Ge- samtheit ermitteln kann. Insbesondere Arrow hat gezeigt, daß es bisher kein Wahlsystem gibt, das unter realistischen Bedingungen zu einem in sich wider- spruchslosen Wertsystem der Gesellschaft führt. Diese Überlegungen sind als sog. Arrowsches Unmöglichkeitstheorem bekannt geworden.

Man hat nun als Ausweg vorgeschlagen, die Wertschätzungen eines repräsentativen Individuums oder eines Diktators als die Wertschätzungen der Gesellschaft anzusehen. Es ist aber offensichtlich, daß auch damit das Problem der Ermittlung der von der Gesellschaft gewünschten Wohlstands- situation nicht gelöst, sondern umgangen worden ist, indem willkürlich die Wertungen eines Individuums als für die gesamte Gesellschaft maßgebend angenommen werden. Befriedigender erscheint noch der Versuch, herrschende Wertvorstellungen, wie sie z. B. in Sitte und Brauchtum zum Ausdruck kom- men, bei der Suche nach der von der Gesellschaft gewünschten Situation zu berücksichtigen. Gerade für den Wirtschaftspolitiker ist es notwendig, alle Informationsmöglichkeiten auszuschöpfen, die zu Hinweisen auf die von der Gesellschaft gewünschte Situation führen könnten.

Mit dieser Entwicklung hat die Formalisierung der Wohlfahrtstheorie einen Höhepunkt erreicht. Unter dem Einfluß der Kritik an den älteren Fassungen sind Leerformeln entstanden, die ein Urteil über bestimmte Zu- stände nicht mehr gestatten und die dem Wirtschaftspolitiker Regeln für sein Handeln nicht mehr zur Verfügung stellen. Gerade ¿ese Aushöhlung des Wohlfahrtsbegriffes zeigt, wie stark die Wohlfahrtsökonomik von ihren ur- sprünglichen Zielen abgedrängt worden ist. Sie wollte als typisches Produkt des Rationalismus Verfahrensregeln aufstellen, dem Politiker Präskriptionen geben. Jetzt aber ist sie so inhaltslos geworden, daß sie in den Dienst beliebi- ger Ziele gestellt werden kann. Erst mit einem materiell erfüllten Wohlfahrts- begriff könnte sie Urteile über den Wohlfahrtszustand bestimmter gesell- schaftlicher und wirtschaftlicher Situationen geben. In dieser Relativierung

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aller Aussagen über Wohlfahrtszustände kommt auch eine geistesgeschicht- liche Wandlung zum Ausdruck. Die Aufklärungsphilosophie glaubte, ein universell gültiges Wertsystem aufgrund vernunftgemäßen Handelns fest- legen zu können. Von der Norm abweichende Vorstellungen erschienen ledig- lich als Urteile von Menschen, die ,,des Gebrauchs der Vernunft noch nicht fähig" waren. Zu der immer weiteren Einengung der Fragestellung der Wohl- fahrtsökonomik dürfte aber auch die Tatsache beigetragen haben, daß das traditionelle liberale Wirtschaftssystem in den angelsächsischen Ländern nicht mehr unbestritten ist und insbesondere in England selbst Gegensätze zwischen den ökonomischen, kulturpolitischen und sozialen Forderungen, die in unserer Gesellschaft erhoben werden, aufgetaucht sind.

IV

Wesentlich für das heutige Entwicklungsstadium der Wohlfahrtsökono- mik ist es aber, daß dieser Zustand der Formalisierung gerade den Forschern bewußt ist, die Leerformeln aufgestellt haben. Sie selbst sprechen deutlich aus, daß ihr Apparat mit einem bestimmten Inhalt erfüllt werden muß. Das ist ein wichtiges Ergebnis : Nach einer langen Phase der Formalisierung der Wohlfahrtsökonomik wird erkannt, daß die verschiedenen Wohlfahrtszu- stände materiell bestimmt werden müssen.

Allerdings wird m. E. der Stand unseres Wissens falsch beurteilt, wenn man glaubt, die Wohlfahrtsziele unserer Zeit seien allgemein bekannt und man könnte sie einfach in ein System von Leerformeln eintragen. Das soziale Wunschbild der Gegenwart ist ohne eingehende Untersuchung nicht zu klä- ren. Seine Züge werden sehr viel mehr als in vielen früheren Epochen von den Forderungen einer sehr großen Zahl von Gruppen bestimmt, die - anders als in autoritären Systemen - auf die Gestaltung der Gesellschaft Einfluß zu nehmen vermögen. Es ist aber keineswegs leicht zu erkennen, welche Per- sonenkreise gleichartige Ansprüche an die Gesellschaft stellen und deshalb als Angehörige einer Gruppe anzusehen sind. Wir orientieren uns oft noch an Schemen der Vergangenheit (z. B. Proletarier - Kapitalist), ohne zu über- prüfen, ob sich nicht völlig andere Gruppierungen in der Gesellschaft ausge- bildet haben. Sicher ist aber, daß sich die Ansprüche jeder Gruppe auf ver- schiedenste Bereiche der Gesellschaft beziehen - u.a. auf die Gestaltung der Wirtschaft, auf die Kultur und auf soziale und politische Sicherheit. Klä- rungsbedürftig ist m.E. vor allem, in welchem Umfange sich die Forderungen der verschiedenen Gruppen nach ihrem Inhalt und nach ihrer Rangfolge tat- sächlich unterscheiden. Wir wissen, daß Gegensätze der Interessen, die in der Vergangenheit zahlreiche Konflikte heraufbeschworen haben, heute zum min- desten nicht mehr in gleicher Schärfe fortbestehen. Aber wir wissen sehr we- nig über Ziele, die tatsächlich von den einzelnen Gruppen verfolgt werden. Erst nach Klärung dieses Problems kann untersucht werden, ob Wider- sprüche zwischen den verschiedenen Forderungen innerhalb jeder Gruppe bestehen - vor allem aber, inwieweit das Wunschbild der einen Gruppe mit dem einer anderen vereinbar ist. Ferner: in einer pluralistischen Gesellschaft ist eine einheitliche, widerspruchsfreie Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik

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nur möglich, wenn bestimmte, für die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft wesentliche Ziele von allen Mitgliedern akzeptiert werden. Das aber hängt nicht nur von dem Bestand an Zielvorstellungen ab, die alle Gruppen ver- treten, sondern auch von der Bereitschaft zu Kompromissen, in denen den eigenen Interessen widersprechende Forderungen anderer Personenkreise hin- genommen werden, wenn diese ihrerseits zu Zugeständnissen bereit sind.

Die wichtigste Aufgabe liegt darin zu ermitteln, welche Faktoren in der Gesellschaft das Wohlbefinden bestimmen, welche Forderungen die Menschen von heute an die Gesellschaft stellen. Jedenfalls ist es ein Irrtum zu glauben, daß wir über die tatsächlichen Forderungen der Gesellschaftsmitglieder genau informiert sind und diese Informationen einfach in irgendeine Formel eintragen könnten. Wir dürfen uns nicht darüber täuschen, daß wir bei ständiger Verfeinerung der formalen Wohlfahrtstheorie das praktische Pro- blem der Bestimmung der Werte, die unsere Zeit in der Gesellschaft realisiert sehen möchte, immer mehr vernachlässigt haben. Angesichts dieses Vakuums besteht die Gefahr, daß wir einfach auf die Ergebnisse der älteren Forschung zurückgreifen, die sich mit den damals herrschenden Wertvorstellungen sehr eingehend auseinandergesetzt hat. In früheren Entwicklungsphasen unserer Wissenschaft waren die Bereitschaft zu beobachten und die Fähigkeit, die wesentlichen Züge eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zu erkennen, zweifellos stärker entwickelt als heute. Wir überprüfen aber heute oft nicht, ob die soziale Vorstellungswelt der Vergangenheit heute noch das Bewußtsein und die Willensbildung der Bevölkerung entscheidend beeinflußt, und wir erliegen wahrscheinlich oft der Gefahr, unsere Gegenwart ideologisch zu ver- fälschen. So behandeln wir Ergebnisse der älteren Forschung z.B. über das kapitalistische Wirtschaftssystem, als seien die Gegensätze dieser Epoche auch noch für unsere Zeit charakteristisch.

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Entscheidend ist mithin, daß zunächst einmal die Ziele der verschiede- nen Gruppen in der Gesellschaft wirklich geklärt werden. Erst dann läßt sich entscheiden, ob der formale Apparat der Wohlfahrtsökonomik noch verwend- bar ist. Manche glauben, man könne in die Leerformeln einfach Wertprämis- sen einsetzen. Es ist aber eine offene Frage, ob dies bei einer Erweiterung der Wohlfahrtsökonomik noch die zweckmäßige Form der Darstellung ist. Das Problem ist jedenfalls nicht gelöst, wenn man zu den bisherigen Para- metern in der geometrischen Darstellung einfach weitere hinzufügt, also die soziale Wohlfahrt nicht nur mit der Güterversorgung, sondern auch mit der persönlichen Freiheit oder bestimmten kulturellen Forderungen in Verbin- dung bringt. Das Gleiche gilt für eine algebraische Darstellung, in der einfach die Zahl der Variablen, von denen der Volkswohlstand abhängt, vermehrt wird. Auf diese Weise werden nur Symbole eingeführt, die darauf aufmerksam machen, daß der Wohlstand nicht allein von der Güterversorgung abhängt. Das der Gegenwart gestellte Problem besteht aber darin, materiell zu unter- suchen, welche Faktoren tatsächlich das Wohlbefinden in der Gesellschaft bestimmen.

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