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(Aus der Medizinisehen Klinik Erlangen. -- Prof. L. R. Miiller.) Zur Pathogenese der Tabes dorsalis. Von O. Gagel. Mit 4 Textabbildungen. (Eingegangen am 20. Juni 1929.) Einer frtiheren Auffassung, welehe die prim/ire Seh~digung beim tabischen ProzeB in einer Degeneration der Hinterstr/inge suchte, wurde von anderer Seite die Meinung entgegengesetzt, dab es sich hier nur um eine rein sekund/ire Degeneration handle. Der primi~re Prozeg sollte nach der Anschauung dieser Autoren in der hinteren Wurzel sitzen, und zwar sollte es sieh dort um sklerosierende Granulome mit Spiroeh~teneinlagerungen handeln. Der gewShnliehe Sitz dieser Gesehwulst sei angeblieh an der yon Nageotte angegebenen Stelle. Auf die Frage, warum gerade diese Stelle von dem syphilitisehen Prozeg befallen wird, soll nieht ngher eingegangen werden und es wird auf die Arbeit von Richter 1 verwiesen. Dutch diesen lokalen syphilitisehen ProzeB soll es nun zu einer Unterbreehung der Aehsenzylinder an dieser Stelle kommen, die ihrerseits wieder eine sekundgre Degeneration des peripheren Neuronenanteils, also der Hinterstr/~nge, naeh sieh zieht. Dieser Gedankengang hat sehr viel Besteehendes an sieh und war dutch die pathologiseh-anatomisehe Untersuchung alter Tabesfiille sehr wohl zu belegen. Man fand den Markseheidenausfall in den Hinterstri/ngen und in der hinteren Wurzel und die syphilitisehen Graiaulationsge- sehwiilste an der bezeiehneten Stelle. Die Spinalganglien sollten naeh Art der retrograden Zellveri~nderung umgewandelt sein. Tatsi~ehlieh konnten aueh dort mit versehiedenen Fi~rbemethoden Zellveriinderungen naehgewiesen werden. Spielmeyer 2 betonte aber sehon friiher immer wieder, dag man die Degeneration der Hinterstr~nge nieht allein als rein sekund/~r auffassen k6nne. Das ganz und gar nieht so systematisehe Auftreten der Hinter- strangdegeneration bei der Lues eerebrospinalis und bei der Tuber- kulose der Meningen sowie der Befund bei einem mit Nagana infizierten Hunde liegen ihn die so verfiihreriseh erseheinenden Sehliisse Richters

Zur Pathogenese der Tabes dorsalis

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Page 1: Zur Pathogenese der Tabes dorsalis

(Aus der Medizinisehen Klinik Erlangen. - - Prof. L. R. Miiller.)

Zur Pathogenese der Tabes dorsalis.

Von O. Gagel.

Mit 4 Textabbildungen.

(Eingegangen am 20. Juni 1929.)

Einer frtiheren Auffassung, welehe die prim/ire Seh~digung beim tabischen ProzeB in einer Degeneration der Hinterstr/inge suchte, wurde von anderer Seite die Meinung entgegengesetzt, dab es sich hier nur um eine rein sekund/ire Degeneration handle. Der primi~re Prozeg sollte nach der Anschauung dieser Autoren in der hinteren Wurzel sitzen, und zwar sollte es sieh dort um sklerosierende Granulome mit Spiroeh~teneinlagerungen handeln. Der gewShnliehe Sitz dieser Gesehwulst sei angeblieh an der yon Nageotte angegebenen Stelle. Auf die Frage, warum gerade diese Stelle von dem syphilitisehen Prozeg befallen wird, soll nieht ngher eingegangen werden und es wird auf die Arbeit von Richter 1 verwiesen. Dutch diesen lokalen syphilitisehen ProzeB soll es nun zu einer Unterbreehung der Aehsenzylinder an dieser Stelle kommen, die ihrerseits wieder eine sekundgre Degeneration des peripheren Neuronenanteils, also der Hinterstr/~nge, naeh sieh zieht. Dieser Gedankengang hat sehr viel Besteehendes an sieh und war dutch die pathologiseh-anatomisehe Untersuchung alter Tabesfiille sehr wohl zu belegen. Man fand den Markseheidenausfall in den Hinterstri/ngen und in der hinteren Wurzel und die syphilitisehen Graiaulationsge- sehwiilste an der bezeiehneten Stelle. Die Spinalganglien sollten naeh Art der retrograden Zellveri~nderung umgewandelt sein. Tatsi~ehlieh konnten aueh dort mit versehiedenen Fi~rbemethoden Zellveriinderungen naehgewiesen werden.

Spielmeyer 2 betonte aber sehon friiher immer wieder, dag man die Degeneration der Hinterstr~nge nieht allein als rein sekund/~r auffassen k6nne. Das ganz und gar nieht so systematisehe Auftreten der Hinter- strangdegeneration bei der Lues eerebrospinalis und bei der Tuber- kulose der Meningen sowie der Befund bei einem mit Nagana infizierten Hunde liegen ihn die so verfiihreriseh erseheinenden Sehliisse Richters

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424 O. Gagel:

anzweifeln. Einen Fortschritt in der Pathogenese der Tabes erhoffte er sigh von einer genauen pathologisch-anatomischen Untersuchung frischer Tabesfiille. Er bringt seine Anschauung hierfiber in folgenden S/~tzen zum Ausdruck:

,,Urn die Frage der Pathogenese bei der menschlichen Tabes zu kl/~ren, bedfirfte es nach meinem Daffirhalten der Auffindung und Unter- suchung solcher F/~lle, die frische und zugleich auch lebhafte Zerfalls- erscheinungen im Beginne der Erkrankung oder in einem Schub auf- weisen, und es wi~re natfirlich notwendig, da6 zusammen mit dem Rfickenmark auch die Wurzeln nicht nur nach dem einen oder anderen Verfahren, sondern mSglichst mit allen zur Verffigung stehenden Elek- t ivmethoden untersucht wfirden."

Die gro$e Seltenheit, mit welcher so frfihe F/~lle in die H/~nde des Pathologen kommen, macht es erkl/~rlich, da6 die Anschauung fiber die rein sekund/~re Degeneration der Hinterstr~nge sich so weitgehende Geltung verschaffte. Erst naeh langem Warten konnte Spielmeyer den entsprechenden Fall untersuchen und Befunde aufdecken, die sich mit der Annahme einer sekund/~ren Degeneration nicht vereinbaren lieBen. Wegen der grol~en Seltenheit, mit welcher man Frfihf/~lle zur anatomischen Untersuchung bekommt, und wegen der gro6en Bedeutung dieser F/ille ffir die Pathogenese der Tabes ist es angebracht, die Ergeb- nisse einer solehen Untersuchung niederzulegen.

Klinische Untersuchung. Die 36 Jahre alte G. weil~ yon einer syphilitischen Infektion nichts anzugeben.

Seit ungef~hr 3 Jahren beobachtet sie beim Gehen eine gewisse Unsicherheit, die sich in dem letzten 1/2 Jahr zusehends verschlimmerte. Seit dieser Zeit konnte sie das rechte Bein kaum mehr bewegen, wi~hrend das linke Bein noch fast frei beweglich war. Vor 1/4 Jahr ergriff auch dieses die Li~hmung. Blasen- und Mast- darmstSrungen bestanden nicht, ebensowenig Abnahme des SehvermSgens. Patientin suchte wegen f/~kulenten Erbrechens, das seit 14 Tagen bestand, die Klinik auf. In den letzten Tagen kein Stuhl- und Windabgang.

Befund: Es handelt sich um eine kleinere Frau in stark reduziertem Kr/~fte- und Ern/~hrungszustand. Hautfarbe fahl.

Kopf: Nirgends klopfempfindlich, Beweghchkeit frei. Augen: Lidspalten gleich weir, Pupillen rund, gleich weir. Pupillarreaktion

auf Nahesehen vollkommen erhalten. Auf Belichtung nur /~uBerst tr/~ge Reaktion. Kein Nystagmus. An den Hirnnerven wurde sonst kein krankhafter Befund erhoben. Die Hirnnervenaustrittsstellen waren nicht druckempfindlich. Die Zunge war wei$lich belegt, wurde aber gerade herausgestreckt. Lunge und Herz waren ohne krankhaften Befund. Leber, Milz und Nieren waren nicht ffihlbar. Die Bauchdeckenreflexe nicht

auslSsbar. Obere Extremiti~ten: Frei beweglich. Die Muskulatur der oberen Extremit/~ten

einschlieBlich des Schultergiirtels erwiesen sich als atrophisch. Deutliche Hypo- tonie, leichte l~berstreckbarkeit des Ellenbogengclenkes.

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Zur Pathogenese der Tabes dorsalis. 425

Untere Extremit~ten: Aktive Bewegungen kSnnen weder in Hiift- noch im Kniegelenk ausgefiihrt werden. Im Ful3gelenk sind nur ganz geringe Plantar- und Dorsalflexionen mSglich. Die Muskulatur beider Extremit~ten ist besonders am Oberschenkel stark atrophisch.

Nervensystem: Sensibilit~t fiir Schmerz, Temperatur und Druck ungestSrt. Tiefensensibilit~t weitgehend aufgehoben.

Patellar- und Achillessehnenreflexe erloschen, weder an den Ober- noch Unter- extremiti~ten spastische Phanomene.

Nach 3t~gigem Klinikaufenthalt Tod unter den Zeichen der Herz- und Kreis- laufschwache bei Darmstenose.

Zusammen/assung.

Bei einer 36j~hrigen Frau, die seit 3 Jahren an Ataxie, tr~ger Pu- pillarreaktion auf Lichteinfall und seit 1/2 Jahr an schlaffen L~hmungen der unteren Extremit~ten leidet, t r i t t plStzlich an einem Ileus der Tod ein.

Die SeIction ergab: Komplet ter Ileus durch Invaginat ion eines Diinndarmabschnittes mit beginnender 5rtlicher Gangr~n. Nerven- system: Ependymitis granularis am Boden des 4. Ventrikels, graue Degeneration der Hinterstr~nge im Verlaufe des Riickenmarks, eben- solche der Seitenstr~nge, cerebralw~rts zunehmend.

Da ffir unsere Fragestellung der histopathologische Prozel~ im Rficken- mark bzw. im Hinterwurzelgebiet das Wesentlichste ist, so sei auf die Beschreibung der Ver~nderungen dieser Gegenden das Hauptge- wicht gelegt.

Mikroslcopische Untersuchung: Ffir die mikroskopische Unter- suchung stand mir nur Formolmaterial yon Gehirn und Rfickenmark zur Verffigung, die Spinalganglien fehlten. Da, wie ich den Arbeiten Spielmeyers entnehmen konnte, gerade die Tatsache, da~ sich bei Frfihf~llen yon Tabes dorsalis Markscheidenabbauprodukte nur im intramedull~ren Anteil der hinteren Wurzel und im Riickenmark vor- fanden, w~hrend der extramedull~re Anteil frei von fettigen Abbau- produkten war, yon ausschlaggebender Bedeutung ffir die Pathogenese der Tabes ist, so wandte ich bei meinen Untersuchungen vor allem die Fettf~rbung mit Seharlachrot an. Eine ebensolche Bedeutung kommt aber aueh der Markscheidenf~rbung zu, denn es mu~ gegen die Ein- w~nde Richters, die zwar schon yon Spielmeyer widerlegt wurden, bewiesen werden, dal~ im extramedull~ren Anteil der hinteren Wurzel die Markscheiden vollkommen erhalten sind und der Ausfall erst im intramedull~ren Anteil einsetzt. Ich habe daher yon den einzelnen Riickenmarksegmenten der verschiedensten H5hen in Gelatine ein- gebettet und die aufeinanderfolgenden Schnitte mit Scharlachrot bzw. nach der Markscheidenmethode (Spielmeyer) gef~rbt. Natfirlich sind die sonst in der Histopathologie iiblichen F~rbungen, wie Bielschowsky und Holzer, angewandt worden. Desgleichen wurde die Zellf~rbung

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nach Nissl versucht. Von den Gefrierschnitten in Gelatine wurden such H~matoxylin-Eosinpr~parate hergestellt.

Es sei mir gestattet, mit der Wiedergabe meiner Befunde im oberen Sakralmark (S1--$3) zu beginnen, d~ in dieser Gegend der frische Fet tabbau am ausgepr~tgtesten und das Bild am klarsten ist.

Wie das Scharlachrotpr~parat (Abb. 1) zeigt, linden sich hier im zentralen Hinterwurzelgebiet, das dem Hinterhorn eng ,~nliegt, massen-

Abb. 1. Hinterhorngebict vom oberen Sakralmark mit hintcrer Wurzel. Gelatinegefrierschnitt Sctlarlachrotf~trbung. Im Hinterwurzclfeld (HF), das dem ttinterhorn (H) medial eng anliegt, massenhaft FettkSrnchenzellen. In der knopffSrmigen, intramedull~tren Vorbuckelung (KF) ver- einzelte Hhufchen yon K6rnchenzellen. In der extramcdullaren ttinterwurzel (EH) keine fcttigen

Abbaustoffe.

haft FettkSrnchenzellen. Eine Abr~umung der Zerfallprodukte nach den Gef~6en hat noch nicht stattgefunden. Kleinere H~ufchen yon KSrnchenzellen sind auch in der knopfartigen Vorbuckelung der Hinter- wurzel zu sehen. Dieses Gebiet ist noch zum intramedull~tren Anteil der hinteren Wurzel zu rechnen, wie das Vorkommen yon Gliazellen und YIyelinkugeln kundgibt (Obersteiner).

Auch die Markfasern zeigen bier noch nicht den trichterfSrmigen Bau, wie er der peripheren Nervenfaser eigen ist. Die extramedull~re Hinterwurzel ist frei von fettigen Abbauprodukten.

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Das entsprechende Markscheidenbild (Abb. 2) fiihrt uns den weit- gehenden Markscheidenausfall im zentralen Hinterwurzelfeld und in dem kuppenf6rmig vorspringenden Gebiet der Hinterwurzel, also in den intramedull~ren Anteilen vor Augen. Besonders auffallend ist auch hier wieder die scharfe Grenze zwischen Ausfall und Erhaltensein der Markscheiden an der Redlich-Obersteinerschen Stelle, das heiBt am 1Jbergang von intra- und extramedullitrem Hinterwurzelanteil.

Abb. 2. Markscheidenbild nach Spielmeyer. Entsprcchcnde Gcgend wic Abb. 1. Gelatinegcfricr- schnitt. Markscheidca in der extramedull~rea Hinterwurzel (EH) erhaIten. In tier knopff6rmigca

Vorbuckelung (KV) gelichtet. Im Hinterwurzclfcld (HF) wcitgehcnde Entmarkung.

Den intramedull~ren Lichtungsbezirken gegenfiber erweisen sich die Markscheiden der extramedull~ren Wurzel vollkommen erhalten.

Irgendwelche lokale pathologische Veri~nderungen an dieser yon Redlich-Obersteiner zuerst beschriebenen Stelle, die eine sekund~re De- generation des intramedull~ren Anteils erkl~ren kSnnten, waren an keinem der Pri~parate nachweisbar. Zentral stellt das Gebiet des Mark- scheidenausfalls die bekannte V-fSrmige Figur dar. Das ovale wie das ventrale Hinterstrangfeld ist in dieser Gegend vom ProzeB verschont. Die angeffihrten Befunde konnten wit mehr oder weniger ausgepri~gt im oberen Sakral- (S1--$3) und unteren Lumbahnark naehweisen.

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Im oberen Lumbalmark bietet sich weniger ausgepr~igt das gleiche Bild, daneben tr i t t aber in Gegend beider Pyramidenseitenstr~nge ein Entmarkungsbezirk auf, der bis an die Peripherie des Riickenmarks reicht. In diesem Gebiet sind massenhaft FettkSrnchenzellen zu sehen, die sich vor allem um die G e f ~ e gruppieren. Im mittleren Thorakal- mark erweist sich fast das ganze Riickenmark entmarkt, nur die Pyra- midenvorderstr~nge und yon diesen sich fortsetzend eine schmale Randzone zeigt noch Marksubstanz. Das entsprechende Scharlachrot-

Abb. 3. Hin te rhorngeb ie t yore un te ren H a l s m a r k m i t h in terer Wurzcl . Gelat inegefr ierschni t t . Scharlachrotfhrbung. I m Hinterwurzcl fc ld (H~'), das d e m Bin t e rho rn (H) media l eng anl icgt , zahl- rcichc Fet tkSrnchenzcl lcn, die aber n icht bis zur Redlich-Obersteinerschen Stelle (RO) vordr ingcn .

In der extramedull~tren Hin te rwurzc l (EH) keine fe t t igen Abbaustoffe .

bild ergibt keinerlei mit Scharlachrot sich f~rbende Substanzen mehr. Es handelt sich also hier um /~ltere Prozesse, wie aus dem sehon fort- geschrittenen Abtransport der Markscheidenabbauprodukte hervor- geht. Vermerkt sei ausdriicklich, da$ auch in diesen HShen die extra- medull/tren Wurzeln keine Ver/~nderungen boten. Das Bild bleibt bis in das obere Thorakalmark das gleiche. Eine Verfolgung der aufsteigen- den Degeneration in den Hinterstr/~ngen war wegen der Riickenmarks- herde, die auch auf dieses Gebiet iibergriffen, nicht durchfiihrbar.

Im unteren Halsmark treten dann im zentralen Hinterwurzelfeld wieder FettkSrnchenzellen auf. Eine Anh/s von KSrnchenzellen

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um die Gef~l~e hat noch nicht stattgefunden. Die KSrnchenzellen liegen verstreut in dem zentralen Hinterwurzelfeld, aber nicht so zahl- reich wie im Lumbalmark. Bei Untersuchung yon Reihenschnitten waren die KSrnchenzellen nie bis zur Redlich-Obersteinerschen Stelle, die ja im Halsmark an der Peripherie des Riickenmarks, zuweilen sogar im Rfickenmark licgt, anzutreffen. Im extramedull~ren Anteil der hinteren Wurzel war auf keinem der Pr~parate Fet t nachweisbar (siehe Abb. 3).

Abb. 4. Markscheidenbild nach 8pielmeyer. Gelatincgefrierschnitt. :Entsprechcndc Gegcnd wie Abb. 3. Markscheiden im extramedull~iren Anteil (EH) der hinteren Wurzel crhalten. I m zentralea

Hinterwurzclfeld (HF) Entmarkung.

Man gewinnt den Eindruck, dab der Proze6 im Hinterwurzelgebiet des Halsmarkes jiingeren Datums wie der im Lumbahnark ist.

Das entsprechende Markscheidenbild demonstriert das vollkommene Erhaltenbleiben der Markscheiden im extramedull~ren Anteil. Dagegen zieht dem Hinterhorn medial angeschmiegt ein Gebiet von Markscheiden- ausfall entlang. Sonst erweisen sich die Gollschen Strange als gr56ten- tells entmarkt. Auf einer Seite zieht vom Vorderhorn gegen die Peri- pherie ein schmaler Entmarkungsherd. Das ventrale Feld ist in diesen HShen markhaltig. Aufierdem findet sich zwischen den entmarkten Gollschen Str~ngen und der markfreien zentralen Hinterwurzelzone ein Gebiet markhaltigen Gewebes. Das Erhaltenbleiben der Markscheiden

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im extramedull/iren Anteil der Hinterwurzel gegeniiber dem Mark- seheidenausfall im zentralen Hinterwurzelfeld zeigt Abb. 4.

In der Medulla oblongata erweisen sieh die Markscheiden im Corpus restiforme einer Seite und in Gegend des Faeialiskerns gelichtet. In den Herden liegen nur um die Gefi~Be vereinzelte FettkSrnehenzellen. I m intramedull/iren Anteil des Nervus acusticus sind ebenfalls mit Seharlaehrot fgrbbare Substanzen naehweisbar, w/ihrend der extra- medull~tre Anteil frei bleibt. Leider war aber der extramedullSre Anteil nur eine kurze Streeke erhalten, so dab ieh nur Itir ktinftige Unter- suehungen auf diesen Befund hinweisen mBchte.

Pathologisehe Veritnderungen an den Zellen der Clarksehen S/iule waren in den untersuehten Priiparaten nicht nachweisbar, ebensowenig an dan motorisehen Vorderhornzellen. Auffallend ist nur ein etwas groger Gehalt an Lipoidpigment in diesen sowie in den Zellen der motorisehen Hirnnerven.

In den Ausfallsgebieten war eine stiirkere Gliafaserbildung nieht naehweisbar.

Am Boden des 4. Ventrikels fanden sieh typische Ependymgranu- lationen. Infil trate oder sonstige Beteiligung des Mesoderms waren nicht zu beobachten.

Auf die Untersuehung yon GroB- und Kleinhirn wird in diesem Zusammenhang nieht n~her eingegangen, da sic fiir (tie vorliegende Fragestellung nieht yon Bedeutung ist. Es sei nut kurz erwithnt, dab an den Optiei weder mit Seharlaehrot f~rbbare Substanzen noeh Mark- seheidenausfall naehweisbar waren.

Ein Vergleich mit dam Falle yon Spielmeyer zeigt die weitestgehende Ubereinst immung der Befunde im oberen Sakral- und unteren Lumbal- mark. I m Thorakalmark unterseheiden sieh die F~ille dutch das Auf- t reten yon Riiekenmarksherden, (lie eine Verfolgung der aufsteigenden Degeneration in meinen Pri~paraten unmBglieh machte. I m Halsmark konnten in der Wurzeleintrittszone wieder ganz frisehe Abbauprodukte naehgewiesen warden.

In dam yon Spielmeyer untersuehten Riiekenmark waren solehe nieht naehweisbar.

Die vorliegende Untersuehung liefert eine weitere Best/~tigung der Meinung Spielmeyers, dab man die tabisehe Hinters t rangerkrankung nieht ohne weiteres als sekundgre Degeneration, die dureh einen lokalen Prozeg an der hinteren Wurzel ausgelBst ist, auffassen kann. Wenn uns aueh diese Tatsaehen der LBsung des Tabesproblemes nieht n~her bringen, sondern uns nut die Kompliziertheit der Verh~ltnisse vor Augen ftihren, so zeigen sic doch wieder, wie vorsiehtig man in der Beurteilung morphologiseher Befunde sein mug. Bei i~lteren Tabesfiillen kommt as natfirlieh spgter aueh zu einem Zerfall der extramedullgren Markseheiden.

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Zur Puthogenese der Tubes dorsalis. 431

Warum gerade das Hinters t rangsys tem erkrankt , und zwar nur der intramedull/~re Anteil, ist noch unklar. Dag der E inwand Richters, dab die fet t igen Abbauproduk te im extramedull/iren Anteil der Hinter- wurzel erfahrungsgem/ig rascher weggeschafft werden im Gegensatz zum intramedull/iren und so der extramedull/tre Anteil der Hinter- wurzel im Gegensatz zum intramedull/iren frei yon Abbauproduk ten sei, hier nieht zutrifft , ha t bereits Spielmeyer dargelegt. Er betonte ausdriicklich das Erhal tenbleiben der extramedull/~ren Markfasern entgegen der En tm~rkung der intramedull/~ren. So mfissen wir uns gegenw/irtig wieder der Ansehauung friiherer Zeit ansehliel3en und die Degenerat ion der Hinterstr/ inge als eine systematisehe elektive Er- k rankung auffassen.

Literaturverzeichnis. 1 Richter, Hugo, Zur Histogenese der Tubes. Z. Neur. 67, 1 (1921). - - Be-

merkungen zur Histogenese der Tubes. Arch. f. Psychiutr. 67, 295 (1923). - - Weiterer Beitrag zur Pathogenese der Tubes. Arch. f. Psychiatr. 70, 529 (1924). - - SchaHer, Karl, Bemerkungen zur Histopathologie der Tubes. Z. Neur. 67, 222 (1921). - - 2 Spielmeyer, W., Zur Pathogenese der Tubes. Z. Neur. 84 (1923). - - Pathogenese der Tubes und Untersehiede der Degenerationsvorg~nge im peripheren und zentralen Nervensystem. Z. Neur. 911, H. 3/5 (1924).