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Acta Mechanica 10, 99--110 (1970) by Springer-Verlag 1970 Zur Kinematik des starren KiJrpers und der Relativbewegung Von G. Brunk und J. Myszkowski, Berlin (Eingegangen am 25. September 1969) Zusammenfassung - Summary Zur Kinematik des starren K~Jrpers und der Relativbewegung. Bei der vorliegenden Unter- suchung werden die mathematischen und mechanischen Inhalte der Eulerschen Geschwindig- keitsformel getrennt. Dazu wird zunfichst rein mathematisch die Eulersche Differentiations- formel ftir die Differentiation eines Vektors nach einem skalaren Parameter entwickelt, die dann auf verschiedene kinematische Probleme der Mechanik (u. a. Kinematik des starren K6rpers, Kinematik der Relativbewegung) angewendet wird. On the Kinematics of a Rigid Body and on Relative Motion. Mathematical and mechanical content of Euler's formula for the velocity of a rigid body are separated. To that effect Euler's differentiation formula for the derivative of a vector with respect to a scalar parameter is derived on a purely mathematical basis, and is then applied to various kinematical problems, e. g. kinematics of a rigid body and kinematics of relative motion. 1. Einleitung In der EULERschen Geschwindigkeitsformel ~=~A+05X(f--fA) ist VA die Geschwindigkeit und fAder Ortsvektor eines bestimmten materiellen Punktes eines starren K6rpers, ~ ist die Geschwindigkeit und P der Ortsvektor eines beliebigen materiellen Punktes in diesem K6rper. Die angegebene Beziehung dient zu einer besonderen Darstellung der Geschwindigkeit ~ mit Hilfe eines Vektors 05, der Winkelgeschwindigkeit genannt wird. Die Kinematik der Bewegung des starren K6rpers urn einen festen Punkt hat EULER mit Hilfe der sph/irischen Trigonometric in [1], S. 202-206 be- handelt. Die a!!gemeine Bewegung des starren K6rpers schildert er in [2], S. 313- 314 als Uberlagerung der Translation des Schwerpunktes (mouvement progressif.., du centre de gravit6) und der Drehung urn den Schwerpunkt (mouvernent de rotation). Einen anderen Weg beschreitet EULERin [3], S. 82, wo er andeutet, wie man die Kinematik der Bewegung des starren K6rpers aus der Bedingung verschwindender Verzerrungsgeschwindigkeiten gewinnt. Es existiert eine Ftille von Darstellungen der EULERschen Formel u. a. in den zahlreichen Lehrbtichern der Mechanik, vgl. dazu z. B. PARKUS[4]. Eine systernatische Darstellung und Literaturhinweise auf Originalwerke findet man bei TRUESDELL/TOUPIN irn Handbuch der Physik [5]. 7*

Zur Kinematik des starren Körpers und der Relativbewegung

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Page 1: Zur Kinematik des starren Körpers und der Relativbewegung

Acta Mechanica 10, 99--110 (1970) �9 by Springer-Verlag 1970

Zur Kinematik des starren KiJrpers und der Relativbewegung

Von

G. Brunk und J. Myszkowski, Berlin

(Eingegangen am 25. September 1969)

Zusammenfassung - Summary

Zur Kinematik des starren K~Jrpers und der Relativbewegung. Bei der vorliegenden Unter- suchung werden die mathematischen und mechanischen Inhalte der Eulerschen Geschwindig- keitsformel getrennt. Dazu wird zunfichst rein mathematisch die Eulersche Differentiations- formel ftir die Differentiation eines Vektors nach einem skalaren Parameter entwickelt, die dann auf verschiedene kinematische Probleme der Mechanik (u. a. Kinematik des starren K6rpers, Kinematik der Relativbewegung) angewendet wird.

On the Kinematics of a Rigid Body and on Relative Motion. Mathematical and mechanical content of Euler's formula for the velocity of a rigid body are separated. To that effect Euler's differentiation formula for the derivative of a vector with respect to a scalar parameter is derived on a purely mathematical basis, and is then applied to various kinematical problems, e. g. kinematics of a rigid body and kinematics of relative motion.

1. Einleitung

In der EULERschen Geschwindigkeitsformel ~=~A+05X(f--fA) ist VA die Geschwindigkeit und fAder Ortsvektor eines bestimmten materiellen Punktes eines starren K6rpers, ~ ist die Geschwindigkeit und P der Ortsvektor eines beliebigen materiellen Punktes in diesem K6rper. Die angegebene Beziehung dient zu einer besonderen Darstellung der Geschwindigkeit ~ mit Hilfe eines Vektors 05, der Winkelgeschwindigkeit genannt wird.

Die Kinematik der Bewegung des starren K6rpers urn einen festen Punkt hat EULER mit Hilfe der sph/irischen Trigonometric in [1], S. 202-206 be- handelt. Die a!!gemeine Bewegung des starren K6rpers schildert er in [2], S. 313- 314 als Uberlagerung der Translation des Schwerpunktes (mouvement progressif.. , du centre de gravit6) und der Drehung urn den Schwerpunkt (mouvernent de rotation). Einen anderen Weg beschreitet EULER in [3], S. 82, wo er andeutet, wie man die Kinematik der Bewegung des starren K6rpers aus der Bedingung verschwindender Verzerrungsgeschwindigkeiten gewinnt.

Es existiert eine Ftille von Darstellungen der EULERschen Formel u. a. in den zahlreichen Lehrbtichern der Mechanik, vgl. dazu z. B. PARKUS [4]. Eine systernatische Darstellung und Literaturhinweise auf Originalwerke findet man bei TRUESDELL/TOUPIN irn Handbuch der Physik [5].

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Page 2: Zur Kinematik des starren Körpers und der Relativbewegung

100 O. BRUNK und J. MYSZKOWSKI :

Die EULERSche Formel enthNt einerseits die rein mathematische Regel fiber die Differentiation eines Vektors und andererseits die mechanische Aussage fiber die Kinematik des starren K6rpers oder eines starrbewegten Bezugssystems. TRUESDELL/TOUPIN [5], 8. 437 ft. und TRUESDELL [6], S. 23 f., die bei ihren Betrachtungen yon einem starrbewegten Bezugssystem ausgehen, sowie HAMEL [7], tier die Formel ffir den Fall der Bewegung des starren K6rpers entwickelt, betonen die ,,mechanische" Seite des Problems. Wie aus dem folgenden hervorgeht, stiitzt sich diese Formel auf einige rein mathematische, noch nicht kinematische Aussagen, die ausschlieBlich aus dem Gebiet der Vektorrechnung stammen.

Das Ziel dieses Beitrages ist es, die mathematischen und mechanischen Inhalte der Eulerschen Formel voneinander zu trennen und die dazugeh6rige Differentiationsregel ffir Vektoren ohne kinematische Hilfsvorstellungen zu entwickeln. Die Mittel der Mathematik werden soweit wie m6glich ausgenutzt. Auf die Methoden der darstellenden Geometrie, die hier h~ufig nur Plausibi- lit~itserklfirungen liefern sollen, wird vollst~indig verzichtet. Die gewonnenen Ergebnisse werden dann auf verschiedene kinematische Probleme der Me- chanik angewendet. Die Trennung der Mathematik von der Mechanik und der systematische Aufbau der mechanischen Inhalte mit den Methoden der Mathematik erlauben es, z.B. die Bewegung eines starren K6rpers und die Kinematik der Relativbewegung einheitlich zu behandeln.

2. Die Differentiationsformel fiir Vektoren konstanten Betrages

2.1. D ie A b l e i t u n g e ines V e k t o r s a k o n s t a n t e n B e t r a g e s

S a t z I

V o r a u s s e t z u n g : Im dreidimensionalen eigentlich e u k l i d i s c h e n Raum sei ein Vektor a(t) (frei, linienflfichtig oder gebunden) gegeben mit [al = const. B e h a u p t u n g : Die Voraussetzung ist notwendig und hinreichend daffir, dab die Ableitung ~ ~ d~/d t nach einem beliebigen Parameter t in der Form

a = d.)~x a (1)

darstellbar ist, d.h. es mug mindestens ein &a existieren, so dal3 (1) gilt.

B e w e i s : 2.1.1. laL = const ist notwendig fiir (1), d.h. aus (1) folgt La[ = const.:

Es sei a = &x& dann ist

- - ( I I~ - - ( d d ~ a ) = a a ~ 2a (&xa) 0, d t , , a , 2 , = d t ,a . . = . =

also lal 2 -- const, mithin lal -- const, was zu beweisen war. 2.1.2. lal = const ist hinreichend fiir (1), d.h. aus lal = const folgt (1):

Mit l al--const erhalten wir zun~ichst

[ a l 2 = f " ~/ ~ - const

Page 3: Zur Kinematik des starren Körpers und der Relativbewegung

Zur Kinematik des starren K6rpers und der Relativbewegung 101

oder

d ( l a l g ) = 2 a = 0 . (2) h

Mit (2) und mit l ai 2 = a ' a = a 2 folgt die Identit/it

a.a [a•215 h = h - a - ~ =?~ [a (a. a) - a (a. h)] = ~

oder ~ fix h a = ~ e - - • a,

a x a d.h. aus laB = const folgt (1) mit zun/ichst einem &~ - a2 .

Wegen

~,o• = ( & o + ~ a ) • (2 frei),

folgt ftir jeden Vektor a in (1) a•

cb~- a2 + 2 a . (3)

(5~ ist also nicht eindeutig bestimmt, sondern ist ein Vektor aus der durch (3) gegebenen Menge mit freiem 2. Mit Hilfe der Vektoralgebra 1/il3t sich zeigen, dab es auger der durch (3) best immten Menge der Vektoren (5 a keine weiteren gibt, die die G1. (1) erfiillen.

2.2. D i e A b l e i t u n g z w e i e r V e k t o r e n k o n s t a n t e r Betr~ige , t i ir d i e d e r B e t r a g i h r e r D i f f e r e n z k o n s t a n t is t

Satz II Voraussetzung: f)(t) und ~(t) seien zwei linear unabh~ingige Vektoren im

dreidimensionalen eigentlich euklidischen Raum mit I be = const, I c l = const, I ~ - ~l = const.

Behauptun#: Die Voraussetzung ist notwendig und hinreichend daftir, dab genau ein (gemeinsamer) Vektor & existiert, mit dem die beiden Ableitungen

und ~ in der Form

/) = cb x 6 und ~ = (5 x ~ (4)

dargestellt werden k/Snnen.

Beweis: 2.2.1. Ibl = const, I~1 = const, [g - f)l = const ist notwendig far (4), d.h. aus

(4) folgt I ~r = const, I~l -- const, I g - be = const:

Wie in Abschnis 2.1.1. folgt zun~ichst

1 (l~J2)" = ~. ~ = ~. (cSx ~) = 0 ~ I br = const

1 ~ (Igl2)" -= ~ �9 g = g �9 (oh • ~)-- 0 ~ t g l = const

Page 4: Zur Kinematik des starren Körpers und der Relativbewegung

102 G. BRUNK und J. MYSZKOWSKI :

und aul3erdem damit und mit (4)

1 (I c - 612) �9 = (~ - ~). (~ - ~ ) = ~. ,~ - ( f , . ~ + ~. ,~) + E,. ,~ =

= - ( 5 . ~ + ~ - ~ ) = , ~ . ( ~ x c o ) + ~ . ( ~ x ~ ) = = (6x,~ + 3x 5) �9 c5 = O,

d.h. es ist I c - 5j = const,

was zu beweisen war.

2.2.2. I bt = const, 131 = const, 13 - ~[ = const ist hinreichend fiir (4), d.h. aus diesen Voraussetzungen folgt (4): Nach Satz I folgt aus I1) l = const und Igl = const

i) = cSh x 5 und ~ = &c x & (5) L3 - b I= const ffihrt auf

(~ - 5 ) . (e - 5 ) = o und welter mit 3 ' ~ = 0, f ) ~) = 0 auf

~,.," + 3- f ,= o. Daraus folgt mit (5)

( G x ~) �9 5 + ( G • 5) - ~ = 0, d . h .

(&c - &b) " (3 x 5) = 0. (6)

Aus (6) folgt ftir die Differenz der Vektoren &~ und (5 b

&~ - &b = fi 5 + 7 & (7)

Gem~ib (3) ist

3x~ ~xf , G = 3 ~ + ~ 3, G - f,2 +- & 5. (8)

Das eingesetzt in (7) ergibt

32 f)2 = (fi + 2b) 5 + (7 - 2c) & (9 a)

Diese Gleichung liefert die Zerlegung des Vektors auf der linken Seite beztiglich der linear unabhiingigen Vektoren 5 und 3. Diese Zerlegung ist eindeutig, d.h. die Zahlen (fi + 7b) und (7 - 2c) sind lest. Wir definieren

i) ~ + (fl + 2b) 5 - & (9b)

und finden damit aus (9 a)

~ x ~ ,

Danach ist 6) der einzlge Vektor, der gleichzeitig zu den Mengen der Vek- toren &~ und &b nach (8) geh6rt.

Page 5: Zur Kinematik des starren Körpers und der Relativbewegung

Zur Kinematik des starren K6rpers und der Relativbewegung 103

Aus (9 b), (9 c) folgt mit (8)

und

Damit gilt ~x ~=~x6=~

und

mit genau einem gemeinsamen 6), was zu beweisen war.

2.2.3. Zusatz : Fiir die Ableitung jeder Linearkombination 2 der linear unabhiingigen Vektoren l) und

2 = / 3 " 6 + ~ * g mit f l* ,7*=cons t

gilt die der Gleichung (4) analoge Form

x = & x 2 ,

weft unter Verwendung des Satzes II k = ~* ~ + 7" ~ =

= # * (Sx 6 + 7 " ( S x 0 =

ist. = (5 x (/~* g + ~* 0 = ~5 x

2.3. D ie A b l e i t u n g d r e i e r V e k t o r e n k o n s t a n t e r Betr~ige, fa r d ie d ie Betr~ige i h r e r D i f f e r e n z e n k o n s t a n t s i nd

Satz I I I Voraussetzung" f)(t) und g(t) seien zwei Vektoren im dreidimensionalen eigentlich euklidischen Raum mit den Eigenschaften aus Satz II; 2(t) sei ein dritter yon 6, g linearer unabh~ingiger Vektor mit [21 = const, [2 - b l = const, 1 2 - c l = const. Behauptung" Die Voraussetzung ist notwendig und hinreichend dafiir, dab die Ableitung )} angegeben werden kann durch

x = (5x 2 (10)

mit dem durch Satz II eindeutig bestimmten Vektor (5, d.h. es gibt genau einen gemeinsamen Vektor (5, mit dem sich die Ableitungen b0 ~, ~} gem~il3 (4) und (10) darstellen lassen. Beweis :

2.3.1. Die Voraussetzungen sind notwendig fiir die Behauptung, d. h. aus (10) folgen die Voraussetzungen. Dieser Beweis wird ganz genauso gefiihrt wie der in 2.2.1., wobei nur jeweils 6 oder d durch 2 zu ersetzen ist.

2.3.2. Die Voraussetzung ist hinreichend, d.h. aus ihr folgt (10): Ftir 6, ~ gilt Satz II, also ist

~ = c b x 6 und ~ = ( S x g . (10a)

Page 6: Zur Kinematik des starren Körpers und der Relativbewegung

104 G, BRUNK und J. MYSZKOWSKI :

Ftir 2 gilt Satz I, also ist

x = dox x 2, (10b)

und auBerdem folgt aus iS - 61 = const bzw. 12 - ~[ = const analog zu 2.2.2.

(11a) b z w .

�9 2 + ~ . ~ = 0 . (11b)

(10a, b) eingesetzt in (11 a, b) ergibt

+(doxx (6• 02a) (doxg) . 2+(do, x 2 ) . a = 0 ~ ( d o - d o ~ ) - ( g x 2 ) = 0 . (12b)

Aus (12a) folgt

und aus (12b)

und daraus weiter

(fJ--dox:/~l /~-1- ~i 2~

do- dox=72 6 + 42 2

(13a)

(13b)

also

i l l = 0 , 72=0, 4 1 = 4 2 = 4 (14)

da ~, d, 2 linear unabh~tngig sind.

Daher liefert (13 a) und (13 b)

dox=do- und damit folgt durch Einsetzen in (10b)

x =dox X 2 =do x 2,

d.h. G1. (10), was zu beweisen war.

Bemerkung: G1. (10) gilt formal auch, wenn 2, b, 8 linear abh~ingig sind - vgl. 2.2.3. Zusatz.

2.4. Die I n v a r i a n z yon do

Satz I V Voraussetzung: Satz II und Satz III gelten. Behauptung: do ist eindeutig fiir alle 2 und invariant beziiglich der Wahl yon 6 und &

Beweis: Das Paar b, 2 hat nach den Voraussetzungen yon Satz III dieselben Eigen- schaften wie das Paar ~, g. Dann kann nach Satz II fiir i), 2 nur ein gemeinsames do' existieren, so dab

~=cS 'x ~ und 2 = d o ' x 2

gilt. Satz III sagt aber, dab ~ = do x 2 mit dem dutch Satz II eindeutig be-

Page 7: Zur Kinematik des starren Körpers und der Relativbewegung

Zur Kinematik des starren K6rpers und der Relativbewegung 105

s t immten Vektor (5 ist, wenn

b = ( 5 x b und ~ = ( S x ~

gilt. Also ist (5 '=o5

d.h. (5 ist eindeutig und unabh~ingig von a. Wenn anstelle des Paares ~, 2 das Paar i, 2 betrachtet wird, findet man

genauso, dab (5 unabh/ingig von [, ist. Mithin ist (5 unabh~ingig yon der besonderen Wahl des Paares b, i und ist eindeutig.

2.5. D i e A b l e i t u n g d e r d r e i V e k t o r e n 0 i e i n e r s t a r r e n B a s i s Hilfssatz V Voraussetzung: ~ ( i= 1, 2, 3) seien Basisvektoren im dreidimensionalen eigentlich euklidischen Raum. Die Basis sei starr, d. h. es gelte

[ ell = const ] ei - ejI = const (i, j = 1, 2, 3)

Behauptung: Fiir die Ablei tung der Vektoren g~ gilt nach G1. (10) des Satzes III

e i = (5 X Ci (15)

mit e inem eindeutig bes t immten gemeinsamen Vektor (5.

Beweis :

Die drei Vektoren gi erftillen die in Satz III far die Vektoren b, g, 2 genannten Voraussetzungen, also gilt ffir sie Satz III und damit (l 5).

3. Die Differentiationsformel f'dr beliebige Vektoren

Satz V I Voraussetzung" Gegeben sei eine starre Basis ~i (vgl. Hilfssatz V) im drei- d imensionalen eigentlich euklidischen R a u m und ein beliebiger Vektor

3

= Z ui ~i. i = 1

Behauptung" Die Ablei tung yon fi kann in der F o r m

dfi ~ d~ fi (16) d~ - = u = ( 5 x f i + d~-

angegeben werden, wobei o5 durch

e i = co x ei (16 a)

bes t immt ist, und

ist.

Beweis: Fiir fi gilt die Darste l lung

dr fi 3 d t - ~' i~i ei (16b)

i = 1

3

i = i

Page 8: Zur Kinematik des starren Körpers und der Relativbewegung

106 G. BRUNK und J. MYSZKOWSKI :

Dies differenziert ergibt mit der Produktenregel 3 3

h = Z ui ~i + Z i~i ~i. i = l i = 1

Daraus folgt weiter mit G1. (15) 3 3 3 3 3

~t = 52 ui (& x el) + ~, hi ~ = d: x Y~ ui ?-i + ~ hi ?-i = do x fi + Y~ h i ?~i (17) i = l i = 1 i = 1 i = 1 i = 1

Damit ist die Form (16) bewiesen. Der Vergleich yon (17) mit (16) erkl~irt die sogenannte relative Ableitung

dr fi d t - s e i ( 1 8 )

des Vektors fi in der Basis ~i.

4. Zusammenfassung Es wurde die Ableitungsformel (10)

x = & x . ~

ftir Vektoren konstanten Betrages hergeleitet. & ist ein Vektor mit den in Abschnitt 2.3 und 2.4 festgestellten Eigenschaften. Er hat im allgemeinen keine physikalische Bedeutung. Mit Hilfe yon (10) kann dann die G1. (15) fiir die Ableitung einer starren Basis und G1. (16) ffir die Differentiation von Vektoren nichtkonstanten Betrages hergeleitet werden. Die Ableitungen sind stets als solche nach einem beliebigen Parameter t zu verstehen. Alle Gr6Ben waren bis jetzt rein mathematische Gr6gen.

5. Anwendungen der Differentiationsformeln in der Kinematik Wir stellen im folgenden die Kinematik des starren K6rpers und die der

Relativbewegung auf der einheitlichen mathematisehen Grundlage der Euler- schen Differentiationsformel (10) dar. Von nun an soll t stets die Bedeutung der Zeit haben.

"5.1. D ie E u l e r s c h e G e s c h w i n d i g k e i t s f o r m e l ftir d ie B e w e g u n g des s t a r r e n K/Srpers

Satz VII Voraussetzung: Gegeben sei ein starrer K/Srper, d.h. ein dreidimensionaler K6rper, in dem der Abstand zweier beliebiger materieller Punkte A und B mit den Ortsvektoren PA und fB stets konstant bleibt, d.h. die Beziehung

t rB - - FA[ = const (19)

gilt. Die Geschwindigkeit ~ eines materiellen Punktes sei durch ~ = ~ - dUdt als die erste Ableitung des Ortsvektors ~ nach der Zeit t definiert. Behauptung: Ftir die Geschwindigkeiten fiA = ~A und ~B = ~B der Punkte A und B gilt

Page 9: Zur Kinematik des starren Körpers und der Relativbewegung

Zur Kinematik des starren K6rpers und der Relativbewegung 107

fi8 - ~a = & x (?B - ~A) (20)

mit genau einem fiir den ganzen K6rper gemeinsamen Vektor &.

Beweis : Man setze ~B- ~A = 2, dann folgt S B -SA----~ und damit unter sichtigung yon (19) aus G1. (10) in Satz III

SB - SA = :~ = & x 2 = & x (~B -- ~A),

d.h. die G1. (20). Die Voraussetzung zu Satz VII impliziert die Voraussetzungen des Satzes III

fiber die Existenz mindestens dreier linear unabh~ingiger Vektoren konstanter Betr~ige und konstanter Differenzenbetr~ige. Daher ist 6) in (20) nach Satz Ill und IV eindeutig bestimmt und von ~B - ~A unabh~ingig. Bemerkung: Halten wir A lest und setzen S B = S als Geschwindigkeit und fB = ~als Oft eines beliebigen Punktes des starren K6rpers voraus, so ergibt (20) die bekannte Eulersche Geschwindigkeitsformel

B e r i i c k -

s = SA + c3 x (~ - fA).

Man nennt & die augenblickliche Winkelgeschwindigkeit des starren K/Srpers. Es ist zu beachten, dab i. a. & nicht zu einem Vektor mit der Bedeu- tung einer Winkeldrehung integriert werden kann. D. h. & kann i. a. nicht durch Differentiation eines ,,Winkelvektors" gewonnen werden.

Ober den Zusammenhang des dem Vektor & zugeordneten antimetrischen Tensors mit dem Tensor der Drehung siehe TRUESDELL /6] S. 24.

5.2. D ie K i n e m a t i k de r R e l a t i v b e w e g u n g Gegeben sei der Ortsvektor f(t) eines bewegten Punktes P, der Ortsvektor fa(t) eines zweiten bewegten Punktes A, des sogenannten Bezugspunktes, und eine starre Basis 6i(t). Gesucht sind die auf den Punkt A bezogene Geschwindigkeit ( f - fA)" und die auf A bezogene Beschleunigung ( ~ - rA)". Dazu wenden wir G1. (16) auf fi = ~ - ~A an und finden

d~ (~ _ ~A) (21 a) ( ~ - ~9 = ~ • (~ - G) +77

und nach Umformung die Geschwindigkeit des Punktes P

d, (f _ fA)- (21b) ~ = ~,, + c5 • ( f - f,,) + 7 7

Wir wenden ein zweites Mal G1. (16) auf fi = (f - rA)" an und erhalten

dr (~ - ~ A ) ' " = ~ • ( ~ - ~ ) + ~ [(~ - ~ 9 " ] .

Page 10: Zur Kinematik des starren Körpers und der Relativbewegung

108 G. BRUNK und J. MYSZKOWSKI :

Nach Einsetzen von (21 a) finden wir die Beschleunigung bezogen auf A

I dr(r--rA)l+ ( ~" - - ~'A ) "" ~" (70 X (70 X ( ~ - - r A ) -~ d t

- + ~ ( r -

dr = (~ X [(D X ( r - - rA)] "~- (~') X ~ ( t ' - - rA) -~

dr cb ~< (/~ - - f i A ) - t - (D dr ~ ,d@2 + d t x d t (Y - ~A) -~- a t (~ - - rA)

und erhalten mit

d& dr & dr cb co= = & x & + - - - d t d t d t

nach Umformung die Beschleunigung des Punktes P

= ;~A + Jo • [cb x (~ - - G ) ] + cb x (~ - G ) +

+ 2 & • 7dr (~ - ~A) + 7 7 ( r _ d ~ + ~A)" (22)

Man nennt d r (~ - ~ A)/d t = vr die Relativgeschwindigkeit und d 2 (~ - ~ A)/dt 2 = = b,. die Relativbeschleunigung beziiglich des Punktes A und der mit & be- wegten Basis. Die Gr/Sf3e

f,~ = ~A + ~5 • [C;~ • (~ - - G ) ] + Cb • (~ - - G )

heiBt Fiihrungsbeschleunigung und die Or66e

b e = 2 & x 2 ( f - - f A ) = 2 c b x z 3 r

Coriolisbeschleunigung.

5.3. Z w e i Spezia l f~t l le de r K i n e m a t i k de r R e l a t i v b e w e g u n g

5.3.1. K i n e m a t i k in Z y l i n d e r k o o r d i n a t e n

Wir betrachten als Beispiel der Relativbewegung beztiglich einer starren Basis die Kinematik in Zylinderkoordinaten. Die orthonormierten Basis- vektoren ~r, ~,, ~ einer Zylinderkoordinatenbasis werden in einer kartesischen orthonormierten Basis ~x, ~y, e~ dutch die Beziehungen

~r = cos ~o ~x + sin q~ ~,

~ - - sin ~o ~ + cos 9 ev (23)

~ = ~.

dargestellt. Aus (23) folgt er ' ex = cos ~o, d. h. go ist der Winkel, den er und ~ ein- schliegen.

Man findet bei Bindung der Basis an eine Bewegung in der Zeit t mit d o d t = ( o

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Zur Kinematik des starren K6rpers und der Relativbewegung 109

d6r . d~ r d t - (p ~ = (~ ( - sin ~o G + cos q) Oy) = 4~ ~r x ~r

d G . d t = (p d cp = ~b ( - cos (p ix - sin cp er) = ~b ~ x ~, (24)

d~t . d~c dt = q J ~ = 0 = ~ b G x G = c p 6 ; x @

Durch Vergleich mit (15) stellt man lest, dab ffir die zeitliche Ableitung der Zylinderkoordinatenbasis 0r, 00, ~

c~ = 0 ~ (25)

gilt. In diesem Fall hat c5 die Bedeutung einer echten, n~imlich integrierbaren Winkelgeschwindigkeit.

Bei Anwendung auf den in Zylinderkoordinaten dargestetlten Ortsvektor

f = r ~ , . + ~

folgt aus (21 b) mit (25) und mit rA = 0

= ~ ~r + r ~b ~ + ~ g~ (26)

und aus (22)

} = (i; - r ~b 2) ~ + (r {b + 2 i- qb) 6~0 + ~ @ (27)

5.3.2. Beziehen der Bewegung eines Punktes auf die Bewegung eines starren Kfrpers

Wit k6nnen den Ergebnissen des Abschnittes 5.2. noch einen besonderen mechanischen Inhalt geben. Der Punkt A in Abschnitt 5.2. sei Punkt eines starren K6rpers, eine starre Basis sei an diesen starren K6rper gebunden, dann gelten weiterhin die G1. (21 a - b) und (22) und & ist die Winkelgeschwin- digkeit des starren K6rpers wie in Abschnitt 5.1.

Wit k6nnen also die Bewegung von Punkten beztiglich einer starrbewegten Basis physikalisch als Relativbewegung beziiglich des starren K6rpers auf- fassen. Der starre K6rper wird dann aus der mechanischen Anschauung heraus in der Literatur oft ,,Fahrzeug" genannt. Diese Auffassung hat eine wesentliche Bedeutung bei Untersuchungen yon physikalischen Systemen. Die Transformationseigenschaften der mathematischen Modelle dieser Systeme beziiglich der Bewegung eines starren Bezugssystems k/Snnen ex- perimentell dutch die Beobachtung des Verhaltens der Systeme in einem ,,starren Fahrzeug" nachgepriift werden.

Literatur

[1] EULER, L. : DU mouvement de rotation des corps solides autour d'un axe variable (1758). Nachdruck: Opera omnia (2), vol. 8,200-235. Orell-Fiissli-Turici, Schweiz (1965).

[2] EULER, L. : Du mouvement d'un corps solide quelconque lorsqu'il tourne autour d'un axe mobile (1760). Nachdruck: Opera Omnia (2), vol. 8, 313-356. Orell-F/,issli-Turici, Sch'iveiz (1965).

[3] EULER, L. : Sectio secunda de principiis motus fluidorum (1769). Nachdruck : Opera Omnia (2), vol. 13, 73-153. Orell-Fiissli-Turici, Lausanne (1955).

Page 12: Zur Kinematik des starren Körpers und der Relativbewegung

110 G. BRUNK und J. MYSZKOWSKI : Zur Kinematik des starren K6rpers

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735ff.

Dipl.-Ing. G. Brunk Prof. Dr.-Ing. J. Myszkowski

I. Institut J~r Mechanik Technische Universitiit Berlin

1 Berlin 12, Strafle des 17. Juni 135