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Zur räumlichen Einbettung sozialer Strukturen Einleitende Überlegungen zu einer Topologie sozialer Systeme Dissertation zur Erlangung eines Doktorgrades im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Justus-Liebuig-Universität Giessen Vorgelegt von Kay Junge September 1993 (Die Formatierung des pdf-Files ist nicht identisch mit der Original-Formatierung. Die Seitenzahlen sind ebenfalls nicht mehr identisch) Die Arbeit ist Online unter www.sozialarbeit.ch/topologie_systeme.pdf erhältlich

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Zur räumlichen Einbettung sozialer Strukturen Einleitende Überlegungen zu einer Topologie sozialer Systeme Dissertation zur Erlangung eines Doktorgrades im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Justus-Liebuig-Universität Giessen Vorgelegt von Kay Junge September 1993 (Die Formatierung des pdf-Files ist nicht identisch mit der Original-Formatierung. Die Seitenzahlen sind ebenfalls nicht mehr identisch) Die Arbeit ist Online unter www.sozialarbeit.ch/topologie_systeme.pdf erhältlich

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Vorwort, Überblick und Danksagung ............................... 4

I. Der planimetrische Irrtum............................................. 9 1. Gesellschaft als Nation?.............................. 9 2. Differenzierungstypen ............................... 35 3. Lose und feste Kopplung.............................. 59 4. Staaten ohne Nation? ................................ 88

II. Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen.............. 96 1. Die Unterscheidung von Auflösungs- und

Unterscheidungsvermögen............................ 97 2. Unterschiedliche Auflösungsvermögen als

constraint soziologischer Theorien ................ 105 3. Unterschiedliche Auflösungsvermögen als

constraint gesellschaftlicher Selbstbeobachtungen .............................. 120

III. Topik und Topologie............................................... 149 1. Die Inventio ....................................... 150 2. Sinndimensionen der Inventio........................ 155 3. Kovariation der Sinndimensionen..................... 159 Anhang................................................ 167

IV. Ordnung und Ortung.............................................. 175 1. Raum als Behälter .................................. 175

1.1 Globalisierung und Beschleunigung ............ 186 1.2 Strukturalistische Handlungstheorien: ........ 195 Georg Simmel ..................................... 196 Anthony Giddens .................................. 198 Talcott Parsons .................................. 206

2. Raum als Medium .................................... 214 2.1 Systemtheorien:.............................. 224 Herbert Spencer .................................. 224 Niklas Luhmann ................................... 227 Harrison C. White ................................ 240

V. Fiktive Körper ......................................................... 252 1. Der Staat als fiktiver Körper ....................... 252 2. Staat als Nationalstaat............................. 255 3. Staat als Rechtsstaat .............................. 262 4. Staat als Lärmschutz ............................... 272

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VI. Raum und Logik .................................................... 279 1. Innen und Außen .................................. 279 2. `Operation bootstrap'............................. 287

Schlußbemerkung ...................................................... 294

Literaturliste:............................................................... 296

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"Wir leben eigentlich nur

davon, daß es Hindernisse gibt."1

1 Andric, Ivo, Wesire und Konsuln, München 1993, S. 67.

Vorwort, Überblick und Danksagung Die Klassiker der Soziologie identifizierten die sie umgebende Gesellschaft fast wie selbstverständlich mit einer Nation, also als einen Gegenstand mit relativ eindeutigen territorialen Grenzen. Aber auch heute noch - knapp hundert Jahre später - scheint sich an dieser Selbstverständlichkeit auf den ersten Blick wenig geändert zu haben. Die Soziologie hat der Frage nach der räumlichen Einbettung sozialer Strukturen bis in die jüngste Gegenwart hinein nur wenig Interesse geschenkt. Man überließ sie den Stadtsoziologen und Geographen, aber ein gesellschaftstheoretisch relevantes Thema konnte hier niemand erkennen. Den utopischen Gesellschaftsentwürfen der frühen Neuzeit nicht unähnlich, schien sich auch die Soziologie ihre Gesellschaft vorzugsweise wie auf eine Insel versetzt und vom Rest der Welt isoliert vorzustellen. Die soziologische Gesellschaftstheorie konzentrierte und beschränkte sich - ganz wie die utopischen Gesellschaftsentwürfe - auf in merkwürdiger Weise ortlose Territorien. Kulturen oder Nationen wurden als selbstgenügsame, quasi unnahbare und einer endogenen Entwicklungslogik folgende Einheiten begriffen. Diese Perspektive scheint zum Ende unseres Jahrhunderts die soziale Wirklichkeit jedoch kaum mehr angemessen erfassen zu können. Termini wie Weltliteratur und Giftmüllexport, Weltwirtschaft und Welthungerhilfe, Ozonloch und Aids zeigen seit langem an, daß sie das Produkt einer zu Ende gehenden Epoche sein muß. Es kann deshalb kaum überraschen, daß Fragen nach der räumlichen Einbettung sozialer Strukturen und den räumlichen Grenzen einer Gesellschaft gegenwärtig unter Titeln wie `time-space-distanciation', `globalization' oder `new geopolitics' eine Renaissance in der Soziologie erleben. Anthony Giddens, Randall Collins, Michael Mann, Allen Pred und Charles Tilly dürfen vermutlich als die wichtigsten zeitgenössischen Autoren gelten, die sich diesen Problemen angenommen haben. Die sich hier andeutende Verschiebung des Forschungsinteresses ist zuweilen, insbesondere von Geographen, als ein "bringing sociology down to earth" umschrieben worden. Eine solche Tendenz ist natürlich zu begrüßen, wenigstens solange man sich des Risikos einer Bruchlandung bewußt ist. Dieses Risiko zu

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mindern, ist eine Absicht der vorliegenden Arbeit. Vielleicht empfiehlt es sich sogar, noch eine Weile in den vermeintlichen Höhen der Abstraktion zu verbleiben. Die Beschäftigung mit räumlichen Beziehung verdankt sich nicht zuletzt einer starken Faszination durch Landkarten. Die an Landkarten orientierte Wahrnehmung führt jedoch schnell zu einer Fehleinschätzung der Lage. Emerich Francis' Formel vom "planimetrischen Irrtum" pointiert treffend, wo das Risiko der gegenwärtig wieder attraktiv erscheinenden räumlich-territorialen Analyse sozialer Strukturen liegen könnte. Wir möchten deshalb abstrakter ansetzen. Uns interessiert zunächst weniger die Einbettung einer Gesellschaft in eine Landschaft oder in ein bestimmtes Territorium. Bevor solche Fragen soziologisch sinnvoll angegangen werden können, muß zunächst nach dem, durch die jeweiligen sozialen Strukturen selbst aufgespannten, Raum gefragt werden. Eine Art Sozialtopologie schwebt uns hier als Ziel vor. Wir wollen Raum deshalb nicht als eine Eigenschaft der natürlichen Welt oder eine Struktur unseres Wahrnehmungsvermögens voraussetzen, sondern als ein Produkt der Kommunikation selbst zu begreifen versuchen. Eine zentrale Rolle spielt dabei ein sehr allgemein und abstrakt gehaltener Medienbegriff. Soziale Beziehungen sind immer auf bestimmte Medien angewiesen. Erst über solche Medien spannt sich der Raum des Sozialen auf. Der soziale Raum ist kein einfacher Behälter, sondern ein sich immer von neuem wandelndes, fragiles und vielfach fragmentiertes, inhomogenes Geflecht. Die Frage nach der räumlichen Einbettung sozialer Strukturen zielt deshalb auf einen Doppelaspekt: Zum einen geht es natürlich, soweit dies möglich ist, um die geographische Verortung dieser Strukturen, zum anderen geht es aber auch um die Einbettung jeweils bestimmter sozialer Strukturen in umfassendere Komplexe solcher Strukturen selbst und schließlich um deren Einbettung in die Gesellschaft als Ganze. Nur im zuletzt genannten Fall wollen wir von einem sozialen Raum sprechen. Geographische Verteilungen, so wird man als Soziologe annehmen wollen, sind vorrangig sozial determiniert und nicht umgekehrt. Um räumlich-geographische Muster soziologisch sinnvoll analysieren zu können, müssen deshalb zunächst einmal die topologischen Eigenschaften sozialer Räume besser verstanden werden. Diese Arbeit sammelt einige Vorüberlegungen zu einer zukünftigen Sozialtopologie. Von Niklas Luhmann stammt ein Verdikt, das als Provokation verstanden, den eigentlichen Anlaß unserer Arbeit hätte bilden können. Es lautet: "Soziale Systeme existieren nicht im Raum." Diese These läßt sich phänomenologisch relativ gut veranschaulichen. Sie scheint uns aber nur dann Sinn zu machen, wenn man unterstellt, der Raum sei ein Behälter. Angeregt durch die phänomenologische Kritik dieses vielleicht klassischen Raumbegriffs, haben wir uns auf die Suche nach einer soziologisch brauchbaren Alternative zum Behälterparadigma begeben.

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Das erste Kapitel fragt nach den nur historisch zu erklärenden begrifflich-theoretischen Voraussetzungen, die es auch heute noch als fast selbstverständlich erscheinen lassen, wenn die Grenzen einer Gesellschaft mit territorialen Grenzen gleichgesetzt werden. Wir versuchen zu zeigen, daß dies zwar im Fall von vormodernen, segmentär oder hierarchisch differenzierten Gesellschaften noch relativ problemlos gelingen kann, aber im Fall der modernen Gesellschaft zu einer unzulässigen Identifikation von Nation und Gesellschaft führt. Spätestens mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung läuft der Versuch, die Grenzen und Strukturen der Gesellschaft territorial eindeutig zu fixieren, auf einen planimetrischen Irrtum hinaus. Auf die Frage, wie man aber statt dessen das unübersichtlich heterogene globale Beziehungsgeflecht von funktional, hierarchisch und segmentär differenzierten Systemeinheiten der modernen Gesellschaft begreifen soll, findet sich in der gegenwärtigen theoretischen Diskussion kaum eine überzeugende Antwort. Was sich mit relativ bescheidenen Theoriemitteln jedoch bereits zeigen läßt, stärkt die Vermutung, daß das Modell funktionaler Differenzierung kaum als evolutionär robust eingestuft werden kann. Im letzten Abschnitt des Kapitels wird gefragt, inwiefern die theoretisch problematische Identifikation von Gesellschaft und Nation eine historisch ungewöhnliche Publikumsbeteiligung am gesellschaftlichen Geschehen voraussetzt und was es damit auf sich hat. Das zweite Kapitel behandelt das Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen von Beobachtern. Wenn soziale Systeme nur aufgrund eines bestimmten Selbstbildes, einer bestimmten Interpretation ihrer eigenen Geschichte, kurz: aufgrund von Selbstbeobachtung möglich sind, stellt sich die Frage nach dem Auflösungsvermögen solcher Beobachtung. Wir fragen zunächst nach dem Auflösungsvermögen der Soziologie selbst, um in Erfahrung zu bringen, warum deren Sensorium sich insbesondere für das Phänomen Kultur zu eignen scheint, während andere Bereiche des sozialen Geschehens vergleichsweise schlecht ausgeleuchtet und erfaßt werden. In einem zweiten Schritt konzentrieren wir uns dann auf die nicht auf Soziologie angewiesene Selbstbeobachtung unterschiedlicher Gesellschaften. Es soll dabei gezeigt werden, inwiefern sowohl die territoriale Ausdehnung als auch der jeweilige Zeithorizont oder das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft von den jeweils sozial verfügbaren Kommunikations-, Transport-, Speicher- und Wahrnehmungsmedien abhängt. Der Differenzierung von Kommunikation und Wahrnehmung kommt hier ein entscheidener Stellenwert zu. Die Gesellschaft als Ganze entzieht sich im Verlauf der Medienevolution zunehmend der individuellen Wahrnehmung und die über spezifische Medien laufende Kommunikation verhält sich tendenziell subversiv gegenüber einfachen territorialen Aus- und Eingrenzungsversuchen.

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Im dritten Kapitel weichen wir ein wenig vom allgemeinen Kurs der Arbeit ab und widmen uns unter dem Titel `Topik und Topologie' einem weitverbreiteten Theoriebauverfahren der Soziologie. Hier geht es ausschließlich um abstrakte Räume ohne direkten geographischen Bezug. Es geht um zwei aufeinander aufbauende, aber in ihrer Struktur vom Fach kaum reflektierte Versuche, ein räumliches Modell des Sozialen zu konzipieren. Der erste Versuch einer solchen Konzeption entstammt der Rhetorik: es handelt sich um die Technik der Inventio. Der zweite Versuch ist in mehr oder weniger enger, zumeist aber wohl nur in metaphorischer Anlehnung an eine Darstellungstechnik der modernen Physik formuliert: Es handelt sich um das Konzept des Phasenraums. Dem Kapitel folgt eine Art dokumentarischer Anhang, der die starke Verbreitung des im Text diskutierten Theoriebauverfahrens belegen soll. Das vierte Kapitel bildet den theoretischen Kern der vorliegenden Arbeit. Hier geht es um das Verhältnis von Ordnung und Ortung und dessen Reflexion in verschiedenen soziologischen Theorien. Es werden zwei paradigmatische Raumbegriffe voneinander unterschieden. Der erste orientiert sich am Paradigma `Behälter', der zweite am Paradigma `Medium'. Der erste wird normalerweise als a priori gegeben behauptet. Er meint einen homogen, isotropen und metrischen Raum. Beim zweiten Paradigma ist der Raum immer nur der Raum eines bestimmten Systems. Er bildet dessen Medium und ist gewöhnlich inhomogen, anisotrop und diskontinuierlich. Das Behälterparadigma bildet einen Spezialfall des Medienparadigmas. Medien können einen Raum im Sinne des Behälterparadigmas Raum kompakt füllen, sie müssen dies aber nicht. Aus diesem Grunde erlauben Medien die Etablierung komplexer, nicht unmittelbar miteinander interferierender Kommunikationsbeziehungen, die den Grund für die modernitätstypische Unübersichtlichkeit bilden. In den letzten beiden Kapiteln widmen wir uns zwei Subsystemen der modernen Gesellschaft und den von ihnen jeweils strukturierten Räumen. Kapitel V handelt vom modernen Staat. Der moderne Territorialstaat wird mit gutem Grund häufig als ein "fiktiver Körper" thematisiert. Mit Hilfe des Mediums Macht läßt sich, wie diese Formel nahelegt, ein Raum auf vergleichsweise kompakte Weise füllen. Hier erfährt man warum. Das letzte Kapitel fragt nach der Lokalisierbarkeit von kontextsensitiven Gegenständen und einigen damit verbundenen logischen Problemen. Als Beispiel haben wir uns für das Medium Geld entschieden. Mit der Figur der "self- fullfilling prophecy" ist schon häufig auf einige Merkwürdigkeiten dieses Mediums hingewiesen worden. Diese Argumentation konzentriert sich aber gewöhnlich auf die Zeitdimension. Tragfähig wird sie aber erst, wenn die Akteure auch räumlich voneinander separiert sind und einander nicht kontrollieren können. Die vorliegende Arbeit summiert eine Reihe von Überlegungen, die im

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Spannungsfeld einer längeren Beschäftigung mit dem Thema Nationalismus auf der einen Seite und den von George Spencer Brown aufgeschriebenen "Gesetzen der Form" auf der anderen Seite aufgetaucht sind, aber nicht so recht zusammenpassen wollten. Es soll nicht geleugnet werden, daß die Faszination, die diese Beschäftigung bis heute motiviert, sich einem wunderlichen Unverständnis verdankt. Wir liefern ein Zwischenergebnis. Eine vielversprechende Herausforderung für die weitere Arbeit scheinen uns Simulationsspiele in künstlichen und deshalb leicht zu manipulierenden Medien zu bilden. Zellulare Automaten - es handelt sich dabei gewissermaßen um computerisierte Brettspiele - können als solche Medien begriffen werden. Solche Automaten bieten ein ideales neues Experimentierfeld, um die Entstehung räumlicher Muster besser verstehen zu lernen, haben aber in der Soziologie bisher nur wenig Anklang gefunden. 2 Auf Fertigstellung dieser Arbeit drängten insbesondere, aber niemals wirklich unangenehm, Bernd Giesen und Jacob Heinemann. Regelmäßigen, über mehrere Jahre hinweg geführten Diskussionen mit meinem Doktorvater Bernd Giesen ist es zu danken, daß es sich bei diesem Text doch in weiten Zügen um eine soziologische Arbeit handelt und nicht nur um fixe Ideen oder kybernetisch inspirierte Esoterik. Für bis heute nicht beruhigte Irritationen sorgten vor allem einige frühe Literaturhinweise von Rolf Pixley. Lydia Karschies half mir bei der Korrektur. Auch ihnen beiden sei hier deshalb gedankt. Eine klarere Gliederung und weniger Arroganz bei den Formulierungen wünschte sich - vielleicht nach wie vor mit gutem Grund - Doris Heinemann. Zu stärkerer Linientreue und strengerer Theoriemonogamie mahnte mich Peter Fuchs. Größere Sorgfalt war, so schien es mir, das Anliegen von Wolfgang Schneider. Ich konnte nicht allen immer gerecht werden, trotzdem sei ihnen allen hier herzlich gedankt.

2 Vgl. aber Casti, John L., Alternate Realities. Mathematical Models of Nature and Man, New York 1989, S. 45ff.

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I. Der planimetrische Irrtum "Where does a system stop?"3

"Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts nimmt die räumliche

Integration eine verwirrende Gestalt an."4

"Das Problem, die Grenzen des Systems der Gesellschaft

anzugeben, seien es territoriale Grenzen, Grenzen

personeller Zugehörigkeit, Grenzen der interagierenden

Kultur oder was immer als Kriterium angeboten worden

ist, ist bis heute nicht befriedigend gelöst worden."5

"Bei alledem schwebt nun die `Gesellschaft' als vages

Konstrukt über und zwischen den realen Erscheinungen."6

"The prime example of obscurity is, of course, Talcott Parsons."7

1. Gesellschaft als Nation? Die Alltagssprache stellt uns eine Vielzahl von Begriffen zur Bezeichnung sozialer Institutionen zur Verfügung, die in ganz typischer Weise immer einen doppelten Bezug haben. Begriffe wie Schule, Gericht, Büro, Arbeit, Zuhause, Vaterland usw. bezeichnen immer zugleich zweierlei. Sie stehen jeweils nicht nur für eine bestimmte soziale Institution, sondern bezeichnen gleichzeitig auch den Ort dieser Institution. Jemand ist zu Hause, in der

3 Burt, Ronald, "Applied Network Analysis: An Overview", Sociological Methods and Research, 7 (1978), S. 123-130, zit. nach Rogers, Everett M. / D. Lawrence Kincaid, Communication Networks, New York 1981, S. 104.

4 Leroi-Gourhan, Andre, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M. 1980, S. 422.

5 Luhmann, Niklas, Moderne Systemtheorie...; zustimmend zitiert bei Jürgen Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: Habermas, Jürgen / Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 1971, S. 150.

6 Tenbruck, Friedrich H., Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen, Graz 1984, S. 201.

7 Andreski, Stanislav, Social Sciences as Socery, London 1972, S. 60.

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Kneipe, in der Schule, im Büro, auf dem Friedhof, im Freibad, auf der Arbeit, im Krankenhaus etc. Die in diesen Institutionen verkörperte soziale Ordnung meint immer zugleich auch eine bestimmte räumliche Ortung. 8 Versucht man sich eine der genannten Einrichtungen zu veranschaulichen, so drängt sich unserem Vorstellungsvermögen fast unweigerlich ein bestimmtes Gebäude (z. B. ein Gerichtsportal) oder ein spezifischer räumlicher Komplex (z. B. ein Wohnzimmer) auf. Die räumliche Verortung gibt dem Geschehen einen Rahmen, erlaubt es, einen Kontext zu identifizieren, ermöglicht Orientierung, erleichtert die Definition der Situation und stiftet dadurch Sinn. 9 Zweifellos aber gehen soziale Systeme nicht in ihrer räumlichen Verortung auf. Wenigstens hat es fatale Folgen, wenn man die räumliche Verortung sozialer Systeme im Sinne einer logischen Ausschließlichkeit zu verstehen sucht, als handele es sich um Dinge wie Bauklötze, die einen bestimmten Platz okkupieren und es dadurch unmöglich machen, daß etwas anderes an der selben Stelle stehen kann. Soziale Systeme scheinen sich teilweise in einer merkwürdigen Weise durchdringen zu können. Natürlich kann in einem Supermarkt eine Liebesaffäre beginnen, findet auch in der Industrie wissenschaftliche Forschung statt, kann man auch an der Theke ein religiöses Gespräch führen oder in einem Museum Geschäfte machen. Andererseits kann man aber auch mit ziemlicher Sicherheit unterstellen, daß in vielen sozialen Institutionen ein bestimmtes Verhalten "fehl am Platz" ist, denn sie sind "nicht der Ort dafür". 10 Die Korrelation von räumlichen und sozialen Strukturen ist zwar kaum zu

8 Michel Foucault spricht in diesem Zusammenhang von "Heterotopien". Vgl. ders., Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. von Karlheinz Barck et al., Leipzig 1990, S. 34-46, S. 39ff. Foucault führt den Begriff der Heterotopie in Unterscheidung zu dem der Utopie ein. Dieses Problem interessiert uns hier jedoch nicht weiter und wir werden dieser Wortwahl deshalb nicht folgen, kommen aber auf die Frage nach dem Verhältnis von Ordnung und Ortung im Kapitel IV ausführlich zurück.

9 Zu Rahmen und Situation vgl. Goffman, Erving, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, New York 1974; McHugh, Peter, Defining the Situation. The Organization of Meaning in Social Interaction, Indianapolis 1968.

10 Selbst bestimmte Versuche aus dem Rahmen zu fallen müssen sich deshalb wiederum rahmen und verorten lassen wollen, wenn sie auf Anschluß Wert legen. Dazu gibt es bekanntlich bestimmte soziale Sonderveranstaltungen, die wie der Karneval primär zeitlich, oder wie die Kunst primär räumlich begrenzt sind. Ein bestimmtes Verhalten wird als Theater identifizierbar, weil es auf einer Bühne stattfindet, ein Bild hebt sich von der Wand durch einen Rahmen ab, ein Gedicht braucht das ansonsten leere Blatt usw. "Es ist der leere Rahmen, der uns zum Sehen zwingt." Frisch, Max, Tagebuch 1946-1949, Frankfurt/M. 1985, S. 65. Aber der Gedanke läßt sich auch abstrakter plausibilisieren: George Spencer Brown abstrahiert sogar bis ins Ununterscheidbare und postuliert einen empty space als Grund aller Markierungen. Ders., Laws of Form, New York 1979. Ein Rahmen oder space muß implizit immer vorausgesetzt werden, ohne selbst je greifbar zu sein, denn er verwandelt sich, sobald man dies versucht. Die Welt schließlich, als der Horizont aller Horizonte, aber entzieht sich in der Welt eo ipso schon der Unterscheidbarkeit und der Mystiker ist deshalb zum Schweigen verurteilt. Aber auch dies hat natürlich seinen sozialen, sogar die Klosterarchitektur formenden Rahmen. Die Kunst beginnt mit dieser alltagsnotwendigen, Ordnung und Ortung verknüpfenden Unterscheidungstechnik zu spielen, wenn sie sich darauf kapriziert, aus dem Rahmen zu fallen. Das ist zuweilen

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bestreiten, aber sie ist nur punktuell gegeben und scheint dabei einer eigenen Logik zu gehorchen. 11 Auch das Wort Gesellschaft wird gewöhnlich immer im Sinne eines bestimmten geographisch umgrenzten Machtbereichs gebraucht, deckt darüber hinaus aber noch eine Reihe weiterer Bedeutungsgehalte ab. Das Wort meint gewöhnlich z. B. immer auch eine bestimmte Kultur. Das führt insbesondere in Zeiten politischer Umwälzung zu einer typischen Vagheit bei der Bestimmung dessen, was dieser Begriff denn meint. Macht es z. B. heute (1992) noch Sinn, von Jugoslawien als einer Gesellschaft zu sprechen? Oder: wann genau hörte die Sowjetunion auf, eine Gesellschaft zu sein? Gibt es eine ost- und eine westdeutsche Gesellschaft? Selbst innerhalb der Soziologie hat der Terminus kaum den Status eines genau definierten theoretischen Begriffs, obwohl sich das Fach doch nach außen als Wissenschaft von der Gesellschaft darstellt. Wir möchten im folgenden kurz, anhand einiger Belege und knapper Verweise Revue passieren lassen, warum und in welcher Weise sich dieser Begriff einer scharf gefaßten Definition immer wieder entzog und entzieht, um zum Ende dieses Abschnitts zwei deutlicher theoretisch akzentuierte, alternative und unter modernen Lebensverhältnissen einander zunehmend ausschließende Begriffsdefinitionen vorzustellen. Im zweiten Abschnitt möchten wir das Problem einer kartographischen Projektion unterschiedlicher Differenzierungsformen behandeln, um sichtbar zu machen, inwiefern sich die Identifikation von moderner Gesellschaft und Nationalstaat einem planimetrischen Irrtum verdankt. Der dritte Abschnitt über lose und feste Kopplung fragt nach den verschiedenen Möglichkeiten, die Interdependenzen zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Subsystemen begreifbar zu machen, um darüber zu definieren, was eine Gesellschaft zusammen - oder

ein riskantes, aber gerade deshalb ja schließlich auch reizvolles, also modernes Unternehmen. Der Gewinn der Überraschung ist aber immer nur kurz. Das Publikum lernt mit. Mit Verweis auf den Traditionalismus des Publikums kann Arnold Gehlen deshalb schreiben: "Die Übergänge vom Bild zum Nichtbild hielten sich letzten Endes doch innerhalb des Rahmens." Aber schon in der nächsten Zeile meldet er den Verfall: "Das hat sich nunmehr geändert." Ders., Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt/M. 1986, S. 219. Auch Max Frisch zeigt sich diesbezüglich besorgt: "der Dichter, der die Rampe niederreißt, gibt sich selbst auf." Ders., a.a.O., S. 69. Von Spencer Brown inspiriert, könnte man aber sagen: solange noch so beobachtet werden kann, wird sich die Kunst nicht in Nichts auflösen, nicht spurlos im empty space verschwinden; solange noch so beobachtet werden kann, bleibt sie verortbar.

11 Darüber hinaus wandelt sich das Verhältnis von Ordnung und Ortung natürlich auch noch in Abhängigkeit von der Zeit. Bestimmte offizielle oder informelle Öffnungszeiten regeln beispielweise, was als akzeptables Verhalten gilt. Nachts treibt man sich nicht auf dem Friedhof herum, während der Öffnungszeiten darf auch das Bibliothekspersonal nicht laut lachen etc. Eine ähnliche, vielleicht sogar schärfere Verhaltenskontrolle fordert das direkte Beobachtetwerden durch andere, in der konkreten Situation jeweils anwesende Personen. Während einer Rede darf man nur mit einer von Peinlichkeit gezeichneten Miene den Saal verlassen, einem small talk mit zufällig getroffenen alten Bekannten kann man nur unter Vorspielung größter Eiligkeit aus dem Weg gehen etc. Wir werden die zeitliche Variabilität von Orts- bzw. Situationsdefinitionen im Folgenden jedoch weitestgehend außer Acht lassen.

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besser: in Bewegung hält. Der vierte und letzte Abschnitt dieses Kapitels fragt, wie aus der Bevölkerung einer bestimmten, staatlich mehr oder weniger umfriedeten Region so etwas wie eine Nation oder ein Volk werden kann; es soll gezeigt werden, was es heißt, wenn dies gelingt, um auf die Schwierigkeit einer globalen Generalisierung dieser Art von nation-building aufmerksam zu machen. Die Soziologie folgt dem öffentlichen Wortgebrauch und setzt, wenn auch zumeist nur implizit, die Termini Gesellschaft und Nation oder Nationalstaat gleich. Der Soziologie gilt ein bestimmter Typ sozialer Systeme als Gesellschaft, nämlich segmentär von anderen ähnlichen Systemen differenzierte und kulturell legitimierte politische Systeme, kurz: Nationen. Auch empirisch wird Gesellschaft vorrangig in Form einer nationalen Besonderung Gegenstand der Forschung, ohne daß diese Option immer sichtbar gemacht wird. Nation und Gesellschaft scheinen auch für die Soziologie zumeist als Synonyme verwendbar. Soziologen verstehen oder gebärden sich zuweilen - soweit sie sich einem emphatischen Aufklärungsideal verpflichtet fühlen - als "Nationaltherapeuten", oder müssen sich dies wenigstens zuweilen vorhalten lassen. 12 Aber auch wenn sie sich nicht von oben herab ihrem Gegenstand nähern, sondern pragmatisch und allgemeinverständlich Gesellschaft zunächst einmal als "eine ärgerliche Tatsache" zu definieren suchen, so gewinnt auch hier dieses Ärgernis doch immer erst Kontur, wo es um ein bestimmtes Land geht.13 Als Kollektiv-Singular bezieht sich der Begriff auf eine Vielzahl von räumlich spezifizierbaren einzelnen Gesellschaften: die amerikanische Gesellschaft, die indische Gesellschaft, die deutsche etc. Einher damit werden aber auch ganz unterschiedliche Gesellschaftstypen, wie Horden, Stämme, Reiche, Kastensysteme, Adelsgesellschaften, Klassengesellschaften etc. unter dem Begriff subsumiert.14 Soweit aber heute von einer bestimmten Gesellschaft die Rede ist, ist üblicherweise ein moderner Nationalstaat gemeint, ein genau umrissener Ausschnitt auf der Landkarte. Die Soziologie gibt dem Terminus Gesellschaft gegenüber dem der Nation, des Staates oder des Nationalstaates den eindeutigen Vorzug. Er ist abstrakter oder doch zumindest unverdächtig und erlaubt es, die Ideenwelt der politischen Philosophie zwischen Hobbes und Rousseau, die sich in der Hauptsache auf Politik konzentrierte, durch eine stärker

12 Lübbe, Hermann, "Verdrängung - oder die Heilmethoden kritischer Nationaltherapeuten", in: ders., Zwischen Trend und Tradition. Überfordert uns die Gegenwart?, Zürich 1981, S. 22-37.

13 Insbesondere die Arbeiten von Ralf Dahrendorf dürfen hier als beispielhaft gelten: Ders., Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965; ders., On Britain, London 1982.

14 Vgl. z. B. Aberle, D. F. / A. K. Cohen / A. K. Davis / M. J. Levy / F. X. Sutton, "The Functional Prerequisites of Society", in: N. J. Demerath III und Richard A. Peterson (Hrsg.), System, Change, and Conflict, New York 1967, S. 317-331, S. 318: "...a society, such as a nation, tribe, or band...".

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auf den Bereich der Wirtschaft ausgerichtete Kapitalismus-Analyse und -Kritik, wie sie zwischen Smith und Marx ausformuliert wurde, zu ergänzen. Erst während des 19. Jahrhunderts gewinnt eine Begrifflichkeit mit globaler Referenz langsam an Attraktivität: für Marx ist es der Weltmarkt, für Comte die Menschheit. Solche Konzeptionen konnten den Gesellschaftsbegriff jedoch nicht ersetzen, sondern führten allenfalls zu Irritationen. Die erst in den letzten Jahrzehnten entwickelte Theorie einer modernen, funktional differenzierten Weltgesellschaft akzentuiert diesen schon im 19. Jahrhundert virulent gewordenen Traditionsbruch und versucht gleichzeitig das Erbe der klassischen Gesellschaftheorien anzutreten. Für sie ist die moderne Gesellschaft Weltgesellschaft und das heißt: es gibt sie nur einmal. Diese Fassung des Gesellschaftsbegriffs scheint aber dem Fach gegenwärtig noch als zu abstrakt und farblos; sie ist nur im Hinblick auf einige Sonderprobleme attraktiv. Ohne selbst für den Begriff der Weltgesellschaft zu optieren, kann Friedrich Tenbruck deshalb mit gutem Recht - und leicht erzürnt - schreiben: "Praktisch jedoch wird fast immer die Bevölkerung eines Staates besinnungslos als eine Gesellschaft angesprochen". 15 Die Gleichsetzung von Gesellschaft und Nationalstaat fungiert zumeist nur implizit, d.h. ohne daß sich das Fach genau Rechenschaft darüber gibt. Das hat historische Gründe: Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde Gesellschaft immer als ein politisch verfaßter Herrschaftsverband im Sinne der Aristotelischen polis begriffen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird der Gesellschaftsbegriff dann von Hegel im Anschluß an die schottischen Moralphilosophen und Ökonomen als Gegenbegriff zu dem des Staates entwickelt. Für den Liberalismus und den Sozialismus, den beiden großen Ideologien des 19. Jahrhunderts, wird dieser auf das wirtschaftliche Leben ausgerichtete Gesellschaftsbegriff vorherrschend. Gesellschaft wird jetzt nicht mehr als polis oder Leviathan begriffen, sondern erscheint als das "System der Bedürfnisse" - sei es als Kapitalismus oder als arbeitsteilige Industriegesellschaft. Mit dieser Verschiebung des Focus wird aber schließlich die Ausrichtung des Gesellschaftsbegriffs am Gegenbegriff des Staates konturlos und der Gesellschaftbegriff nur mehr rein utilitaristisch ge faßt. Die erst zum Ende des 19. Jahrhunderts entstehende Soziologie ist dann bestrebt, sich dem ideologisch festgefahrenen Streit zwischen den beiden Fortschrittsphilosophien Liberalismus und Sozialismus zu entziehen, indem sie den Bezugsrahmen des Utilitarismus verläßt. Als Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung kann weder das Konzept des Leviathan noch das der invisible hand mehr überzeugen. Die Soziologie stellt deshalb auf Kultur um. Diese erneute Umstellung erlaubt es, auch die Negativseite der zuvor als

15 Tenbruck, Friederich H., Die Unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz 1984, S. 202.

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Fortschritt gefeierten wachsenden Differenzierung zu thematisieren. Eine gemeinsame Kultur ist das, was eine Gesellschaft ausmacht. Sie perpetuiert sich über Sozialisation und Institutionalisierung und folgt einem eigenen Trägheitsprinzip. Mit diesen Konzepten war es der Soziologie möglich, sich dem utilitaristischen Dilemma zu entwinden, nun konnte Gesellschaft als eine Realität sui generis begriffen werden, eine Realität jenseits individueller Zugriffsmöglichkeiten, als überindividueller Zwang, als nicht-vertragliche Grundlage individueller Nutzenkalküle. `Gesellschaft' wird zur Kompaktformel für das, was psychologisch oder ökonomisch nicht mehr plausibel erklärt werden konnte. Der Gesellschaftsbegriff konvergiert um die Jahrhundertwende tendenziell mit dem Begriff der Kultur.16 Die Soziologie wird Kulturwissenschaft, behält aber gleichzeitig den sozialstrukturellen Unterbau im Blick. Der Eindruck einer Verschiebung des Bedeutungsgehalts von Gesellschaft in den Bereich der Kultur - im Sinne eines gemeinsamen, symbolisch vermittelten Verständnishorizontes - wird schließlich bestätigt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es in den 20er und 30er Jahren nicht die geringste Schwierigkeit macht, im Kulturbegriff der britischen Sozialanthropologie wieder `die Gesellschaft' zu erkennen. Dieser über gemeinsame kulturelle Sinngehalte und Wertvorstellungen definierte Gesellschaftsbegriff gelangt schließlich in der amerikanischen Soziologie zur Vorherrschaft und bestimmt seitdem das Begriffsprofil des Fachs weltweit. Im Konzept der Nation werden soziale Differenzierung und kulturelle Integration der modernen Gesellschaft zusammengedacht.17

16 Dies scheint auch dort der Fall zu sein, wo Gesellschaft primär als politischer Herrschaftsverband begriffen wird, also insbesondere bei Max Weber. Die Konvergenz der herrschaftssoziologischen und der normativ-kulturellen Begriffsbestimmung von Gesellschaft ist kein Zufall, sondern verdankt sich der Annahme, daß Herrschaft immer auf Legitimation angewiesen sei und Herrschaft und Kultur deshalb räumlich korrelieren müßten. Die Geltungsgründe sozial akzeptabler Gewaltsamkeit, wie sie insbesondere Max Weber untersucht und typisiert hat, bilden in dieser Sichtweise das kulturelle Fundament jeder Herrschaftsordnung. Gerade der Terminus Nation steht hier für die erstrebte oder schon realisierte, alle Klassen und Schichten übergreifende Koinzidenz von Herrschafts- und Kulturgebiet. Es darf aber bezweifelt werden, ob die von nationalen Bewegungen geforderte Deckungsgleichheit von Herrschaftsbereich und Kulturgebiet ein historisch universelles Motiv ist, mit dem Herrschaft unter Legitimationsdruck gesetzt werden kann. Insbesondere Hochkulturen waren bekanntlich nicht auf eine einheitliche Kultur angewiesen. Vgl. dazu Friedrich H. Tenbruck, Geschichte und Gesellschaft, Berlin 1986, S. 297ff. Auch die moderne Weltgesellschaft scheint mit einer Vielzahl heterogener und territorial segmentierter Kulturmuster kompatibel, obwohl darin unter bestimmten Umständen auch ein großes Konfliktpotential gesehen werden kann.

17 Aus dieser Perspektive scheint es zweckmäßig - so Bernhard Peters - "das `social system' mit der klassischen Vorstellung der modernen `Gesellschaft' als einer nationalstaatlich organisierten sozialen Entität zu identifizieren." Ders., Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. 1993, S. 162. (Die Anführungszeichen im Zitat machen vielleicht schon die Verunsicherung des Fachs gegenüber der eigenen Begrifflichkeit sichtbar; es ist nicht mehr ganz deutlich, ob Begriffe wie Gesellschaft, Volk, Kultur oder Nation die soziale Wirklichkeit begreifen helfen oder ihr selber nur entnommen sind. Aber diese Alternative ist irreführend und vermutlich geht beides. Die eigenen Begriffe tauchen als Zitate im Gegenstandsbereich wieder auf und die Arbeit am Begriff wird tendenziell reduziert auf eine Kombinatorik der Zitate.)

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Die Soziologie folgt mit dieser Option zur Umgrenzung des für sie interessanten Gegenstandsbereich eng dem Selbstverständnis der jeweils betroffenen Individuen. Gesellschaft, Kultur, Volk und Nation können fast synomym verwendet werden. 18 Die Soziologie sitzt tendenziell - so könnte man überspitzt formulieren - dem Wir-Gefühl ihres Objektbereichs auf. Insbesondere die sozialanthropologisch inspirierte Forschung über Nationalcharaktere, die mit dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und bis in die 60er Jahre hinein florierte,19 macht deutlich, daß es dem Fach kaum gelang, auf Distanz zur Selbstinterpretation seines Gegenstandes zu gehen. Heute wirken diese Forschungen anachronistisch, das Thema Nationalcharakter ist passé.20 Lediglich die populäre Japanologie scheint nach wie vor en vogue. Der Kultur im Sinne von Nationalkultur gilt zwar nach wie vor das Hauptinteresse der geisteswissenschaftlich ausgerichteten Soziologie, parallel dazu hat aber auch das Interesse an einer - häufig quantitativ und modelltheoretisch ausgerichteten - Analyse von Sozialstruktur und Institutionenbildung zugenommen. Globale Interdependenzen und Gemeinsamkeiten quer zu allen zumeist relativ kleinräumig organisierten Wir-Gruppen gelangen so zwangsläufig in den Blick. Gesellschaft und Kultur sind nicht notwendig deckungsgleich. Radcliff-Brown hat deshalb schon für die Sozialanthropologie betont, daß sich Gesellschaft nicht auf Kultur reduzieren läßt, sondern primär als Sozialstruktur, als "a complex network of social relations" begriffen werden müsse.21 In bezug auf den räumlichen Aspekt sozialer Strukturen merkt Radcliffe-Brown an: "It is rarely that we find a community that is absolutely isolated, having no outside contact. At the present moment of history, the network of social relations spreads over the whole world, without any absolute solution of continuity anywhere. This gives rise to a difficulty which I do not think that sociologists have really faced, the difficulty of defining what is meant by the term `society'."22 Schon die

18 Zu `Volk' vgl. z. B. Karl W. Deutsch: "Ein Volk ist demnach eine Gemeinschaft miteinander geteilter Meinungen, oder noch allgemeiner, eine Gruppe von Menschen, die ineinander verkettete Kommunikationsmethoden besitzen." Ders., Der Nationalismus und seine Alternativen, München 1972, S. 19 oder Edward E. Evans-Pritchard: "By `people' we mean all persons who speak the same language and have, in other respects, the same culture, and consider themselves to be distinct from like aggregates. (...) When a people is ... politically centralized, we may speak of a `nation'." Ders., The Nuer, New York 1969, S.5.

19 Vgl. z. B. Mead, Margaret, National Character and the Science of Anthropology, in: Seymour Martin Lipset et al. (Hrsg.), Culture and Social Character, New York 1961, S. 15-26.

20 Vgl. aber als eine vorsichtige Gegenstimme: Dahrendorf, Ralf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, (23. Abschnitt).

21 Radcliffe-Brown, A. R., On Social Structure, in: ders., Structure and Function in Primitive Society, London 1952, S. 188-204, S. 190.

22 a.a.O., S. 193. Das Argument trifft natürlich auch die Anthropologie selber, wenn sie kulturelle Einheiten über räumliche Nähe einzugrenzen sucht. "What anthropologists call a culture area is often nothing more than the spatial adjacency of the traits and complexes of the area in question", schreibt Pitrim Sorokin und vergleicht die Logik dieser Vorgehensweise mit dem Versuch, einen inneren Zusammenhang zwischen den zufällig auf

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räumlich eingrenzende Identifikation primitiver Gesellschaften war problematisch, da Außenkontakte - und sei es die Ankunft des Anthropologen - zwangsläufig das soziale Netzwerk weiterknüpfen und dadurch auch das jeweilige kulturelle Selbstverständnis, wenn auch vielleicht nur marginal, modifizieren. 23 Ohne Zweifel ist das Unterscheidungsvermögen des Terminus Kultur nicht sehr scharf, er umfaßt alle symbolisch konstituierten Sinnbestände, von der Sprache über Rituale zu religiösen Deutungssystemen oder auch anders ausgerichteten Weltbildern; ebenso unbefriedigend aber scheint auch der Versuch, eine Gesellschaft durch ein oder mehrere soziale Netzwerke zu bestimmen, denn je nachdem, welche Arten von Beziehungen man dabei mit in Rechnung stellt, gelangt man zu beliebig großen oder kleinen Einheiten.24 Postuliert man jedoch bestimmte Schwellenwerte - sei es im Sinne übergreifender kultureller Gemeinsamkeiten oder im Hinblick auf kommunikative Verdichtungen bestimmter Art, dann lassen sich beide Kriterien erfolgreich nutzen und können einander ergänzen. Erst bei einem bestimmten Grad großräumiger kommunikativer Verdichtung scheint kulturelle Homogenität unabdingbar und umgekehrt. Intensität der Kommunikation und Homogenität kultureller Symbolsysteme korrelieren positiv.25 Ernest Gellner hat in diesem Zusammenhang auf einen entscheidenden Unterschied zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften im Hinblick auf die Beziehung von Sozialstruktur und Kultur hingewiesen. "There is a kind of inverse relationship between the importance of structure and culture. In a highly structured society, culture is not indispensible. Where relationships are fairly well-known (because the community is small, and because the types of relationships are small in number), shared culture is not a precondition of effective communication."26 Die sich durch ständige

einem Müllplatz hinterlassenen Dingen feststellen zu wollen, nur weil sie nahe beieinander liegen. Ders., Causal-Functional and Logico-Meaningful Integration, in: Demerath III, N. J. und Richard A. Peterson (Hrsg.), System, Change, and Conflict, New York 1967, S. 99-113, S. 100.

23 Vgl. Moerman, Michael, Accomplishing Ethnicity, in: Turner, R. (Hrsg.), Ethnomethodology, Harmondsworth 1974, S. 54-68. Sharrock, Wes, On Owning Knowledge. In: Turner, Roy, a.a.O. 1974, S. 45-53.

24 Vgl. dazu: Knoke, David / James H. Kuklinski, Network Analysis, Beverly Hills 1982, S. 22ff. (Boundary Specification).

25 Wir schließen hier der Tendenz nach an Emile Durkheims These eines Zusammenhangs zwischen einem hohen Grad der Arbeitsteilung und organischer Solidarität an. Die von Durkheim selbst gelieferte Version dieser These läßt sich bekanntlich nicht ohne weiteres halten. Eine in unserem Zusammenhang aufschlußreiche und anschlußfähige Reformulierung und Spezifizierung der Durkheimschen Perspektive hat Peter M. Blau unternommen. Vgl. ders., Inequality and Heterogenity - A Primitive Theory of Social Structure, New York 1977, S. 160ff.

26 Gellner, Ernest, Nationalism, in: ders., Thought and Change, London 1964, S. 147-178, S. 154.

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Wiederholung stabilisierenden sozialen Beziehungen orientieren sich an situativen Vorgaben und sind nicht auf explizite kulturelle Gemeinsamkeiten angewiesen. 27 Eine gemeinsame, homogene und standardisierte Kultur wird erst in der modernen Gesellschaft zwingend. "A very large proportion of one's relationships and encounters - in fact, they are more frequently encounters rather than relationships - are ephemeral, non-repetive, and optional. This has an important consequence: communication, the symbols, language (in the literal or in the extended sense) that is employed, become crucial. The burden of comprehension is shifted from the context, to the communication itself: when interlocutors and contexts are all unfamiliar, the message itself must become intelligible - it is no longer understood, as was the case in traditional societies, before it was even articulated - and those who communicate must speak the same language, in some sense or other." Kultur verkörpert sich in der Art und Weise, in der man kommuniziert, und kann in der modernen Gesellschaft einen ganz anderen Stellenwert für sich reklamieren. Soziale Inklusion hängt heute in entscheidender Weise von kultureller Kompetenz ab, und deren Standards sind auf nationalstaatlicher Ebene mehr oder weniger homogen. Der Einzelne ist gewissermaßen direkt Mitglied einer politischen-kulturellen Gemeinschaft, ohne in andere Systeme, sei es eine Familie, ein Dorf, einen Stamm etc. eingebunden sein zu müssen. Eine feste sozialstrukturelle Einbindung ist nicht Voraussetzung für nationale Staatsbürgerschaft. Aber auch eher lose kommunikative Beziehungen brechen nicht an der Staatsgrenze ab, obwohl die Inklusionsvoraussetzungen zumeist in einem nationalstaatlich verfaßten Erziehungssystem erworben werden. Die moderne Gesellschaft wird nicht mehr primär durch "strong ties", sondern durch "weak ties", durch jene sozialen Beziehungen, die über den engen Kreis der Freunde, Verwandten und direkten Arbeitskollegen hinausgehen, integriert.28 Die mit Notwendigkeit in Abhängigkeit von der Bevölkerungszahl wachsende Relevanz von weak ties läßt sich auch rein analytisch begründen, wenn man davon ausgeht, daß die Zahl der strong ties jeder einzelnen Person eine bestimmte Mindestgröße hat, aber aus Gründen der Zeit und der Aufmerksamkeit auch eine bestimmte maximale Größe nicht überschreiten kann, und die Zahl der Gesellschaftsmitglieder im Ganzen weit über dieser Zahl liegt. In einer solchen Gesellschaft können nicht mehr alle mit allen in gleicher Weise bekannt sein, da die Anzahl

27 Levi-Strauss berichtet sogar von einem brasilianischen Indianerstamm, der aus der Fusion zweier kleinerer Stämme entstanden war, ohne daß für deren wechselseitige Kooperation eine gemeinsame Sprache nötig schien. Vgl. Gellner, Ernest, a.a.O., 1964, S. 154.

28 So im Anschluß an die mittlerweile klassische Arbeit von Mark Granovetter, "The strength of weak ties", American Journal of Sociology 78 (1973), S. 1360-1380: Peter M. Blau, Inequality and Heterogenity - A Primitive Theory of Social Structure, New York 1977, S. 85.

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der möglichen Beziehungen exponentiell mit der Bevölkerung wächst.29 Clusterbildung ist eine mögliche Folge und diese Cluster oder Segmente sind dann nur noch locker miteinander verknüpft. Diese Cluster können dann für unterschiedliche Wir-Gruppen, unterschiedliche Kulturmuster oder unterschiedliche Habitusformen stehen. Eine hierarchische Verknüpfung wäre eine andere mögliche Beziehungsstruktur. Im Extremfall einer strikt hierarchischen Struktur (ein Baum im graphentheoretischen Sinn) ließen sich die einzelnen Positionen dieser Struktur nur noch mit Hilfe der Unterscheidung von Oben und Unten angeben, ohne jede Art von Verdichtungen als Voraussetzung für die Bildung von Wir-Gruppen. In beiden Fällen aber sind weak ties das einheitsstiftende Band, aber diese weak ties müssen nicht mehr unbedingt eine gemeinsame Wir-Gruppe oder Kultur definieren. Auch anhand von Bronislaw Malinowskis Arbeit über den Kula-Ring läßt sich zeigen, daß ein über das Selbstverständnis einer bestimmten Bevölkerung definierter Begriff von Gesellschaft nicht zur Deckung zu bringen ist mit all dem, was den Anthropologen, Ethnographen oder Soziologen interessiert. "The Kula is a form of exchange, of extensive, inter-tribal character". 30 Aber dieses komplizierte, periodische Geschenke-Tauschsystem, über das elf, auf unterschiedliche Inseln südlich von Papua Neu-Guinea verteilte Stammesgesellschaften miteinander verbunden sind, ist, wie Malinowski betont, den Betroffenen selbst in seiner globalen Funktionsweise gar nicht gegenwärtig. "They have no knowledge of the total outline of any of their social structure. They know their own motives, know the purpose of individual actions and the rules which apply to them, but how, out of these, the whole collective institution shapes, this is beyond their mental range. Not even the most intelligent native has any clear idea of the Kula as a big, organised social construction (...). Not even a partial coherent account could be obtained. For the integral picture does not exist in his mind; he is in it; and cannot see the whole from the outside."31 Das Selbstverständnis der einzelnen im Kula-Ring miteinander verbundenen Gemeinschaften, die Malinowski als "slightly but definitely differing in culture"32 charakterisiert, deckt sich, trotz des großen Interesses der Eingeborenen für die einzelnen mit diesem Ring institutionalisierten Sitten, nicht mit der durch den Ring etablierten Sozialstruktur.33 Für

29 Vgl. Hallpike, Christopher Robert, The Principles of Social Evolution, Oxford: Clarendon Press 1986, S. 237-252 (social size).

30 Malinowski, Bronislaw, Argonauts of the Western Pacific, Illinois 1984, S. 81.

31 Malinowski, Bronislaw, a.a.O., S. 83.

32 Ders., a.a.O., S. 515.

33 Aus diesem Grund läßt sich der Kula-Ring auch hervorragend als ein Beispiel für eine spieltheoretische Erklärung der Evolution von Kooperation nutzen. Vgl. dazu: Ziegler, Rolf, The Kula: Social Order, Barter, and

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Malinowski ist der Kula-Ring als eine primitive Form des "culture contact" und er nennt ihn eine "international affair". 34 Aufgrund einer ganzen Re ihe ähnlich strukturierter Fälle hat insbesondere Robert Redfield den, mindestens während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts dominanten Gesellschaftsbegriff der (britischen) Sozialanthropologie kritisiert und die Notwendigkeit betont, den "ways in which societies and cultures are not isolated and are not autonomous" stärkeres Interesse zu schenken. 35 Frederik Barth plädiert mit Verweis auf Strukturen wie den Kula-Ring dafür, den Gesellschaftsbegriff nicht zu einem "keystone of our conceptualization of all things social" zu machen. "Society is not the largest-scale system."36 Die Frage ist nur, wie nennt man das largest-scale system dann? Die Frage ist für die Soziologie um so drängender, als sie sich in ihrer Gegenwartsanalyse ja nicht auf relativ isolierte Stammesgesellschaften bezieht, sondern zunehmend mit einer globalen sozialen Dynamik konfrontiert sieht, durch die der klassische Forschungsgegenstand der Anthropologie zum Untergang verurteilt scheint. Aber so wie Malinowski es vorzog, die Trobriander als Gesellschaft zu behandeln, zieht es die Soziologie heute noch vor, die Engländer, Franzosen, Brasilianer als Gesellschaften zu behandeln. Was über diese Größenordnung hinausgeht oder deren relative kulturelle Homogenität unterbietet, entzieht sich diesem Gesellschaftsbegriff.37 Beide Termini - Gesellschaft und Nation - zielen in gewisser Weise auf das Substrat des Sozialen und scheinen sich gerade in ihrer Funktion als Grundbegriff einer klaren

Ceremonial Exchange, in: Michael Hechter et al. (Hrsg.), Social Institutions: their emergence, maintenance and effects, New York 1990, S. 141-168. Inwiefern der Faktor Kultur dabei ausgeschaltet werden kann, hängt aber wohl nicht zuletzt von der eigentlich nur konzeptionell und dann auch empirisch zu beantwortenden Frage ab, was Kultur ist und wieviel kulturelle Gemeinsamkeiten die einzelnen, im Kula -Ring verbundenen Gemeinschaften verbinden. Ziegler betont, diese Stämme seien "culturally, and especially linguistically heterogenous" (S. 142), während Malinowski das Gebiet, in dem der Kula-Tausch stattfindet, als kulturell "fairly homogeneous" (S.29) beschreibt.

34 Malinowski, Bronislaw, a.a.O., S. 515, S. 33.

35 Redfield, Robert, Societies and Cultures as Natural Systems, in: ders., Human Nature and the Study of Society, (hrsg. von Margaret Park Redfield), Chicago 1962, S. 121-141, S.131.

36 Barth, Frederik, Conclusions, in: ders., (Hrsg.), Scale and Social Organization, Oslo 1978, S. 253-273, S. 257f.

37 Auch der Begriff `Zivilisation' verspricht hier keine Abhilfe. Die primär über Städtebau und Schriftkultur definierten Zivilisationen umfassen zwar üblicherweise mehrere Gesellschaften, aber der Begriff der Zivilisation kann selber nicht den der Gesellschaft ersetzen und empfiehlt sich nicht um das `largest-scale system', nach dem Frederik Barth fragt, zu bezeichnen. Er empfiehlt sich insbesondere deshalb nicht, weil der Gegenbegriff zu `Zivilisation' `Barbarei' ist. Aber auch die Barbaren leben - an der Peripherie der Zivilisation - natürlich in Gesellschaft. Um die Unterscheidung von Zivilisation und Barbarei machen zu können, muß der Kontakt bereits hergestellt sein und das `largest-scale system' ist damit automatisch schon wieder größer als das mit dem label `Zivilisation' markierte Gebiet.

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theoretischen Bestimmung zu entziehen. Komparativ - im historischen und geographischen Vergleich - gewinnen die Begriffe Kontur, ohne daß das tertium comparationis dabei genau angegeben werden kann. Eine Gesellschaft wird primär durch das charakterisiert, was sie von anderen Gesellschaften unterscheidet. Jenseits dieser räumlich und zeitlich lokalisierten Unterschiede - als Individuum oder abstraktes Substrat - ist eine Gesellschaft konturlos.38 In Adam Fergusons einflußreichem "Essay on the History of Civil Society" von 1767 wird dies z.B. ganz deutlich: Nationen sind das Substrat der Geschichte, die als Progreß von rude zu polished nations präsentiert wird. Auch Adam Smith begreift seine Untersuchungseinheiten als Nationen, was schon im Titel seines Hauptwerkes sichtbar ist: "An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations". Daß sich Nationen nicht nur aufgrund von naturalen Gegebenheiten klimatischer, geographischer und - modern gesprochen - biologisch-genetischer Art herausbilden, sondern sich in weit größerem Maße einer durch Religion und Recht bestimmten Vergangenheit und einem durch Krieg und Handel bestimmten Umfeld verdanken, ist dem 18. Jahrhundert, also z. B. Autoren wie Ferguson oder Montesquieu, selbstverständlich. Die Nation ist in diesem Sinne von der Aufklärung nie als eine in sich geschlossene Einheit oder Monade begriffen worden. Was sie zu einer Einheit macht, ist jeweils die besondere politische Verfassung und nicht unbedingt getrennt davon ihr jeweiliges Selbstverständnis, ihr National-Geist. Diese Selbstbeschreibung und ihr dadurch mitgeformter oder überhaupt auch erst sichtbar gemachter Gegenstand ist immer auch anders möglich, ist geschichtlich kontingent und durch Zufälle, Gelegenheiten und Unverfügbares geprägt. Er läßt sich deshalb auch nur durch eine Geschichte erfassen und macht das so Beschriebene dadurch zu einem durch diese Geschichte verstrickten Individuum. So wundert es denn auch nicht, daß eine soziologisch reflektierte Gesellschaftsgeschichte auch heute noch als Geschichte einer zumeist nationalstaatlich definierten Region geschrieben werden kann. Der nur geschichtlich zu begreifende National-Geist - heute würden wir von Mentalität, Habitus oder Kultur sprechen - und damit die Eigenart einer Nation, verdankt sich - und auch das läßt sich bei Ferguson, Smith oder auch Herder nachlesen - der Täuschung und Selbsttäuschung, dem Vorurteil und der Selbstüberschätzung. Die menschliche Natur - so

38 Parsons war vermutlich der wichtigste Theoretiker unseres Jahrhunderts, der sich - jenseits komparativer Analysen - für einen allgemeinen, analytisch ausgerichteten Gesellschaftsbegriff stark gemacht hat, um damit - gewissermaßen direkt - auf das Substrat des Sozialen zu zielen. Dieser Abstraktionsschritt - der natürlich alle strukturalistischen und systemtheoretischen Unternehmen charakterisiert - muß sich jedoch unweigerlich mit folgender, häufig variierter Kritik arrangieren: "The trouble with Parsons is, and it is a pervasive trouble with much of modern thinking, he is so intent on bringing out the general characteristics of societies that whenever he portrays any individual society we are left merely with general features that are applicable as well to any number of other societies. We of course know that a woman we love is a female and shares many characteristics in common with other females; however, it is not females we love but this sepcific woman." Bershady, Harald J., Ideology and Social Knowledge, Oxford 1973, S. 13f.

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Herder - "muß alles lernen, durch Fortgänge gebildet werden, im allmählichen Kampf immer weiter schreiten; natürlich wird sie also von den Seiten am meisten und allein gebildet, wo sie dergleichen Anlässe zur Tugend, zum Kampf, zum Fortgange hat - in gewissem Betracht ist also jede menschliche Vollkommenheit national, säkular und, am genauesten betrachtet, individuell. Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlaß gibt: vom übrigen abgekehrt: die Neigungen oder Fähigkeiten, im Herzen schlummernd, können nimmer Fertigkeiten werden; die Nation kann also bei Tugenden der erhabensten Gattung von einer Seite, von einer anderen Mängel haben, Ausnahmen machen, Widersprüche und Ungewißheiten zeigen, die in Erstaunen setzen". 39 Trotz mannigfaltiger Anlagen werden nur bestimmte ausgeprägt, die anderen verkümmern. Diese Beschränkung scheint Herder unumgänglich. Das konkrete Umfeld, der Kreis um uns mäßigt den menschlichen Blick, "daß nach einer kleinen Zeit der Gewohnheit ihm dieser Kreis Horizont wurde - nicht drüber zu blicken: kaum drüber zu ahnden!" So entsteht Vorurteil und eingeschränkter "Nationalism". Aber: "Das Vorurteil ist gut zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkt zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, begünstigter und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken. Die unwissendste, vorurteilendste Nation ist in solchem Betracht oft die erste: das Zeitalter fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahndung des Todes!"40 Abgesehen von dem Umstand, daß heutzutage eine solch offene Empfehlung der Beschränktheit nicht mehr recht überzeugen will, finden sich hier doch entscheidende, heute als neu angebotene Konzeptionen von Nation und Nationalismus, wenn nicht vorweggenommen, so doch wenigstens angedeutete: Nationen sind imaginierte Konstrukte. Unter den großen Theorien des 20. Jahrhunderts haben lediglich der Marxismus und die Luhmannsche Systemtheorie den Versuch unternommen, die heutige Gesellschaft als Weltgesellschaft zu begreifen. Aus marxistischer Sicht, d.h. wenn man von einer Dominanz ökonomischer Beziehungen ausgeht, ergibt sich ein globaler Zusammenhang allen sozialen Geschehens über das Wirken des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt. Weltgesellschaft reduziert sich hier auf Weltwirtschaft. In der Systemtheorie hingegen wird der Gesellschaftsbegriff auf das sehr abstrakte Kriterium kommunikativer Erreichbarkeit reduziert und Weltgesellschaft erscheint somit als ein wie auch immer differenziertes Kommunikationsnetz. Soweit sich die Soziologie noch am alteuropäischen

39 Herder, Johann Gottfried, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, in: ders., Von deutscher Art und Kunst und andere Schriften (nach dem Wortlaut des 1. und 2. Bandes der von Karl-Gustav Gerold herausgegebenen Ausgabe, Werke in zwei Bänden 1953) Berlin o.J., S. 177-267, S. 201.

40 Herder, a.a.O., S. 204f.

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Gesellschaftsbegriff orientiert und Gesellschaft als polis zu begreifen sucht, ist ihr dieser Abstraktionsschritt verbaut. Weltgesellschaft erscheint in dieser Tradition als unzulässig abstrakte Reduktion; es mag soziale Zusammenhänge von globalem Ausmaß geben, aber dafür die Bezeichnung Gesellschaft zu wählen, erscheint als unangemessen. 41 Das hat mehrere Gründe; wenigstens zwei davon seien hier genannt. Legt man den Begriff der polis oder der societas civilis zugrunde, so ist zwar eine Weltgesellschaft denkbar, aber sie läßt sich empirisch bis heute nicht finden. Die heutigen Gesellschaften lassen sich so gesehen nicht auf eine einzige Weltgesellschaft reduzieren, Politik und Polizei - sowohl im modernen Sinne, wie auch in dem ganz anderen des 18.Jahrhunderts - haben nur territorial beschränkte Verfügungsgewalt. Es gibt keine einheitliche Politik mit globalen Zugriffsmöglichkeiten. Und es gibt als Pendant dazu natürlich auch kein rechtlich definiertes Weltbürgertum. Politik fungiert bis heute auf der Ebene von Nationalstaaten. Der Nationalstaat definiert Rechte und Pflichten seiner Bürger. Moderne politische Gemeinschaften begreifen und legitimieren sich als Nation. Solche Legitimation sieht sich heute unweigerlich einem Ideologieverdacht ausgesetzt. Nationale Mythen lassen sich leicht als Verschönungen, Erfindungen oder Verfälschungen entlarven. Solche Mythen berufen sich auf ein einheitliches Substrat, auf `das Volk', aber dies ist in der dabei unterstellten Homogenität nie gegeben, sondern vor allem ein ideeles Konstrukt, ein Produkt der Semantik, die Projektion eines kulturellen Codes. Dennoch läßt sich kaum bestreiten, daß im Prozeß der Nationenbildung selbst Schicksalsgemeinschaften geformt wurden und werden, die sich durch relativ ähnliche Habitus-Formen oder Persönlichkeitsstile auszeichnen. Bestimmte geschichtliche Erfahrungen produzieren bestimmte Nationalcharaktere. Solche Prägeprozesse sind äußerst heterogen und müssen deshalb keinesfalls immer zu einem homogenen Staatsvolk führen. Triviale Erfahrungen, wie die gemeinsame Lektüre der nationalen Presse sind hier ebenso bedeutend wie die tragische Erfahrung gemeinsamer Kriege und Niederlagen. Eine gemeinsame Rechtstradition kann ebenso einschneidende Wirkungen hinterlassen wie die wirtschaftliche Entwicklung und Mobilität. Schließlich ist auch die religiöse Tradition trotz wachsender Säkularisierung in Rechnung zu stellen. Der vielleicht wichtigste Homogenisierungsschub geht aber erst im 19. Jahrhundert vom staatlichen Erziehungswesen aus. Der Terminus Nationalcharakter steht für im Medium Mensch geronnene Geschichte, und eine Nation läßt sich deshalb nicht auf eine bloß imaginäre Gemeinschaft reduzieren. Eine gewisse Homogenität der Habitus- und Persönlichkeitsformen in der Bevölkerung und

41 Leon Mayhew beispielsweise spricht in seinem Artikel "society" (Encyclopedia of Socia l Sciences, Bd. 14, New York 1968, S. 577-586, S. 585) deshalb von einem "emergent global level of social reality", und begreift diese Ebene aber ausdrücklich nicht mehr als Gesellschaft. Ähnlich optiert auch Frederik Barth, a.a.O., S. 257. Weitere Belege finden sich bei Luhmann, Niklas, Weltgesellschaft, Soziologische Aufklärung Bd. 2, Opladen 1975, S. 51-71. S. 66f.

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damit parallel mehr oder weniger einheitliche Kultur- und Wertmuster sind Voraussetzung und Folge des modernen Nationalstaates als Erben der polis. Eben vor diesem Hintergrund entwickelt auch Parsons seinen Begriff von Gesellschaft. "The core structure of a society I will call the societal community. More specifically, at different levels of evolution, it is called tribe , or "the people", or, for classical Grece, polis, or, for the modern world, nation. It is the collective structure in which members are united or, in some sense, associated. Its most important property is the kind and level of solidarity - in Durkheim's sense - which characterizes the relations between its members."42 Was für Ferguson und Smith galt, scheint auch noch für Parsons eine wenigstens für die Moderne geltende Selbstverständlichkeit. Wenn auch das Wort Nation bei ihm nur sehr selten zu finden ist, da er dieses Substratbegriffs nicht mehr bedarf, spricht er doch immer von Gesellschaften im Plural und begreift moderne, komplexe Gesellschaften als nation-states. Das Substrat oder der Gegenstand der Soziologie wird bei ihm als Handlungssystem definiert, aber die Anwendung dieses abstrakt und universell konzipierten Analyserasters auf die ihm gegenwärtige soziale Welt, zwingt ihn wiederum, Nation als Gesellschaft zu identifizieren: deshalb der Plural im Titel der hier entscheidenden Bücher: "Societies" und "The System of Modern Societies". Moderne Gesellschaften sind Nationen: mit jeweils eigenen Werten, eigener Sprache und Kultur, eigenen rechtlichen und politischen Institutionen und einer eigenen Wirtschaft. Die als Gesellschaft identifizierte Sozialstruktur korreliert mit bestimmten räumlichen Beziehungen und bleibt als Ganzes in territorial verortbare Grenzen eingeschlossen. Dieser Einschluß ist nie vollständig, aber da Parsons Kultur als die entscheidende Kontrollinstanz begreift, vermag diese Grenzbestimmung auch noch angesichts von Weltwirtschaft und Weltkrieg überzeugen, während auf der Ebene der Kultur und der institutionalisierten Wertvorstellungen das Präfix "Welt" noch keine einschneidende Wirkung für sich reklamieren kann: Die für die Moderne noch relevanten Weltreligionen haben die säkulare Gesellschaft akzeptiert; Weltliteratur ist bislang kein Thema für Gesellschaftheorie; und eine Weltöffentlichkeit im Sinne einer normativen Kontrollinstanz scheint eher utopische Hoffnung als soziale Realität. Kurz: Im Rahmen einer auf normative Kontrolle abstellenden Gesellschaftstheorie macht es durchaus Sinn, moderne Gesellschaften im Plural zu gebrauchen und als Nationen zu identifizieren. Was für Malinowski der Kula-Ring, sind für die gegenwärtige Soziologie die weltweit relativ einheitlich operierenden Funktionssysteme der modernen Gesellschaft. Auch hier ist, was im Objektbereich von niemandem bestritten wird, auf seiten der Theorie begrifflich nur unzureichend gedeckt. Aber die Eingrenzung und Bestimmung dessen, was Gesellschaft

42 Talcott Parsons, Social Systems, in: Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 177-203, S. 182.

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meint, ist nicht nur eine Frage der Größenordnung. Malinowski widmet sich im Falle des Kula-Rings ja gerade einem sozialen System, das über das Einzugsgebiet einer einzelnen über Kultur definierten Gesellschaft hinausgeht. Ebensowenig kann man der zeitgenössischen Soziologie eine thematische Beschränkung auf den Nationalstaat vorwerfen, auch hier werden durchaus geographisch ausgedehntere, größere Einheiten mehr und mehr in Rechnung gestellt. Eine Kritik am dominanten Gesellschaftsbegriff kann sich deshalb nicht sinnvoll allein auf das Problem der territorialen Ausdehnung beschränken, sondern muß sichtbar machen können, wie ein Gesellschaftsbegriff gebaut ist, der einen territorialen Bezugsrahmen im Sinne nationaler oder kultureller Grenzen zwingend macht, um dann von da aus, wenn möglich, eine Alternative zu formulieren. Die Eingrenzung auf das Territorium einer bestimmten Kultur verdankt sich einer einfachen und heutigen Verhältnissen nicht mehr angemessenen hierarchischen Konzeptualisierung dessen, was sozial für relevant gehalten wird. Eine Inklusionshierarchie von konzentrisch umeinandergezeichneten Kreisen ist das Paradigma, nach dem Soziologen und Anthropologen die relevanten von den weniger relevanten, marginalen sozialen Beziehungen unterschieden haben. Dieses Paradigma findet sich exemplarisch bei Georg Simmel. Es entspricht einem ego- bzw. ethnozentrischen Gesellschaftsbild.43 Die soziale Relevanz korreliert dabei immer negativ mit der räumlichen Ausdehnung. Die enge Korrelation mit räumlichen Distanzen hat zur Folge, daß sich die Relevanzbereiche transitiv, mit dem Individuum bzw. dem Stamm im gemeinsamen Zentrum der Relevanz-Kreise bzw. an der Spitze der Relevanz-Hierarchie ordnen lassen. Für die Moderne könnte das z. B. heißen: zuerst die Familie, dann die peer group, dann die Gemeinde, dann die Nation, dann die Menschheit. Diese Betrachtungsweise suggeriert eine Inklusionshierarchie, die in der modernen Gesellschaft in dieser Eindeutigkeit aber sicherlich nicht mehr garantiert ist. Das Modell konzentrischer Kreise läßt sich natürlich verkomplizieren, indem man z. B. Segmente zuläßt. Aber solange es im Sinne einer hierarchischen Baumstruktur konzipiert wird, zwingt es zur Partitionierung: ein Element gehört entweder zu diesem Segment oder zu jenem, aber nicht zu beiden, und in bezug auf eine höhere Ebene läßt es sich nicht gleichzeitig zwei sich exklusiv zueinander verhaltenden Segmenten zuordnen. Auf diese Weise werden Klassifikationen im Sinne Linnes angefertigt und auf die gleiche Weise bestimmen schließlich auch die Mitglieder segmentär differenzierter Gesellschaften ihre Identität. "A man is a member of a political group of any kind in virtue of his non-membership of other groups of the same kind."44 Exklusivität ergibt sich durch die

43 Vgl. dazu die Karten in Tuan, Yi-Fu, Space and Place, The Perspective of Experience, Minneapolis 1977, S. 48f und Evans-Pritchard, E. E., The Nuer, New York 1969, S. 114.

44 Evans-Pritchard, E. E., a.a.O., S. 136. Vgl. zu diesem Modell der an Ebenen gebundenen Gegenidentitäten

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Unterscheidung von Segmenten der gleichen Ebene (Familien werden anderen Familien gegenübergestellt, Dörfer anderen Dörfern, Stämme anderen Stämmen) - jede Ebene wird im Sinne einer Äquivalenz-Relation untergliedert. Inklusivität wird durch Bezug auf die jeweils höhere Ebene bestimmt. Spätestens seit der Jahrhundertwende ist deutlich, daß der spezifische Sinngehalt des Gesellschaftsbegriffs, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Gegenbegriff zu `Staat' Kontur gewann, fast völlig verlorengegangen ist.45 Er scheint durch Kultur ersetzbar, aber auch andere Termini sind schnell parat. Max Weber verzichtet denn auch bewußt auf den Begriff der `Gesellschaft'.46 Insbesondere im Anschluß an Durkheim aber wird der Soziologie die Bezeichnung ihres Gegenstandes als Gesellschaft zu einer "leeren Selbstverständlichkeit". 47 Gegen die Generalisierung des Begriffs wäre dann nichts einzuwenden, wenn sie durch eine entsprechende Abstrahierung bedingt wäre. Dem ist jedoch nicht so, im Gegenteil: "Tatsächlich wurde im Begriff `Gesellschaft' eine Zeitlage festgeschrieben, nämlich das Selbstverständnis der auf ihre kulturelle Eigenart und staatliche Selbständigkeit bedachten Nationen des 19. Jahrhunderts, für die das Selbstbestimmungsrecht der Völker - also die Identität von Volk, Kultur, Nation und Staat - evidente Lehre der Geschichte war."48 "The idea of society finally appeared as a combination of the national state and capitalism. Thus the idea of society, like the earlier idea of the state, is an effort to link what the process of modernization tends to separate: economic activity, political and military power, and cultural values."49 Für das Europa des 19. Jahrhunderts war das, was wir heute mit Gesellschaft meinen, nämlich die umfassendste, selbständige soziale Einheit, identisch mit einer Nation. "By its actual growth, and by the states of mind which it has encouraged or even created, the nation

auch Sahlins, Peter, Boundaries. The Making of France and Spain in the Pyrenees, Berkeley 1989, S. 112.

45 Für die Soziologie werden mit der Identifikation von Gesellschaft und Kultur die Begriffe Wirtschaft und Staat in ganz ähnlicher Weise zu ahistorischen Begriffen, die man der Ökonomie bzw. der Politologie meinte überlassen zu können. Gegen die ahistorische Verallgemeinerung des Staatsbegriffs hat sich insbesondere und vergeblich Carl Schmitt gewandt. Ders., Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, S. 375-385.

46 So Tenbruck, Friedrich H., Die Unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz 1984, S. 203. Vgl. aber noch einmal Fußnote Nr. 12 dieses Kapitels.

47 Tenbruck, Friedrich H., Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie, in: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, Opladen, 1989, S. 187-214, S. 190.

48 Tenbruck, Friedrich H., a.a.O., Opladen, 1989, S. 187-214, S. 206.

49 Touraine, Alain, Two Interpretations of Contemporary Social Change, in: Haferkamp, Hans / Neil J.Smelser (Hrsg.), Social Change and Modernity, Berkeley 1992, S. 55-77, S. 58.

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has given rise to, and kept in being, the illusion that the various human and economic spaces are superimposable."50 Das Konzept der Nation steht dabei noch deutlich im Banne des alteuropäischen Gesellschaftsbegriffs: Eine Gesellschaft besteht aus Menschen. Dies zwingt die Zeitgenossen dazu, ihre Gesellschaft immer nur als eine unter vielen zu begreifen. Eine Nation konstituiert sich durch Abgrenzung von anderen Nationen. Im Europa des 19. Jahrhunderts gerieten die Nationen in den Fokus der verschiedenen Geisteswissenschaften und gewannen nicht zuletzt im Spiegel dieser universitären Disziplinen ein Bild von sich. Die Nation wurde zum Gegenstand der Nationalökonomie, der nationalen Geschichtsschreibung, der Literaturwissenschaft und schließlich auch der gerade im Entstehen begriffenen Soziologie. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde das Ideal der Nation und der nationalen Selbstbestimmung zu einer Selbstvertändlichkeit. Nach der Jahrhundertwende wurde dieses Ideal sogar auf internationaler Ebene institutionalisiert, nämlich im Völkerbund oder der kommunistischen Internationale. Sowohl für Wilson als auch für Lenin bildete die nationale Selbstbestimmung die entscheidende Legitimationsgrundlage moderner Gesellschaften. Für Max Weber war der Nationalstaat "letzter Wertmaßstab" seines Denkens und Tuns: "Nicht Frieden und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art."51 Trotz des deutlichen Pathos und der wissenschaftlich nicht zu deckenden Wertung folgt Webers Urteil doch dem, was man einen historischen Sachzwang nennen könnte. Die deutsche Einigung begreift er als eine historische Hypothek. Nur insoweit man sie als "Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik" begreift, scheint sie Weber sinnvoll.52 Eine solche Stellungnahme mag heute vielleicht befremdlich wirken, aber angesichts der internationalen Lage war zur Zeit als Weber seine akademische Antrittsrede hielt, der dieses Zitate entnommen sind, kaum ersichtlich, welche anderen Optionen denn realistischerweise offenstanden. 53 Aber auch für den Franzosen Emile Durkheim war der nationale Standpunkt eine Selbstverständlichkeit. Dies erlaubte es ihm, Begriffe wie Volk, Nation, Staat, Vaterland

50 Perroux, F., "Economic Space: Theory and Application", Quarterly Journal of Economics, LXIV, No. 1 (1950), S. 89-104, S. 99f. (Betonung im Orig.).

51 Weber, Max, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1958, S. 1-25, S. 14.

52 Ders., Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, a.a.O., S. 23.

53 Vgl. Conze, Werner, Das Kaiserreich von 1871 als gegenwärtige Vergangenheit im Generationswandel der deutschen Geschichtsschreibung, in: ders., Gesellschaft - Staat - Nation, Gesammelte Aufsätze, Stuttgart 1992, S. 44-65. Für die Zeit direkt vor dem Ersten Weltkrieg und die Formel "Weltmacht oder Niedergang" vgl. auch ders., Die deutsche Nation. Ergebnis der Geschichte, Göttingen 1963, S. 97f.

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und Gesellschaft praktisch als Synonyme zu benutzen. 54 Aber auch bei Durkheim ist die Identifikation von Nation und Gesellschaft primär aufgrund der historischen Gegebenheiten zwingend. Er hält es durchaus für möglich, daß z. B. die europäischen Gesellschaften ein gemeinsames Bewußtsein entwickeln könnten und in diesem Prozeß dann zu einer einzigen Gesellschaft verschmelzen. Aber er weigert sich - seiner theoretischen Prämisse folgend, daß jede Gesellschaft immer auch eine moralische Gemeinschaft sein muß - bloß aufgrund einfacher gegenseitiger Beziehungen z. B. wirtschaftlicher Art zwischen verschiedenen Nationen von einer diese Einheiten umfassenden Gesellschaft zu sprechen, solange sie sich in anderen Hinsichten noch als Feinde betrachten. Über Solidarität und Moral wird definiert, was eine Gesellschaft ist, nicht über Kommunikation und soziale Beziehungen im Allgemeinen. 55 Der Soziologe definiert hier als Moralist seinen Gegenstand.56 Während Weber sich gewissermaßen erst in der Stunde der Verzweiflung offen auf die Nation als letzten Wertmaßstab beruft, ist Durkheim dazu gezwungen die Gesellschaft schon im Selbstlauf der eigenen Theoriearbeit als Nation zu begreifen.

54 Vgl. Durkheim, Emile, Erziehung, Moral und Gesellschaft, Neuwied 1973, (5. Vorlesung) S. 115-128 (Orig. 1903). Vgl. ferner zu Durkheim: Mitchell, M. Marion, "Emile Durkheim and the Philosophy of Nationalism", Political Science Quarterly 46 (1931), S. 87-106; und allgemein: Joas, Hans, Die Klassiker der Soziologie und der Erste Weltkrieg, in: ders. und Helmut Steiner (Hrsg.), Machtpolitischer Realismus und pazifistische Utopie, Frankfurt/M. 1989, S. 179-210.

55 Vgl. Durkheim, Emile, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt/M. 1988, S. 340ff. Das dritte Buch "Die Anormalen Formen" (S. 419ff.) konzentriert sich schließlich auf eine Reihe von Differenzierungtypen, die Durkheim als pathologische und parasitäre Formen behandelt, da sie keinen funktionalen bezug zur Gesellschaft im Ganzen haben. Das entscheidende Problem scheint uns hier aber zu sein, wie man die Grenzen dieses Ganzen bestimmt. Durkheims Option für die Nation wirkt hier fast wie eine Verlegenheitslösung, da diese natürlich, wie Durkheim selbst zeigt, wiederum als Bestandteil eines größeren Ganzen begriffen werden kann. Das "Dilemma einer Moraltheorie nach dem Muster Durkheims" scheint uns deshalb nicht primär, wie Reimer Gronemeyer und Götz Eisenberg annehmen, darin zu bestehen, von der Faktizität einer Moral auf deren Funktionalität schließen zu müssen, denn, um diesen Kurzschluß zu vermeiden, schreibt Durkheim das dritte Buch der Arbeitsteilung. Vgl. dies., Jugend und Gewalt. Der neue Generationenkonflikt oder Der Zerfall der zivilen Gesellschaft, Reinbek 1993, S. 22f. Das Dilemma besteht vielmehr darin, daß keine überzeugende und nicht wiederum auf Moral rekurierende theoretisch Definition der Einheit gegeben werden kann, im Hinblick auf die sich funktionale und pathologische Formen sinnvoll voneinander scheiden lassen.

56 Vgl. König, Rene, Emile Durkheim. Der Soziologe als Moralist, in: Käsler, Dirk, (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Bd. 1, München 1976, S. 312-364. Schärfer noch urteilt mit Verweis auf den Untertitel des Aufsatzes von Rene König Niklas Luhmann. Ders., Arbeitsteilung und Moral. Durkheims Theorie, in: Durkheim, Emile, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt/M. 1988, S. 19-38, S. 28. Hans-Peter Müller und Michael Schmid aber verweisen im Nachwort zum selben Buch darauf, daß die Abqualifikation Durkheims als eines Moralisten Durkheim eigentlich nicht trifft, denn Durkheim versteht unter Solidarität einen "Relationierungsmodus, eine Form der Soziabilität, die den Zusammenhang zwischen der Struktur und Funktionsweise einer Gesellschaft - ihrer sozialen Organisation - und ihrem Regel- und Wertsystem - d.h. ihrer Moral - bezeichnet." Dies., Arbeitsteilung, Solidarität und Moral. Eine werkgeschichtliche und systematische Einführung in die `Arbeitsteilung' von Emile Durkheim, in: Durkheim, Emile, a.a.O., 1988, S. 481-532, S. 489f.

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In der europäischen Staatenwelt des 19. Jahrhunderts wurden Kultur und Sprache, das Universitäts- und Schulwesen, Politik, Wohlfahrt und Militär zunehmend als nationale Anliegen begriffen. Die Kultur wurde als Nationalkultur tradiert: Literatur, Museen, Theater und Denkmäler waren vor allem Nationalliteratur, Nationalmuseen, Nationaltheater, Nationaldenkmäler. Der bis heute vorbildlich organisierte deutsche Buchhandel beliefert die Leser, die Germanistik hilft bei der Interpretation. Die gesamte soziale Kontrolle und Logistik - von den Ausbildungsanstalten über das Versicherungswesen bis hin zu Polizei und Militär - wurde national organisiert. Als Folge davon wurde selbst die biologische Fortpflanzung der Bevölkerung national umgrenzt. Mittlerweile ist der Nationalstaat zum weltweit dominanten, universalen Modell der Staatenbildung geworden. Aber schon das 19. Jahrhundert hat auch Weltwirtschaft, Weltreligionen, Weltliteratur und Kosmopolitismus, Internationalismus und internationale Solidarität und zu seinem späten Ende einen Weltkrieg gekannt und zum Thema von Reflexion und Forschung gemacht, die sich mittlerweile eben auch, ähnlich wie Wirtschaft, Literatur oder Politik, um einen internationalen Rang bemühte. Aber die Nation blieb bis weit in unser Jahrhundert hinein nicht nur der Referent soziologischer und historischer Analysen, sondern auch die Adresse soziologischer und historischer Kritik.57 Gegenüber dieser impliziten und nur selten reflektierten Gleichsetzung von Gesellschaft und Nation bedarf deshalb die begriffliche Bestimmung der modernen Gesellschaft als Weltgesellschaft - trotz einer wachsenden Attraktivität dieses Terminus - immer noch eines nachgeschobenen Kommentars, um Kontur zu gewinnen und Anschluß zu finden. 58 Der Begriff der Weltgesellschaft scheint zu abstrakt und der mit diesem Begriff gewählte Abstraktionsgrad bedarf deshalb der nachgeschobenen Rechtfertigung. Aber leider besteht gerade über den zu wünschenden Grad an Abstraktheit bei der Begriffsbestimmung von Gesellschaft innerhalb der Soziologie keine Einheit. Die Frage wird pragmatisch, im Hinblick auf die jeweilige Forschungsfrage entschieden und so hat man sich wie selbstverständlich mit einem nur mehr äußerst vagen Begriff eingerichtet. So entsteht der Eindruck, es gehe hier lediglich um eine pragmatisch determinierbare ad-hoc-Entscheidung bezüglich der Größe des Gegenstandes. Dem ist aber nicht so, tatsächlich geht es um eine Definition des Gegenstandes selbst. Es lassen sich in der Soziologie heute im wesentlichen zwei Bestimmungen des Gesellschaftsbegriffs unterscheiden. Die eine führt tendenziell zur üblichen Identifikation von 57 Vgl. dazu: Giesen, Bernhard, Die Intellektuellen und die Nation - Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt/M. 1993, S. 10ff. (Die Nation als Thema von Sozialwissenschaft und Geschichte).

58 Weniger kommentarbedürftig scheint die Rede von der "modernen Gesellschaft". Hier verdankt sich der Singular einer simplen Abstraktion und Reduktion des Begriffs auf ein lockeres Bündel von Phänomenen und verblüfft nur deshalb kaum. Der Begriff bezeichnet dann das, was Ländern wie Deutschland, Japan, Schweden oder den USA gemeinsam ist.

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Gesellschaft und Nationalstaat, die andere zur Bestimmung der modernen Gesellschaft als Weltgesellschaft. Edward Shils oder Talcott Parsons können exemplarisch für den ersten Definitionsvorschlag zitiert werden, die Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns steht für den zweiten. Für Shils ist Selbstgenügsamkeit (self-sufficiency) das entscheidende Kriterium der Begriffsbestimmung,59 für Luhmann ist es kommunikative Erreichbarkeit.60 In beiden Fällen handelt es sich um eine Minimaldefinition für Gesellschaft, und das wird immer zwangsläufig eine Definition sein, die von vielem absieht. Dennoch sind die beiden Definitionsvorschläge auf ganz unterschiedlichen Abstraktionsebenen plaziert, die sich jeweils aus der theoretischen Einbindung der Definition ergeben. Der Begriff der kommunikativen Erreichbarkeit meint eine Potenz, er bezieht sich im Falle der modernen Weltgesellschaft auf die Möglichkeit der kommunikativen Bezugnahme, die empirisch, d. h. aktuell (im Unterschied zu potentiell) gar nicht oder wenigstens nicht immer realisiert werden muß. Luhmann bezieht sich mit diesem Begriff auf einen Sachverhalt, den die soziale Wirklichkeit als Möglichkeit in Rechnung stellt. Demgegenüber ist der Definitionsvorschlag von Shils in ganz anderer Weise konditioniert. Er schließt die historische Möglichkeit einer Weltgesellschaft in der Zukunft nicht aus, relativiert und spezifiziert das Charakteristikum `self-sufficiency' aber in einer Weise, die es verbietet, das gegenwärtige soziale Leben auf der Erde unter den Begriff einer einzigen Gesellschaft, also einer Weltgesellschaft, zu subsumieren. Im Unterschied zum Kriterium der kommunikativen Erreichbarkeit, das entweder gegeben ist oder nicht, macht das Kriterium der Selbstgenügsamkeit nur Sinn, wenn man es relativiert und einschränkt. "Of course, self-containedness or self-sufficiency is a relative matter."61 Es wird deshalb in unterschiedliche Grade aufgesplittet und auf unterschiedliche Dimensionen des sozialen Zusammenlebens bezogen. Der normativen und kulturellen Integration kommt hier gewöhnlich eine Schlüsselrolle zu. 62 Shils nennt in diesem

59 Shils, Edward, Society and Societies, in: ders., The Constitution of Society, Chicago und London 1982, S. 53-68, S. 53. Für Talcott Parsons vgl. z. B. ders., Societies. Evolutionary and Comparative Perspectives, Englewood Cliffs, N.J. 1966, S. 9; ders., The System of Modern Societies, Englewood Cliffs, N.J. 1971, S. 8; ders., The Evolution of Societies, Englewood Cliffs N.J. 1977, S. 6. Dieses Kriterium bestimmt, wenn auch in zahlreichen Abschattierungen, den Gesellschaftsbegriff der amerikanischen Soziologie bis in die 70er Jahre, d. h. solange sie im Bann des Strukturfunktionalismus stand.

60 Luhmann, Niklas, Interaktion, Organisation, Gesellschaft, in: ders., Soziologische Aufklä rung, Bd. 2, Opladen 1975, S. 9-20, S. 11.

61 Shils, Edward, a.a.O., 1982, S. 55.

62 Die These, daß sich Integration einer gemeinsamen Kultur verdankt, muß dann als problematisch gelten, wenn man Integration als Gegenteil von Konflikt begreift. Gerade einander ähnliche Kulturen können durch Konflikte ein langfristig stabiles Verhältnis zueinander aufbauen. (Man könnte hier z.B. an das Ve rhältnis von Nuer und Dinka denken, vgl. dazu E.E. Evans-Pritchard, The Nuer, Oxford 1969.) Dieser Sachverhalt läßt sich nur dann mit der These einer Integration durch gemeinsame Kultur vereinbaren, wenn man Integration nicht als Gegenteil von Konflikt definiert, sondern abstrakter faßt, nämlich als Einschränkung der Freiheitsgrade eines

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Zusammenhang: "self-government or self-regulation, self-reproduction, cultural self-generation" oder an anderer Stelle: "central authority, consensus and territorial boundedness". 63 Talcott Parsons definiert Handlungssysteme im allgemeinen und damit auch Gesellschaften über "common-value integration", also über einen Wertekonsens.64 Selbstgenügsamkeit wird über Kriterien definiert, die innerhalb weiter Margen variieren können. Damit verliert dieser Definitionsvorschlag von Gesellschaft aber an Kontur und wird vage. Diese Vagheit wird jedoch durch die Logik der Begriffsdefinition gewissermaßen erzwungen, denn ein absolut selbstgenügsames System scheint erstens aus physikalischen Gründen nicht möglich und ließe sich zweitens aus epistemologischen Gründen vermutlich gar nicht beobachten. Man könnte die so erzwungene begriffstechnische Ungenauigkeit natürlich auch als begrüßenswert herausstellen: erst durch Relativierungen und Konkretisierungen vermag dieser Begriff der Buntscheckigkeit des sozialen Lebens gerecht zu werden, während Luhmanns Definitionsvorschlag zwar präziser gefaßt ist, aber dies durch eine sehr große Abstraktheit und eine gewisse Blässe erkaufen muß. Größerer Attraktivität darf sich bis heute jedenfalls die traditionelle, hier mit Verweis auf Shils vorgestellte Begriffsdefinition erfreuen. Die Folge davon ist, daß moderne Gesellschaft und Nationalstaat begrifflich zusammenfallen. In einer durch diese Begriffsbestimmung orientierten historischen Betrachtung kumuliert deshalb die erfolgreiche geschichtliche Entwicklung einer Gesellschaft im Nationalstaat. "There is a tendency for societies to be `national' societies, i.e. societies within `national states'."65 Ein Nationalstaat oder eine Nation wird dann aber nicht mehr theoretisch, sondern nur mehr anhand einer Merkmalsliste von Familienähnlichkeiten definiert, die im einzelnen nicht immer erfüllt sein müssen, aber im großen und ganzen doch umreißen, was gemeint ist. Eine solche Liste bezieht sich dann auf die Gemeinsamkeiten einer bestimmten Bevölkerung und enthält Merkmale wie gemeinsame Kultur, gemeinsame Sprache, gemeinsame Geschichte, gemeinsames Territorium und im Fall des Nationalstaats zusätzlich

Systems oder der Beziehungen zwischen mehreren Systemen. Konfliktsysteme sind gewöhnlich hoch integriert, sie zeichnen sich durch kaum veränderbare Verhaltenserwartungen aus. Rene Girards Theorie des Mimetismus erlaubt es auch, die sogenannten Interessenkonflikte durch gemeinsam geteilte Wertvorstellungen zu erklären: Man muß dasselbe zu wollen gelernt haben, um sich darum streiten zu können. Vgl. ders., Deceit, Desire, and the Novel. Self and Other in Literary Structure, Baltimore 1976.

63 Shils, Edward, a.a.O., 1982, S. 53 und S. 57.

64 Vgl. z. B. Parsons, Talcott, The Structure of Social Action, 2. Bd., New York 1968, S. 768. Parsons vertritt hier sogar die These, daß alles, was darüber hinausgeht, nicht mehr zum Gegenstandsbereich der Soziologie gehöre.

65 Shils, Edward, a.a.O., 1982, S. 56.

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noch gemeinsame politische Verfassung und einheitliches Rechtssystem. Mit der Identifikation von Gesellschaft und Nationalstaat werden Abstraktionschancen zur Analyse der Weltlage verspielt oder bleiben doch bislang uneingelöst. Ganz unterschiedliche Autoren, wie z. B. Friedrich H. Tenbruck, Alain Touraine oder Michael Mann, haben die immer sichtbarer werdende Unangemessenheit des in der Soziologie dominanten Gesellschaftsbegriffs dazu bewegt, diesen am besten ganz zu verabschieden. Der eher konservative Kritiker setzt statt dessen wieder stärker auf Geisteswissenschaft und Kultur, der progressive teils auf Marx und auf soziale Bewegungen. Statt den Begriff zu verwerfen oder weiter zu verwässern, kann man es aber auch mit einer Neudefinition versuchen. Die Identifikation von Gesellschaft und Nation ist seit den 70er Jahren wiederholt kritisiert worden und es wurde schon bald - und noch in enger Bezugnahme auf die Parsonssche Theorieproduktion - der Begriff der Weltgesellschaft entwickelt.66 Im übrigen schloß ja auch Parsons selbst die Möglichkeit der Evolution einer Weltgesellschaft keinesfalls aus, unterschied aber bei der Gegenwartsanalyse moderner Sozialbeziehungen immer eine Pluralität von Gesellschaften . Die Explikation des Begriffs der Weltgesellschaft hat sich bislang eher auf eine an einzelnen Phänomenen orientierte Beschreibung weltweiter funktionsspezifischer Abhängigkeiten beschränkt und unterscheidet sich von daher zunächst nur wenig von der Beschreibung der von kaum jemandem bestrittenen Globalisierungsprozesse. Die Ergänzung oder Aufweichung eines am Nationalstaat ausgerichteten Gesellschaftsbegriffs durch das Konzept der Globalisierung setzt den Nationalstaat als Ausgangspunkt voraus. Demgegenüber erscheint einer am Konzept der Weltgesellschaft orientierten Analyse der Nationalstaat und nationale Differenzen erst als Resultat weltweiter Kommunikationsbeziehungen. Statt das Globale als Folge des Lokalen zu fokussieren, wie es das Globalisierungskonzept nahelegt, wird in einem für Weltgesellschaft optierenden Ansatz die Wahrnehmung und das Interesse an lokalen Besonderheiten selbst erst als Resultat weltgesellschaftlicher Kommunikation begriffen. Erst im Erwartungshorizont der Weltgesellschaft wird ein Interesse an lokalen Differenzen sinnvoll. Erst jetzt macht es Sinn, zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern oder Regionen zu unterscheiden. Fluch und Segen der Moderne sind zwar regional ungleich verteilt, aber die Dynamik dieser Verteilung ist in vielfacher, wenn auch nicht in jeder Hinsicht eine globale. Die moderne Gesellschaft gibt es nur noch im Singular und erst im Horizont der Weltgesellschaft gewinnen nationale Unterschiede Kontur. So wenigstens

66 Moore, Wilbert E., "Global Sociology: The World as a Singular System", American Journal of Sociology, Vol. LXXI, Nr. 5, März 1966, S. 475-482; Luhmann, Niklas, Die Weltgesellschaft, in: ders. Soziologische Aufklärung, Bd.2, Opladen 1975, S. 51-71.

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erscheint es auf dem Bildschirm der modernen Systemtheorie.67 Doch auch diese Theorie produziert kein notwendig einheitliches Bild. Helmut Willke beispielsweise benutzt den Begriff der Gesellschaft ausdrücklich im Plural68, das liegt vermutlich nicht nur an einem thematischen Interesse an politischer Intervention und Supervision, sondern darf als Theorieoption gelesen werden. 69 Für eine solche Option können eine ganze Reihe verschiedener Gründe sprechen. In Krisensituationen beispielsweise scheinen Recht und Politik von existentieller Relevanz, während ein Leistungsdefizit anderer Subsysteme sich weniger bedrohlich ausnimmt. So gesehen sche int es sinnvoll, den politischen und rechtlichen Institutionen einen besonderen Stellenwert bei der Begriffsbestimmung von Gesellschaft zuzuordnen. Eine andere Begründung könnte auf die Angewiesenheit des einzelnen Menschen auf eine mehr oder weniger intime soziale Gemeinschaft abstellen. Nur in einer solchen Gemeinschaft oder Wir-Gruppe ließe sich individuelle Identität gewinnen. 70 Die Weltgesellschaft ist sicherlich keine

67 Luhmann, Niklas, Theorie der Gesellschaft, MS. San Foca 1989, S. 43.

68 Willke, Helmut, Systemtheorie entwickelter Gesellschaften, Weinheim 1989.

69 Vgl. auch ders., Ironie des Staates, Frankfurt/M. 1992. Der Autor fragt: "Wozu brauchen Gesellschaften einen Staat?" (S. 212), aber man könnte auch eine andere Permutation des Numerus wählen und fragen: "Wozu braucht die Weltgesellschaft Staaten?" Diese konzeptuell andere Fragestellung würde die Aufmerksamkeit stärker auf die evolutionären Vorteile segmentärer Differenzierung lenken. Wir kommen darauf im Abschnitt über lose und feste Kopplung zurück. Die Systemt heorie hat mittlerweile einen Komplexitätsgrad erreicht, der es erlaubt, manches in der Schwebe zu lassen, der unterschiedliche Entwicklungsbahnen eröffnet und damit natürlich auch Abwegiges nicht ausschließt. Zwar schreibt die Theorie sich selbst, wie Niklas Luhmann zuweilen hervorhebt, aber die jeweils federführenden Irritationen lassen sich doch häufig auch persönlich zurechnen.

70 Heute wird von vielen Autoren (von Carl Schmitt bis Ulrich Beck) immer deutlicher eine weniger gemütliche - man möchte fast sagen paranoide - Variante dieses Arguments geboten: Das Selbstbild der jeweils die individuelle Identität tragenden Gemeinschaft verdankt sich immer auch - und vielleicht sogar vorrangig - der Abgrenzung gegenüber und Ausgrenzung von Anderen. Identitätsbildung bedürfe deshalb (vor allem) eines robusten Feindbildes. Die Unterscheidung von Innen und Außen verengt sich hier auf die von Freund und Feind. Bei Georg Simmel findet sich dazu ein nur auf den ersten Blick ähnliches Argument. Simmel betont die statistische Unwahrscheinlichkeit eines gemeinsamen positiven Nenners und die Einfachheit der Verneinung; die Negation des Anderen verdankt sich bei ihm nur in zweiter Linie einer existentiellen Begründung. Vgl. ders., Soziologie - Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1983, S. 196, S. 359ff. Die hohe Attraktivität der Unterscheidung von Freund und Feind verdankt sich zudem vermutlich noch einem weiteren, die Eigendynamik der Kommunikation stärker bestimmenden Grund: sie ist konflikt-provozierend angelegt und hat deshalb den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Frühere Autoren wollten - sich selbst als Aussenstehende imaginierend - ihrer Gesellschaft zuweilen bei der Suche nach Identität behilflich sein, einige Zeitgenossen aber warnen mittlerweile heute sogar vor der Suche oder verweisen darauf, daß die Suche selbst schon die Identität der Suchenden sichere. Die Deutschen identifizieren sich dann, soweit sie sich überhaupt dafür interessieren, durch die eignen Ratlosigkeit gegenüber der Frage "Was ist deutsch?"; andere versuchen es vielleicht mit der Frage "Was ist links?". Vielleicht läßt sich über positive Attribute keine Kollektivität (im Sinne Parsons) dauerhaft stabilisieren, Identität bedarf immer eines Unterschieds, einer Abgrenzung. Statt über Feinde kann man sich aber auch über eigene Fehler, Versäumnisse und Untaten, soweit sie der Vergangenheit angehören und deshalb unabänderlich sind, zu identifizieren suchen. Nicht nur Feinde und Helden, sondern auch Untaten und Trümmer - das eigene

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solche Wir-Gruppe, denn von welchen Anderen sollte sie sich abgrenzen? Beide Begründungsstrategien sichern sich über anthropologische Annahmen (Existenz, Identität) ab. Man könnte die These von der Weltgesellschaft aber auch in Zweifel ziehen, oder vorsichtiger gesagt, überprüfbar machen, indem man das von Luhmann vorgeschlagene Definitionskriterium der Erreichbarkeit operationalisiert und dadurch empirisch falsifizierbar macht. Zwei Wege sind hier denkbar: Wenn man, wie Luhmann es vorgeschlagen hat, alle Kommunikation vom Verstehen her, also gewissermaßen von hinten, vom Empfänger her, zu begreifen sucht und gleichzeitig Verstehen ausdrücklich von Zustimmen unterscheidet, dann ist die Frage "Leben wir in einer Weltgesellschaft oder nicht?" vermutlich schon positiv entschieden, bevor man sich irgendeinen Test überlegen muß. Schon allein die weltweite Verbreitung von Radio und Fernsehen würde Erreichbarkeit in diesem Sinne sicherstellen. Erreichbarkeit meint dann im Extremfall nicht viel mehr als folgenloses Beobachtetwerden andernorts. Dieser Weg der Operationalisierung scheint deshalb keine interessante Herausforderung. Eine andere Operationalisierungsstrategie wird durch die sogenannte small-world-Theorie nahegelegt.71 Diese trifft zwar sicherlich nicht genau Luhmanns Intention bei der Wahl des Kriteriums Erreichbarkeit, sie scheint uns aber dennoch der Erörterung wert, da sich mit ihrer Hilfe auch andere klassische Typologien spezifizieren lassen, z. B. Robert K. Mertons Differenzierung von locals und cosmopolitans oder Robert Redfields Unterscheidung von folk society und civilized urban society. Die small-world-Theorie wurde in den USA getestet. Die Wahrscheinlichkeit, daß sich zwei zufällig herausgegriffene Personen aus einer solch großen Population direkt kennen und füreinander erreichbar sind, ist äußerst gering. Aber sie könnten über eine dritte, beiden gemeinsam bekannte Person in Beziehung treten. Aber auch die Wahrscheinlichkeit, daß dies gelingt, ist sehr gering. Mit einigen weiteren jeweils persönlich bekannten Zwischengliedern jedoch wächst die Wahrscheinlichkeit, daß der Kontakt hergestellt und eine bestimmte Botschaft übermittelt werden kann. Die Wahrscheinlichkeit hängt dabei von der Struktur des indirekt beide Personen verbindenden Netzwerks ab. Stanley Milgram und seine Mitarbeiter wollten herausfinden, wieviele solcher weiteren, jeweils persönlich bekannten Personen als Mittelsmänner nötig sind, damit eine bestimmte Botschaft von Person A zu Person B gelangen kann. Sie fanden zu ihrer Überraschung heraus, daß die durchschnittliche Zahl der einander kontaktierenden Personen nicht viel höher war als fünf. Mit dieser Art von Test läßt

Sündenregister - können sagen, wer man ist.

71 Travers, Jeffrey / Stanley Milgram, An Experimental Study of the Small World Problem, in: Leinhardt, Samuel, Social Networks. A Developing Paradigm, New York 1977, S. 179-197. Vgl. dazu auch: Rogers, Everett M. / D. Lawrence Kincaid, Communication Networks - Toward a New Paradigm for Research, New York 1981, S. 106ff.

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sich etwas über die Art der Vernetztheit eines sozialen Systems in Erfahrung bringen. Aber der Test ist deutlich auf persönliche Bekanntschaft bezogen. Hierarchisch strukturierte Systeme, z. B. Klientelsysteme erlauben hier vermutlich die kleinste Zahl an Zwischenkontakten. Funktionale Differenzierung, also ein Differenzierungsmodus, der sich an Sachproblemen ausrichtet und nicht an persönlichen Bekanntschaften, läßt sich mit diesem Test deshalb kaum angemessen untersuchen. 72 Aber man könnte versuchen, einen analogen Test zur Analyse des Vernetzungsgrads in Funktionssystemen zu entwerfen. Anhand der Zitationsindexe wissenschaftlicher Zeitschriften läßt sich beispielsweise ausmachen, welche Sprachen das Bild bestimmen, anhand der Namen lassen sich vielleicht wenigstens grob die Herkunftsländer der Autoren clustern etc. Kurz: Man könnte die Partizipation am Wissenschaftssystem in bezug auf einzelne Nationen und deren Bevölkerungszahl beziehen. Das Ergebnis wird sein: Die Partizipationschancen sind in bezug auf die Geburtsländer deutlich ungleich verteilt. Aber mit diesem Ergebnis hat man die Frage, ob wir in einer Weltgesellschaft leben gar nicht wirklich beantwortet. Beantwortet hat man die Frage, ob funktionale Differenzierung zur gleichmäßigen Inklusion der Weltbevölkerung geführt hat oder nicht. Sie hat bislang - und aller Wahrscheinlichkeit nach bis auf weiteres - nicht dazu geführt. Aber diese negative Antwort zwingt gerade dazu, die Weltgesellschaft als Untersuchungseinheit zu wählen. Der Umstand, daß heute knapp die Hälfte der Weltbevölkerung von den Chancen und Annehmlichkeiten funktionaler Differenzierung ausgeschlossen sind, verdankt sich gerade der Operationsmacht der Weltgesellschaft. Wer den vermutlich dauerhaft Ausgeschlossenen über regionale, kulturelle oder politische Kriterien noch so etwas wie eigene Gesellschaften zuspricht, unterstellt einen zu hohen Grad an Selbständigkeit und überschätzt deren Optionsmöglichkeiten und die für eine eigenständigen Entwicklung notwendigen Freiheitsgrade. Die Chance, einen Weg zu modernen Lebensverhältnissen doch noch zu

72 Aus demselben Grund läßt sich auch via "snowball-sampling" nicht die Größe der modernen Gesellschaft bestimmen. Vgl. zu den Problemen dieser Erhebungstechnik z. B. Rogers, Everett M. / Kincaid, D. Lawrence, a.a.O., S. 109f. Bewährt haben sich solche Verfahren bei der Erschließung mehr oder weniger homogen strukturierter Netzwerke, z. B. um die Zahl der Drogenbenutzern in einer bestimmten Stadt oder Region abzuschätzen. Das Verfahren zielt darauf, mit Hilfe der Anzahl und der Beziehungen der empirisch erfaßten Einheiten auf die Größe der Gesamtpopulation zu schließen. Dazu befragt man die im erste sample erfaßten Personen nach weiteren Namen, die in die interessierende Kategorie fallen und wiederholt dieses Verfahren mit dem so erweiterten Personenkreis. Aufgrund des unterschiedlichen Anteils der Doppelt- oder Mehrfachnennungen in den verschiedenen (also mindestens zwei) Erhebungen kann dann auf die Größe der Gesamtpopulation hochgerechnet werden. Vgl. Bieleman, B. / A. Diaz / G. Merlo / Ch. D. Kaplan, Lines across Europe: Nature and extent of cocaine use in Barcelona, Rotterdam, and Turin, Amsterdam 1993. Um die Größe der modernen Gesellschaft in analoger Weise ermitteln zu wollen, könnte man z. B. fragen: "Wo kaufen sie ein?" Das Problem hierbei ist jedoch, daß man nach zwei oder drei Erhebungswellen die Größe der Gesamtpopulation nicht angemessen abschätzen kann, weil deren Beziehungsgeflecht nicht homogen, sondern hoch strukturiert ist und deshalb die samples nicht als zufällig behandelt werden können.

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finden, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit vermutlich bereits verspielt, und zwar nicht nur, obwohl diese Regionen doch in ein weltgesellschaftlich determiniertes Geschehen verstrickt sind, sondern zunehmend eben, weil sie in ein solches Geschehen gründlich verstrickt sind.

2. Differenzierungstypen Es geht bei der Frage nach dem Verhältnis von Nationalstaat und Weltgesellschaft um die Frage nach der Kompatibilität von segmentärer und funktionaler Differenzierung. Wir möchten hier deshalb zunächst die vier soziologisch gebräuchlichsten Differenzierungstypen in aller Kürze näher bestimmen und dabei insbesondere nach der jeweiligen Korrelation zwischen diesen Differenzierungstypen und bestimmten räumlichen Anordnungen und Verteilungen zu fragen. Insbesondere im Hinblick auf die moderne Gesellschaft scheint uns der Versuch einer kartographischen Erfassung des sozialen Geschehens äußerst schwierig und dort, wo die damit verbundenen Probleme nicht deutlich genug sind, auf einen planimetrischen Irrtum hinauszulaufen. Die Identifikation von Nation und Gesellschaft verdankt sich - so unsere These - vermutlich nicht zuletzt einer durch die räumlich-kartographische Projektion stimulierten Vorstellungswelt. Diese Projektion ist nicht völlig falsch, aber doch sehr einseitig. Im dann folgenden Abschnitt über lose und feste Kopplung wollen wir deshalb noch einmal fragen: Wozu braucht die moderne Gesellschaft, wenn man sie denn als funktional differenzierte Weltgesellschaft begreifen will, eigentlich Staaten, also jene Einheiten, die sich kartographisch so leicht identifizieren lassen? Oder, weniger funktionalistisch und abstrakter formuliert: Was sind die evolutionären Vorteile segmentärer Differenzierung? Um das Verhältnis von Gesellschaft und Nation bzw. Nationalstaat begrifflich-theoretisch genauer zu fassen, möchten wir die vier folgenden Differenzierungstypen unterscheiden: segmentäre Differenzierung, stratifikatorische Differenzierung, die Differenzierung von Zentrum und Peripherie und schließlich funktionale Differenzierung. Dem im Anschluß an Durkheim entwickelten Kontrastpaar von segmentärer und funktionaler Differenzierung kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Durkheim folgt im wesentlichen der von Herbert Spencer ausgemachten evolutionären Entwicklungslogik vom Homogenen zum Heterogenen. Er kontrastiert den Typus der segmentären Differenzierung, der sich durch das lockere Nebeneinander gleichartiger Untereinheiten auszeichnet, mit einem zweiten Differenzierungstyp, der dem Muster höherentwickelter Organismen folgt und dessen

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heterogene Teile, um funktionstüchtig zu bleiben - wie die unterschiedlichen Organe eines solchen Organismus - in einem hohen Grad aufeinander angewiesen sind. Mit diesen beiden Differenzierungsformen sind gewissermaßen die Extrempunkte benannt, zwischen denen sich theoretisch die historisch bekannten Gesellschaften ansiedeln lassen. Gewöhnlich wird dieses Schema mindestens noch durch einen weiteren, dritten Differenzierungstyp ergänzt, nämlich der Differenzierung nach Schichtung und Rangordnung oder der stratifikatorischen Differenzierung. Häufig wird auch die Klassenstruktur der modernen Gesellschaft unter diesem Differenzierungstyp abgehandelt.73 Die über diesen Typus der Differenzierung generierte Hierarchie kann auf ganz unterschiedlichen Kriterien beruhen, auf Ausbeutung und Gewalt, Charisma und Tradition, Autorität und Macht, Wissen und Einfluß, oder aus der kumulativen Nutzung zufälliger Vorteile und dem Ausbau von Beziehungsnetzen und im Normalfall wohl aus einem Bündel solcher, nicht immer miteinander harmonierender Kriterien. Als vierter Differenzierungstyp findet aber seit den Arbeiten von Edward Shils einerseits74 und einer vielfach marxistisch inspirierten Entwicklungssoziologie andererseits75 auch die Differenzierung von Zentrum und Peripherie in der soziologischen Literatur zunehmendes Interesse. Die Polarität von Zentrum und Peripherie koinzidiert dabei häufig mit stratifikatorischen Differenzierungen. Dieser Differenzierungstyp besitzt aber darüber hinaus eine Eigenlogik oder Dynamik, die nicht selten auch gewissermaßen quer zu den drei anderen Differenzierungstypen zur Geltung kommt. Zentrum-Peripherie-Differenzen finden sich ansatzweise schon in vielen segmentär differenzierten Gesellschaften, aber kennzeichnen in einem historisch einmaligen Ausmaß auch gerade die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft in globaler Hinsicht. Diese vier Differenzierungstypen bilden heute gewissermaßen das kleinste, kaum mehr umstrittene Unterscheidungsrepertoire für die soziologische Analyse gesellschaftlicher Evolution und

73 Problematisch und umstritten ist dabei jedoch, ob der Klassenstruktur in der modernen Gesellschaft eine der Schichtungsstruktur der vormodernen Gesellschaften vergleichbare Funktion zukommt. Kingsley Davis und Wibert E. Moore betonen die funktionale Notwendigkeit von Schichtung auch in der modernen Gesellschaft und sprechen eben deshalb auch von Schichten und nicht von Klassen. Dies., Einige Prinzipien der sozialen Schichtung, in: Hartmann, Heinz (Hrsg.), Moderne amerikanische Soziologie, Stuttgart 1973, S. 396-410. Niklas Luhmann hält dagegen die Klassenstruktur moderner Gesellschaften für eine selbst funktionslose Nebenfolge funktionaler Differenzierung, für einen auf der Ebene von Interaktionssystemen nicht gedeckten statistischen Effekt, während die Oberschicht in vormodernen, stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften noch die Funktion hatte, die Gesellschaft über ihr spezifisches Beziehungsnetz, also über Oberschichteninteraktion, zu integrieren. Vgl. ders., "Zum Begriff der sozialen Klasse", Quaderni Fiorentini, 13 (1984), S. 35-78.

74 Shils, Edward, Center and Periphery: Essays in Macro-Sociology, Chicago 1975.

75 Vgl. statt anderer: Wallerstein, Immanuel, The Modern World-System, New York 1974; Myrdal, Gunnar, Rich Lands and Poor, New York 1957.

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Entwicklung. Dieses Repertoire läßt sich natürlich ohne viel Aufwand leicht erweitern, wenn man es lediglich als eine mehr oder weniger offene Liste von Eigenschaften versteht. Damit verbaut man sich aber auch schnell die Chancen zu einer Systematisierung der vier hier unterschiedenen Differenzierungsformen. Eine einfache Systematisierung dieser Differenzierungsformen läßt sich erreichen, wenn man Differenzierung als Systemdifferenzierung begreift. Differenzierung meint dann primär die Herausbildung oder Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Subsystemen, kurz: die Bildung von Systemen in Systemen. Niklas Luhmann hat den Versuch unternommen, die vier Differenzierungstypen mit Hilfe der Unterscheidung gleich/ungleich zu katalogisieren. 76 Im Falle der segmentären Differenzierung differenzieren sich gleiche Systemtypen. Man spricht deshalb auch von Segmentierung. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Segmenten sind dabei gewöhnlich nur locker, was evolutionär den Vorteil hat, daß diese Differenzierungsform den Verlust einzelner Subsysteme relativ problemlos verkraften kann. Im Falle der Differenzierung nach Zentrum und Peripherie etabliert sich eine Ungleichheit zwischen den Segmenten, in dem Sinne, daß eine bestimmtes Segment - eine Familie, ein Clan, ein Dorf - besonders herausgehoben wird. Stratifikatorische Differenzierung bedeutet demgegenüber, daß sich eine hierarchische, in mehrere Ebenen untergliederte Rangordnung von Teilsystemen durchsetzt. Um ein zu leichtes Kippen dieser Rangordnung zu verhindern, scheint eine Differenzierung von mindestens drei Ebenen von evolutionärem Vorteil. Es handelt sich bei einer in dieser Weise stabilisierten Hierarchie also nicht mehr, wie im Falle der Differenzierung von Zentrum und Peripherie, um eine bloß dichotome Gegenüberstellung. Damit wird die Differenzierung in Segmente aber nicht aufgelöst, sondern lediglich überlagert. Die stratifikatorisch differenzierte Gesellschaft wird durch ihre Oberschicht integriert. Deren Kommunikationsnetze sind großräumig organisiert und erlauben so eine Beherrschung der nach wie vor segmentär differenzierten lokalen Einheiten. Aber erst wenn ein Streit um die Besetzung der Spitzenpositionen in einer stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft möglich und routinisiert wird, d. h. wenn eine "redundancy of potential command"77 garantiert werden kann und verschieden Familien oder Gruppen potentiell die Herrschaft ausüben könnten, vermag sich dieser Differenzierungstyp evolutionär zu stabilisieren. Im Normalfall sind jedoch die Redundanzen zwischen den unteren und den oberen Einheiten deutlich ungleich verteilt; sie nehmen nach oben deutlich ab, und deshalb ist dieser Differenzierungstyp insbesondere im Hinblick auf seine Oberschicht unwahrscheinlich,

76 Bereits Durkheim arbeitet natürlich schon mit dieser Unterscheidung, um die beiden von ihm identifizierten Differenzierungsformen zu bestimmen.

77 Dieser Begriff geht auf Warren S. McCulloch zurück. Vgl. ders., Embodiments of Mind, Cambridge, Mass. 1988, S. 226.

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während die lokalen Segmente durchaus im Stande sind, auch ohne Kontrolle von oben in nur leicht modifizierter Form weiterzuexistieren. Auf dieser Ebene können Verluste verkraftet werden ohne den Differenzierungstyp im Ganzen zu gefährden. Im Falle der funktionalen Differenzierung schließlich fällt nicht nur die Unterscheidung von Oben und Unten weg78, sondern auch die Redundanzen des Systems sind minimiert. Es gibt also zum einen kein besonderes System mehr, das alle anderen gesellschaftlichen Subsysteme integriert, und darüber hinaus ist die Problemorientierung der einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme so spezifisch, daß sie so gut wie gar nicht für einander einspringen können (Das Erziehungssystem kann nicht für die Gesundheitsversorgung aufkommen, das Wirtschaftssystem nicht für die Religion, die Politik nicht für die Wirtschaft etc.). In bezug auf die gesellschaftlichen Funktionserfordernisse gibt es keine redundanten Bearbeitungskapazitäten. Die Funktionssysteme sind gleich in bezug auf ihre Ungleichheit - so Niklas Luhmann. Das heißt theoretisch aber, daß die Gefährdung eines einzelnen Subsystems immer zugleich auch eine Gefährdung des gesellschaftlichen Differenzierungstypus selbst bedeutet. Aus diesem Grund muß funktionale Differenzierung evolutionär als hoch unwahrscheinlich gelten, und diese hohe Unwahrscheinlichkeit zwingt den soziologischen Beobachter dazu, z. B. nach Mechanismen zu fahnden, die funktionale Differenzierung stützen ohne diesem Differenzierungsmodus selber zu gehorchen. Ferner wäre zu fragen, ob alle Funktionssysteme im gleichem Maß gesellschaftlich unabdingbar sind: Braucht die moderne Gesellschaft Religion und Kunst z. B. genauso, wie sie auf Geldverkehr angewiesen ist? Welche Effekte hat es, wenn bestimmte Funktionen nicht mehr oder nicht mehr im selben Maß erfüllt werden können? Es ist kaum anzunehmen, daß alle Funktionsausfälle in gleicher Weise bestandsgefährdend wirken. Ferner wäre zu fragen, warum z. B. Politik nach wie vor global in Segmente differenziert ist und inwieweit dies auch für andere Funktionssysteme gilt (z. B. nach außen abgeschirmte Wirtschaftsräume oder national oder über wirtschaftliche Unternehmen abgeschottete wissenschaftliche Forschungsprojekte). Und schließlich wäre zu fragen, warum moderne Lebensverhältnisse nur in wenigen Regionen der Erde realisiert sind, während andere Regionen auf Dauer ausgeschlossen zu bleiben scheinen. Zu fragen ist also vor allem nach dem Verhältnis von segmentärer und funktionaler Differenzierung. Das Verhältnis dieser beiden Differenzierungstypen kann nicht einfach als ein historisches Ablösungsverhältnis behandelt werden. Angebunden an eine ganze Reihe von

78 Die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft lassen sich nicht hierarchisch ordnen. Das heißt aber nicht, daß es sich dann um eine Heterarchie handeln muß. Für Heterarchie optiert Peter Fuchs. Vgl. ders., Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1992. Wir vermuten demgegenüber, daß die Kopplungen der einzelnen Subsysteme aneinander in weiten Teilen viel zu locker sind, als daß man sie mit solchen Ordnungsbegriffen beschreiben könnte. Wir kommen darauf im nächsten Abschnitt zurück.

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ähnlich gelagerten, aber gewöhnlich weniger durchstrukturierten typologisch eingesetzten Kontrastpaaren, scheint ein dichotomes Splitting zwischen der modernen Welt und dem Rest der Menschheitsgeschichte zwar häufig die erstbeste Operation zur Spezifizierung dessen, was die moderne Gesellschaft ausmacht, aber jede konkrete Analyse verwischt den Gegensatz des so geschiedenen wieder unweigerlich mit kaum überschaubaren ceteris paribus Klauseln.79 Es seien hier nur die sich in der Rezeption als äußerst robust bewährt habenden Dichotomien genannt: Spencers Unterscheidung von militärischen und Industriegesellschaften, Maines Unterscheidung von Status und Kontrakt, Tönnies Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft, Webers Gegenüberstellung von progressiver Rationalisierung auf der einen, Tradition, Charisma und Affekt auf der anderen Seite, Redfields Kontrastierung von folk- und urban-society, von little tradition und great tradition, Lintons Unterscheidung von ascription und achievement und schließlich auch Parsons' pattern variables80. Heute spricht man statt von einer Ablösung des einen Differenzierungstypus durch den anderen vorsichtiger von ihrer jeweils unterschiedlichen historischen Dominanz. Eine einfache historische Gesetzmäßigkeit im Sinne Herbert Spencers von unzusammenhängender Homogenität zu zusammenhängender Heterogenität behauptet wohl heute niemand mehr.81 Auch die von Durkheim beobachtet Ablösung segmentärer durch funktionale Differenzierung aufgrund einer gestiegenen Bevölkerungsdichte hat sicherlich nicht den Status einer universalen Gesetzmäßigkeit.82 Sowohl für Spencer wie auch für Durkheim haben das ökonomische Modell der Arbeitsteilung und das damalige biologische Modell der Organevolution eine die gesamte Ausrichtung ihrer Gesellschaftstheorie bestimmende Rolle gespielt. Effizienzsteigerung ist für beide das evolutionäre Selektionskriterium. Wie schon Spencer spricht auch Durkheim im

79 Hans-Ulrich Wehler hat zur leichteren Orientierung ein "Dichotomien-Alphabet" zusammengestellt. Ders., Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975, S. 14f. Aber schon M. Rainer Lepsius setzt die Kontraste etwas anders, und Modernisierung dabei gleich in Anführungszeichen. Ders., Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der "Moderne" und der "Modernisierung", in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 211-231, S. 217f.

80 Der radikale und aus heutiger Sicht vielleicht zu grobschlächtige Gebrauch der pattern variables zur Bestimmung dessen, was Modernisierung meint, geht dabei weniger direkt auf Parsons zurück als vielmehr auf einige seiner Schüler. Insbesondere ist hier Marion J. Levi, Modernization and the Structure of Societies: A Setting for International Affairs, Princeton 1966, zu nennen.

81 Herbert Spencer definiert Evolution als "a change from an indefinite, incoherent homogenity, to a definite, coherent heterogenity, through continuous differentiation and integration." Ders., First Principles, London 1863, S. 216.

82 Auch diese Annahme, wenn auch nicht mit direktem Bezug auf den spezifischen Differenzierungstyp, findet sich bereits bei Herbert Spencer: "as population augments, divisions and sub-divisions become more numerous and more decided." Ders., The Principles of Sociology, 1.Bd., London 1893, S. 437f.

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Anschluß an ihn vom "Kampf ums Überleben": Die ums Überleben kämpfenden Einheiten forcieren entweder die soziale Differenzierung, indem sie sich spezialisieren oder müssen untergehen. 83 Zwei für uns interessante theoretische, also nicht unbedingt von der Wirklichkeit auch gedeckte Konsequenzen erscheinen in dieser Perspektive zwingend: 1. Segmente werden im Verlauf der sozialen Evolution zunehmend funktionslos, und 2. die wachsende Komplexität einer Gesellschaft korreliert positiv mit ihrer Größe, nicht nur in dem abstrakten Sinne, daß eine differenziertere und komplexere Gesellschaft aus weit mehr Elementen und Relationen besteht, sondern auch schlicht im Sinne ihrer räumlichen Ausdehnung. 84 Beide Konsequenzen scheinen uns, wenn universale Gültigkeit für sie reklamiert wird, in die Irre zu führen. Damit wird sich der nächste Abschnitt beschäftigen. Die Unterscheidung von Differenzierungstypen erlaubt es, von der einfachen Annahme kontinuierlich wachsender Differenzierung abzurücken. Es lassen sich verschiedene Differenzierungtypen oder Architekturen unterscheiden und d. h., daß soziale Differenzierung kein bloß quantitatives Geschehen ist, sondern sich auch bestimmte qualitative Sprünge, Schwellenwerte und Differenzen nachzeichnen lassen. Die gesellschaftsweite oder auch nur teilweise Umstellung von einer Differenzierungstypik zu einer anderen, z. B. von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung ist kaum im Sinne einer "Entwicklung von wenig zu viel und von schwacher zu starker Differenziertheit" zu begreifen. 85 Friedrich H. Tenbruck, wie auch Niklas Luhmann haben deshalb verschiedentlich betont, daß der moderne oder funktionen-spezifische Differenzierungstyp unserer Gesellschaft immer eine gleichzeitige "Verflechtung und Entflechtung"86 bzw. immer eine gleichzeitige "Steigerung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit"

83 Durkheim, Emile, The Division of Labor in Society, New York 1964, S. 266-275.

84 Robert L. Carneiro beispielsweise hat festgestellt, daß die Einwohnerzahl relativ selbständiger, archaischer Dorfgemeinschaften deutlich positiv mit deren Komplexität oder Organisationsgrad variiert. Der über bestimmte Eigenschaften gemessene Organisationsgrad wächst mit der 2/3-Potenz der Bevölkerungszahl. Ders., "The Evoluton of Complexity in Human Societies and Its Mathematical Expression", International Journal of Comparative Sociology 28, 1987, S. 111-128.

85 Vgl. Hondrich, Karl Otto, Die andere Seite der Differenzierung, in: Hans Haferkamp und Michael Schmid (Hrsg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, Frankfurt/M. 1987, S. 275-303, S. 286. Die Frontstellung Hondrichs gegen Luhmann scheint uns in diesem Punkt jedoch überzogen. Hondrich zeigt wichtige, bislang zuwenig bearbeitet Problembereiche der Differenzierungstheorie auf, gleichzeitig aber scheint die von ihm entworfene Alternative, insbesondere die These vom "Gleichschritt der Differenzierungsformen" (S. 293) seine Kritik am Modell der "Entwicklung von wenig zu viel und von schwacher zu starker Differenziertheit" (S. 286) geradezu zu konterkarieren. Wenn man von einem "Gleichschritt" spricht, in welche Richtung soll er denn gehen, wenn nicht in die Richtung immer stärkerer Differenzierung? Auf diese Weise läßt sich die dunkle Seite der Differenzierung vermutlich nicht ausleuchten.

86 Tenbruck, Friedrich H., Gesellschaft und Gesellschaften. Gesellschaftstypen. In: Wissen im Überblick. Die Moderne Gesellschaft, Freiburg 1972, S. 54-71, S. 64.

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funktionssystemspezifischer Kommunikation bedeute. Differenzierung geht nicht bis zur vollständigen Indifferenz der Teile, sondern meint immer Ausdifferenzierung in der Gesellschaft. Wie aber die Abhängigkeiten und die Verflechtungen zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Subsystemen beschaffen sind, ist bislang wenig durchschaut. Talcott Parsons z. B. hat vier gleichzeitig zu steigernde Erfolgskriterien postuliert: eine zunehmende Wertegeneralisierung, zunehmende Inklusion, zunehmende Zielspezifikation und zunehmende adaptive Höherentwicklung. Niklas Luhmann akzentuiert das Konzept funktionaler Differenzierung im Sinne einer Theorie der Ausdifferenzierung operativ geschlossener Systeme. Die Umweltsensibilität operativ geschlossener Systeme verdankt sich dabei gerade ihrer Geschlossenheit oder Selbstreferenz und beschränkt sich immer nur auf eine ganz spezifische, durch den jeweiligen Systemcode abgetastete Umwelt. Richard Münch betont demgegenüber, daß die Bestandssicherung ausdifferenzierter Funktionssysteme sich in entscheidender Weise ihrer wechselseitigen Interpenetration verdankt. Bei jedem der gerade genannten Autoren geht es im Falle der funktionalen Differenzierung also um die gleichzeitige Realisierung von wenigstens auf den ersten Blick gegensätzlichen Anforderungen. 87 Tendenzielle Einigkeit besteht in der neueren, sich auf Parsons berufenden Diskussion lediglich in der Ablehnung der Parsonianischen Konzeptualisierung der Beziehungen zwischen den Subsystemen einer Gesellschaft in Form einer eindeutigen Kontrollhierarchie.88 Wenn man die Differenzierungslogik der sozialen Evolution mit Hilfe der Unterscheidung von segmentärer und funktionaler Differenzierung zu charakterisieren versucht, so scheint nach dem oben Gesagten eine einfache Dichotomisierung wenig empfehlenswert; ratsamer scheint uns ein etwas verschachtelteres Arrangement: Am Anfang steht eine segmentäre Differenzierung der Gesellschaft, wobei die einzelnen Segmente (e.g.

87 Eine ausführliche Diskussion aller drei hier genannten Perspektiven findet sich bei Richard Münch. Ders., Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt/M. 1982, insbesondere S. 81ff., S. 109ff. und S. 476ff.

88 Für Niklas Luhmann bedarf dies schon fast keines Belegs mehr. Vgl. deshalb zusammenfassend Fuchs, Peter, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1992. Aber auch Richard Münch schreibt beispielsweise: "Genaugenommen lassen sich die Subsystem überhaupt nicht mehr in eine Hierarchie einordnen." Ders., Theorie des Handelns, a.a.O., S. 104. Rainer C. Baum und Frank J. Lechner hingegen haben eine Neufassung des Parsonsschen Hierarchiebegriffs vorgelegt, die sich weniger auf Fragen der Kontrolle konzentriert, sondern mit einer abstrakter angelegte Hierarchie verschiedener Systemebenen arbeitet. Dies., Zum Begriff der Hierarchie: Von Luhmann zu Parsons, in: Baecker, Dirk et al., (Hrsg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1987, S. 298-332. Jeffrey C. Alexander setzt ganz auf die Multidimensionalität des Parsonsschen Theorierahmens und spielt diese gegen das Modell der Kontrollhierarchie aus. Das Hierarchiemodell taucht hier allenfalls noch bei der Analyse des Spannungsverhältnisses von Theorien und Fakten auf, also im Modus wissenschaftlicher Selbstreflexion, aber nicht mehr im Modus einer Gegenstandsbestimmung. Vgl. z. B. ders., Twenty Lectures. Sociological Theory Scince World War II, New York 1987.

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Dörfer, Familien) nach innen hin, wenn auch in nur rudimentärer Weise und primär im Hinblick auf Personen, funktional differenziert sind (nach individuellen Fähigkeiten, nach Geschlecht und Alter). Heute hingegen ist die Gesellschaft primär funktional differenziert (Wirtschaft, Politik, Religion, Wissenschaft etc.), aber die einzelnen Funktionssysteme sind nach innen hin segmentär und teilweise auch hierarchisch differenziert (Unternehmen, ein Bankensystem mit Zentralbank, Parteien, Universitäten, Kirchen etc.).89 Moderne und vormoderne Gesellschaften unterscheiden sich deshalb voneinander nicht primär durch einen über eine einzige Dimension spezifizierbaren Komplexitätsgrad, sondern vor allem in der Art und Weise der Verschachtelung oder Einbettung unterschiedlicher Differenzierungstypen. Wenigstens sollte man die Frage nach dem Grad der Komplexität von der Frage nach dem Differenzierungstyp zu trennen versuchen und dann in bezug auf unterschiedliche Beobachter relativieren. Wir wollen nun nach der räumlich-territorialen Verortbarkeit dieser unterschiedlichen Differenzierungstypen fragen. Friedrich H. Tenbruck hat den Versuch unternommen, zur Veranschaulichung der von ihm unterschiedenen Differenzierungs- bzw. Gesellschaftstypen, diese gewissermaßen idealtypisch zu kartographieren. 90 Er definiert drei Gesellschaftstypen: archaische Gesellschaft, Hochkulturen und moderne Gesellschaft.91 Dem entspricht die eben vorgestellte Typologie von primär segmentär, primär stratifikatorisch und primär funktional differenzierten Gesellschaften. Im Falle der segmentär und der hierarchisch differenzierten Gesellschaft läßt sich noch relativ leicht eine gewisse Koinzidenz zwischen der jeweiligen Sozialstruktur und der geographisch-territorialen Verortung der einzelnen gesellschaftlichen Komponenten erkennen. Für die moderne Gesellschaft hingegen läßt sich das Schaubild kaum mehr als Landkarte identifizieren.92 Das ist kaum verwunderlich und diese

89 Persönliche Identität ist deshalb paradoxerweise in modernen Gesellschaften primär an ihre Differenzierung in Segmente gekoppelt, während sie in vormodernen Gesellschaften an funktionsspezifischen, individuellen Leistungen innerhalb der jeweiligen Segmente ausgerichtet ist. Das Problem der Ungleichheit wird dementsprechend heute primär auf die Ungleichheit zwischen einzelnen, dieselbe Funktion bedienenden Segmenten bezogen, während in vormodernen Gesellschaften Ungleichheit zuallererst funktionsspezifische Ungleichheit war (z. B. im Sinne von Rollenkomplementarität).

90 Tenbruck, Friedrich H., Gesellschaft und Gesellschaften. Gesellschaftstypen, in: Wissen im Überblick. Die Moderne Gesellschaft, Freiburg 1972, S. 54-71, S. 60.

91 In der soziologischen Literatur variieren die Termini zur Bezeichnung der hier von Tenbruck benannten Gesellschaftstypen zwar in Abhängigkeit von der jeweils bevorzugten theoretischen Perspektive, aber dennoch überwiegen die Gemeinsamkeiten. Im Rahmen einer evolutionstheoretischen Analyse unterscheidet Bernhard Giesen z. B. etwas anders als Tenbruck zwischen primitiven, traditionalen und modernen Gesellschaften. Ders., Makrosoziologie. Eine evolutionstheoretische Einführung, Hamburg 1980.

92 Es ist deshalb wohl auch kein Zufall, daß zwar einige vormoderne Gesellschaftstypen, nicht aber die moderne Industriegesellschaft bei Gerhard Lenski in kartographischer Projektion oder als Fotografie aus der Vogelperspektive gezeigt werden. Vgl. ders., Human Societies. A Macrolevel Introduction to Sociology, New York: McGraw-Hill 1970, S. 247, S. 264 (Karten), S. 132 (Bild).

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Unübersichtlichkeit entspricht in den hochentwickelten Regionen der Erde mittlerweile der Alltagserfahrung, obwohl es auch hier häufig eine bestimmte territoriale Konzentration bestimmter Funktionen gegeben hat und noch gibt.93 Für vormoderne Gesellschaften aber, seien sie nun in gleichartige Segmente oder zusätzlich noch nach Schichtung oder nach Zentrum und Peripherie differenziert, läßt sich eine tendenzielle Übereinstimmung zwischen sozialen und räumlichen Strukturen feststellen. Für den Typus der segmentären Differenzierung ist dies häufig gezeigt worden. 94 Die grobe Koinzidenz von räumlichen und sozialen Strukturen und die hohe Attraktivität einer räumlichen Metaphorik bei der Beschreibung von sozialen Strukturen scheint einherzugehen mit dem Seßhaftwerden menschlicher Gruppen. 95 Mit Piaget könnte man hier sagen, daß die Klassifikation von Gegenständen, Personen und Ereignissen während dieses ersten oder primitiven Stadiums der Gesellschaftsevolution die "präoperationale Stufe" der kognitiven Entwicklung noch nicht wesentlich überschreitet und deshalb räumliche Relationen einen inhärenten Aspekt aller Klassifikation bilden, also immer auch eine physische Beziehung zwischen den in bestimmte Klassen unterteilten Einheiten jeweils gegeben sein muß.96 Aber schon die Differenzierung unterschiedlicher Schichten - also metaphorisch gesprochen: eine vertikale Differenzierung - läßt sich nur noch vage und mit Schwierigkeiten anhand räumlich-horizontaler Grenzen verdeutlichen. Mit der Evolution von Hochkulturen vollzieht sich deshalb - so Bernhard Giesen - eine "folgenreiche Ablösung der sozialen Struktur (vom) räumlichen Kontext."97 Der Typus der funktionalen Differenzierung schließlich läßt sich im Vergleich dazu kaum mehr kartographisch sichtbar machen: was man zu sehen bekommt, ist ein wirres Geflecht zwischen einer Vielzahl unterschiedlicher Zentren einerseits und eine deutliche Segmentierung häufig ganz unterschiedlich strukturierter Regionen andererseits.98 Das Bild

93 Talcott Parsons hält diesen Themenkomplex zwar für "complicated matter", weicht dann aber leider aus. Vgl. ders., Equality and Inequality in Modern Society, or Social Stratification Revisited, in: ders., Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 321-380, S. 325.

94 Claude Levi-Strauss z. B. hat dies für die Bororo gezeigt (ders., Traurige Tropen, Frankfurt 1978; oder Michael Oppitz - um auf eine neuere Arbeit zu verweisen - für die Magar (ders., Onkels Tochter, keine sonst, Frankfurt/M. 1991, S. 346-362.). Vgl. auch Christopher Robert Hallpike, Die Grundlagen des primitiven Denkens, Stuttgart 1984, (VII. Kap.: Raum, S. 329-395.)

95 Giesen, Bernhard, Die Entdinglichung des Sozialen. Eine evolutionstheoretische Perspektive auf die Postmoderne, Frankfurt/M. 1991, S. 22.

96 Vgl. dazu im Anschluß an Piaget: Hallpike, Christopher Robert, Die Grundlagen des primitiven Denkens, Stuttgart 1984, S. 213.

97 Giesen, Bernhard, a.a.O., Frankfurt/M. 1991, S. 31.

98 Andere Autoren beschränken sich in Anbetracht dieser kartographisch kaum zu meisternden Lage auf die kartographische Projektion vormoderner Gesellschaften. Vgl. z. B. Lenski, Gerhard, a.a.O., 1970, S. 132, S.

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ist nicht zuletzt deshalb so heterogen, weil funktionale Differenzierung nicht dem neoklassischen Ideal einer über perfekte Marktbeziehungen organisierten Arbeitsteilung gehorcht,99 sondern sich - wie das Wirtschaftsleben schließlich auch - einer Landschaft, einer Region oder dem Globus im Ganzen in irreversibler Weise, nämlich geschichtlich einschreibt. Nationalstaaten lassen sich vermutlich aus der Satelliten- oder Vogelperspektive des Kartographen überhaupt nicht mehr identifizieren, weshalb man sie auf Landkarten durch besondere Farben voneinander unterscheidet. Es scheint fast unmöglich, sich mit Hilfe einer Landkarte von der modernen Gesellschaft ein angemessenes Bild zu machen. Was für in Segmente differenzierte Gesellschaften gilt und sich im Fall von nach Zentrum und Peripherie differenzierten Gesellschaften geradezu aufdrängt, scheitert, wenn es um die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft geht. Dennoch beherrscht das Kartenbild gerade die moderne Vorstellungswelt in fataler Weise, während in vormodernen Gesellschaften die über die Karte angeregte Vogelperspektive auf das, was dann als das eigene Land erscheint, relativ unbekannt ist.100 Erst mit der europäischen Entdeckung der Neuen Welt und deren kartographischer Erfassung gewinnt diese Perspektive eine schließlich die europäische und heute gar globale Vorstellungswelt beherrschende Dominanz. Die Art und Weise, in der diese Perspektive ein neues planetarisches Raumbewußtsein zu prägen beginnt, hat Carl Schmitt als "globales Liniendenken" zu charakterisieren versucht.101 Dieses ganz flächenhaft ausgerichtete Liniendenken verdankt sich dabei nicht zuletzt auch dem Umstand, daß die Neue Welt als ein freies Feld der europäischen Okkupation und Expansion begriffen wird, deren Aufteilung auf der Karte beginnt. Dieser bislang wenig analysierte Wandel der Vorstellungswelt durch die Möglichkeit des Kartenbilds hat heute alle Schichten erfaßt; jedermann ist kartenkundig oder wird wenigstens darauf getrimmt. Seit dem 19. Jahrhundert gehört der Geographieunterricht zum den Pflichtfächern an den Grundschulen; zunächst in Preußen, dann in Frankreich und mittlerweile weltweit. Hier erst lernen die Schüler und zukünftigen Bürger sich ein Bild ihres Vaterlandes in Abgrenzung zu seinen Nachbarstaaten zu machen. 102

247, S. 264.

99 Eine knappe Darstellung und Kritik, sowie einige Alternativen zum neoklassischen Modell des Wirtschaftswachstums findet sich z.B. in: Buttler, Friedrich / Knut Gerlach / Peter Liepmann, Grundlagen der Regionalökonomie, Reinbek 1977, S.58ff.

100 Anderson, Benedict, Imagined Communities, London 1991 (2. ergänzte Auflage), S. 172.

101 Schmitt, Carl, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1988, S. 54ff.

102 Lacoste, Yves, Geographie und politisches Handeln. Perspektiven einer neuen Geopolitik, Berlin 1990, S.

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Die kartographische Projektion führt zu einer in typischer Weise verzerrten Wahrnehmung der Gesellschaft. Die geschlossene Karte weckt den Eindruck flächendeckenden Wissens, wo häufig nur Fragmente des Territoriums erschlossen und durchmessen sind.103 Das Kartenbild verdeckt durch seine Kontinuität das eigene Unwissen. Dieses Verdecken liegt also, so könnte man sagen, fast in der Natur der Sache, nämlich in der Materialität der Darstellungsform und muß deshalb nicht immer auf imperiale Absichten zurückgerechnet werden. 104 Wer konsequent nur das kartographieren wollte, was bis zu einem gewissen Detail auch wirklich vermessen wurde und gleichzeitig die Differenz zwischen noch unbekannten und folglich nicht kartographierbaren und kartographisch irrelevanten Gegebenheit en auf der Karte selbst sichtbar machen wollte, wer also seine Wissenslücken mit kartographieren wollte, der könnte z. B. unzählige Löcher in seine Karte zu schneiden versuchen oder müßte die entsprechenden Wissenslücken auf irgend eine andere Weise markieren. Aber das Kartenbild läßt häufig nicht nur das eigene Unwissen vergessen, sondern suggeriert häufig Dinge oder Komplexe, die sich im Gelände so gar nicht finden lassen. Wenn man zwischen Aggregaten, sozialen Kategorien, Netzwerken und Systemen im Sinne einer Mehrebenenanalyse differenziert105, läßt sich diese Verzerrung genauer bestimmen. Die Konditionierung der Vorstellungswelt durch das Kartenbild führt vermutlich zu einer Vernachlässigung jener Netzwerke oder Systeme, die die politisch-territorialen Grenzen überkreuzen oder nach innen nicht mit der kartographischen Projektion des politischen Systems deckungsgleich sind. Darüber hinaus suggeriert das Kartenbild aufgrund seiner optischen Geschlossenheit aber auch noch dort flächendeckende, homogene soziale Kategorien, Netzwerke oder Systeme, wo eigentlich nur Aggregate statistisch erfaßbar sind.106 In diesem Sinne stellt Thongchai Winichakul im Hinblick auf die Geschichte der Kartographie Siams fest: "A map was a model for, rather than a model of, what it

46.

103 Dazu liefert J. Brian Harley, Maps and the Columbian Encounter, Milwaukee 1990, zahlreiche Beispiele.

104 Aber die Übergänge mögen gleitend sein. Graham Greene berichtet z. B. über seinen Journey Without Maps (Harmondsworth 1978, S. 45f.) in Sierra Leone: "I could find only two large scale maps for sale. One, issued by the British General Staff, quite openly confesses ignorance; there is a large white space covering the greater part of the Republic, with a few dotted lines indicating the conjectured course of rivers (incorrectly, I usually found) and a fringe of names along the boundary. These names have been curiously chosen: most of them are quite unknown to anyone in the Republic; they must have belonged to obscure villages now abandoned. The other map is issued by the United States War Department. There is a dashing quality about it; it shows a vigorous imagination. Where the English map is content to leave a blank space, the American in large letters fills it with the word 'Cannibals'. It has no use for dotted lines and confessions of ignorance;..."

105 Vgl. Hummel, Hans J., Probleme der Mehrebenenanalyse, Stuttgart 1972, S. 15f.

106 Benedict Anderson spricht in diesem Zusammenhang von totalisierender Klassifikation. Ders., a.a.O., 1991, S. 173.

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purported to represent."107 Auch hier hat die Schulung der Vorstellungswelt am Kartenbild einen ähnlichen Effekt wie im Falle der europäischen Nationenbildungen. Niklas Luhmann schreibt sogar schon mit Bezug auf Machiavelli und seine Zeit lapidar: "Gelegentlich hat man den Eindruck, daß der Staatsbegriff ein Nebenprodukt der Druckpresse ist, die es möglich macht, Landkarten, Atlanten etc. zu verbreiten, so daß man sich unter `Staat' ein auf diesen Landkarten sichtbares Gebiet vorstellt". 108 So mag unsere Vorstellungswelt geprägt werden, so mag sich vielleicht sogar die repräsentativ-statistische Sozialforschung Orientierung verschaffen, wenn sie bei der Bestimmung ihrer Grundgesamtheiten auf "die Territorialisierung, die Festschreibung der Bevölkerung in und durch den Raum" angewiesen ist,109 aber auf diese Weise läßt sich vermutlich kein angemessener Begriff der modernen Gesellschaft gewinnen. Mit einer ganz ähnlichen Stoßrichtung hat auch Emerich K. Francis schon in den 50er Jahren die implizite Gleichsetzung des Gesellschaftsbegriffs mit der nationalstaatlich-bürgerlichen Gesellschaft kritisiert und angemahnt, daß zum Verständnis der modernen Gesellschaft die Begriffskategorien der traditionellen Soziologie nicht mehr ausreichten. Ein entscheidendes Hindernis bei der Erarbeitung eines adäquaten Gesellschaftsbegriffs bezeichnet Francis als den "planimetrischen Irrtum". Gemeint ist damit die Tendenz, "sich die Gesamtbevölkerung der Welt als in so und so viele Nationen eingeteilt zu denken, deren genaue Grenzen und Verbreitung auf einer zweidimensionalen Landkarte abgesteckt werden können. Schematisch wird eine solche "Gesellschaft" etwa durch einen großen Kreis dargestellt, in den kleinere Kreise eingezeichnet sind, um verschiedenartige untergeordnete Gebilde anzudeuten, die teils ebenfalls räumlich begrenzbar sind (...), oder auch einander in vielen Querverbindungen überschneiden (...)."110 In der jüngeren Literatur hat insbesondere Michael Mann auf die Unangemessenheit dieses, von Francis als planimetrisch charakteris ierten und auch heute noch dominanten Gesellschaftsbilds aufmerksam gemacht. Soziologen und Sozialanthropologen begreifen, dieser Kritik zu Folge, Gesellschaft primär im Sinne nationalstaatlich oder quasi-nationalstaatlich abgesteckter Territorien. Eine so orientierte Perspektive auf Gesellschaft impliziert eine Koinzidenz der Grenzen der

107 Zit. nach Anderson, Benedict, a.a.O., 1991, S. 173.

108 Luhmann, Niklas, Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt/M. 1989, S. 65-148, S. 109.

109 Wienold, Hanns, Fragekultur und bäuerliche Gesellschaft - Erfahrungen mit empirischer Sozialforschung im pakistanischen Punjab, in: Andreß, Hans-Jürgen et al. (Hrsg.), Theorien Daten Methoden - Neue Modelle und Verfahren in den Sozialwis senschaften, München 1992, S.405-421, S.413.

110 Francis, Emerich K., Wissenschaftliche Grundlagen soziologischen Denkens, München 1957, S. 106f.

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verschiedenen sozialen Subsysteme, die als unrealistisch gelten muß. "State, culture, and economy are all important structuring networks, but they almost never coincide."111 Wenn man eine Karte dieser Netzwerke oder Systeme zeichnen wollte, würde eine sich vielfach überlappende Struktur sichtbar werden, aber sicherlich kein System von konzentrisch umeinander gelagerten Kreisen, und schon gar nicht, wie Michael Mann betont, eine Koinzidenz der verschiedenen Systemgrenzen. Ein historischer Vergleich verschiedener solcher Karten wird darüber hinaus aber auch noch eine typisch moderne Verkehrung in der Struktur der Einbettung der einzelnen Kurven ineinander sichtbar machen, soweit sich eine solche denn überhaupt feststellen läßt: Auf einer Karte der antiken Gesellschaft erschien die polis als das umfassendere System und eine Vielzahl von oikoi - von Haushalten - wären von ihr umschlossen; auf einer modernen Weltkarte aber wäre die Ökonomie - die Weltwirtschaft - das umfassendere System und fast alle politischen Einheiten, fast alle Staaten wären mehr oder weniger deutlich von ihr umschlossen. Für das im klassischen Gesellschaftsbegriff angenommene Verhältnis von Teil und Ganzem findet sich in der modernen Welt kein Pendant mehr. Dies zwingt zu einer gründlichen Infragestellung der dieser Tradition entnommenen Vorstellungen von sozialer Integration und Kontrolle, auf die wir im Abschnitt über lose und feste Kopplung ausführlich zurückkommen werden. Aber der planimetrische Irrtum ist kein Monopol der Makro-Perspektive, auch im Mikrobereich lassen sich ähnliche Verzerrungen feststellen. In der Makro-Perspektive erscheint die Gesellschaft - planimetrisch reduziert - als Nationalstaat; in der Mikro-Perspektive läßt sich der planimetrische Irrtum vielleicht am besten anhand der Figur von der "Kreuzung sozialer Kreise" aufzeigen. Hier aber wird die planimetrische Verzerrung der Wahrnehmung nicht über ein bestimmtes Kartenmaterial suggeriert, sondern verdankt sich vermutlich der anschaulichen Metaphorik unserer Begrifflichkeit. Aber auch hier bleibt die Verzerrung selbst unsichtbar, weil man kaum anders kann, als durch sie hindurch die Dinge zu betrachten und zwar so, als würden sie sich von selbst so zeigen. Die implizite Annahme einer mehr oder weniger deutlichen Konzentrik sozialer Kreise und der territorialen Koinzidenz gesellschaftlicher Subsysteme findet sich von Georg Simmel bis Talcott Parsons. Auf Simmel geht die zu einer Leitmetapher gewordene Formulierung von der "Kreuzung sozialer Kreise" zurück, um einzelne Individuen in den unterschiedlichen Rollen einer bestimmten, insbesondere aber einer modernen Gesellschaft verorten zu können. Zunächst kann man sich soziale Kreise als die planimetrische Projektion in bestimmter Weise lokalisierter Rollenmuster denken. Verschiedene Varianten sind hier denkbar: die Kreise mögen ohne sich zu schneiden nebeneinanderliegen, dann hätte man es mit dem schon von

111 Mann, Michael, The Sources of Social Power, Bd. 1, A History of Power from the Beginning to A.D. 1760, Cambridge 1986, S. 3.

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Spencer und Durkheim diskutierten Typus segmentärer Differenzierung zu tun. Die Kreise können aber auch hierarchisch ineinander gestaffelt sein, dann hätte man - wiederum in planimetrischer Projektion der jeweiligen sozialen Rollen - eine grob vereinfachte Projektion eines stratifikatorischen und nach Zentrum und Peripherie differenzierten Rollenmusters. Schließlich sind Mischtypen denkbar, die im Extremfall alle kombinatorisch möglichen Schnitt- und Teilmengen enthalten können, so daß schon bei einer relativ geringen Zahl von Kreisen die Zuordnung von Rollen zu einzelnen Personen ein hohes Maß an Individualität hinsichtlich der jeweiligen Rollenkombinationen mit sich bringt. Im letzten Fall wird die planimetrische Projektion dieser Kreise aber schwierig, ja unmöglich, wenn es sich um mehr als drei handelt und man die Forderung, daß es auch wirklich Kreise sein sollen, wörtlich nimmt. Man sollte deshalb besser nur geschlossene Kurven in der Ebene ziehen, so daß Innen und Außen eindeutig unterschieden sind, aber die Formen dieser Kurven beliebig ausfallen können. Es kommt dann nur mehr darauf an, Mengenelemente richtig zu verorten, die geometrische Form der die einzelnen Mengenelemente umschließenden Kurve ist dabei irrelevant. Bei schon wenig mehr als fünf Mengen aber wird das Bild schnell unübersichtlich. Die planimetrische Verortung bildet dann keine große Anschauungshilfe mehr. Simmels Metaphorik taugt deshalb nur zur Verortung von Rollenmustern geringer Komplexität und weder die Konzentrik noch die Kreisform lassen sich durchhalten, wenn man mehr als drei unterschiedliche Rollen genügend flexibel miteinander kombinieren will. Auch hier scheint also die planimetrische Projektion der Gesellschaft, abhängig von deren Komplexitätsgrad, nur mehr oder weniger sinnvoll. Im Fall der modernen Gesellschaft muß sie als weniger sinnvoll gelten. Dennoch beherrscht das Bild von der Kreuzung sozialer Kreise, und damit die planimetrische Projektion des sozialen Geschehens, noch vielfach das soziologische Denken. Parsons z. B. und mit ihm die Rollentheorie scheinen sich diese Kreise sogar immer noch als mehr oder weniger konzentrisch und der Größe nach einander einschließend zu denken. 112 Der größte, alles einschließende Kreis ist dann die Gesellschaft und deren Grenzen werden dann mit den Grenzen eines nationalstaatlich definierten Territoriums oder dem Lebensraum einer bestimmten Kultur identifiziert.113 Diese Sichtweise scheint aber heute immer weniger der sozialen Dynamik gerecht zu werden. Die in der Tradition Parsons' als Sollwerte des sozialen Geschehens identifizierten Werte, Deutungsmuster und kulturell tradierten Symbolsysteme (einschließlich der Muttersprache), haben ihre Kontrollkapazität in vielen

112 Vgl. dazu auch allgemein: Popitz, Heinrich, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen, 1980, S. 69-92, insbesondere S. 82ff.

113 So auch bei Parsons. Vgl. z. B. ders., Social Systems. In Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 177-203.

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Bereichen verloren. Insbesondere die Wirtschaft, die Wissenschaft und in vielerlei Hinsicht auch die Medienöffentlichkeit haben sich gegenüber solchen Vorgaben verselbständigt und definieren das, was man seit einigen Jahren Weltgesellschaft nennt. Hier haben sich Rollenerwartungen im Abseits von oder sogar konträr zu den Wertvorstellungen nationaler Gemeinschaften mit häufig katastrophalen Rückwirkungen auf diese verbreitet. Hier haben sich Strukturen entwickelt und Erwartungshaltungen aufgebaut, die auf der Ebene der Interaktion und selbst noch auf der Ebene nationaler Öffentlichkeiten nicht mehr zu kontrollieren sind. Der internationale Zahlungsverkehr, um nur eines der auffälligsten Beispiele zu nennen, entzieht sich den Sanktionsmöglichkeiten der auf persönliche Anwesenheit oder öffentliche Satisfaktionsfähigkeit angewiesenen Moral; man erreicht sein Gegenüber auf diese Weise nicht mehr. Um der territorialen, also mehr oder weniger planimetrischen Projektion der sich teilweise überschneidenden und nur teilweise deckenden Einflußbereiche der unterschiedlichen Teilsysteme der modernen Gesellschaft gerecht zu werden, scheint eine Modifikation oder Differenzierung des von Parsons initiierten Forschungsprogramms angebracht. Eine Reihe von Autoren haben deshalb im Anschluß an Parsons die Unterscheidung von Sozialintegration und Systemintegration ins Spiel gebracht.114 Wir möchten uns hier auf Anthony Giddens' Beitrag zur Bestimmung dieser Begriffe beschränken, da er sich am einfachsten in das hier diskutierte Forschungsprogramm einpassen läßt.115 Unter Integration versteht Giddens die Reziprozität bestimmter sozialer Praktiken. Der Modus der Sozialintegration bestimmt die Ebene der face-to-face- Beziehungen, also Interaktionssysteme, die auf Anwesenheit angewiesen sind, während der Modus der Systemintegration die Beziehungen zwischen zeitlich oder räumlich einander nicht präsenten Personen oder Kollektiven charakterisiert. Systemintegration setzt zwar - so Giddens - Sozialintegration voraus, aber sobald das Differenzierungsniveau von Stammesgesellschaften einmal überschritten ist, und damit die "high presents availability" aller Gesellschaftsmitglieder füreinander sinkt, differenzieren sich beide Modi der Integration

114 Eine Unterscheidung, mit der sich - nebenbei bemerkt - vielleicht die zu romantisch gefärbte Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft sinnvoll beerben läßt.

115 Die für ein solches Forschungsprogramm konstitutive Kontinuität bestimmter Leitgedanken wird leider häufig übersehen, einige wenige seien deshalb kurz benannt: Parallel zu Parsons Unterscheidung von träger Kultur und voluntaristisch handelnder Persönlichkeit, betont Giddens die Dualität sozialer Strukturen als Einschränkungen und Voraussetzungen sozialer Handlung; ähnlich wie Parsons arbeitet Giddens mit kybernetischen oder verwandten Regelungsbegriffen (Rückkopplung, Homeostase, kausale Kreise, Rekursion) und ähnlich wie Parsons, jedoch an historischen Beispielen besser ausgearbeitet, betont Giddens die zentrale Bedeutung von Raum und Zeit (also der Randparameter des AGIL-Schemas), und ähnlich wie Parsons betont Giddens die von anderen Soziologen häufig vernachlässigte notwendige Abhängigkeit sozialer Prozesse von deren naturaler und leiblicher Umwelt.

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zunehmend. Dabei geht es jedoch nicht um ein gleichförmiges Auseinanderdriften der beiden Integrationsmodi; es bilden sich vielmehr in Abhängigkeit von der sozialen Verfügbarkeit neuer Transport- und Kommunikationstechniken historisch immer wieder neue Aggregate.116 Insbesondere auf der Stufe des Nationalstaates scheinen beide Modi, mindestens im Selbstverständnis der Betroffenen, noch einmal eng zusammengeführt zu werden, nämlich in den Diskursen nationalstaatlich segmentierter Öffentlichkeiten. Diese Öffentlichkeiten können einheitlich, ja zuweilen sogar, wie das Gegenüber in der face-to-face-Interaktion, handlungsfähig wirken, wenn es, nicht zuletzt aufgrund eines staatlich zentralisierten Schulsystems, möglich wird, standardisierte Erwartungsstrukturen zu unterstellen und diese Strukturen durch ein ausgebautes Pressewesen bis in die kleinsten Winkel räumlich homogenisiert und tagtäglich oder sogar in noch schnellerem Takt zeitlich synchronisiert werden. Seit den Arbeiten von Karl W. Deutsch wird die enge Beziehung zwischen der Verbreitung von Printmedien und der Entstehung moderner nationaler Gemeinschaften in der Soziologie immer wieder betont.117 Aber mit der wachsenden Ausdehnung eines Sozialsystems in Raum und Zeit nehmen die Einflußchancen einzelner Mitglieder ab. Die Gesellschaft bietet dem Einzelnen dabei zwar eine Reihe neuer Möglichkeiten, aber sie entzieht sich als Ganzes auch zunehmend seiner Verfügbarkeit.118 Mit der Differenzierung von Sozial- und Systemintegration differenzieren sich deshalb auch die Motive der in der einen oder der anderen Weise aufeinander bezugnehmenden Akteure oder Kollektive: im kleinen Rahmen kann man noch auf Solidarität setzen, kann jeder einzelne noch etwas bewirken; in größeren Zusammenhängen und im Weltmaßstab aber zählen vorrangig unpersönliche "Sachzwänge" und regiert die Macht der Verhältnisse. Normative Erwartungen können sich hier nur rudimentär - wenn überhaupt - bilden, da es kaum Sanktionsmöglichkeiten gibt.119 Die Option "voice" im Sinne Hirschmans wird sinnlos, da die Adresse an die sie sich wendet, schon für "exit" optiert hat. Damit wird der Parsonsschen Identifikation von Gesellschaft und Nation der Boden entzogen. Einer Anregung Jürgen Ritserts folgend, läßt sich der

116 Dabei sind der Ausbau des Wegenetzes (Straße und Eisenbahn), sowie Buchdruck, Pressewesen und Telegraphie für die Ausbildung des Nationalstaats historisch von entscheidendem Interesse gewesen.

117 So auch bei Giddens, Anthony, The Nation-State and Violence, London, 1983, S. 174, S. 209ff.

118 Giddens, Anthony, The Constitution of Society, Cambridge 1984, S. 27f, S. 162ff.; ders., A Contemporary Critique of Historical Materialism, Bd. 1, Power, property and the state, London 1981, S. 157ff.

119 Dies ist für Parsons schließlich der entscheidende Grund, auf dieser Ebene nicht mehr von einem sozialen System zu sprechen. Vgl. ders., Social Systems. In Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 177-203, S. 193.

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Gesellschaftsbegriff des Strukturfunktionalismus in leichter Überzeichnung so darstellen, daß überdeutlich wird, was von Emerich K. Francis und Michael Mann an dieser Art Gesellschaft zu denken als irreführend und unrealistisch kritisiert wird: Aus strukturfunktionalistischer Perspektive - und sicherlich nicht nur aus dieser - kann man sich verschiedene Gesellschaften als räumlich voneinander eindeutig separierte, nebeneinander stehende Türme oder Hochhäuser vorstellen, deren einzelne Stockwerke die unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsysteme (Kultur, Gemeinschaft, Politik, Wirtschaft) bilden. 120 In zweidimensionaler Projektion fallen dann die Grenzen dieser Subsysteme mit dem Grundriß des Turmes, also dem Territorium des jeweiligen Nationalstaates zusammen. Aber die planimetrisch-kartographische Verortung sozialer Systeme ist sicherlich nicht nur ein Irrtum oder eine bloße Illusion. Der von Francis aufgezeigte planimetrische Irrtum bezieht sich auf eine Verzerrung oder Irreführung der Wahrnehmung. Es geht nicht darum, die planimetrisch-kartographische Projektion sozialer Systeme als eine in jeder Hinsicht unsinnige und von der Realität in keiner Weise gedeckte Perspektive zu verabschieden. Es geht nicht darum, diese Sichtweise als völlig aus der Luft gegriffenes

120 Jürgen Ritsert, Gesellschaft - Einführung in den Grundbegriff der Soziologie, Frankfurt/M. 1988, S. 61ff. Ritsert selber optiert allerdings etwas anders, als wir im Text. Da er die Turmbau-Parabel zur Veranschaulichung des allgemeinen Handlungssystems nutzt, ist natürlich schon die Bodenplatte viergeteilt. Solche Unterteilungen interessieren uns hier nicht, denn es handelt sich dabei tatsächlich nur um eine ideosynkratisch-metaphorische Ausmalung eines theoretischen Modells. Die von uns gewählte Darstellung des Gesellschaftssystem hingegen, soll ein von vielen - und nicht nur von Parsonianern - geteiltes Vorurteil, eine bestimmte Denkfigur veranschaulichen helfen. Diese Figur findet sich in ganz unterschiedlichen Schattierungen, aber die Varianten beschränken sich zumeist auf die Anzahl und Ausfüllung der einzelnen Stockwerke oder Ebenen, während die Annahme eines allen Stockwerken oder Ebenen gemeinsamen territorialen Fundaments wohl so gut wie nie in Frage gestellt wird. T. H. Marshall z.B. verweist zur Veranschaulichung der Klassenstruktur einer Gesellschaft auf ein Hochhaus und seine Stockwerke, mit der Anmerkung, es hätte sich mittlerweile in einen Bungalow verwandelt (Ders., Class, Citizenship and Social Development, Westport 1973, S. 46). Auch hier wird also von einer territorialen Koinzidenz der Grenzen - diesmal der Klassengrenzen - ausgegangen. Ralf Dahrendorf wählt ein auf ähnliche Weise planimetrisch verzerrtes Modell, wenn er die Klassenstruktur der britische Gesellschaft durch den vertikalen Aufbau einer Schichttorte veranschaulicht (Ders., On Britain, London 1982, S.55). Auch Gesellschaftskonzepte, die gegen den Sturkturfunktionalismus optieren, lassen sich also ohne weiteres eines planimetrischen Irrtums bezichtigen. Ja selbst Theoretiker, die ihre Analysen nicht auf den Nationalstaat beschränken und sich explizit auch den räumlichen Strukturen des sozialen Geschehens widmen und es deshalb eigentlich besser wissen könnten, sind Opfer dieses Bildes geworden. Fernand Braudel beispielsweise beschreibt die "Gesellschaft als übergreifendes Ganzes" als ein "mehrstöckiges Haus": der "Alltag" bzw. das "materielle Leben" bildet das Parterre und der "Kapitalismus" das "oberste Stockwerk" (Ders., Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, 2. Bd. Der Handel, München 1990, S. 11ff.). Wie dieser Vergleich mit dem von Braudel referierten historischen Material zusammenpassen soll, bleibt unklar, das Haus scheint irgendwie von oben und unten gleichzeitig gebaut zu sein und wie man sich die Außenwände vorzustellen hat, bleibt gänzlich rätselhaft. Vielleicht sollte man sich die einzelnen Stockwerke noch nach dem von Braudel sonst benutzten Zentrum-Zentrumsanlieger-Peripherie -Modell, also durch konzentrisch ineinander gelagerte Zonen untergliedert denken, also gewissermaßen ohne Außenwand, - aber darüber sagt der Autor an dieser Stelle leider nichts und ebenso undeutlich bleibt die Frage, ob alle Stockwerke eindeutig übereinander liegen, oder ob es Überhänge gibt. Und schließlich bleibt offen, ob überhaupt alle Räume des Gebäudes auch erreichbar sind. Folgt man Braudels materialen Analysen, drängt sich wenigstens der Eindruck auf, daß dieses Haus deutlich anders aussehen muß als der von Parsons und Ritsert analysierte Turmbau erahnen läßt.

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soziales Konstrukt oder bloßes Hirngespinst zu entlarven. Die territoriale Verortung und kartographische Erfassung sozialer Einheiten kann auch aus soziologischer Perspektive Sinn machen. Die geographische Ausdehnung sozialer Systeme ist nicht beliebig möglich. Sie variiert mit dem Differenzierungstyp einer Gesellschaft. Soziale System bilden constraints füreinander und zwar noch ganz unabhängig von der Frage, ob es sich um Funktionssysteme der modernen Gesellschaft oder um Segmente, wie z. B. Dörfer oder auch Nationalstaaten handelt. Aber die Form der Differenzierung, ob segmentär, hierarchisch oder als Differenzierung von Zentrum und Peripherie oder als funktionale Differenzierung, oder - und das ist wohl der Normalfall - eine Mischung zwischen diesen Typen, bestimmt die Verträglichkeit, Begünstigung oder auch Blockierung lokaler Systembildungen. Solche constraints müssen im Sinne einer Nischen-Ökologie begriffen werden und folgen nicht einem simplen territorialen Imperativ. Sie folgen keiner einfachen räumlichen Logik. "Hart stoßen sich die Dinge im Raume" (Schiller) - dies gilt für sinnkonstituierte Komplexe nur eingeschränkt, denn ihr Wert ist kein intrinsischer, und soziale Ereignisse und Objekte sind in subtilerer Weise aufeinander bezogen, als dies eine physische Nachbarschaft zwischen Gegenständen nahelegt. Dennoch lassen sich bestimmte Korrelationen zwischen sozialen und räumlichen Strukturen platterdings nicht leugnen. Für den Nationalstaat z. B. scheint eine ganz bestimmte Größenordnung typisch; seine Fläche ist geringer als die eines Reiches, aber größer als die eines typischen Stadtstaats mit Hinterland oder als das Gebiet eines primitiven Stammes. Insbesondere Charles Tilly hat in jüngster Ze it auf solche Korrelationen aufmerksam gemacht. Die heutigen Nationalstaaten unterscheiden sich in ihrer Fläche kaum um mehr als zwei Größenordungen. Noch um die Jahrhundertwende sah eine Weltkarte ganz anders aus; das Modell des Nationalstaats hatte noch keine weltweite Gültigkeit: einige riesige multikulturelle, stratifikatorisch differenzierte Imperien dominieren das Bild. Von der arabischen Halbinsel bis nach Südosteuropa reicht das osmanische Reich, und die Habsburger Monarchie und die Überseeimperien der europäischen Mächte erstrecken sich über Territorien von einer Größenordnung, die nur noch vom russischen und chinesischen Imperium überboten werden. Mit dem Zerfall der Reiche und der Entkolonisierung hat sich dieses Bild deutlich, häufig bis zur Unkenntlichkeit gewandelt. Dennoch lassen sich immer wieder gewisse Muster identifizieren und bestimmte Systematiken ausmachen: Fragen der Größe werden nicht durch Zufall entschieden. Größte und kleinste Grenzen von Stammesgesellschaften, Reichen oder Nationalstaaten lassen sich vermutlich durchaus angeben. Bei Stammesgesellschaften muß die Mindestgröße zum Beispiel die biologische Reproduktion gewährleisten, darf also eine bestimmte Zahl von Individuen - und bei Frauentausch: Dörfern - nicht unterschreiten,

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andererseits wird die Größe eines Stammes aber auch z. B. durch das Kriterium der kommunikativen, auf Mündlichkeit beschränkten Erreichbarkeit limitiert ( d. h. die Größe eines Dorfes findet ihre obere Grenze mehr oder weniger in der Sicht- und Rufweite seiner Bewohner; die Größe eines Stammes, der mehrere Dörfer umfaßt, wird wenige Tagesmärsche kaum überschreiten), und findet darüber hinaus natürlich auch eine territoriale Grenze durch die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen (ein bestimmtes Gebiet kann bei gegebener Kultur und Technik nicht mehr als eine bestimmte Anzahl von Personen ernähren).121 Reiche haben demgegenüber eine ganz andere Größenordnung. Schriftlich koordinierte Verwaltungsapparate122 und vergleichsweise hoch-mobile, also gewöhnlich berittene Exekutivorgane sind dabei die entscheidenden Vehikel großräumiger Kontrolle. Paul Virilio spricht in diesem Zusammenhang deshalb auch treffend von einer "Aristokratie der Geschwindigkeit". 123 Nimmt man an, daß die Einnahmen pro Fläche linear steigen, die Kontrollkosten aber in geometrischer Progression, so kann man aufgrund dieser unterschiedlich verlaufenden Funktionen der Skalenerträge bzw. -kosten eine minimale und eine maximale Größe postulieren. 124 Segmentäre Differenzierung verdankt sich wohl immer, worauf schon Parsons hingewiesen hat, sich verändernden Skalenerträgen, bzw. -kosten. 125 Würden die Erträge unabhängig von der Größe des jeweiligen Systems immer über den Kosten liegen, stände einer globalen Ausbreitung des Systems inhärent nichts im Wege. Um segmentäre Differenzierung zu erklären, kommt es also vor allem darauf an, genauer zu bestimmen, was als Analogie zu den Kosten und was als Analogie zu den Erträgen interpretiert und miteinander verrechnet werden kann. Auch für Nationalstaaten lassen sich Kriterien für eine Minimal- und vielleicht auch für eine Maximalgröße angeben. Schulwesen, Polizei und Militär beanspruchen z. B. Ressourcen, die nicht von beliebig kleinen Territorien erbracht werden können. 126 Aber auch

121 Vgl. Lenski, Gerhard, Human Societies. A Macrolevel Introduction to Sociology, New York 1970.

122 Vgl. Goody, Jack, The Logic of Writing and the Organization of Society, Cambridge 1986, S. 87ff.

123 Ders., Fahrzeug. in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. von Karlheinz Barck et al., Leipzig 1990, S. 47-70, S. 48.

124 Vgl. hierzu im Anschluß an Randall Collins, Weberian Sociological Theory, Cambridge 1986, S. 186-208, auch Maryanski, Alexandra / Turner, Jonathan H., The Social Cage: Human Nature and the Evolution of Society, Stanford 1992, S. 131ff.

125 Vgl. Parsons, Talcott, An Outline of the Social System, in: ders., et al. (Hrsg.), Theories of Society - Foundations of Modern Sociological Theory, New York 1965, S. 30-79, S. 44f.

126 Folgt man Anthony Giddens, The Nation-state and Violence, Cambridge 1985, S. 13, so lassen sich auch für den Nationalstaat allokative und autoritative Ressourcen in ähnlicher Weise aufeinander beziehen, wie dies

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für eine obere Grenze lassen sich verschieden Faktoren angeben. Ein Nationalstaat ist nicht einfach das politische Pendant zu einer nationalen Kultur. Kulturelle Homogenität, als das vielleicht wichtigste Kriterium nationalstaatlicher Legitimation, ist, selbst wenn vorhanden, keine ausreichende Garantie für politische Integration. Auch wirtschaftlich muß die jeweilige Bevölkerung integriert werden können und wirtschaftliche Gefälle zwischen einzelnen Regionen können deshalb die politisch Integration eines relativ homogenen Kulturgebiets durchaus gefährden. Die räumlichen Korrelationen zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionen und Segmenten sind bis heute nur unzureichend analysiert. Schon weit vor der Zeit der Nationalstaaten z. B., findet sich im europäischen Raum eine starke negative Korrelation zwischen der Größe eines Staates und der Dichte der Städte.127 Urbanisierung kann dabei als ein grober Index für Modernität betrachtet werden. Die räumliche Ausbildung von Nationalstaaten korreliert mit solchen urbanen Verdichtungen. Die Entstehung und spezifische Ausprägung des Systems der Nationalstaaten in Europa läßt sich, wie Charles Tilly zeigt, relativ gut über die territoriale Konzentration von Kapital und die Konzentration der Möglichkeiten politisch-militärischer Gewaltausübung erklären. 128 Nicht eine jeweils gemeinsame Kultur und Sprache, sondern die räumliche Verteilung von Kapital und Macht standen bei der Ausbildung des Systems der europäischen Nationalstaaten im Vordergrund. Kultur und Sprache lassen sich mit Hilfe moderner Verwaltungsapparate und einem gut organisierten Schulwesen durchaus im Zeitraum von ein bis zwei Generationen erfolgreich nachsozialisieren. 129 Aber natürlich bedürfen solche Organisationen auch wiederum einer bestimmten kulturellen Einbettung und operieren nicht voraussetzungslos. Die Okkupation eines Territoriums durch eine bestimmte Sprachgemeinschaft aber bildet für sich genommen, wie Ernest Gellner betont, auch heute noch keine ausreichende Grundlage für die Entstehung nationalistischer Bewegungen oder den Anspruch auf Nationalstaatlichkeit, geschweige denn für die erfolgreiche Behauptung eines solchen Anspruchs. Schon rein numerisch gibt es eine viel größere Zahl verschiedener Sprachen, als es nationale Bewegungen gibt. Nationalstaaten sind nur in einer Größenordnung erfolgreich, die oft eine Vielzahl von weit kleinräumigeren Sprachgemeinschaften übergreift.130

für Reiche zu gelten scheint.

127 Tilly, Charles, Coercion, Capital, and European States, Oxford 1990, S. 40.

128 Vgl. Tilly, Charles, a.a.O., 1990.

129 Vgl. dazu auch Weber, Eugen, Peasants into Frenchmen: The Modernization of Rural France 1870-1914, Stanford 1976.

130 Gellner, Ernest, Nations and Nationalism, Oxford 1983, S. 43ff.; ders., Scale and Nation, in: Barth, Fredrik (Hrsg.), Scale and Social Organization, Oslo 1978, S. 133-149.

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Wenigstens im 19. Jahrhundert stand für die nationalen Bewegungen die Bildung "lebensfähiger" Staaten im Vordergrund. "Im heutigen Sinn des Begriffs war das Streben nach solchen Nationalstaaten insoweit nicht nationalistisch, als keineswegs eine Welt aus Nationalstaaten beliebiger Größe und ohne Rücksicht auf deren Ressourcen als erwünscht galt, sondern eine Welt `lebensfähiger' mittlerer und großer Staaten. Daraus folgt, daß erstens eine große Anzahl `nationaler' Gruppen von der Fähigkeit zur Staatenbildung ausgeschlossen wurde. Zweitens bedeutete es für die meisten anerkannten Nationalstaaten die Aufgabe des Konzepts der nationalen Homogenität."131 Segmentäre Differenzierung läßt sich aber auch noch aufgrund eines anderen räumlich wirkenden Mechanismus erklären und zwar in einer Weise, die deutlicher als das ökonomische Modell der Skalenerträge bzw. -kosten die Entstehung räumlicher Muster im Sinne einer Zentrum-Peripherie Differenz herausstellt. Physiker sprechen von diesem Modell als einem Reaktions-Diffusions-Modell, Biologen scheinen die Bezeichnung Aktivator-Inhibitor-Modell zu bevorzugen. 132 Der in unserem Zusammenhang entscheidende Unterschied zum klassischen Modell der Skalenerträge liegt darin, daß dieses Modell die Gebiete, in denen die Entwicklung stagniert und u. U. dauerhaft blockiert ist, gewissermaßen positiv zu identifizieren erlaubt. Das Modell der Skalenerträge erlaubt es die maximal mögliche Größe beispielsweise eines Staates zu berechnen. Über das, was jenseits der Staatsgrenze geschieht, sagt es nichts. Parsons scheint dies dahingehend zu interpretieren, daß dort ein weiterer Staat, ein neues Segment beginnt. Das Modell wird von Parsons genutzt, um die Größe und einher damit die Grenze zwischen einzelnen Segmenten zu erklären, wobei unterstellt wir, daß diese Segmente nach innen hin mehr oder weniger homogen sind. Das Reaktions-Diffusions-, bzw. Aktivator-Inhibitor-Modell erlaubt es demgegenüber die Bildung räumlicher Muster, also den von Spencer identifizierten Übergang von Homogenität zu Heterogenität, in einer Weise zu erklären, die nicht dazu zwingt, Heterogenität alleine auf Systemgrenzen zu reduzieren. Das Modell dient nicht der - man könnte fast sagen betriebswirtschaftlichen - Bestimmung maximaler oder minimaler Systemgrößen, sondern der Erklärung von morphogenetischen Prozessen innerhalb eines Systems oder innerhalb

131 Vgl. Hobsbawm, Eric, Bemerkungen zu Tom Nairns 'Modern Janus', in: Nairn, Tom et al. (Hrsg.), Nationalismus und Marxismus, Berlin 1978, S. 45-77, S. 47.

132 Vgl. z. B. Meinhardt, Hans, Models of Biological Pattern Formation, London 1982; ders., Bildung geordneter Strukturen bei der Entwicklung höherer Organismen, in: Küppers, Bernd-Olaf, Ordnung aus dem Chaos, München 1987, S. 215-241; Kauffman, Stuart A., The Origins of Order. Self-Organization and Selection in Evolution, New York 1993, S. 566ff; Murray, James D., Wie der Leopard zu seinen Flecken kommt, in: Chaos und Fraktale - Spektrum der Wissenschaft, Reihe: Verständliche Forschung, Heidelberg 1989, S. 178-185; Gierer, Alfred, Die Physik, das Leben und die Seele, München 1985, S. 121ff.

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eines Raumes.133 Das Aktivator-Inhibitor-Modell dient der Erklärung eines autokatalytischen, eines sich-selbst-verstärkenden und schließlich auf einem bestimmten Niveau selbst-blockierenden Prozesses. Die beiden Komponenten des Modells lassen sich jedoch nicht ohne weiteres im Fall von sozialen Systemen identifizieren. Gunner Myrdal hat jedoch einen Analyserahmen entwickelt, der es erlaubt die entscheidenen Variablen zu bestimmen. 134 Myrdal versucht im Rahmen eines Wachstumsmodells zu erklären, warum die Kluft zwischen reichen und armen Ländern heute eher wächst, statt abzunehmen. Myrdal unterscheidet dazu Ausbreitungs- und Kontereffekte (spread effects und backwash effects) des Wachstums.135 Damit es zu einer Nivellierung der Differenz zwischen ärmeren und reicheren Ländern kommt, müssen die Ausbreitungseffekte über beide Ländern hinweg stärker sein als die Kontereffekte. Ist dies jedoch nicht der Fall, dann kommt es zu einer Polarisation zwischen den beiden Ländern oder - je nach Wahl der Untersuchungseinheit - zu einer Polarisation innerhalb eines Landes oder einer Region. Die Polarisation kann sogar in eine Entwicklungsblockade oder sogar in eine Abwärtsentwicklung umschlagen. Der Ausbreitungseffekt kann mit dem Aktivator identifiziert werden. Er produziert sich autokatalytisch über im Modell als zufällig gestreut angenommene Abweichungen, er gehorcht einem Multiplikator. Investitionen können beispielsweise zu einer Verbesserung der Infrastruktur führen, zu einer Höherqualifikation der Arbeitskräfte und zu einer Verstärkung

133 Diese Figur ist von Spencer her bekannt. Aber auch das Matthäus Evangelium enthält bereits in nuce, worauf es uns im Folgenden ankommt: "Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat genommen werden." (Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1968, Neues Testament S.39, Matthäus Evangelium 25) Hier wird bereits die Figur der positiven und negativen Rückkopplung im Sinne der Kybernetik genutzt, mit derer Hilfe sich Prozesse der Selbstverstärkung und der Selbstverhinderung einfach erklären lassen. Unter dem Titel 'Matthew effect' ist der soziologisch abstrahierbare Gehalt dieser Anekdote mittlerweile ins Standardrepertoire soziologischer Erklärungsmechanismen aufgenommen. (Vgl. z.B. Parsons, Talcott, Equality and Inequality in Modern Society, or Social Stratification Revisited, in: ders., Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York 1977, S.321-380, S.329f.) Beide Prozesse des `matthew effects' lassen sich als auf einen Gleichgewichtspunkt zusteuernde Prozesse interpretieren; der Umschlagpunkt (in der Bibel schon quantifiziert durch eine bestimmte, in Zentnern gemessene Masse Silber) von Abweichungsverminderung zu Abweichungsverstärkung und umgekehrt wird durch einen oder mehrere Parameter bestimmt. In der Bibel ist es nur einer. Zwischen einem und zwei Zentnern Silber muß der kritische Wert dieses Parameters liegen. Dem Knecht mit nur einem Zentner wird auch dieser genommen; derjenige mit anfänglich zweien hingegen erhält bereits vier. Die Abweichungsverstärkung ist nicht linear (ein Zentner Silber wird zu keinem, aus zwei Zentnern Silber werden vier, aus fünf werden zehn plus einem, nämlich dem des dritten Knechts), so daß sich das System mit einiger Sicherheit wirklich für die eine oder die andere Option entscheidet und nicht nur lediglich um den kritischen Wert fluktuiert. In der Nähe dieses Wertes können kleine Schwankungen den zukünftigen Zustand des Systems entscheiden, hier entsteht Ordnung durch Fluktuationen, order from noise.

134 Myrdal, Gunnar, Rich Lands and Poor. The Road to World Prosperity, New York 1957, S. 11-38. Albert O. Hirschmann hat ein ganz ähnliches Modell entwickelt. Vgl. ders., Die Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung, Stuttgart 1967, S. 175ff.

135 Wir übernehmen diese Übersetzung der beiden Termini einer Fußnote in Hirschmann, Albert, a.a.O., 1967, S. 175. Hirschmann wählt für seinen eigenen Ansatz die Begriffe Sicker- und Polarisationseffekte.

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der Nachfrage und diese Effekte machen eine Region wiederum für weitere Investitionen attraktiv. Dieser autokatalytische Wachstumsprozeß - Myrdal spricht von einer zirkulären und kumulativen Kausalität - gräbt sich aber unter Umständen ab einem bestimmten Niveau selbst das Wasser für weiteres Wachstum ab. Der Aktivator aktiviert nicht nur sich selbst, sondern auch den Inhibitor. Der Inhibitor entspricht im Modell Myrdals dem Kontereffekt. Es ist schwierig sich im Fall sozialer Systeme den Inhibitor gewissermaßen als eine eigenständige Substanz vorzustellen. 136 Um die Sache zu vereinfachen, wollen wir den Inhibitor deshalb über eine Verknappung bestimmter Ressourcen, beispielsweise von Arbeitskräften oder Vermarktungsmöglichkeiten, definieren. Räumliche Muster entstehen nun genau dann, wenn der Inhibitor weiter reicht, d. h. eine größere Fläche erfaßt, als der Aktivator. Die Akkumulation von Reichtum an einem Ort verhindert in diesem Modell deshalb ein Gleichziehen der Orte in seiner Umgebung. Solange der Inhibitor weiter reicht als der Aktivator, ist - solange keine anderen Eingriffe erfolgen - eine ungleiche Entwicklung, also die Entstehung eines räumlichen Musters die naturwüchsige Folge.137 Myrdals Modell hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der insbesondere auf Walter Christaller und August Lösch zurückgehende Theorie zentraler Orte.138 An die Theorie zentraler Orte schließen Allen und Sanglier an, um ein fast mit den selben Gleichungen operierendes Modell der räumlichen Musterbildung zu entwickeln. Auch in ihrem Modell entsteht aufgrund von Selbstverstärkungs- und Inhibierungsmechanismen räumliche Ordnung. Auch hier entscheidet die Ausgangslage und die Implementation zufälliger Störungen über das letztlich emergierende Muster. Da das simulierte System aufgrund seiner eigenen Geschichte immer nur selektiv auf die Störungen reagiert, spricht man in diesem Zusammenhang heute häufig auch von Selbstorganisation. 139 "Chance nudges the spatial pattern into a unique configuration."140

136 Man könnte hier aber heute vielleicht an Giftmüll und Giftmüllexporte und deren soziale Folgen denken.

137 Diese Folge ist naturwüchsig, weil das Verwertungsinteresse des Kapitals (oder, wie es heute heißt, die Autopoiesie der Wirtschaft) über keine innere Stoppregel verfügt, sondern unersättlich ist. Alfred Gierer diskutiert aber auch einige politische Umverteilungsmaßnahmen zur Nivellierung der so produzierten Differenzen. Ders., "Socioeconomic Inequalities: Effects of Self-Enhancement, Depletion and Redistribution", Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 196/4 (1981), S. 309-331. Das Modell ist im übrigen abstrakt genug formuliert, um räumliche Strukturbildungsprozesse auch in ganz anderen gesellschaftlichen Bereichen erklären zu können. Statt wirtschaftliche Unternehmen als Katalysatoren zu behandeln, könnte man hier auch an Kirchen oder Universitäten oder Verwaltungsapparate denken. Auch in diesen Systemen fehlen (bis heute) innere Stoppregeln und ihr Wachstum flaut erst ab, wenn die entsprechenden Ressourcen ausgehen.

138 Vgl. dazu Haggett, Peter, Geography. A Modern Synthesis, New York 1979, S. 351ff.

139 Allen, P.M. / Sanglier, M., "A Dynamic Model of Growth in a Central Place System", Geographical Analysis, 11 (1979), S. 256-272; dies., " A Dynamic Model of Central Place System - II", Geographical Analysis 13 (1981), S. 149-164. Vgl. auch: dies., Order by Fluctuation and the Urban System, in: Zeleny, Milan

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Kleine Fluktuationen können bleibende Standortvorteile katalysieren und die Entwicklung andernorts schließlich blockieren. Es macht hier durchaus Sinn von einer "Entwicklung der Unterentwicklung" zu sprechen, aber die Mechanismen, die diesen Prozessen unterliegen, sind viel allgemeiner als die von Andre Gunder Frank, auf den diese Formel zurückgeht, identifizierten. Ein Vorteil dieser Modelle besteht darin, daß sie die klassischen Schuldzuweisungen der amerikanischen Modernisierungstheorie und der marxistischen Imperialismustheorien wenigstens teilweise überflüssig machen. Solche Schuldzuweisungen scheinen auf der Annahme zu beruhen, daß große Wirkungen auch entsprechend große Ursachen haben müßten. Dem ist aber nicht immer so. Um die Ungleichheit in der Welt zu erklären braucht man weder auf Kultur, Nationalcharakter oder Mentalität, noch auf ebenso problematische Ausbeutungs-, Tasch- oder Verschwörungstheorien zurückzugreifen. Wenn man mit Verweis auf den Zufall, also auf die eigene Unkenntnis, und mit Hilfe von darauf aufbauenden Selbstverstärkungs- und Blockierungsmechanismen dieselbe Entwicklung erklären kann, empfiehlt sich eine solche modelltheoretische Erklärung aus Gründen begrifflich-theoretischer Sparsamkeit. Daß Sozialstrukturen und die Größe - und damit zumeist auch die territoriale Ausdehnung - sozialer Systeme nicht beliebig variieren, darauf haben auch schon Adam Smith, Herbert Spencer, Emile Durkheim, Georg Simmel, Talcott Parsons u. a. aufmerksam gemacht.141 Smith begreift beispielsweise den Grad der Arbeitsteilung als abhängig von der Größe des Marktes.142 Spencer und Simmel behandeln den Grad der sozialen Differenzierung als abhängig von der Bevölkerungszahl. Durkheim koppelt den Übergang zur modernen funktionalen Differenzierung an demographische Veränderungen, an Bevölkerungswachstum und verdichtung. Parsons schließlich behandelt die Größe und geographische Struktur segmentär differenzierter sozialer Gemeinschaften als abhängig im Sinne einer "economy of scale" von spezifischen Kommunikationsmedien und Transportmöglichkeiten. 143 Die

(Hrsg.), Autopoiesis, Dissipative Structures, and Spontaneous Social Orders, AAAS Selected Symposium 55, Boulder: Westview Press 1980, S. 109-132.

140 Haggett, Peter, The Geographer's Art, Cambridge, Mass. 1990, S. 162.

141 Diese Liste läßt sich natürlich schnell erweitern: Auch bei Aristoteles und Plato finden sich z. B. bereits Überlegungen über eine angemessene Größe der polis und in der heutigen Organisationssoziologie werden ähnliche Überlegungen angestellt. Robert Michels "eisernem Gesetz der Oligarchie" kommt dabei vermutlich eine Schlüsselrolle zu.

142 Smith, Adam, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 2 Bde., Oxford 1976 (3. Kapitel: That the Division of Labour is limited by the Extent of the Market), S. 31-36.

143 Parsons, Talcott, The Principal Structures of Community, in: ders., Structure and Process in Modern Societies, New York 1960, S. 250-279.

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möglichen Korrelationen zwischen "Scale and Social Organization" ist aber für die soziologische Theoriearbeit ein Randthema geblieben. 144 In ähnlicher Weise ist die Frage, inwiefern regionale oder globale Differenzen der Sozialstruktur einander bedingen, vernachlässigt worden. Obwohl diese Frage anscheinend eine zentrale Rolle in der Sozialphilosophie gespielt hat, seit über die Differenz von Stadt und Land nachgedacht wurde,145 ist sie heute fast nicht mehr präsent. Für die Soziologie bildete diese Fragestellung bis heute vermutlich deshalb kein attraktives Thema, weil sie durch die diversen sozialdarwinistischen und marxistischen Imperialismustheorien ideologisch besetzt war. In der Vernachlässigung dieser beiden Fragen spiegeln sich die Theoriedefizite, die es heute so schwer machen, soziale Einheiten wie Nation, Gesellschaft, Weltmarkt etc. sinnvoll aufeinander zu beziehen. Wie sich die Beziehungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen theoretisch begreifen lassen und ob die Art dieser Beziehungen eine enge räumliche Korrelation dieser Subsys teme mit Notwendigkeit nach sich ziehen muß, so wie es das Modell des Nationalstaats fordert, soll im nächsten Abschnitt gefragt werden.

3. Lose und feste Kopplung Soweit man im Einklang mit Shils oder Parsons Selbstgenügsamkeit (self-sufficiency) als das Definitionskriterium für Gesellschaft wählt, erhalten normative Integration und die Orientierung an gemeinsamen kulturellen Werten eine Schlüsselrolle bei der Identifikation von Gesellschaften. Für die moderne Welt folgt damit quasi von selbst - weil die Rechtssyteme bis heute überwiegend territorialstaatlich segmentiert sind und sich die so segmentierten Staaten überwiegend als Nationalsaaten, d. h. über eine sich mehr oder weniger über dasselbe Territorium erstreckende gemeinsame Kultur legitimieren - : Gesellschaften sind Nationalstaaten. Gleichzeitig wird damit behauptet, daß die modernen

144 Eine der wenigen Ausnahmen bildet paradoxerweise eine der bekannteren Einführungen in die Soziologie, nämlich Gerhard Lenskis Human Societies, New York 1970. Darüberhinaus ist der wichtige, von Frederik Barth herausgegebene Sammelband Scale and Social Organization, Oslo 1978 zu nennen. Aber insbesondere in der Makro-Soziologie haben Fragen der räumlichen Ausdehnung in jüngster Zeit wieder an Interesse gewonnen. Vgl. z. B. Maryanski, Alexandra / Turner, Jonathan H., The Social Cage: Human Nature and the Evolution of Society, Stanford 1992.

145 Vgl. Ritter, Joachim, Die große Stadt, in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/M. 1977, S. 341-354.

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Nationalstaaten den Rahmen für funktionale Differenzierung bilden. Funktionssysteme werden als Subsysteme, als Untereinheiten solcher nationalstaatlich verfaßten Gesellschaften begriffen. Auch die moderne Form der gesellschaftlichen Differenzierung, nämlich die funktionale Differenzierung, erscheint in dieser Perspektive als eine Form hierarchischer Differenzierung, nämlich als eine klare Über- und Unterordnung der einzelnen Subsysteme. Integration bezieht sich dabei auf die Einfügung und Unterordnung der Teile unter ein Ganzes, und von der Unterordnung muß man dabei fordern, daß sie mehr oder weniger flächendeckend gelingt. Diese theoretisch begündete Subsumtion des sozialen Lebens unter ein "gemeinsames Dach" erlaubt es deshalb, verschiedene, in dieser Weise identifizierte Gesellschaften in planimetrischer Projektion, so wie es jede politische Karte zeigt, voneinander zu scheiden. Um diesen Typus der Subsumtion der einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme zu begründen, hat Talcott Parsons den Begriff der kybernetischen Kontrollhierarchie entwickelt, und erst an dieser Theoriestelle scheint uns eine sinnvolle Kritik an der Identifikation von Nation und Gesellschaft möglich. Erst hier läßt sich diese Identifikation theoretisch in Frage stellen, denn die Anbindung des Gesellschaftsbegriffs an ein Modell hierarchischer Kontrolle läßt sich theoretisch kaum verteidigen. Es soll im folgenden nicht mehr um eine Option zwischen verschiedenen Definitionskriterien von Gesellschaft gehen, sondern es soll gezeigt oder wenigstens doch plausibel gemacht werden, daß das Kriterium der normativ-kulturellen Selbstgenügsamkeit auf ein Konzept hierarchischer Kontrolle angewiesen ist, das sich nicht durchhalten läßt. Mit Parsons hätte man das, was hier als planimetrischer Irrtum vorgestellt wurde, als eine Grundstruktur der sozialen Wirklichkeit selbst verteidigen können, aber die dazu benötigten Annahmen und Argumente lassen sich, wie hier gezeigt werden soll, nicht durchhalten. Erstens überschätzt Parsons die Möglichkeiten hierarchischer Kontrolle und folglich die Möglichkeiten kultureller Integration, und zweitens überschätzt er die evolutionäre Robustheit eines auf diese Weise integrierten Systems. Wir möchten zeigen, daß das von Parsons entworfene Kontrollmodell unrealistisch ist146 und zweitens, daß selbst, wenn ein in dieser Weise sich selbst kontrollierendes System sich historisch realisieren sollte, es als evolutionär äußerst

146 Unsere Darstellung der Theorie der Kontrollhierarchie deckt sich - so wenigstens unser Eindruck - nicht immer mit Parsons' Anwendung dieser Theorie, sondern konzentriert sich vorrangig auf die von Parsons gewählte begriffliche Gegenüberstellung von control und constraint. Parsons' Hierarchiebegriff läßt mehrere Interpretationen zu und ist deshalb klärungsbedürftig. Wir interpretieren Parsons im folgenden bewußt einseitig, wenn wir uns auf die von Rainer C. Baum und Frank J. Lechner verworfene Interpretation konzentrieren. Dies., Zum Begriff der Hierarchie: Von Luhmann zu Parsons, in: Baecker, Dirk et al., (Hrsg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1987, S. 298-332. Dabei geht es uns aber nicht um einen allgemeinen Verriß, sondern vielmehr darum, deutlich zu machen, in welcher Weise man nicht mehr produktiv an Parsons anschließen kann.

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gefährdet ge lten müßte.147 Eine Alternative können wir leider nicht präsentieren, aber bevor wir unter dem Stichwort Weltgesellschaft die Flucht in die Abstraktion empfehlen, sollen noch einige theoretische Gesichtspunkte benannt werden, die man dabei schon heute in Rechnung stellen sollte. Parsons Kontrollmodell beruht auf einer strikten Kopplung zwischen kontrollierendem und kontrolliertem System und genau diese Annahme scheint uns im Hinblick auf soziale Systeme äußerst unrealistisch zu sein. Als Alternative dazu wollen wir zum Ende dieses Abschnitts ein auf Herbert Simon zurückgehendes Modell loser Kopplung vorstellen. Wenn sich die moderne Gesellschaft im Modus loser Kopplung integriert, zwingt dies dazu, die Identifikation von moderner Gesellschaft und Nationalstaat aufzugeben. Wenn die moderne Gesellschaft als ein nur lose gekoppeles System begriffen werden kann, dann haben nationalstaatliche Grenzen nur noch eine untergeordnete Rolle. Nationalstaatliche Grenzen sind dann eine bestimmte Art von Grenzen neben vielen anderen. Sie sind die territoriale Projektion der politischen Segmente der modernen Gesellschaft, aber sie scheiden nicht die Gesellschaft von einer nicht-gesellschaftlichen Umwelt. Parsons' Paradigma - im Sinne eines die Vorstellungswelt des Theoretikers orientierenden Beispiels - für das Konzept der kybernetischen Kontrollhierarchie ist ein einfacher technischer Regelkreis, nämlich die Thermostat-gesteuerte Heizungsanlage.148 Um

147 Auch dieser zweite Teil unserer Kritik muß relativiert werden. Die Kritik trifft nur dann zu, wenn der evolutionstheoretische Bezugsrahmen (neo-darwinian-synthesis) tatsächlich alleine in der Lage ist, die Entstehung von Ordnung durch Selektion zu erklären. Es müßte also gezeigt werden, daß die moderne Gesellschaft vorrangig ein Produkt der Evolution ist. Vgl. dazu Lenski, Gerhard, Human Societies, New York 1970; Giesen, Bernhard, Makrosoziologie, Hamburg 1980. Eine evolutionstheoretische Einführung, Hamburg 1980; ders., Die Entdinglichung des Sozialen. Eine evolutionstheoretische Perspektive auf die Postmoderne, Frankfurt/M. 1991; Schmid, Michael, Theorien sozialen Wandels, Opladen 1982; Junge, Kay, Evolutionary processes in society, in: Blackwell Dictionary of Twentieth-Century Social Thought, hrsg. von William Outhwaite und Tom Bottomore, Oxford 1993, S. 213ff. Als eine dazu alternative, oder sagen wir besser, ergänzende Er klärungsstrategie könnte man aber auch versuchen, die moderne Gesellschaft als ein Resultat von Phasensprüngen, ein Produkt der Selbstorganisation zu begreifen. Wäre letzteres der Fall, dann muß unsere Kritik deutlich eingeschränkt werden. Emile Durkheim hat soziale Differenzierung bereits über Größenwachstum und nicht über Selektionsprozesse zu erklären versucht. Diese sicherlich ebenso einseitige Option verdankt sich in der Hauptsache einer soziologisch begründeten Ablehnung sozialdarwinistischer Erklärungsstrategien, von denen sich die heutige soziologische Evolutionstheorie jedoch gründlich gelöst hat. Evolutionstheoretische und selbstorganisationstheoretische Ansätze in der Soziologie können sich deshalb heute durchaus produktiv ergänzen. Stuart A. Kauffman hat einen programmatisch interessanten Vorschlag einer Synthese von Neodarwinismus und Selbstorganisation vorgelegt. Ders., The Origins of Order. Self-Organization and Selection in Evolution, Oxford 1993.

148 Vgl. z. B. ders., Some Problems of General Theory in Sociology, in: ders., Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 229-269, S. 235; ders., A Paradigm of the Human Condition, in: ders., Action Theory and the Human Condition, New York 1978, S. 352-433, S. 375. Obwohl Parsons seit den 60er Jahren bestrebt war, sein Theorieunternehmen mit Hilfe evolutionstheoretischer Anleihen zu renovieren, hat dies seine Konzeption der Kontrollhierarchie kaum beeinflußt. Er vergleicht zwar immer wieder Kultur und Gene, aber begreift das Verhältnis von kulturellen Codes und Gesellschaft bzw. von genetischem Codes und Organismus immer nur im Rahmen seines Kontrollmodells, als ginge es um eine Art Instruktion.

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eine Hierarchie der Kontrolle zu erhalten, differenziert Parsons die gesellschaftlichen Subsysteme in bezug auf ihren jeweiligen, von ihm vermuteten Informationsgehalt und Energieverbrauch. "Systems high in information but low in energy regulate other systems higher in energy but lower in information."149 In Analogie zur Vorgabe einer bestimmten Raumtemperatur und zum Funktionskreis des Heizungssystems, wird auch für die Gesellschaft ein bestimmter Sollwert angenommen, der über einen Rückkopplungsmechanismus das soziale Geschehen steuert. Aber dieser Kontrollprozeß unterliegt gewissen Einschränkungen; die Heizungsanlage muß auch leisten können, was der Sollwert fordert. Parsons unterscheidet deshalb zwei Arten von System-zu-System-Beziehungen, nämlich constraint und control. Control ist die Beziehung vom jeweils informationsreicheren System zum energiereicheren System, constraints wirken in umgekehrter Richtung. Das constraint umgrenzt dabei den Bereich des jeweils Regulierbaren. Parsons folgt hier in ganz spezifischer Weise, nämlich in energetischer Verengung, einer mittlerweile in der Systemtheorie weit verbreiteten, aber wesentlich abstrakter ansetzenden Klassifikation von Einflüssen, nämlich der Unterscheidung von Variablen und Parametern: die Variablen gehören zum jeweiligen System, die Parameter limitieren ihre Variierbarkeit.150 Kontrolle kann dann entweder in der Manipulation bestimmter Variablen bestehen, oder in einer Veränderung der Beziehungen zwischen diesen Variablen. Eine Veränderung der Variablen kann aber auch zu einer Verschiebung des Bereichs und der Größen relevanter Parameter führen; wie auch umgekehrt eine Veränderung im Bereich der Parameter andere Variablen, andere Variablenwerte und andere Kombinationen von Variablenwerten erforderlich machen kann, um das System auch weiterhin kontrollieren zu können. Bestimmte Variablen können also uninteressant werden und bestimmte Parameter in die Funktion von Variablen aufrücken. Die Unterscheidung von Parametern und Variablen hängt immer vom spezifischen Interesse des Beobachters ab; sie ist nicht, wie Parsons Unterscheidung von constraint und control, über den Energiehaushalt des Systems vorgegeben. Parsons hat leider die Ende der 50er Jahre einsetzende und heute wieder modern gewordene Diskussion zum Thema Selbstorganisation nicht produktiv rezipiert, ja nicht einmal zur Kenntnis genommen. Sein Kontrollmodell ist in einem genauen Sinne trivial. 151

149 Z. B. Parsons, Talcott, Societies. Evolutionary and Comparative Perspectives, Engelwood Cliffs, N.J. 1966, S. 9.

150 Ashby, Walter Ross, Design for a Brain, (Orig. 1952) London 1978, S. 71.

151 Nämlich im Sinne des von Heinz von Foerster sogenannten Modells der Trivialmaschine. Vgl. ders., Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich, in: ders., Wissen und Gewissen, Frankfurt/M. 1993, S. 233-268, S.244ff.

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Parsons stellt negative und positive Rückkopplungsprozesse in Rechnung und vermag somit sowohl die Beseitigung von Abweichungen als auch Selbstverstärkungsprozesse zu analysieren, aber wie aus Zufällen Ordnung entstehen könnte, bleibt unbegriffen. Die Kombination der Mechanismen ist nicht raffiniert genug. Der Thermostat ist tatsächlich eine passende Analogie und das so orientierte Konzept der Kontrollhierarchie (LIGA) geht kaum darüber hinaus: in beiden Fällen ist Kontrolle etwas Triviales. Ganz ähnlich konzipierte Mechanismen, wie z. B. die stärker in Analogie zu hydraulischen Konstruktionen formulierte psychoanalytische Differenzierung von Über-Ich, Ich und Es hatten bereits einen vergleichbaren Komplexitätsgrad erreicht.152 Obwohl Parsons die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung in auch heute noch gültiger Weise formuliert hat, ist seine Antwort traditionell und, wenn man genau hinschaut, nur marginal von kybernetischen Überlegungen inspiriert. Parsons hat dem Problem sozialer Ordnung mit der aus der Sozialpsychologie und Spieltheorie schon vertrauten Figur der doppelten Kontingenz eine klassische Form gegeben. 153 Seine Lösung des Problems ist aber apodiktisch. Er zeigt im Anschluß an Durkheim, der wiederum an Rousseau anschließt, daß die Frage nach der sozialen Ordnung vertragstheoretisch nicht zu beantworten ist, denn die Frage nach den vertraglichen Grundlagen des Vertrages führt beim Versuch, sie zu Ende zu denken, in den infiniten Regreß oder in eine Paradoxie. Einen Ausweg gibt es nur durch einfache Setzung und soweit diese Erfolg hat, schließt man von da aus auf die nicht-vertraglichen Grundlagen des Vertrags. Was für Rousseau der volonté général und für Durkheim das conscience collective ist, ist für Parsons die Spitze der Kontrollhierarchie: die kulturellen Muster und Wertvorstellungen. Alle drei Autoren haben theoretisch schlüssig zeigen können, wie man die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung nicht beantworten kann, wo sie aber selbst eine positive

152 Unsere These, daß Parsons und Freud ein Kontrollmodell benutzen, das nur im Fall von Trivialmaschinen erfolgreich sein kann mag als übertrieben gelten, wenn man den Zeitraum der jeweils postulierten Kontrollprozesse nicht weit genug fast. Soziale Kontrolle ist für Parsons und Freud immer ein von zwei Seiten ansetzender, bzw. auf zwei Lebensphasen verteilter Mechanismus. Die soziale Kontrolle eines Erwachsenen kann nur dann greifen, wenn er zuvor in angemessener Weise sozialisiert wurde. Das Individuum wird während seiner Kindheit von der Gesellschaft in einer Weise deformiert, die es möglich macht, daß späteres Verhalten den Eindruck erwecken kann, es würde sich individueller Selbstkontrolle verdanken. In das zu kontrollierende System wird während der Kindheit eine Kontrollapparatur internalisiert, die das so bearbeitete System glaubend macht, es würden sich selbständig für dieses oder jenes Verhalten entscheiden und nicht in trivialer Weise auf bestimmte inputs reagieren. Erst im Verlauf der Sozialisation wird aus dem Individuum eine Trivialmaschine. Sozialisation wird als Trivialisierung begriffen und erst mit einem in dieser Weise geformten Menschenmaterial scheint Parsons und Freud soziale Ordnung möglich.

153 Zuerst in: ders., The Social System, New York, 1951, S. 5, S. 10, S. 36, S. 48. Die Figur ist natürlich älter. Insbesondere Adam Smiths Theorie der "moral sentiments" ist hier zu nennen. Aber schon davor findet sich die Figur der doppelten Kontingenz in fast jeder denkbaren Hinsicht systematisch durchdekliniert. Vgl. als Überblick: Lovejoy, Arthur, Reflections on Human Nature, Baltimore 1961.

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Antwort geben, müssen sie sich den Vorwurf eines schlechten Funktionalismus gefallen lassen. 154 Parsons liefert keine Begründung für den von ihm eingeschlagenen Ausweg aus dem sogenannten Dilemma des Utilitarismus. Er sichert diese Theorieentscheidung definitorisch. Er verweist darauf, daß schon im Begriff der Handlung die normative Orientierung immer mitgemeint sein muß. Es macht deshalb für Parsons keinen Sinn, auch noch die normative Orientierung des Handelns selbst zu hinterfragen. Der von ihm gewählten Begriffsdefinition korrespondiert eine bestimmte Beobachtungstechnik. Damit wir eine Handlung als Handlung identifizieren können, muß sie symbolisch bestimmbar, individuell zurechenbar und motivational begründbar sein. 155 Andernfalls handelt es sich um bloßes Verhalten ohne direkte soziale Relevanz. Verständliche und erst recht sozial akzeptable Motiv ebenso wie kommunikativ nutzbare Symbolsysteme liegen aber nicht im Bereich individueller Beliebigkeit oder Willkür. Erst im Verlauf der Sozialisation lebt sich das Individuum in sie ein, internalisiert sie oder lernt sie im Rollenspiel zu simulieren. Aber für den Einzelnen bleiben sie aufgrund ihrer Komplexität im Großen und Ganzen unverfügbar. Der so ausgeübte soziale Zwang wirkt produktiv, indem er Orientierung ermöglicht. Insofern die jeweils gültigen sozialen Muster individuell unverfügbar sind, macht es durchaus Sinn, hier von einer Kontrolle des sozialen Geschehens durch die gesellschaftlich dominanten Symbolsysteme zu sprechen. 156 In Analogie zum kybernetischen Sollwert kontrollieren sie das soziale Verhalten. Das Modell hat sicherlich einen gewissen Wert für die Spezifikation der Beziehungen zwischen den Variablen und Parametern des allgemeinen Handlungssystems. Fraglich scheint uns aber, ob sich das Modell der hierachischen Kontrolle in gleicher Weise auch zur Erhellung der Beziehungen zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Subsystemen eignet. Zunächst plausibel scheint die Analogie, wenn man den Thermostaten z. B. mit gesellschaftlichen Wertmustern identifiziert und die Heizanlage mit der wirtschaftlichen Ausbeutung der Natur. Diese Parallelisierung entspricht dem LIGA-Modell. Protestantismus

154 Damit soll nicht behauptet sein, daß auf diesem theoretisch ungesicherten Grund prinzipiell keine sinnvolle Theoriebildung möglich ist. Und natürlich ist diese Art von funktionalistischer Erklärung auch heute noch durchaus üblich. Vgl. dazu Mark Granovetters treffende Kritik an der unreflektiert funktionalistisch gebauten, ökonomischen Erklärung von Institutionen. Ders., "Economic Action and Social Structure: the Problem of Embeddedness", American Journal of Sociology 91 (1985), S. 481-510, S. 488.

155 Parsons, Talcott, a.a.O., 1951, S. 36.

156 Diese Annahme hat wiederholt Kritik provoziert: der Handelnde ist kein "cultural dope"; Handlungen können auch kreativ sein. Vgl. Garfinkel, Harold, Studies in Ethnomethodology, Cambridge 1984, S. 68; Menzies, Ken, Talcott Parsons and the Social Image of Man, London 1976, S. 110ff.; Joas, Hans, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. 1992.

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und Kapitalismus beispielsweise lassen sich dann in diesem Sinne behandeln. Parsons Differenzierung von relativ energiereichen und relativ informationsreichen Systemen scheint uns aber kaum haltbar, wenn dabei gleichzeitig vorausgesetzt wird, daß alle Subsysteme der Gesellschaft symbolisch verfaßt und sinnkonstituiert sind. Eben diese Voraussetzung wird aber auch von Parsons geteilt. Damit wird der Relevanzbereich der im Schema der Kontrollhierarchie aufeinander bezogenen Systeme und Handlungen in ganz spezifischer Weise eingeschränkt. Alles nur organische und primär physiologisch Interessante wird als irrelevant ausgeblendet.157 Die Unangemessenheit der Unterscheidung von Information und Energie in bezug auf soziale Systeme wird sofort deutlich, wenn man bestimmte Ereignissequenzen aus jeweils in der Kont rollhierarchie einander untergeordneten Systemen vergleicht. Wer einen Scheck ausstellt, wird kaum mehr Energie verbrauchen, als jemand, der ein Gebet spricht. Das Thermostat-Modell gibt hier kaum mehr eine Orientierungshilfe. Organische oder energetische Vorgänge fallen nicht, oder wenigstens nicht direkt, in den Interessenbereich der Soziologie. Ihr geht es um die Struktur und Dynamik symbolisch generalisierter, sinnhafter Prozesse.158 Victor Lidz hat deshalb eine entscheidende Kritik an Parsons Konzeptualisierung des A-Systems geübt159, der sich Parsons später tendenziell angeschlossen hat. Wenn die Unterscheidung von informationsreichen und energiereichen Systemen soziologisch wenig Sinn macht, und deshalb die darauf aufbauende Unterscheidung von constraint und control als spezifischen Modi der Systembeziehung zur hierarchischen Staffelung der Funktionssysteme und zur Begründung einer allgemeinen Kontrollhierarchie in dieser Form nicht mehr zur Verfügung steht, muß man versuchen, die Beziehungen zwischen den einzelnen Systemen in anderer Weise zu spezifizieren. Wir möchten uns dazu einer relativ weit verbreiteten Typologie bedienen. Mit Hilfe der Unterscheidung von Sollwerten einerseits und Systemverhalten andererseits lassen sich drei unterschiedliche Arten von Systemen und, wenn man solche Systeme auf ihre input-output-Beziehungen beobachtet, von System-zu-System-Beziehungen unterscheiden, nämlich: Steuerung, Regelung und Anpassung.160 Statt von Anpassung, sollte man vielleicht besser von Störung

157 Damit soll nicht gesagt sein, daß es irrelevant ist. Gerade in Anbetracht der gegenwärtigen ökologischen Risiken wäre eine solche Option kaum angemessen. Aber es ist irrelevant, für eine Antwort auf die Frage `Wie ist soziale Ordnung möglich?', denn `Durch regelmäßiges Essen!' kann man doch wohl nicht antworten wollen.

158 Vgl. dazu auch Weber, Max, `Energetische' Kulturtheorien, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1982, S. 400-426.

159 Lidz, Charles W. / Victor Meyer Lidz, Piagets Psychologie der Intelligenz und die Handlungstheorie, in: Loubser, Jan J. et al.(Hrsg.), Allgemeine Handlungstheorie, Frankfurt/M. 1981, S. 202-327.

160 Vgl. Flechtner, Hans-Joachim, Grundbegriffe der Kybernetik. Eine Einführung, (4. Auflage) München 1984, S. 44.

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sprechen, dann hätten alle drei Beziehungstypen den gleichen Richtungssinn. Als Anpassung läßt sich dann u. U. das Systemverhalten beschreiben, das auf eine externe Störung folgt. Mit den Termini Steuerung, Regelung und Störung ist das Spektrum der Kontrollmöglichkeiten oder besser, das Spektrum möglicher Einflußnahmen, einigermaßen abgedeckt. Der Begriff der Steuerung meint einen direkten Durchgriff auf das Systemverhalten. Eine totale Steuerung setzt mit Bezug auf das gesteuerte System eine eins-zu-eins-Beziehung zwischen beiden Systemen voraus und macht die Unterscheidung der beiden Systeme damit eigentlich überflüssig. In der Sprache Heinz von Foersters könnte man sagen, das System ist vollständig trivialisiert, denn sein Verhalten ist in jeder Hinsicht vorhersagbar und deshalb vollständig kontrollierbar. Steuerung meint hier nicht mehr als Kraftverstärkung. Autofahren ließe sich als typisches Beispiel für diese Art von Steuerung nennen, jeder output des Fahrers wird in einen, und nur einen und immer denselben, ganz bestimmten output seiner Maschine übersetzt.161 Ein in diesem Sinne steuerbares System läßt sich kaum im Gegenstandsbereich der Soziologie finden. Der Begriff der Regelung stellt demgegenüber einen gewissen Grad an Autonomie des der Regelung unterliegenden Systems in Rechnung. Hier wird nicht mehr das jeweilige Systemverhalten direkt und jeweils im einzelnen und bis ins kleinste Detail durch die Vorgabe bestimmter inputs dirigiert, sondern es werden nur mehr die Ziele des Verhaltens von außen festgelegt. Regelung meint also die Vorgabe von Sollwerten für das Systemverhalten. Die thermostatgeregelte Heizungsanlage ist hier das Standard Beispiel: Der Benutzer gibt die gewünschte Temperatur vor, und die Anlage regelt sich anschließend mittels eines eigenen Rückkopplungsmechanismus selbst. Dieser Rückkopplungsmechanismus verkörpert dabei die Autonomie des Systems.162 Theorien der Planung arbeiten mit diesem Regelungsbegriff insofern sie Planung als Entscheidung über Entscheidungsprämissen bestimmen. Auch Parsons' Begriff der control scheint Regelung im hier definierten Sinn zu meinen. Sowohl für den Begriff der Steuerung wie auch für den

161 Dabei ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß das so gesteuerte System auch über eigene Rückkopplungsmechanismen verfügt. Der Fahrer zündet schließlich nicht die Zündkerze, sondern den Anlasser. Wenn man statt Fahrer und Auto Reiter und Pferd gewählt hätte, oder Fotograf und Kamera, soweit sie z. B. über einen Belichtungsautomaten verfügt, rückt die Eigenregelung des jeweiligen Objekts - und damit seine eventuelle Tücke - vielleicht deutlicher in den Vordergrund. Entscheidend aber ist, daß diese Rückkopplungen für den Benutzer intransparent bleiben können, ohne daß dadurch die für ihn relevanten Kontrollmöglichkeiten beschränkt werden. Hier wird deutlich, daß der Begriff der Steuerung immer nur perspektivisch verwandt werden kann.

162 Allgemein können die Sollwerte konditional in bezug auf Anlässe aus der Systemumwelt definiert werden oder als anlaßlos, als bloße Zielvorgaben das Systemsverhaltens instruieren. Niklas Luhmann und Vilhelm Aubert unterscheiden dementsprechend zwischen Konditional- und Zweckprogrammen. Diese Unterscheidung bezieht sich aber lediglich darauf, wie das System anspringt.

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Begriff der Regelung scheint es angebracht die System-zu-System-Beziehungen, der mit diesen Begriffen aufeinander bezogenen Systeme im Sinne von Über- und Unterordnung zu konzipieren, also im Sinne einer Kontrollhierarchie. Im Unterschied zu Steuerung und Regelung werden im Falle der Störung sowohl das Systemverhalten als auch die dieses Verhalten orientierenden Sollwerte durch das System selbst bestimmt. Es paßt sich der Störung an. Das System kann nun nicht mehr als ein einfacher, in eindeutiger Weise funktionierender Mechanismus begriffen werden, der bestimmte inputs in bestimmte, und zwar immer wieder dieselben outputs verwandelt. Ereignisse in der Umwelt des Systems, insofern sie für dessen Verhalten relevant sind, haben jetzt für einen externen Beobachter primär den Charakter von Störungen, gegenüber denen das System auf einen neuen Gleichgewichtszustand einschwenkt. Wie dies geschieht, ist von außen nur noch sehr schwer zu berechnen. Der Begriff der Störung meint dabei nicht etwas bloß Zufälliges, sondern soll mit Bezug auf den Möchte-gern-Kontrolleur besagen, daß seine Eingriffe hier nicht mehr den Charakter von Instruktionen haben, sondern eben von Störungen, d. h. ihre Effekte sind von ihm selbst nicht mehr vollständig kontrollierbar. Walter Ross Ashbys "homeostat" ist vielleicht die erste bewußt konstruierte Maschine, die selbstregulierend auf äußere Störungen reagiert, und deshalb ein gutes Beispiel für den Typus primär störender Einflußnahme.163 Ashby charakterisiert seinen homeostat als ein ultrastabiles System. Schon sehr einfache Systeme dieser Art lassen sich kaum noch von außen kontrollieren. Sie bestimmen ihre Ziele in Abhängigkeit von früheren Störungen selbst, verfügen also über mehrere innere Zustände, die darüber bestimmen, wie das nächste Mal auf einen bestimmten input reagiert wird. Damit wachsen die Kombinationsmöglichkeiten von input und output ins faktisch Unberechenbare. Der Begriff der Kontrolle wird deshalb mehr oder weniger sinnlos.164 Statt eines direkten Beispiels soll hier nur der berühmte Kommentar zu Ashbys Homeostat von W. Grey Walter zitiert werden: "This creature, Machina sopra, it might be called, is like a fireside cat or dog which only stirs when disturbed, and then methodically finds a comfortable position and goes to sleep again."165 Da der vom System eingeschlagene Weg von der Störung zu einem neuen Gleichgewichtspunkt nicht mehr immer einfach berechnet und deshalb auch nicht kontrolliert werden kann, spricht man heute

163 Ashby, Walter Ross, Design for a Brain, (Orig. 1952) London 1978, S. 100ff.

164 Heinz von Foerster bezeichnet deshalb solche Maschinen als nicht-triviale Maschinen. Das Problem der Berechenbarkeit ist dabei kombinatorischer Art. Schon eine Maschine mit nur vier verschiedenen inputs, zwei verschiedenen Transformationsfunktionen und vier verschiedenen outputs erweist sich dabei als praktisch unberechenbar, denn es gibt zuviele verschiedene Möglichkeiten, diese miteinander zu kombinieren. Vgl. ders., a.a.O., 1993, S.247ff.

165 Ders., The Living Brain, London 1953, S. 81.

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auch von Selbstorganisation.166 Sobald es beim bloßen Versuch bleibt, ein System zu kontrollieren und der Erfolg der intendierten Kontrolle ausbleibt oder marginal ist, wird deutlich, daß die oben gemachte Unterscheidung von Sollwerten oder inneren Zuständen und aktuellem Verhalten selbst nur eine von außen angelegte Unterscheidung ist. Dies gilt erst recht für die noch deutlicher anthropomorphen Kategorien Zweck und Mittel. Der Sollwert ist kein Ziel des Systems, selbst wenn es sich im Falle des Nichterreichens dieses Wertes aufzulösen begönne. Die auf diese Weise klassifizierten Verhalten und Stimuli unterscheiden sich schließlich nicht substantiell, sondern bestenfalls in bezug auf die Zeithorizonte, in denen sie einem Beobachter relevant scheinen. Für die systemkonstitutive Selbstbezüglichkeit gibt es diese Unterscheidung vielleicht gar nicht und nur ein Beobachter, der unterschiedliche inputs klassifizieren kann, kann auch Ebenen und Zeithorizonte differenzieren. Für ihn mag die Behauptung, das System würde ein Ziel verfolgen, eine sinnvolle und ökonomische Beschreibung des Systemverhaltens sein. 167 Heinz von Foerster benutzt den Begriff des Eigenwerts bzw. Eigenverhaltens, um das Verhalten zu charakterisieren, auf das ein rekursiv operierender Mechanismus nach einer gewissen Zeit einschwingt.168 Aber von Foersters Definition ist nicht ohne Tücke, denn nur, wenn ein solches Verhalten für einen bestimmten Beobachter einigermaßen stabil ist, kann er überhaupt erst ein Objekt beobachten; erst dann macht es Sinn von einem System zu reden. Wir beobachten also gewöhnlich nicht ein System plus Ziele, Sollwerte oder Eigenwerte, sondern umgekehrt: erst das rekursive "Errechnen" eines Eigenwerts konstituiert ein beobachtbares System. 169 Die Grenzerhaltung (boundary maintenance) ist das Entscheidende;

166 Auch Parsons benutzt in Anlehnung an Walter B. Cannon den Begriff der Homöostase. Er wendet ihn aber primär mit bezug auf das Gesellschaftssystem im Ganzen an, nicht so sehr mit bezug auf die einzelnen Subsysteme. Was aber spricht gegen diese Anwendung? Wenn sie berechtigt ist, läßt sich das Konzept der Kontrollhierarchie so nicht mehr durchhalten. Sich selbst-regulierende Systeme sind nicht mehr in eindeutiger Weise und direkt an ihre Umwelt gekoppelt, sondern zeichnen sich durch eine eigene Systemgeschichte aus. Jan J. Loubser benutzt Ashbys Begriff der Ultrastabilität, der dem der Homöostase entspricht, zur Charakterisierung der einzelnen Subsysteme des Handlungssystems. Damit erlangen die Subsysteme jeweils Selbstkontrollkapazitäten, die Parsons ihnen vorzuenthalten schien, indem er sie für das Gesamtsystem reservierte. Gesteht man ihnen jedoch diese homöostatische Selbstregulierungsmöglichkeit zu, dürften die Chancen für eine gezielt-erfolgreiche wechselseitige Einflußnhame als äußerst bescheiden gelten.

167 Dieser Beobachter kann natürlich auch das System selbst sein - eine für Soziologen wohl selbstverständliche Annahme. Solche Systeme werden wir im Kapitel sieben gesondert behandeln.

168 Der Begriff geht aber nicht auf von Foerster zurück, wie vielfach in der soziologischen Literatur angenommen zu werden scheint; er findet sich in zahlreichen Varianten in systemtheoretischen, mathematischen und physikalischen Arbeiten und mittlerweile sogar in der Logik. Häufig spricht man im Hinblick auf dynamische Modelle auch von Attraktoren.

169 Vgl. z. B. ders., Kausalität, Unordnung, Selbstorganisation, in: Kratky, Karl W. und Friedrich Wallner,

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von Zielerreichung (goal-attainment) zu sprechen, macht erst dann Sinn, wenn das System, in Reaktion auf eine Störung, auf einen neuen Gleichgewichtspunkt zusteuert, der von einem Beobachter als ein Systemziel beschrieben werden kann. Wenn sich zwei oder mehrere Systeme nur mehr störend aufeinander beziehen, muß das jedoch noch lange nicht heißen - wie Parsons anzunehmen scheint -, daß unter diesen Bedingungen keine Ordnung mehr möglich ist. Natürlich kann man sich auf das Verhalten eines anderen Systems einstellen, auch wenn es sich nicht kommandieren oder lenken läßt und zuweilen überraschend reagiert. Die einander störenden Eigenverhalten generieren - wenn sie sich längerfristig aufeinander einstellen - fast unweigerlich ein neues System mit einem eigenständigen Eigenverhalten. 170 Es ist kaum zu bestreiten, daß sich viele der hier referierten Überlegungen auch bei Talcott Parsons finden lassen. Auch bei ihm heißt es z. B.: "A goal is (...) defined in terms of equilibrium."171 Auch er verweist immer wieder auf Walter B. Cannons Theorie der Homöostase, also auf einen Mechanismus der Selbstregulierung und das heißt der Kontrollverweigerung; aber Parsons bezieht diesen Begriff vorrangig auf die Gesellschaft im Ganzen, und nur äußerst inkonsequent auch auf die funktionalen Subsysteme. Ihn interessiert die Kontrolle der Subsysteme, nicht ihre Homöostase, nicht ihre Autonomie. Insbesondere Alvin Gouldner hat auf die Inkonsistenz dieser, seiner Meinung nach ideologisch motivierten Disposition aufmerksam gemacht. Ein gesellschaftliches Gleichgewicht, also erfolgreiche Kontrolle des Ganzen über die Teile oder im Sinne der LIGA-Hierarchie, muß nicht automatisch auch ein Gleichgewicht der einzelnen Subsysteme der Gesellschaft bedeuten: "To the degree that parts possess some measure of functional autonomy, they must be expected to seek to maintain this. In short, the equilibrium assumption, applied to a social system as a whole, would seem equally applicable in principle to its parts. Thus, the parts of a social system should be expected to `maintain their boundaries'. It must then be assumed that

(Hrsg.), Grundprinzipien der Selbstorganisation, Darmstadt 1990, S. 77-95. Insbesondere Geoffrey Vickers hat schon in den 60er Jahren darauf hingewiesen, daß sich das Verhalten eines Systems kaum unter der Rubrik des "goal-seeking" angemessen erfassen läßt, sondern es vielmehr darauf ankommt, herauszubekommen, wie ein System sich auf seine Umwelt bezieht und die Differenz und Relation zur Umwelt aufrechterhält. "The goals we seek are changes in our relations or in our opportunities for relating; but the bulk of our activity consists in the 'relating' itself." Ders., The Art of Judgement - A Study of Policy Making, London 1983, S. 33.

170 Und das gleiche gilt umgekehrt: Jedes System, daß wir zu durchschauen versuchen, müssen wir dazu zerlegen; wir erhalten dann mindestens zwei neue Systeme, die wir wiederum zu durchschauen versuchen etc. ad infinitum. Vgl. dazu Glanville, Ranulph, "Inside Every White Box, There Are Two Black Boxes Trying To Get Out", Behavioral Sciences 27, 1982, S. 1-11; deutsche Übersetzung in: ders., Objekte, Berlin 1988, S. 119-147.

171 Parsons, Talcott, An Outline of the Social System, in: Parsons, Talcott et al. (Hrsg.), Theories of Society, New York 1965, S. 1-79, S. 39.

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parts with some degree of functional autonomy will resist full or complete integration into the larger system."172 Es ist deshalb mit vielerlei Ungleichgewichten, die sich unter Umständen nie vollständig miteinander arrangieren lassen, und einer entsprechenden Dynamik des gesamten Systems zu rechnen. Es ist nicht einmal auszuschließen, daß "functionally autonomous parts may have a `vested interest' in changing the system."173 Nimmt man die moderne, über jeweils spezifische Funktionscodes produzierte Autonomie gesellschaftlicher Subsysteme theoretisch ernst, ist es so gut wie unmöglich, kontrollierende und kontrollierte Systeme voneinander zu scheiden und hierarchisch zu ordnen. Auf seiten der Systemtheorie ist dies erst von Niklas Luhmann systematisch in Rechnung gestellt worden. Auch er definiert zwar in deutlicher Anlehnung an Parsons jeweils subsystemspezifische Funktionen und Leistungen, aber betont in Opposition zu Parsons, daß sich darüber keine Kontrollhierarchie mehr begründen läßt, denn als autopoietisch geschlossene, also autonome Systeme, sind diese Systeme blind füreinander und allenfalls in der Lage, einander zu irritieren und sich darüber miteinander einzurichten. 174 Die Struktur der Kopplung, falls man hier überhaupt noch von Kopplung sprechen will, macht das gezielte Bewirken von Wirkungen und die Beobachtung kausaler Verknüpfungen so gut wie unmöglich. 175

172 Gouldner, Alvin, Reciprocity and Autonomy in Functional Theory, in: Demerath III, N. J. / Richard A. Peterson, System, Change, and Conflict, New York 1967, S. 141-169, S. 157; vgl. auch: ders., The Coming Crisis of Western Sociology, London 1972, S. 213-216.

173 Gouldner, Alvin, a.a.O., S.162.

174 Nicht ganz überzeugend scheint uns deshalb der in enger Anlehnung an Luhmann formulierte Versuch, die Konzeption einer Hierarchie gesellschaftlicher Subsysteme, wie sie Parsons entworfen hat, durch das Konzept einer Heterarchie dieser Systeme abzulösen, wie dies Peter Fuchs vorschlägt (ders., Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1992). Hierarchie meint eine transitive Ordnung, Heterarchie eine zirkuläre. Wenn man diese Minimaldefinition zugrundelegt, müßte man im Falle von Heterarchie als Strukturmerkmal funktional differenzierter Gesellschaften zeigen können, inwiefern (im simpelsten Fall) System A System B kontrolliert, System B System C und System C schließlich wieder System A. Das läßt sich vermutlich nicht zeigen, wenn man für A, B und C beispielsweise Politik, Wirtschaft und Relig ion einsetzt. Es bestehen zwischen diesen Systemen gar keine Kontrollbeziehungen, keine hierarchischen, aber auch keine heterarchischen. (Auch Peter Fuchs geht nicht von Kontrolle aus, insofern trifft unsere Kritik nicht seinen Text, wohl aber eine mögliche Konsequenz seiner Konzeption. Der Heterarchiebegriff bezieht sich bei den beiden hier entscheidenden Autoren (Warren McCulloch und Douglas Hofstadter) auf die Struktur von Kontrollen. McCulloch ordnet Schaltelemente heterarchisch an und Hofstädter läßt Programmebenen heterarchisch aufeinander zugreifen. Die Beziehungen zwischen ausdifferenzierten Subsystemen der modernen Gesellschaft lassen sich aber gerade nicht sinnvoll im Sinne von Steuerung, Kontrolle oder Zugriff charakterisieren. Damit sind mannigfache Interdependenzen zwischen diesen Systemen nicht ausgeschlossen, aber diese lassen sich nicht mit der strukturellen Einheitlichkeit heterarchischer Relationierung verbuchen (so Fuchs S. 75). Der Begriff der Kopplung und die Unterscheidung von fester und loser Kopplung könnten hier eine Alternative zum Konzept der Kontrolle (ob hie- oder heterarchisch) bieten.

175 Wenn Niklas Luhmann sich angesichts der insbeondere von Helmut Willke ausgearbeiteten Steuerungstheorie gelegentlich irritiert zeigt, ist dies nur konsequent: falls die moderne Gesellschaft und ihre Funktionssysteme autopoietische Systeme sind, kann die Implementation dieses Ansatzes nur störend wirken.

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Man kann die drei eben vorgestellten Charakterisierungen von System-zu-System-Beziehungen (Steuerung, Regelung und Störung) auf einer Achse abzubilden versuchen, deren eines Ende für feste Kopplung und deren anderes Ende für lose Kopplung steht. Lose Kopplung bedeutet Kontrollverlust und hohe Autonomie des fraglichen Systems; feste Kopplung steht für einen hohen Grad von Kontrolle.176 Feste Kopplung oder Steuerung verlangt die ständige Präsenz des Kontrolleurs, da das zu kontrollierende System nur durch direkte Intervention zu einem bestimmten Verhalten bewegt werden kann. Lose Kopplung bedeutet demgegenüber eine Lockerung der Kontrolle; sie findet nurmehr indirekt statt. Strenge zeitliche Synchronisation der Systeme und räumliche Nähe werden deshalb zunehmend weniger wichtig. Die Lockerung der Systembeziehungen ist Voraussetzung für die Entwicklung jeweils eigener Ziele, für die Ausdifferenzierung eigener und für die Indifferenz gegen fremde Relevanzkriterien. Entkopplung erst macht Rationalität möglich. 177 Prozesse sozialer Entkopplung führen aber zu einer Multiplikation der Rationalitätsstandards, zur Ausdifferenzierung spezifischer Systemrationalitäten. Parsons fällt mit seinem Modell der Kontroll-Hierarchie hinter Webers Kritik der Moderne zurück; man könnte in diesem Modell fast das amerikanische Pendant zu Hegels List der Vernunft sehen. Aber bei Parsons finden sich auch zahlreiche Überlegungen, die über das von ihm gewählte Theoriedesign hinausweisen. Im `Social System' bemerkt Talcott Parsons bereits, daß, wenn ein System nur lose integriert ist ("loosely integrated"), eine Störung seines Gleichgewichts nicht notwendigerweise das gesamte System erfaßt und entsprechend kompensiert werden muß.178 Im Rahmen seiner Theorie der Austauschmedien fokussiert Parsons den Vorteil loser Integration auch noch einmal unter einer anderen Perspektive:

176 Wenn man Kontrolle an Berechenbarkeit knüpft, macht es Sinn, strikte Kopplung mit Rationalität im Sinn Max Webers zu identifizieren. Für Max Weber bildeten formal durchorganisierte Verwaltungsapparate ein Vorbild für Rationalität und Disziplin. Heute ist man allerdings selbst im Hinblick auf formale Organisationen davon abgekommen, deren Operieren im Sinne einer rational durchorganisierten hierarchischen Kontrolle zu begreifen (obwohl dieses Bild bei Weber natürlich auch nur als Idealtyp zu verstehen ist). Das soziale Geschehen in solchen Organisationen ist nur in einigen Hinsichten strikt gekoppelt, also im Weberschen Sinne rational, in weiten Bereichen aber muß man es wohl eher als nur lose gekoppelt bezeichnen. Vgl. dazu insbesondere Weick, Karl, "Educational Organizations as Loosely Coupled Systems", Administrative Science Quaterly 21 (1976), S. 1-19; ders., The Social Psychology of Organizing, New York 1979; und die Aufsatzsammlung von March, James G., Decisions and Organizations, Oxford 1988.

177 Vgl. dazu insbesondere White, Harrison C., Identity and Control - A Structural Theory of Action, Princeton (N.J). 1992, S.297ff.

178 Parsons, Talcott, The Social System, New York 1964, S. 496. Derselbe Gedanke findet sich auch schon bei Emile Durkheim, wenn er die geringe Störempfindlichkeit segmentärer differenzierter Systeme mit der hoch interdependenten Sensibilität organisch differenzierter Systeme vergleicht. Ders., The Division of Labor in Society, New York 1964, z. B. S. 223f.

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Medien erlauben eine Entkopplung ("`elasticising' or `loosening'") von situativen constraints: ein Unternehmen kann über Kredit finanziert werden und ist nicht an das vom Unternehmer selbst gesparte Geld gebunden. 179 Aber die Unterscheidung von loser und fester Kopplung wird von Parsons nicht ausgearbeitet, die evolutionären Vorteile loser Kopplung nicht systematisch in die Theorie integriert. Lose integrierte Systeme sind äußerst robust gegenüber lokalen Störungen und Veränderungen, ja sie verkraften häufig sogar den völligen Ausfall ganzer Subsysteme oder Systemkomponenten. Leider hat Parsons dieses Integrationskonzept nicht weiter verfolgt, sondern seinen Gesellschaftsbegriff an eine Konzeption hierarchischer Kontrolle und normativ-kultureller Integration gebunden, also gewissermaßen an das gerade Gegenteil loser Integration. Dies ist ihm vielfach vorgehalten worden. Die Kritik blieb jedoch negativ und im Hinblick auf Alternativen konzeptionslos. Häufig bestand sie im bloß phänomenalen Verweis auf anscheinend Unpassendes. Sie konnte in vielen Fällen in Parsons eigenen Bezugsrahmen reintegriert werden. Eine konzeptionelle Alternative läßt sich aber im Anschluß an einige Überlegungen, die heute insbesondere mit dem Namen Herbert Simon verbunden werden, sich in zahlreichen Varianten aber auch bei anderen Autoren finden, entwickeln. 180 Schon Walter Ross Ashby hat die Vorstellung, daß sich ein abstraktes, immer gültiges Kriterium für gute Organisation und damit für evolutionäres Überleben, ohne Kenntnis der dabei relevanten Umwelt angeben lasse, scharf kritisiert.181 Der komplexere Organismus z. B. ist nicht notwendig der am besten angepaßte. Spezialisierte Organe zu besitzen, ist nur unter ganz bestimmten Umweltbedingungen von selektivem Vorteil. Wenn es z. B. keine Erdatmosphäre gäbe, und die Erdoberfläche deshalb einem ständigen Meteoritenhagel ausgesetzt wäre, dann wären spezialisierte Organe kaum von großem Vorteil, sondern würden ein hohes Überlebensrisiko mit sich bringen. Weniger differenzierte Organismen, wie z. B. Schleimpilze würden hingegen von einem solchen Hagel kaum in tödlicher und die Reproduktion verhindernder Weise getroffen und hätten desha lb einen Selektionsvorteil. Die Evolution bevorzugt also nicht immer die komplexeren Variationen. Soweit evolutionäre Selektionsprozesse das Überleben komplexerer Einheiten überhaupt begünstigen, läßt sich genauer sagen, von welcher Art deren Komplexität sein

179 Parsons, Talcott / Neil J. Smelser, Economy and Society. A Study in the Integration of Economic and Social Theory, London 1984, S. 64.

180 Ganz ähnlich argumentierte vor Simon auch z.B. schon Walter Ross Ashby, Design for a Brain, London 1965 (Orig. 1952), S. 148ff.; und im Anschluß daran, im Rahmen einer Architekturtheorie Christopher Alexander, Notes on the Synthesis of Form, Cambridge, Mass. 1964. Vgl. auch Dawkins, Richard, The Blind Watchmaker, Harmondsworth 1988 (3. Kapitel).

181 Ders., Principles of the Self-Organizing System, in: ders., Mechanisms of Intelligence: Ross Ashby's Writings on Cybernetics, Seaside, Cal., S. 51-74, S. 58ff.

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muß, wenn man die entscheidenden Umweltparameter kennt. Schon Herbert Spencer hat diesbezüglich unterschiedliche gesellschaftliche Differenzierungsformen unterschieden. Kommt es z. B. vor allem darauf an, sich bei gleicher Ressourcenlage gegen ähnlich entwickelte, andere Gesellschaften militärisch zu behaupten, scheint sich - bis zu einem gewissen Stand der militär-technischen Entwicklung - eine klare Unterordnung der einzelnen Tätigkeiten unter eine zentrale Befehlsgewalt zu bewähren; das in dieser Weise höher integrierte System kann seine Ressourcen besser zum Einsatz bringen. Kommt es jedoch darauf an, möglichst effizient zu produzieren, um sich in einer ansonsten friedlichen Umwelt gegenüber konkurrierenden Ländern am Markt behaupten zu können, dann scheint sich weniger die Struktur einer Befehlshierarchie zu empfehlen, sondern eher eine hoch interdependente horizontale Arbeitsteilung. Diese klassische Gegenüberstellung von Unterordnung und hoch interdependentem Wettbewerb182 beruht bekanntlich auf einer ganzen Reihe nicht eigens thematisierter Vorannahmen und läßt sich deshalb vermutlich nur schwer durchhalten. Parsons Ansatz versucht beiden Fällen einigermaßen gerecht zuwerden: die Theorie der Kontrollhierarchie deckt den ersten, die Theorie der Austauschmedien den zweiten Fall. Im Anschluß an die oben entwickelte Typologie von System-zu-System-Beziehungen (Steuerung, Regelung, Störung), möchten wir aber noch einen weiteren Strukturtyp bestimmen. In einer turbulenten Umwelt hat wiederum nur eine ganz spezifische Systemarchitektur einen Selektionsvorteil und uns scheint, daß die Annahme einer turbulenten Umwelt die soziologisch plausibelste, wenigstens aber die allgemeinste, abstrakteste und vielleicht theoretisch am besten analysierte ist. Hier treffen sich Systemtheorie und Evolutionstheorie. Heißt Selektion Kampf, dann überlebt das höher integrierte System; heißt Selektion Konkurrenz, dann überlebt das effizientere System - so lauten die beiden klassischen Annahmen; heißt Selektion aber, einer turbulenten Umwelt ausgesetzt zu sein, so wird der Selektionsprozeß einen Systemtyp favorisieren, der weder hoch integriert noch ausgesprochen effizient sein wird. Herbert Simon hat zu zeigen versucht, daß in einer turbulenten Umwelt tendenziell nur jene Systeme überleben, deren Architektur "nearly decomposable" sei. 183 Gemeint ist damit, daß sich ein solches System in Subsysteme gliedert, die wenigstens kurzfristig auch relativ unabhängig voneinander überleben können.

182 Wie unschwer zu erkennen sein wird, entspricht diese Gegenüberstellung insbesondere der von status und contract (Maine), bzw. - wie es heute heißt - von Hierarchie und Markt (Williamson). Tönnies' Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft und Durkheims Unterscheidung von mechanischer und organischer Solidarität hingegen, decken sich nicht notwendig mit der im Text referierten Gegenüberstellung, da weder Gemeinschaft noch mechanische Solidarität hierarchisch strukturiert sein müssen.

183 Simon, Herbert A., The Architecture of Complexity, in: Ders., The Science of the Artificial, Cambridge Mass., 1982, S. 192-229, S. 209ff.

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Oder mit einer etwas anders gelagerten Akzentuierung: komplexe Systeme können sich nur dann evolutionär behaupten, wenn es evolutionär stabile Zwischenstufen und Untereinheiten (häufig auch Module genannt) gibt, über die sie sich aufbauen. 184 Die einzelnen Komponenten und Untereinheiten des Systems dürfen nur lose miteinander gekoppelt sein, denn zum einen führt nur dann der Ausfall eines dieser Einheiten nicht notwendig auch zum Zusammenbruch des Systems im Ganzen, und zum anderen ist nur dann auf Seiten des Systems selber eine schrittweise verbesserte Anpassung an seine Umwelt möglich. "For the accumulation of adaptions to be possible the system must not be fully joined."185 Reichsbildung ist ein klassisches soziologisches Beispiel für diesen Typus der stufenweisen, modularen Systemevolution. Ein Reich beruht auf der segmentären Differenzierung lokaler Einheiten, die auch für sich jeweils eine gewisse Stabilität besitzen und im Einzelfall jeweils für das Reich im Ganzen entbehrlich oder ersetzbar sind. Reich und Großreiche haben eine deutlich hierarchische Struktur. Aber Hierarchie meint hier etwas ganz anderes, als Parsons' Begriff der Kontrollhierarchie. Es geht nicht um Systembildung im Sinne einer Über- und Unterordnung; es geht gewissermaßen um das gerade Gegenteil einer direkten, im Extremfall gar punktuellen Kontrolle. Herbert Simon gebraucht den Begriff der Hierarchie, um die Dekomponierbarkeit eines Systems in auf unterschiedlichen Ebenen operierenden Subsystemen zu bezeichnen. Subsysteme - Simon spricht auch von "subassemblies" - lassen sich analytisch über die Intensität der Beziehungen zwischen den Elementen des Systems identifizieren. Die Subsysteme sind nach außen nur schwach vernetzt, während ihre Elemente nach innen hin stark miteinander verknüpft sind. Die von Simon als evolutionär vorteilhaft herausgestellte Architektur komplexer Systeme beruht gerade auf der relativen

184 Simon erzählt dazu folgende Geschichte: Es waren einmal zwei Urmacher namens Hora und Tempus, die aufgrund ihrer ausgezeichneten Uhren großes Ansehen genossen. Als die Nachfrage nach Uhren stieg und sich täglich immer häufiger Kunden meldeten, um eine Uhr zu bestellen, wurde Hora langsam ein reicher Mann, während Tempus auf den Ruin zusteuerte. Warum? Beide bauten Uhren aus etwa 1000 Einzelteilen. Tempus konstruierte seine Uhren in einem Stück. Wurde er bei der Arbeit unterbrochen, dann fielen die bis dahin zusammengesetzten Teile auseinander und er mußte nach der Unterbrechung wieder ganz von vorne beginnen. Desto häufiger sich Kundschaft meldete und ihn bei der Konstruktion unterbrach, desto seltener fand er ausreichend Zeit, um eine Uhr zusammenzubauen. Hora hingegen arbeitete nach einem anderen Bauplan. Er setzte jeweils stabile Untereinheiten von etwa zehn Teilen zusammen, arrangierte diese wiederum zu größeren Untereinheiten und setzte diese abschließend zu einer funktionstüchtigen Uhr zusammen. Wurde Hora von einem Kunden angesprochen oder zum Telefon gerufen und mußte seine Arbeit unterbrechen, dann fiel immer jeweils nur die zuletzt begonnene Untereinheit wieder auseinander, insofern ihre Konstruktion noch nicht abgeschlossen war. Hora konnte deshalb die für den Uhrenbau störenden Unterbrechungen in einem Bruchteil der Zeit, die Tempus benötigte, kompensieren. Tempus hingegen fand bald keine Ruhe mehr überhaupt noch eine Uhr komplett fertig zu stellen und mußte sein Geschäft schließlich aufgeben.

185 Ashby, Walter Ross, a.a.O., London 1965, S. 155. Natürlich muß aber auch die Umwelt eine graduelle Anpassung erlauben und das System nicht wie das Zahlenschloß den Einbrecher vor eine Alles oder Nichts Entscheidung stellen.

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Selbständigkeit ihrer Untereinheiten. 186 Es gibt in solchen Systemen deshalb weder eine direkte Kopplung von Allem mit Allem, noch eine zentrale Kontrollinstanz, die alles regelt und zusammenhält.187 Die Kopplung von Allem mit Allem, wie sie das Modell des perfekten Marktes postuliert, impliziert einen punktförmigen homogenen Raum; ja man muß fast sagen, dieses Modell ist nur raumlos denkbar, es bezieht sich auf "a wonderland of no dimension". 188 Das Modell zentraler Kontrolle postuliert einen nach Zentrum und Peripherie differenzierten Raum. Das Modell des "nearly decomposable system" von Simon verträgt ganz unterschiedliche räumliche Einbettungen. "In most biological and physical systems relatively intense interaction implies relative spatial propinquity. One of the interesting characteristics of nerve cells and telephone wires is that they permit specific strong interaction at great distances. To the extent that interactions are channeled through specialized communications and transport systems, spatial propinquity becomes less determinative of structure."189 Auch die Möglichkeit, kommunikative Beziehungen und damit Systemstrukturen relativ unabhängig von räumlich-territorialen Kriterien variieren lassen zu können, machen Simons Konzept des "nearly decomposable system" soziologisch attraktiv. Aber Simons Theorie komplexer Systeme hat einen großen Nachteil: für die von ihm identifizierten Strukturmerkmale findet sich kein unmittelbares Pendant in der vielleicht am besten ausgearbeiteten Theorie der modernen Gesellschaft, nämlich der Theorie funktionaler Differenzierung. 190 Das Hauptproblem besteht also darin, die bei Simon als Module

186 Dies betont mit etwas anderem Akzent auch Alvin Gouldner in seiner Kritik an Parsons' Systembegriff: "The functional autonomy of parts ... is not an unmitigated source of difficulty for the system, but may provide a basis for a defensive strategy of last resort, structural dedifferentiation.(...) Tensionful as it may be, the anomic dedifferentiation of a social system need not be a requiem of its total dissolution, but a necessary prelude to its reorganization." Ders., Reciprocity and Autonomy in Functional Theory, in: Demerath III, N. J. / Richard A. Peterson, System, Change, and Conflict, New York 1967, S. 141-169, S. 165f.

187 D.h. in bezug auf die beiden anderen, oben kurz genannten Systemarchitekturen: weder einen totalen Herrscher oder ein alles instruierendes Wertesystem noch einen perfekten Markt. Es würde sich in diesem Zusammenhang vermutlich lohnen, Herbert Simons Modell des "nearly decomposable system" durch Warren McCullochs Konzept einer "redundancy of potential command" zu ergänzen, aber das würde den Rahmen dieser Arbeit überschreiten. Vgl. McCulloch, Warren S., Embodiments of Mind, Cambridge, Mass. 1988, S. 226.

188 So Walter Isard, zit. bei Läpple, Dieter, Essay über den Raum, in: Ipsen, Detlev et al., Stadt und Raum - Soziologische Analysen, Pfaffenweiler 1992, S. 157-207, S. 174.

189 Simon, Herbert, a.a.O., S. 199.

190 Wir hatten bereits oben darauf hingewiesen, daß die einzelnen Funktionssysteme in sich natürlich wiederum segmentär differenziert sind, was normaler Weise dem Modus der losen Kopplung entspricht, aber, dieses Charakteristikum entspricht nicht dem Modell Simons, denn sein Bezugsproblem ist evolutionstheoretisch definiert. Simon zielt nicht nur auf die evolutionären Vorteile segmentärer Differenzierung, sondern darauf aufbauend, auf die evolutionären Möglichkeit von stabilen Ebenendifferenzierungen. Wenn man das Modell des "nearly decomposable system" also auf die moderne

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behandelten Systemeinheiten überhaupt erst einmal im Hinblick auf die moderne Gesellschaft soziologisch zu identifizieren. Gerade die Theorie funktionaler Differenzierung gibt einem dazu keinen Hinweis.191 Die Funktionssysteme sind es auf jeden Fall nicht. Sie lassen sich weder im Sinne unterschiedlicher, aber eindeutig gestaffelter Systemebenen begreifen, noch als unabhängig voneinander operierende redundante Module. Es gibt zu den einzelnen Funktionssystemen in der heutigen Welt keine funktionalen Äquivalente mehr, sie sind unersetzbar, wechselseitig voneinander abhängig und können nicht für einander einspringen. Der Ausfall eines oder mehrerer Funktionssysteme - man denke nur an eine Wirtschaftskrise - hätte in den meisten Fällen vermutlich wohl katastrophale Folgen für die Gesellschaft im Ganzen. Die Einheit der modernen Gesellschaft besteht in nichts anderem - so Niklas Luhmann - als in der Differenz ihrer Funktionssysteme, "sie ist nichts anderes als deren wechselseitige Autonomie und Unsubstituierbarkeit. Sie ist nichts anderes als die Umsetzung dieser Struk tur in ein Miteinander von hochgetriebener Unabhängigkeit und Abhängigkeit. Sie ist, mit anderen Worten, die dadurch entstandene, evolutionär höchst unwahrscheinliche Komplexität."192 Die Theorie funktionaler Differenzierung konzentriert sich auf ein Strukturmerkmal der modernen Gesellschaft, das der von Simon identifizierten Architektur des Komplexen nicht gehorcht. Gleichzeitig aber identifiziert sie ein Sich-Arrangieren-müssen mit einer komplexen Umwelt als Bezugsproblem aller Differenzierung; sie trifft sich in der Wahl des Selektionskriteriums also mit der Analyse Herbert Simons und es fragt sich deshalb, wie steht es um die evolutionären Chancen funktionaler Differenzierung. Evolutionär robuste Systeme bestehen - so Simon - aus hierarchisch miteinander arrangierten Modulen. Was könnte im Fall der modernen Gesellschaft diesen Einheiten entsprechen? Karl Otto Hondrich hat vorgeschlagen, die hier gesuchten Systemeinheiten mit

Gesellschaft anwenden will, muß man nicht nur Segmente, sondern auch Ebenen von einander unterscheiden. Man könnte hier zum Beispiel an die Evolution des Wohlfahrtsstaat denken, der auf wirtschaftlichem Fortschritt aufbauend, die Entkopplung von Wirtschaft und Familie ermöglicht. Theoretisch entscheidend scheint mir aber zu sein, daß man die These von der funktionalen Unersetzbarkeit der einzelnen Funktionssysteme durch eine theoretisch spezifizierte Gewichtung ergänzen muß, die deutlich machen kann, inwiefern die Ausdifferenzierung eines bestimmten Subsystems die Ausdifferenzierung anderer Subsysteme begünstigt oder verhindert. Parsons hat mit seiner Theorie der "evolutionary universals" und komplementär dazu der evolutionären "bottlenecks" oder Engpässe einen ersten Schritt in diese Richtung unternommen. Falls Funktionale Differenzierung nur dann möglich sein sollte, wenn sich alle Subsysteme gleichzeitig ausdifferenzieren, muß sie wohl als so unwahrscheinlich gelten, daß sie sich nicht lange wird behaupten können.

191 Wenn man mit einem anderen Theorierahmen beobachtet, fällt die Identifikation von evolutionär stabilen Subsystemen im Sinne Simons u.U. leichter. Einer der wenigen, Herbert Simons Überlegungen aufgreifenden Autoren ist Peter M. Blau. Ders., Inequality and Heterogenity - A Primitive Theory of Social Structure, New York 1977, S.132ff. Aber auch hier wird deutlich, daß die von Simon identifizierten 'subassemblies' nicht mit funktional differenzierten Subsystemen selber identisch sein können.

192 Ders., Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdung einstellen?, Opladen 1986, S. 216f.

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den Nationalstaaten der Weltgesellschaft zu identifizieren. Im Anschluß an Herbert Simon versucht Hondrich, die Interdependenzen zwischen den einzelnen Untereinheiten oder Subsystemen der modernen Gesellschaft im Sinne einer Nischenökologie zu begreifen. 193 Die lose Kopplung zwischen den einzelnen Systemen ist dabei Garant der Stabilität des Systems im Ganzen. 194 Sie garantiert z. B., daß sich Störungen nicht ohne weiteres von System zu System fortpflanzen können, sondern an bestimmten Schwellenwerten auflaufen. 195 Die einzelnen Subsysteme mögen dabei ganz unterschiedlichen Zeithorizonten gehorchen und mögen in ganz unterschiedlicher, und zuweilen über mehrere Zwischenglieder geregelter Weise voneinander abhängig sein, aber auch in weiten Bereichen ihres Verhaltens indifferent zueinander agieren. Lose Kopplung erlaubt es deshalb auch, gerade wenn man sie mit fester Kopplung im Sinne einer direkten, punktgenauen Steuerung kontrastiert, daß die so miteinander arrangierten Systeme auch räumlich nicht unmittelbar miteinander in Kontakt stehen müssen. Eine ausgearbeitete Analyse der modernen Gesellschaft im Sinne einer Nischen-Ökologie hat bislang jedoch noch niemand vorgelegt. Dazu ist eine genügend abstrakt angelegte modelltheoretische Ausarbeitung dieser Sichtweise, die es erlauben würde sie auch soziologisch zu nutzen, vermutlich noch zu wenig ausgefeilt und nicht zuletzt: zu

193 Hondrich, Karl Otto, World Society Versus Niche Societies - Paradoxes of Unidirectional Evolution, in: Haferkamp, Hans und Neil J. Smelser (Hrsg.), Social Change and Modernity, Berkeley 1992, S. 350-366.

194 Es ist umstritten, ob ökologische Interdependenzen, die ja Beziehungen zwischen Systemen sind, in sinnvoller Weise selbst wieder als Systeme begriffen werden sollen. Niklas Luhmann optiert dagegen und versucht den Begriff des Systems für autopoietische Systeme zu reservieren. Dieser Einschränkung des Begriffs soll hier nicht direkt widersprochen werden. Sie beruht auf der impliziten Annahme, daß ein autopoietisches System aus nur einer bestimmten Art von Elementen bestehen darf, z. B. aus Gedanken oder aus Handlungen oder aus Neuronen, aber nicht aus allem zusammen. Diese Option wird dann zwingend wenn man unterstellt, daß alle richtigen Systeme selbstreferentielle Systeme sind. Selbstreferenz impliziert dabei die Gleichheit der Elemente. Selbstreferenz setzt also ein einheitliches Medium voraus, in dem sie sich als Form realisiert. Gehirn und Bewußtsein können deshalb z. B. nicht als ein System begriffen werden (im Gehirn kommen keine Gedanken vor und im Bewußtsein lassen sich keine feuernden Neuronen beobachten). Wählt man einen schwächeren Begriff von System - man könnte statt von Selbstreferenz z. B. allgemeiner von Rekursion sprechen - spricht vermutlich nichts gegen die Option, auch ökologische Systeme als Systeme zu behandeln. Diese Option scheint uns wenigstens in bestimmter Hinsicht gesellschaftstheoretisch attraktiver, nämlich weil auf diese Weise die Frage, inwiefern selbstreferentiell geschlossene Systeme Subsysteme von anderen selbstreferentiell geschlossenen Systemen sein können, weniger rätselhaft anmutet. Unter der Prämisse der selbstreferntiellen Geschlossenheit ist die Wirtschaft z. B. ein Subsystem der Gesellschaft, obwohl es operativ von anderen gesellschaftlichen Subsystemen aus gar keine Zugangsmöglichkeiten zur Wirtschaft gibt.

195 Ähnlich argumentiert auch Alois Hahn. Ders., "Identität und Nation in Europa", Berliner Journal für Soziologie, Heft 2 (1993), S. 193-203. Hahn betont in diesem Zusammenhang insbesondere nationale Konvertibilitätsschranken, die sich den unterschiedliche Währungen und unterschiedlichen Sprachen verdanken. Der Text geht, wie der Leser in einer Fußnote erfährt, ursprünglich auf einen Vortrag an der Ecole des Hautes Etudes in Paris zurück; die Thesen werden mit ausführlichen französischen und englischen Zitaten belegt - falls der Text nicht ironisch gemeint ist, könnte man glauben, es handele sich um einen performativen Widerspruch.

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unbekannt.196 Hondrichs Vorschlag, bestimmte Nationen als Okkupanten bestimmter ökologischer Nischen zu identifizieren muß wenigstens als problematisch gelten, wenn damit mehr gemeint sein soll als die identifikation bestimmter Territorien (die für sich genommen natürlich auch nicht den Charakter einer ökologischen Nische besitzen - obwohl räumliche Distanzen für die Entstehung ökologischer Nischen hoch relevant sein können). Die Identifikation der Nischen-Gesellschaften mit bestimmten Nationalstaaten scheint uns aber heute wenig attraktiv, weil mit einer ähnlichen Option schon die Dependencia Theoretiker (Andre Grunder Frank u. a.) in der Entwicklungstheorie gescheitert sind, nämlich als sie die Abkopplung vom Weltmarkt und den Rückzug in eine vermeintlich nationale Nische als Entwicklungsstrategie empfahlen. 197 Wie soll man den Ansatz von Herbert Simon aber dann gesellschaftstheoretisch einspannen, wie dann die Unterscheidungen zur Identifikation der Komponenten setzen? Was sind diese Segmente, Module oder subassemblies, wenn es nicht Nationen sind? Die These, daß es sie vielleicht gar nicht gibt, scheint uns nicht abwegig. 198 Damit soll aber der Simonschen These, daß nur bestimmte Systemarchitekturen evolutionär robust sind, nicht

196 Natürlich gibt es auch schon ältere Modelle - hier ist insbesondere auf Alfred J. Lotka, Elements of Mathematical Biology, New York 1956 (Orig.: 1924) zu verweisen. Aber solange sich die Modellierung vorrangig auf Räuber-Beute-Dynamiken beschränkte, schien sie für Soziologen wenig attraktiv.

197 Vgl. als knappen Rückblick auf dieses gescheiterte Projekt: Menzel, Ulrich, Das Ende der Dritten Welt, Frankfurt/M. 1992, S. 103ff.

198 Wenigstens lassen sie sich theoretisch noch nicht ohne weiteres identifizieren. Es könnte also sein, daß wir es hier nicht mit einem wirklichen Problem, sondern mit einem theoretischen Defizit zu tun haben. Eine erste Alternative hatten wir bereits zu Beginn dieses Abschnitts angemerkt: Wenn man Evolution und Selbstorganisation als zwei unterschiedliche Mechanismen der Ordnungsentstehung theoretisch deutlicher voneinander differenziert, ließe sich vielleicht zeigen, daß Simons Fragestellung viel weniger relevant ist, als wir im Folgenden unterstellen. Eine zweite Alternative ergibt sich, wenn man Funktion und Leistung der einzelnen Subsysteme deutlicher voneinander unterscheiden würde. Diese Unterscheidung geht, soweit wir sehen auf Niklas Luhmann zurück, ist aber im Sinne einer Gesellschaftstheorie bislang nie ausführlich entwickelt worden. Die Funktion eines Subsystems bezieht sich auf die Gesellschaft als Ganze, die Leistung eines Subsystems bezieht sich auf ein anderes Subsystem. Leistungen lassen sich im Sinne von input-output-Beziehungen analysieren. Evolutionär robust im Sinne des Konzepts eines nearly decomposable systems könnte die funktional differenzierte Gesellschaft dann sein, wenn ihre Subsysteme auf der Ebene von Leistungen nur spärlich miteinander verknüpft sind. Lediglich bei Parsons und im Anschluß daran bei Richard Münch finden sich hierzu eine Reihe von systematischen Überlegungen. Beide behaupten jedoch eine hohe Interdependenz zwischen den Teilsystemen, also genau das Gegenteil zu den von Simon als evolutionär vorteilhaft identifizierten Strukturen. Parsons Theorie der Austauschmedien ist u. a. eine Theorie solcher Leistungsbeziehungen. Parsons behauptet für die vier von ihm identifizierten gesellschaftlichen Subsysteme input-output-Beziehungen die jedes System von jedem anderen abhängig machen; erst bei einer Tieferlegung des Analyserahmens, also nach einer weiteren Iteration des AGIL-Schemas, wird erkennbar, daß nicht alles mit allem zusammenhängt, also nicht jeweils alle vier Subsystem der vier gesellschaftlichen Subsystemen mit jeweils allen anderen vier Subsystemen der anderen gesellschaftlichen Subsystemen Austauschbeziehungen unterhalten. Parsons entscheidet sich auf dieser Ebene für einen bestimmte Untermenge der kombinatorisch möglichen Beziehungen. Auf dieser Ebene ist es aber, wenn man eine turbulente, also störende Umwelt voraussetzt, bereits zu spät.

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widersprochen werden. Da es Simon um die Evolution komplexer Systeme geht, also nicht um ihren status quo, und Evolution nur dann möglich wird, wenn die Variationen unabhängig von der immer erst anschließend einsetzenden Selektion auftreten, liegt die Annahme nahe, daß der Selektionsprozeß die funktional differenzierte Gesellschaft noch gar nicht richtig in die Zange genommen hat. Der Überlebenstest dieses vergleichsweise jungen Differenzierungsform scheint zwar für eine Reihe von Regionen schon mehr oder weniger endgültig negativ entschieden, aber auf der Ebene der Weltgesellschaft steht er aller Wahrscheinlichkeit nach noch aus. In evolutionstheoretischer Perspektive muß die gegenwärtige Entwicklung deshalb als hoch riskant gelten. Im Hinblick auf bestimmte Subsysteme der modernen Gesellschaft ist dies bereits relativ gut begriffen. Was Apologeten noch als Ausnahmen zu verbuchen trachten, nennt deshalb Charles Perrow wohl begründet "normale Katastrophen". Mit solchen Katastrophen ist zu rechnen, wenn man es mit fest gekoppelten, auf Effizienz getrimmten Systemen zu tun hat.199 Es macht heute kaum noch Sinn, von gesellschaftlicher Evolution zu sprechen, da es nur noch eine einzige Gesellschaft gibt, da die Population, aus der selegiert werden könnte, also auf einen Kandidaten geschrumpft ist. Der variety pool - so scheint es - ist erschöpft und der survival-Test steht noch aus. Diese These muß vorerst jedoch noch als theoretisch schlecht konditionierte Spekulation gelten; vielleicht läßt sich das Verhältnis von Weltgesellschaft und Nation sogar im Sinne einer Koevolution begreifen - diese Frage stellt sich wenigstens Alois Hahn. Eine Antwort scheint ersteinmal nicht in Sicht und deshalb kommt es, wie Hahn fordert, zunächst einmal darauf an, "innerhalb der Systemtheorie zu zeigen, welche koevolutiven Funktionen bestimmte Formen von segmentärer und funktionaler Differenzierung füreinander einnehmen."200 Wir haben zu zeigen versucht, daß der evolutionäre Erfolg bestimmter Systemarchitekturen oder Differenzierungsfo rmen vom jeweils relevanten Selektionskriterium abhängt. Die spezifische Struktur der Umwelt definiert das Bezugsproblem für einen funktionalen Vergleich von segmentärer und funktionaler Differenzierung. Aber damit ist das Problem noch zu abstrakt formuliert, man muß wenigstens auch noch einen bestimmten Zeithorizont angeben, der limitiert, was als Erfolg und was als Mißerfolg, was als robust und was als fragil gewertet werden kann, denn was sich kurzfristig bewährt, kann langfristig zum Untergang verurteilt sein und was kurzfristig als Chaos erscheint, kann sich langfristig als stabiles Strukturmuster entpuppen. 201 Die von

199 Perrow, Charles, Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik, Frankfurt/M. 1989.

200 Hahn, Alois, a.a.O., S. 203.

201 Die Öffnung eines nationalen Marktes für den Weltmarkt beispielsweise, hat kurzfristig zumeist katastrophale Folgen, kann aber langfristig u. U. wohlfahrtssteigernd wirken. Internationale Arbeitsteilung kann

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Alois Hahn definierten Aufgabe führt in ein sehr weites Feld von gegenwärtig noch kaum verstandenen Problemen und wir möchten deshalb noch einmal einen abstrakteren Zugang wählen, der sich deutlicher auf den strukturellen Gehalt der Simonschen Argumentation stützt und diesen zu entfalten sucht, ohne voreilig spezifische soziale Komponenten zu identifizieren, die diesen Beschreibungen u. U. entsprechen könnten. Simons Aufsatz über die Architektur des Komplexen hat sowohl im Bereich der sogenannten objekt-orientierten Programmierung bzw. des objekt-orientierten Designs als auch im Bereich der theoretischen Ökologie großen Einfluß gehabt. Wir möchten deshalb kurz referieren, wie dort daran angeschlossen wurde.202 Unserer Unterscheidung von Steuerung, Regelung und störender Irritation entlang der Achse von fester zu loser Kopplung korrespondiert eine grobe Typologie von unterschiedlichen Programmiersprachen, nämlich: imperative Programmiersprachen, funktionale Programmiersprachen und objekt-orientierte Programmiersprachen. 203 Imperative Programmiersprachen sagen dem Rechner, was er tun soll: "Weise der Variablen einen Wert zu" oder "Führe dieses Unterprogramm aus" und dgl. Funktionale Programmiersprachen erlauben eine rekursive Hintereinanderanwendung von Funktionen, die ihrerseits wiederum aus weiteren Funktionen bestehen können, auf die Eingangsdaten. Die Auswertung der Funktionen im einzelnen entzieht sich hier dem Benutzer; er braucht sich nicht mehr darum zu kümmern, sondern gibt lediglich die Eingangsdaten und die gewünschten Funktionen an und der Rechner wertet sie dann aus. In objekt-orientierten Programmiersprachen ist diese Trennung von Daten und Programmen aufgehoben; ein Objekt kann bestimmte Operationen ausführen und über bestimmte Werte verfügen; Objekte können nach eigenen Kriterien Nachrichten aussenden; Objekte können nach eigenen Kriterien Nachrichten empfangen und interpretieren - sie sind also nicht für Beliebiges empfänglich, können nicht alle Nachrichten verstehen; der Empfang von Nachrichten kann am Ort des Empfängers Veränderungen auslösen, kann das Objekt zerstören oder auch zur Erzeugung neuer Objekte führen. Objekte

sich auszahlen. Aber ein internationaler Börsencrash kann sich dann ebenso bemerkbar machen. Oder, wie das Beispiel der sogenannten lateinamerikanischen "Bananenrepubliken" gerade (Jan. 93) zeigt, birgt die mühsame Umorientierung der regionalen Wirtschaft auf einen Exportmarkt immer auch das Risiko, daß die Geschäfte auf Seiten der Handelspartner aus innenpolitischen Gründen wieder unterbunden werden können. Zur evolutionären Bedeutung unterschiedlicher Reproduktionsrythmen vgl. Giesen, Bernard, The Temporalization of Social Order: Some Theoretical Remarks on the Change in "Change", in: Hans Haferkamp / Neil J. Smelser (Hrsg.), Social Change and Modernity, Berkeley 1992, S. 294-319.

202 Es geht dabei nicht um einen Überblick. Ein Nachmittag in der Bibliothek reicht aber vermutlich aus, um in diesen Gefilden etwas Brauchbares zu finden. Wir haben deshalb relativ willkürlich ein, zwei aller Wahrscheinlichkeit nach nicht repräsentative Bücher herausgepickt und berichten lediglich, was dort zu lesen war.

203 Vgl. Wie funktioniert das? Der Computer (hrsg.: Meyers Lexikonredaktion), Mannheim 1990, S. 208.

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lassen sich als eigenständige Systeme mit eigener Schnittstelle, also mit einer jeweils systemspezifischen Sensibilität begreifen. Im Kontrast zu den beiden anderen Typen von Programmiersprachen setzt die objekt-orientierte Programmierung auf eine radikale Modularisie rung des Geschehens: die Prozeduren, Funktionen und Variablen sind auf verschiedene Objekte verteilt. Es gibt also keinen einheitlichen, alles integrierenden Algorithmus mehr. "The trend has been a move away from languages that tell the computer what to do (imperative languages) toward languages that describe the key abstractions in the problem domain (descriptive languages)."204 Das Objekt-Modell scheint mir soziologisch attraktiv, weil es eine Struktur hat, die dem Soziologen aus seinem eigenen Gegenstandsbereich vertraut ist und weil es, wie dieser auch, trotzdem funktioniert, also die Frage nach dem Wie und Warum von Ordnung beantwortet, und zwar - und das ist das Entscheidende - in einer Weise, die theoretisch und via Simulation nachvollziehbar ist. Grady Booch nennt sieben entscheidende Strukturmerkmale bzw. Aspekte des Objekt-Modells, vier davon wollen wir kurz vorstellen: abstraction, encapsulation, modularity, hierarchy. Abstraktion und Verkapselung sind komplementär zueinander: Abstraktion bezieht sich auf die Außenansicht eines Objekts, Verkapselung auf das, was dadurch im Inneren versteckt wird ("information hiding"). Ein externer Beobachter - ein anderes Objekt - bekommt nicht alles zu sehen und hat keine Zugriffsmöglichkeiten auf das Innenleben des Objekts. Erving Goffman benutzt eine analoge Unterscheidung, nämlich die von front stage und back stage;205 Niklas Luhmann verweist auf die Intransparenz der kommunikativ miteinander gekoppelten Systeme füreinander und die damit vermutlich einhergehende Konsensüberschätzung;206 Heinrich Popitz betont die Funktion des Nichtwissens für das Funktionieren sozialer Systeme207 - die Soziologie ist also in vielerlei Hinsicht mit diesen Figuren vertraut.208 Unsichtbarkeit, Undurchschaubarkeit und

204 Booch, Grady, Object Oriented Design, Redwood City, Cal. 1991, S. 26.

205 Goffman, Erving, The Presentation of Self in Everyday Life, Harmondsworth 1982, S. 109ff.

206 Luhmann, Niklas, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, Bd. 1, S. 67f.

207 Popitz, Heinrich, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, Tübingen 1968.

208 Eine weitere wichtige Parallele zur jeweils spezifischen Abstraktion und Verkapselung der einzelnen Objekte findet sich in der Korporatis mus-Forschung. Wolfgang Streek z. B. unterscheidet deshalb zwischen Mitglied-sein und Mitglieder-haben und betont, daß dieses Verhältnis, wenn es sich über mehrere Ebenen erstreckt, sich nur äußerst unzureichend im Sinne hierarchischer Kontrolle und Inklusion verstehen läßt. Streek, Wolfgang, "Vielfalt und Interdependenz. Überlegungen zur Rolle der intermediären Organisationen in sich verändernden Umwelten", Kzfss 39 (1987), S. 471-495. Bei Niklas Luhmann findet sich diese Figur in einer, im Vergleich zur Korporatismus Forschung weit abstrakter und allgemeiner angelegten Variante. Luhmann verweist darauf, daß die Ausdifferenzierung eines Systems immer die Ausdifferenzierung einer System-Umwelt-Differenz ist. Ausdifferenzierung bedeutet deshalb immer eine Multiplikation dieser Differenzen in der Gesellschaft. Vgl. z. B. Luhmann, Niklas, Wie ist soziale Ordnung möglich?, in: ders., Gesellschaftsstruktur und

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Nichtwissen lassen sich im Hinblick auf gesellschaftliche Integration als funktionale Äquivalente zu Kontrolle behandeln; sie garantieren, daß die Kontrollinstanzen gar nicht beobachten können, was sich ihnen alles entzieht, so daß der Eindruck erfolgreicher Kontrolle gewahrt werden kann. Aber das Nichtwissen ist für jedes System ein anderes und läßt sich deshalb nicht hierarchisch aggregieren. Modularität meint die relative Eigenständigkeit von Subsystemen, dies folgt gewissermaßen aus der Verkapselung. "Modularity is the property of a system that has been decomposed into a set of cohesive and loosely coupled modules."209 Modularität erleichtert die Evolution komplexer, hierarchischer Systeme. Hierarchie aber meint hier, daß komplexe Systeme aus Kombinationen und Arrangements von weniger komplexen Systemen bestehen. Es geht also nicht um Kontrolle, sondern um Arrangierbarkeit. "Hierarchy is a ranking or ordering of abstractions."210 Die Hierarchie hat deshalb auch keine Spitze im klassischen Sinne, sie verzweigt sich nicht wie ein Entscheidungsbaum oder eine Befehlspyramide und ebensowenig gibt es im Objekt-Modell einen zentralen Algorithmus, der alles integriert und zusammenhält, denn, da Daten immer an bestimmte Objekte gebunden sind, gibt es keine für das gesamte System, d. h. für alle Objekte in gleicher Weise gültige und beobachtbare gemeinsame Umwelt, die einheitlich bearbeitet werden könnte. Für diese modelltheoretische Option findet sich bei Booch eine einfache Begründung: so sei eben die Wirklichkeit. "Real systems have no top."211 Objekt-orientierte Programmiersprachen eignen sich deshalb besonders zur Simulation eines komplexen, über viele, mehr oder weniger selbständig operierende Subsysteme verteilten Systemverhaltens - das macht sie für die Soziologie attraktiv. Hier kann nicht weiter entfaltet werden, was sich mit dem Objekt-Modell soziologisch vielleicht alles machen läßt.212 Eins sollte aber deutlich geworden sein, wenn diese Art der Modellbildung der sozialen Wirklichkeit einigermaßen gerecht wird, müssen die Möglichkeiten des Verstehens, der Integration und der sozialen Kontrolle als vergleichsweise

Semantik, Frankfurt/M. 1981, S. 195-285, S. 275.

209 Booch, Grady, a.a.O., S. 52.

210 Booch, Grady, a.a.O., S. 54.

211 Booch, Grady, a.a.O., S. 54. Die anderen drei im Text nicht erwähnten Strukturmerkmale lauten im übrigen: typing, concurrency und persistence. Typisierung bezieht sich weniger auf das System selbst, sondern auf die Art und Weise, als Programmierer mit ihm umzugehen; typing entspricht in etwa der soziologischen Suche nach funktionalen Äquivalenten. Persistenz meint, daß ein Objekt immer für eine gewisse Zeit an einem bestimmten Ort existiert. Concurrency meint, daß alle Objekte gleichzeitig operieren und es deshalb bestimmte Synchronisationsprobleme gibt.

212 Insbesondere am Interuniversity Center for Social Science Theory and Methodology an der Universität Groningen werden diese Methoden bereits intensiv genutzt.

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gering gelten, nämlich in bezug auf das, was man früher von diesen Mechanismen vielleicht erwartet hat. Bemerkenswert scheint uns deshalb ein sich nicht nur hier andeutender Wertewandel bei den Humanisten der 70er Jahre und das Verschwinden der sogenannten Technokraten. Während früher dem social engineering und der technokratischen Kontrolle fast theorielos die Buntheit und Kreativität des wirklichen Lebens gegenübergestellt werden konnte, und die vermeintlichen Technokraten an der so bezeichneten Wirklichkeit auch schließlich gescheitert sind, klagen heute auf einmal, wo es keine Technokraten dieser Art mehr gibt, da überall Risiken sichtbar werden, die Humanisten über Unübersichtlichkeit, Unregierbarkeit, mangelnde soziale Integration und den Verlust alter Tugenden und fordern nun, kompensatorisch, was aller Wahrscheinlichkeit nach nicht klappen kann. Die Unwahrscheinlichkeit von Ruhe und (Unter)Ordnung läßt sich wohl nur systemtheoretisch begreifen. Wer aber Gesellschaft von Anfang an kontrafaktisch zu definieren sucht, um fordernd zu erfahren, was sie nicht ist, kann sich anschließend nur irritiert zeigen und, falls man die Irritation dann nicht sich selbst zurechnen möchte, klagen. Hierarchie muß nicht Kontrollhierarchie im Sinne Parsons' heißen, und Gesellschaft muß deshalb nicht unbedingt als ein über kulturelle Werte integriertes System betrachtet werden. Eine zweite Vorklärung, wie man Hierarchie denn dann begreifen könnte, soll nun noch abschließend der Literatur zur Ökologischen Theorie entnommen werden. Auch Ökologen setzen den Akzent deutlich anders als Parsons. Parsons' Begrifflichkeit optierte, wie wir oben zu zeigen suchten, für constraints von unten und control von oben. Im Gegensatz dazu lassen sich aber unterschiedliche Systeme und Systemebenen auch über deutlich anders definierte Strukturzusammenhänge aufeinander beziehen. In Anbetracht der Lage, daß sich komplexe Systeme gar nicht in der von Parsons behaupteten Weise kontrollieren lassen, scheint uns als Alternative ein Vorschlag Robert V. O'Neill attraktiv, der es erlaubt hierarchisch geordnete System-zu-System-Beziehungen auf ganz andere Weise zu begreifen. 213 Um von einer Hierarchie zu sprechen, muß man mindestens drei Ebenen unterscheiden. O'Neill interessiert die mittlere. Von oben unterliegt diese Ebene (bzw. die in diesem Zwischen verorteten System) bestimmten constraints, die einschränken, was möglich ist, von unten ist sie "noise", also kleinen Störungen ausgesetzt.214 Zwischen noise und constraint organisiert sich das System selbst. Die Bedeutung eines bestimmten Systemverhaltens ergibt sich aus seinem Verhältnis zur jeweils höheren Ebene. Diese Ebene

213 O'Neill, Robert V., Perspectives in Hierarchy and Scale, in: Roughgarden, Jonathan, Robert M. May und Simon A. Levin (Hrsg.), Perspectives in Ecological Theory,Princeton, N.J. 1989, S. 140-156.

214 O'Neill, Robert V., a.a.O., S. 143f.

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selegiert, was paßt. "The significance of behavior, its functional or adaptive relevance, is explicable by reference to a higher-level system."215 Die jeweils höhere Ebene instruiert also nicht ein bestimmtes Systemverhalten, wie dies Parsons anzunehmen scheint, sondern selegiert es lediglich. Bedeutung entsteht in dieser Weise nur im Nachhinein; die Variation muß der Selektion vorausgehen. 216 Die noise von unten hingegen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Produktion von Variationen. Aber natürlich lassen sich auch Störungen und ihre Umsetzung in Variationen nicht im Sinne von Kontrolle oder Instruktion begreifen, denn es handelt sich hier im Hinblick auf die selegierende Systemebene um zufällige Ereignisse. O'Neill unterscheidet diese drei Systemebenen vor allem auf Grund ihrer jeweiligen Dynamiken: "Hierarchical organization results from different process rates. (...) Lower levels have relatively rapid rates and appear as background static or variability that is filtered out at the level of interest. Higher-level behavior is relatively slow and appears as constant from the level of interest, that is as a set of constraints or boundary conditions on the phenomenon of interest."217 Hier wird eine deutliche Parallele zu Parsons sichtbar: auch Parsons arbeitet zuweilen mit einem Konzept der Störung von unten, einem hohen Trägheitsmoment (inertia) der Wertmuster oder Sollwerte des Systems - dies entspricht der mittleren Ebene - und einer Tendenz des Systems im Ganzen zum Gleichgewicht, die im Modell von O'Neill mit der jeweils höheren Ebene identifiziert werden könnte.218 Aber Parsons verfügt nicht über einen evolutionstheoretischen Bezugsrahmen, um alle drei Komponenten in der hier diskutierten Weise aufeinander beziehen zu können. 219 Die relativ mechanistischen Vorstellungen von Trägheit und Gleichgewicht machen es schwierig, zwischen Selektion und variiertem Systemverhalten zu unterscheiden. Parsons schließt deshalb diese Ebenen mehr oder weniger kurz, und das Verhältnis der in dieser Weise aufeinander bezogenen Komponenten erscheint

215 O'Neill, Robert V., a.a.O., S. 144.

216 Eine im übrigen auch in der Soziologie gebräuchlicher werdende Vorstellung. Vgl. insbesondere: Weick, Karl, a.a.O., 1979.

217 O'Neill, Robert V., a.a.O., S. 143.

218 Vgl. z. B. Parsons, Talcott, An Outline of the Social System, in : ders. et al. (Hrsg.), Theories of Society, New York 1965, S.30-79, S.39. Auf den genauen Stellenwert dieser Begriffe im Rahmen der Theorie Talcott Parsons' werden wir im III. Kapitel ausführlicher eingehen.

219 Aus evolutionstheoretischer Perspektive muß es deshalb verwirrend wirken, wenn Parsons, anders als O'Neill, sowohl die Störungen, als auch die constraints von unten nach oben in seinem Modell der Kontrollhierarchie wirken läßt. Aber das ließe sich noch im Sinne einer evolutionstheoretischen Analyse spezifizieren, denn schließlich geht es in beiden Fällen um die Umwelt des gerade interessierenden Systems, und deshalb ließen sich Störungen und constraints auf unterschiedliche Systemebenen in dieser Umwelt zurechnen.

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ihm als eine Kontrollbeziehung. Wie schon beim Konzept der Homöostase, bezieht Parsons auch den Begriff der Evolution nur äußerst eingeschränkt auch auf die einzelnen gesellschaftlichen Subsysteme, auf ihr Innenleben und auf ihre Außenkontakte. Homöostase und Evolution charakterisieren für Parsons vorrangig die Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft, und mit dieser Option verbaut er sich die Möglichkeit, über diese Konzepte ein angemessene Theorie innergesellschaftlicher Interdependenzen, eine Theorie der losen Kopplung zu konstruieren. Für ihn ist das Kontrollmodell die alternativenlose Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung, und moderne Gesellschaften sind für ihn deshalb nicht anders als über Nationalkulturen integriert und instruiert denkbar. Wenn man soziale Ordnung nicht über Kontrolle erklären will, sondern sie für eine Art Nebenprodukt der sozialen Evolution zu begreifen sucht, muß man nach den constraints und Störungen sozialer Systembildungen fragen, also, wenn man sich auf die Evolution von Gesellschaft bezieht, unterschiedliche Systemebenen bzw. gesellschaftliche Subsysteme voneinander unterscheiden. Parsons rechtfertigt die Plazierung der vier, von ihm unterschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme innerhalb der kybernetischen Kontrollhierarchie u. a. über deren unterschiedliche Trägheitsmomente. Das jeweils kontrollierende System ist träger als das kontrollierte System; Parsons meint damit: es ändert sich vergleichsweise langsamer. Wir hatten gezeigt, daß so keine Kontrolle möglich ist, daß es aber Sinn macht, die Parsons interessierenden System-zu-System-Beziehungen evolutionstheoretisch zu definieren und als eine Hierarchie von constraints zu behandeln: das sich langsamer ändernde System kann unter bestimmten Bedingungen einen constraint für andere Systeme in seiner Umwelt bilden und darüber zur Selektion bestimmter Verhaltensweisen auf seiten dieser Systeme führen. Um eine Hierarchie von constraints sichtbar machen zu können, muß man deshalb u. a. die diversen Zeithorizonte dieser Systeme miteinander vergleichen. 220 Einen zweiten groben Anhaltspunkt für die theoretische Konstruktion einer Hierarchie von constraints bilden die unterschiedlichen Größen der jeweiligen Systeme. Wenigstens Ökologen beziehen sich häufig auf diese beiden Parameter, um eine Hierarchie von Koppelungen zwischen unterschiedlichen Systemen oder Ebenen zu ermitteln. Im Falle natürlicher Systeme scheinen die Zeithorizonte und die räumliche Ausdehnung dieser Systeme positiv miteinander zu korrelieren. 221 Um die Eigentümlichkeit und damit auch

220 Vgl. Giesen, Bernard, The Temporalization of Social Order: Some Theoretical Remarks on the Change in "Change", a.a.O., 1992.

221 Vgl. Powell, Thomas M., Physical and Biological Scales of Variability in Lakes, Estuaries, and the Coastal Ocean, in: Roughgarden, Jonathan et al. (Hrsg.), a.a.O., S. 157-176, S. 160f., S. 169f.

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Riskanz sozialer Systeme, oder wenigstens: der modernen Gesellschaft besser herauszuheben, empfiehlt sich ein Vergleich. Trägt man den jeweiligen Zeithorizont eines Systems senkrecht gegen die von ihm okkupierte Fläche auf, dann liegen im Falle einer natürlichen, ökologisch relativ stabilen Ebenenhierarchie die meisten miteinander irgendwie gekoppelten Systeme mehr oder weniger entlang der Diagonale dieses Koordinatensystems (also von unten links - geringe Ausdehnung, kurze Zeithorizonte - nach oben rechts - große Ausdehnung, lange Zeithorizonte - ). Die Hierarchie der constraints verläuft dabei von oben links nach unten rechts. Wollte man in einem solchen Koordinatensystem die vier von Parsons identifizierten Subsysteme der Gesellschaft, Parsons' Prämissen folgend, eintragen, dann müßte man, da Parsons mehr oder weniger von einer groben räumlichen Koinzidenz dieser vier Systeme ausgeht, diese mit gleicher Ausdehnung senkrecht zur Flächenachse auftragen. Die Annahme einer räumlichen Koinzidenz der Subsysteme hatten wir oben bereits als planimetrischen Irrtum zu charakterisieren versucht. Aber auch die Zeithorizonte der einzelnen Subsysteme der heutigen Gesellschaft gehorchen vermutlich nicht einer Anordnung, die im Sinne O'Neills als eine stabile Hierarchie bezeichnet werden könnte.222 Selbst wenn man statt von Kontrolle, dem Vorschlag O'Neills folgend, von constraint spricht, wird sich aufgrund der beiden hier interessierenden Parameter kaum eine eindeutige Hierarchie von constraints sichtbar machen lassen können. Trotz Ermangelung empirischer Untersuchungen, wird wohl kaum jemand für eine, der LIGA-Hierarchie folgende Besetzung der Diagonale des Koordinatenraums optieren. Das gelingt im übrigen auch den Biologen nicht immer, auch dort ist die Kopplung der verschiedenen Systemebenen in Abhängigkeit von deren jeweiliger Größenordnung häufig unklar und es scheint deutlich, daß noch andere Faktoren mit in Rechnung zu stellen sind. Insbesondere die spezifische räumliche Verteilung der einzelnen Subsysteme wird bei der statistischen Aggregierung vorschnell ausgeblendet. Hier liegt eines der Probleme, das auch von der Soziologie angegangen werden muß, soll ihr Gesellschaftsbegriff deutlicher Kontur gewinnen. "Especially we need to consider the effects of patchiness, which not only affect the statistical variability but have a profound effect on the nature of the dynamic interactions."223

222 Die Wirtschaft (A) ist global organisiert und hat einen vergleichsweise kurzen Zeithorizont; die territoriale Ausdehnung der unterschiedlichen Kulturen (L) variiert vermutlich sehr stark, sie kann von der Größe eines Stadtteils bis zu Einheiten wie Orient, Asien oder Abendland reichen, der Zeithorizont dieser Einheiten kann jedoch im Vergleich zu Wirtschaft oder Politik ausgesprochen groß sein; die territoriale Ausdehnung des politischen Systems (G) umfaßt durchschnittlich in etwa 10 hoch 6 Quadratkilometer, und sein jeweiliger Zeithorizont scheint durch Fünfjahrespläne oder Legislaturperioden bestimmt; die Größe und der Zeithorizont der diversen gesellschaftlichen Gemeinschaften (I) variieren nach unten hin mit der Kultur, überschreiten aber nach oben hin kaum, was durch das jeweilige politische System festgeschrieben ist.

223 Steele, John H., Discussion: Scale and Coupling in Ecological Systems, in: Roughgarden, Jonathan et al. (Hrsg.), a.a.O., S. 177-180, S. 177.

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Weder ist die Nation isoliert, noch ist die Weltgesellschaft homogen. Beide Begriffe blenden zuviele Verflechtungen und Heterogenitäten aus und suggerieren eine zu simple Korrelation von Ordnung und Ortung. In dieser Situation scheint die Unterscheidung von lokalen und globalen Tendenzen attraktiv. Aber diese Dichotomie bleibt vage und scheint bei der Ausarbeitung eines brauchbaren Gesellschaftsbegriffs nicht von großer Hilfe. Soweit man mit dieser Differenz lediglich die geographische Projektion sozialer Aggregate oder Systeme meint, die aufgrund der unterschiedlichen Größe ihrer Fläche miteinander kontrastiert werden, scheinen uns die Unterscheidung zu eindimensional angelegt, um gesellschaftstheoretisch die Lücke zwischen Nation und Weltgesellschaft füllen zu können. Sie beläßt es bei einer Frage der Gewichtung und erlaubt eine einfache Kritik, indem man immer auf die jeweils nicht so ausführlich behandelte Seite verweist. Unsere, sicherlich einseitige, dafür aber auch kurze Revue einiger systemtheoretischer, aber auch von soziologischer Seite rezipierter Theoriefiguren zur Frage von Kontrolle und Kopplung hat keinen wirklich überzeugenden Mechanismus ausfindig machen können, über den man sich die moderne Gesellschaft integriert - und das heißt wohl auch definiert - denken könnte.224 Niklas Luhmann hat vorgeschlagen, Gesellschaft über das Kriterium der Erreichbarkeit zu definieren und von da her plausibel machen können, daß wir heute mit einer Weltgesellschaft leben. Erreichbarkeit deckt sich tendenziell mit der losesten hier diskutierten Form der Kopplung. Aber angesichts der globalen Probleme und der nur hoch selektiven Verbreitung moderner Lebensverhältnisse bleibt der Begriff vergleichsweise farblos.225 Das soziale Leben scheint vielschichtiger, als die heutigen Gesellschaftsbegriffe erahnen lassen; die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche und Funktionssysteme, wie Wirtschaft oder Recht, Wissenschaft, Religion, Kultur oder anderes, überschneiden sich nur partiell, sind in ihren territorialen Projektionen sicherlich nicht deckungsgleich, liegen zuweilen in Konkurrenz oder sind einander gar inkompatibel. Es kommt zu regional deutlich unterscheidbaren Komplexen, zu häufig heterogenen und instabilen Überlappungen. Der klassische, am Nationalstaat orientierte Gesellschaftsbegriff führt jedoch nicht nur angesichts größerer Komplexe in eine theoretische Verlegenheit, er scheint auch kaum geeignet, die politischen Verhältnisse und ihre kulturelle Einbettung im außereuropäischen Raum angemessen zu erfassen. Die Idee des Nationalstaats entpuppt sich heute mehr und mehr als ein nur schlecht ausgeschriebener westeuropäischer Sonderweg; viele außereuropäische Nationen existieren deshalb bislang nur auf der Karte.

224 Um so schlechter für die Wirklichkeit, könnte man hier mit Hegel versucht sein zu sagen, aber die Kontakte zum Weltgeist sind heute so spärlich geworden, daß man dazu eigentlich kein Recht mehr hat.

225 Vor diesem Hintergrund ist Niklas Luhmann aber mittlerweile zu einer scharfen Kritik an der Theorie funktionaler Differenzierung übergegangen. Vgl. ders., Inklusion und Exklusion, MS. 1992.

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4. Staaten ohne Nation? Die Geschichte Frankreichs gilt, wenn es um die Frage nach dem besten Weg in die Moderne geht, vielfach als mustergültig. Was der französischen Nation gelungen sei, gelang nirgends sonst. Nicht in Deutschland, nicht in England und in weiterer Ferne erst recht nicht.226 Der Rest der Welt hat Sonderwege eingeschlagen, die gemeinhin im Sinne einer Pathologie analysiert und beklagt werden. Über Sinn und Unsinn dieser Sichtweise soll hier nicht gestritten werden. Schon allein das quantitative Verhältnis zwischen der einen gelungenen und den Dutzenden mißlungener Nationalgeschichten könnte Zweifel am Sinn einer solchen Wertung wecken. Wenn die Wirklichkeit partout nicht will, empfiehlt es sich manchmal die in Frage stehenden Erwartungen zu ändern. Zwar bleibt "der aus der Französischen Revolution hervorgegangene Nationalstaat" - so Jürgen Habermas - "das Modell, an dem sich alle nationalistischen Bewegungen orientieren", 227 aber - so könnte man mit einer Figur von Reinhardt Bendix formulieren228 - die `verspätete Nation' ist in gewissem Sinne zum Vorreiter der Nachzügler geworden, der Sonderweg zum Normalfall. Statt die Geschichte der Moderne als eine Geschichte der Emanzipation zu schreiben, in der sich das Volk Schritt um Schritt aus obrigkeits-staatlicher Vormundschaft befreit und im "täglichen Plebiszit" (Renan) als Nation konstituiert, könnte man sie auch als eine Geschichte der Parasiten im Sinne Michel Serres' interpretieren. 229 Geschichte macht ein Parasit, wenn es gelingt, ihn ins System zu inkludieren; gelingt dies nicht, so macht er lediglich störende Geräusche, Lärm. Wir möchten im folgenden das Problem der politischen Inklusion einmal nicht, wie von T.M. Marshall und Talcott Parsons vorgezeichnet, nachzeichnen, sondern aus der sicherlich etwas schrägen Perspektive Michel Serres zu begreifen suchen. Die erfolgreiche Inklusion des Parasiten, der Bevölkerung eines bestimmten Territoriums ins politische System ist in dieser Perspektive gleichbedeutend mit der Demokratisierung der Politik und der Politisierung der Massen. In dem Grad, in dem sich

226 Vgl. statt vieler anderer z. B. Habermas, Jürgen, Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität. Die Westorientierung der Bundesrepublik, in: ders., Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990, Leipzig 1990, S. 159-179; Für England vgl. z. B. Anderson, Perry, English Questions, London 1992 (insbesondere die Einleitung und den 1. Teil).

227 Ders., a.a.O., Leipzig 1990, S. 159-179, S. 164.

228 Bendix, Reinhard, Freiheit und historisches Schicksal, Frankfurt 1982, S. 120ff.

229 Serres, Michel, Der Parasit, Frankfurt 1984.

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die Stimmen der Völker Gehör verschaffen können, beginnt sich das über eine aristokratische Oberschicht geeinte Europa in Nationalstaaten aufzulösen. 230 "Der patriotische Bürger lehnt sich auf gegen den kosmopolitischen Aristokraten."231 Ähnliche Auflösungsprozesse lassen sich heute in der ehemaligen Sowjetunion beobachten, es geht hier also um ein nach wie vor aktuelles Problem. Die von Serres benutzte Figur des Parasiten, ist den meisten Lesern vermutlich vertrauter, als ihr Name erwarten läßt. Schon beispielsweise Joseph Schumpeter hat mit seiner Demokratietheorie eine der Serresschen Kommunikationstheorie ähnliche Perspektivenumkehr im Hinblick auf das politische System inauguriert.232 Hier hätten wir im Prinzip direkt anschließen können, aber, da die Theorie des Parasiten allgemeiner angelegt ist, lassen sich von ihr aus noch eine Reihe weiterer Bezüge zu anderen ähnlich angelegten theoretischen Unternehmen sichtbar machen, auf die wir hier nicht verzichten wollen. Deshalb, aber auch weil sich mit Hilfe der Theorie des Parasiten der Kontrast zu nur normativen Demokratietheorien greller ausmalen läßt, haben wir uns für sie entschieden. Ein Parasit im Sinne Michel Serres ist jemand, der einen Kommunikationskanal zwischen zwei anderen anzapft oder besetzt und diese Position im Sinne des `lachenden Dritten' auszunutzen weiß. Im Prinzip ist die Figur, wenn auch nicht in der Serresschen Pointierung, schon bei Georg Simmel angelegt: "Das Auftreten des Dritten bedeutet Übergang, Versöhnung, Verlassen des absoluten Gegensatzes - freilich gelegentlich auch die Stiftung eines solchen."233 Als `tertius gaudens' macht er sich "das wechselwirkende Geschehen zwischen den Parteien und zwischen sich und den Parteien zu einem Mittel für seine Zwecke."234 Eine gewisse Spannung zwischen den beiden ursprünglichen Parteien ist also eine Karriere-Voraussetzung des Parasiten; oder in den Worten Ronald Burts: "No tension, no tertius."235 Auch aus der modernen soziologischen Konflikttheorie ist diese Figur bekannt. Insbesondere der von Bernhard Giesen, in Anlehnung an eine von Anatol Rapoport entwickelte

230 Vgl. dazu auch: Newman, Gerald, The Rise of English Nationalism - A Cultural History 1740-1830, New York 1987, 2. Kapitel (Cosmopolitanism and Aristocratic Supremacy), S.21-47.

231 Bergeron, Louis/ Furet, Francois/ Koselleck, Reinhart, Das Zeitalter der europäischen Revolution 1780-1848, Frankfurt 1969, S. 90.

232 Ders., Capitalism, Socialism and Democracy. Introduction by Tom Bottomore. 5th ed. London 1976, S. 269.

233 Vgl. ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1983, S. 75ff.

234 Simmel a.a.O. Berlin 1983, S. 82.

235 Ders., Structural Holes. The Social Structure of Competition, Cambridge, Mass. 1992, S.32.

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Konflikttypologie, als Debatte bestimmte Konflikttyp gehorcht einer dem Serresschen Modell ganz ähnlichen Struktur.236 Michel Serres interessiert die Figur des Parasiten jedoch nicht im Sinne eines bestimmten Typs von Kommunikation oder Konflikt. Serres setzt abstrakter an und versucht, mit Hilfe der Figur des Parasiten ein universales Modell der Kommunikation und Evolution zu entwerfen. Aus der Perspektive dieses Modells sind Parasiten überall präsent und am Werk. Sie sind im Sinne der Kommunikationstheorie von Shannon und Weaver das unvermeidbare Rauschen im Kanal, das, was sich der Codierung entzieht und die Übertragung der Nachrichten stört. Das evolutionäre Durchhaltevermögen eines bestimmten Systems hängt nun in entscheidener Weise davon ab, ob es ihm gelingt, die Parasiten zu integrieren, andernfalls geht es an ihnen zugrunde. Im uns hier interessierenden Fall könnte man diese Figur etwa wie folgt interpretieren: Insofern sich politische Systeme an der Unterscheidung von Regierung und Opposition orientieren - und das ist in rudimentären Formen z. B. schon in der ständischen Gesellschaft der Fall und tendenziell überall dort, wo der Verweis auf ein von Gott gegebenes Recht des Herrschers nicht mehr voll überzeugt - , werden sie anfällig für Parasiten. 237 Das Volk, hier also der Parasit, muß von Regierung und Opposition "erfunden" werden, um die jeweils andere Seite in Schach zu halten, und zwar indem man versucht, ihre Selbstrechtfertigung durch Berufung aufs Volk zu bestreiten, also indem man eine Legitimationskrise beschwört. Dies scheint solange relativ risikolos, wie es im Bereich des bloß rhetorischen Verweisens auf das, was das Volk angeblich will, verbleibt. Man beruft sich auf Volk und Allgemeinwohl, aber befragt es nicht direkt. Das Volk ist hier zunächst eine bloße Fiktion der Politik, also kein handelndes Subjekt. Aber der "Wettlauf um Popularität" nutzt nicht nur dem Dritten - dem Volk -, "ohne das der Begünstigte selbst eine Initiative zu ergreifen brauchte", worauf sich Simmel beschränkte238, er gibt ihm überhaupt erst Kontur. Im Verlauf der Debatte erst wird es "zum `Publikum', zur eigentlichen Adresse der Überzeugungsversuche."239 Das Volk gewinnt Kontur als politische Öffentlichkeit und

236 Vgl. Giesen, Bernhard, Die Konflikttheorie, in: Günter Endruweit (Hrsg.), Moderne Theorien der Soziologie, Stuttgart 1993, S. 87-134, insbesondere S.109f.

237 Vgl. Luhmann, Niklas, "Theorie der politischen Opposition", Zeitschrift für Politik, Heft 1, Jg. 36, März 1989, S. 13-26. Man kann natürlich auch die regionale, ständisch organisierte Ausdifferenzierung politischer Systeme selbst als einen parasitären, von der Spannung zwischen Kaiser und Papst profitierenden Prozeß deuten. Die Parasiten machen sich die divergierenden Interpretationen der Zwei-Schwerter-Lehre (Lukas-Evangelium 22, 36ff.) zunutze und können sich deshalb, wenigstens im Westen und seit dem Investiturstreit, zwischen geistlicher und weltlicher Zentralmacht immer deutlicher ein eigenes Territorium abstecken, das schließlich den Rahmen für die Ausbildung moderner Nationalstaaten bilden wird.

238 Simmel, Georg, a.a.O., 1983, S. 83.

239 Giesen, Bernhard, a.a.O., Stuttgart 1993, S. 110.

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zwar merkwürdigerweise, ohne dabei organisatorisch verfaßt sein zu müssen und in die Pflicht genommen werden zu können. Der Parasit hat keine Adresse, kann nicht Ansprechpartner werden, ist alles andere als ein kollektives Subjekt, und tritt nur als nicht so recht verortbare Unruhe im Streit der Parteien in Erscheinung. 240 Die Debattierenden versuchen einen eindeutigen Wink zu erhalten, aber alles bleibt im Zwielicht. Konsens kann allenfalls über die Themen, die zur Debatte stehen, erzielt werden. 241 Im Fall Deutschlands hatte Bismarck beispielsweise die Forderung nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht gegen Österreichs deutsche Politik und den Deutschen Bund verwendet und auch als Waffe gegen die Liberalen in Preußen einzusetzen erwogen und dies natürlich nicht aus demokratischer Emphase und einem Willen zur Emanzipation,

240 Und das Volk, das sind nicht diese oder jene Leute, sondern eben die nicht Anwesenden. Vgl. dazu Baecker, Dirk, Die Leute, in: ders. et al., Gelegenheit. Diebe - 3 x Deutsche Motive, Bielefeld 1991, S. 81-99. Die Anderen, die Nichtanwesenden, die bis dahin als peripher und unbedeutend Klassifizierten werden relevant. Sie könnten zum lachenden Dritten werden und sich parasitär in das gerade laufende Geschehen einschalten. Typisch für das Abendland, für den dort erreichten Durchbruch funktionaler Differenzierung ist die Inklusion von Parasiten. Alle sich ausdifferenzierenden Funktionsbereiche etablieren sich unter ständiger Rücksichtnahme auf ein spezifisches Publikum. Alle Agenten wissen ihr Operieren als von anderen beobachtet und lassen sich durch diese Beobachtung konditionieren. Im außereuropäischen Raum hat diese Konditionierung durch ein systemspezifisches Publikum weniger Erfolg gezeigt. Das Publikum bleibt zu sehr in der Peripherie plaziert und kann so seine Beobachterposition kaum nutzen. Die Koinzidenz von Peripherie und Publikum verhindert die Ausdifferenzierung operativ geschlossener Systeme: es gibt dann sowohl zu wenig Irritation wie auch zu wenige constraints. An der Ausdifferenzierung des politischen Systems läßt sich dies zeigen. Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt/M. 1983, S. 167; ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 189. Die Öffentlichkeit, das Publikum macht nicht die Politik, auch ist die Macht nicht vom Monarchen auf das Volk übergegangen, entscheidend ist vielmehr der Vermittlungsprozeß zwischen Publikum, Politik und Verwaltung. Um die Zustimmung der Nichtzustimmenden zu fingieren, um die nicht-vertraglichen Grundlagen der Verfassung zu bezeichnen, wird das "Volk" bzw. die "Nation" erfunden. Durch diese Termini werden die Nichtanwesenden als dazugehörig, als relevant, als inkludiert markiert. Das alles spricht nicht gegen die Forderung nach mehr Partizipation und mehr Demokratie. Parasiten können beim Aufbau von Komplexität helfen, aber natürlich können sie auch zum Ruin des befallenen Systems führen. Ein System kann seine Parasiten auch ausnutzen. Parasiten können verhindern, daß sich das System festfährt, von einem lokalen Maximum nicht mehr herunterkommt und ein globales Maximum so verfehlt. In ähnlicher Weise hat auch die Soziologie die Funktion des Dritten in bestimmten Konflikten, z. B. Rechtsstreitigkeiten, als neutralisierend, versachlichend und affektive Verbissenheit lösend bestimmt. In evolutionstheoretischer Perspektive verändern Parasiten oder Dritte den `fitness-landscape' eines Systems. Es kann hier zu Selbstverstärkungseffekten kommen, sobald eine Ko-Evolution von System und Parasit einsetzt. Parteien machen z. B. mit bestimmten Themen eine Karriere und bestimmen so den Wahlkampf. Entscheidend für die Steigerung evolutionärer Anpassungsleistungen ist, daß die Umwelt eines Systems zu der auch der Parasit gehört, genügend Regelmäßigkeiten, Kontinuitäten oder Redundanzen für das System aufweist. Andernfalls ist eine graduelle Anpassung via Variation und Selektion nicht möglich. Der `fitness-landscape' muß eine bestimmte Gestalt haben, andernfalls ist 'hill-climbing' nicht möglich. Vgl. zu diesen Begriffen: Kauffman, Stuart A., The Origins of Order - Self-Organization and Selection in Evolution, New York 1993. Das Konzept Nation hatte u. U. eine Zeitlang gerade jene Eigenschaften, die eine in der Öffentlichkeit erfolgreiche Themenselektion vorselegierte und die Beiträge orientieren konnte.

241 Vgl. dazu Luhmann, Niklas, Öffentliche Meinung, in: ders., Politische Planung, Opladen 1971, S. 9-34.

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sondern um der Opposition ihre Legitimation streitig zu machen. 242 Im Falle von England und Amerika spricht Edmund S. Morgan gar von einer "Erfindung des Volkes" durch Regierung und Parlament, um jeweils eigene Interessen zu rechtfertigen. 243 Aber keine der beiden streitenden Parteien hat die schließlich in demokratische Wahlen einmündende Eigendynamik dieses Diskurses antizipiert oder gar intendiert, an dessen Beginn eine zunächst recht harmlos wirkende Fiktion stand. Die selbstlegitimierende Bezugnahme auf die Regierten ist ein erster Schritt, um aus einer Bevölkerung ein Volk zu machen, aus einem nur diffus adressierbaren Aggregat ein handlungsfähiges Subjekt. Diese fiktive Bezugnahme ist in ganz unterschiedlichen Graden wirklichkeitsprägend geworden. In vielen Fällen der nach 1945 unabhängig gewordenen Staaten stellte sich schon nach wenigen Jahren heraus, daß den Fiktionen von `Volk' und `Nation' keine Wirklichkeit korrespondieren wollte, die Instanz, auf die man sich berief, blieb stumm und uninteressiert und stellte das gesamte Unternehmung schließlich als fragliche Ideologie bloß.244 Auf eine verkürzende Formel gebracht: es geht im Modernisierungsprozeß und beim `nation-building' nicht um die Emanzipation des Menschen vom ancien régime, sondern um die Integration des Parasiten ins System. Vielleicht ist der Begriff des Parasiten unglücklich gewählt, da er gewöhnlich eine stark negative Konnotation hat. Im Kommunikationsmodell Michel Serres' aber ist er die eigentlich produktive Instanz. Trotz des vielleicht abschreckenden Terminus `Parasit' kann es deshalb nicht die Absicht dieses Abschnittes sein, das Programm der Emanzipation zu konterkarieren. Es geht vielmehr darum den Gebrauch solcher Worte wie `Nation', `Volk' oder `Gesellschaft' in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Es handelt sich hier - wie Werner Conze gezeigt hat - um "Substratbegriffe" der "revolutionären Epoche"245 und genau in diesem Sinne sind sie für eine sich auf Kommunikation beschränkende Soziologie als theoretische Begriffe unbrauchbar. Das politische System fingiert ein Substrat. Intellektuelle leisten hier vielfach Vorarbeit (Stichwort: Kulturnation) und Schützenhilfe. Sie konstruieren Codes und diese Codes oder Meme, wie Richard Dawkins sie in Analogie zu Genen nennt, sind wie Parasiten einem Kampf um kommunikative Reproduktionsmöglichkeiten ausgesetzt. "When you plant a fertile meme in my mind you literally parasitize my brain, turning it into a vehicle for the meme's propagation in just the way that a virus may parasitize

242 Vgl. Conze, Werner, Die deutsche Nation. Ergebnis der Geschichte, Göttingen 1963, S. 74f.

243 Morgan, Edmund S., Inventing the People. The Rise of Popular Sovereignty in England and America, New York 1988.

244 Vgl. dazu z. B. Geertz, Clifford, After the Revolution: The Fate of Nationalism in the New States, in: ders., The Interpretation of Culture, New York, 1973, S. 234-254.

245 Conze, Werner, "Nation und Gesellschaft - Zwei Grundbegriffe der revolutionären Epoche", in: Historische Zeitschrift, Bd. 198, 1964, S. 1-16.

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the genetic mechanism of a host cell."246 In den von einem Mem, in unserem Fall vom Code `Nation' befallenen Köpfen oder Institutionen entstehen fixe Ideen und wird eine mehr oder weniger spezifische Vorstellungswelt katalysiert. Es ist aber eins, den Reproduktionsmechanismus solcher Codes und ihren Überlebenswert zu analysieren, und ein anderes, ihren Realitätsgehalt überprüfen zu wollen. Es macht für eine evolutionstheoretische Analyse deshalb theoretisch wenig Sinn, die von ihnen stimulierte Fiktion unmittelbar für Wirklichkeit zu nehmen. Genau dies geschieht aber, wenn von nationaler Schuld, nationalem Versagen, nationaler Begeisterung oder vom Erwachen einer Nation die Rede ist. Soweit der von Francis gemachte Vorwurf des planimetrischen Irrtums die Soziologie trifft, kann man vermuten, daß er seinen tieferen Grund in einem Substratbegriff von Gesellschaft hat. Soweit man Gesellschaft als mehr oder weniger kompaktes Ding begreift, scheint es logisch zwingend, daß sie eine bestimmte, deutlich umgrenzbare Stelle im Raum einnimmt.247 Wir haben darauf verwiesen, daß diese verdinglichende Sichtweise das soziologische Denken auch heute noch häufig beherrscht. Aber sie ist schon seit geraumer Zeit nicht mehr die alles dominierende Perspektive. Unter Historikern und Soziologen folgt man heute schon mehr und mehr einer Üblichkeit, wenn man von Nation nicht mehr im Sinne eines Substrats spricht, sondern Nation nurmehr als eine Idee oder einen Code zu behandelt. Nation wird dabei tendenziell auf ein bloß semantisches, imaginäres Konstrukt reduziert oder gar als Leerformel traktiert. Diese auf Rhetorik abstellenden Analysen waren äußerst fruchtbar, um Abstand gegenüber dem Selbstverständnis nationaler oder nationalistischer Bewegungen zu gewinnen. Gleichwohl scheint es, als hätte diese Zugangsweise zu einer Überpointierung geführt. Begreift man Nation als einen bestimmten Code der Vergemeinschaftung, also im Parsonsschen Sinne als einen Code der Inklusion, dann muß man auch in Rechnung stellen, daß eine solche Codierung nicht nur im Sinne des Thomas-Theorems reale Folgen hat, sondern sich auch nur deshalb evolutionär behaupten kann, weil sie einer bestimmten geschichtlichen Lage eher entsprach als andere Formen der Codierung. Der Nationencode produziert nicht nur Schicksalsgemeinschaften, sondern setzt sie, wenn auch nur in rudimentärer Form, schon voraus. Es ist wahrscheinlich, daß die Träger der nationalen Idee sich auch durch ähnliche Habitusformen, Gewohnheiten und Vorstellungen

246 Dawkins, Richard, The Selfish Gene, (ergänzte Ausgabe) Oxford: Oxford U.P. 1989, S. 192. Die Idee geht vielleicht auf William Burroughs zurück: "Language is a virus from outer space."

247 Diese Sichtweise scheint von Seiten der empirischen Sozialforschung aus erhebungstechnischen Gründen zuweilen noch forciert, nämlich dann, wenn sie auf eine verwaltungs- und polizeitechnisch perfektionierte Durchstaatlichung des sozialen Lebens angewiesen ist. "Für manchen Empiriker mag repräsentativ-statistische Sozialforschung erst dann möglich und sinnvoll sein, wenn jede Straße einen Namen, jedes Haus eine Nummer und jeder Mensch einen Pass besitzt. Vorher ist alles Kompromiß". Wienold, Hanns, Fragekultur und bäuerliche Gesellschaft, in: Andreß, Hans-Jürgen et al. (Hrsg.), a.a.O., S.410.

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auszeichnen. Insofern scheint es mindestens zweifelhaft, Nation auf eine Erfindung reduzieren zu wollen. Der Nationencode wirkt vielmehr als Katalysator; er hat nur Erfolg in einem bestimmten Milieu, wirkt nur formend in einem bestimmten Medium, er operiert nicht voraussetzungslos, aber dort, wo er das soziale Geschehen im Sinne einer Selbstbeschreibung längerfristig zu codieren vermag, wirkt er unweigerlich auch auf anderen Ebenen auf dieses Geschehen ein und produziert ein für seine weitere Ausbreitung günstiges Milieu von affektuellen Bindungen und vielleicht sogar von Habitusformen. Die Reproduktionschancen des Nationencodes hängen ab von den längeren evolutionären Reproduktionsrhythmen dieser Habitusbildung einerseits und der organisatorisch gesicherten Etablierung einer bestimmten Sozialstruktur andererseits.248 Habitusformen einerseits und Verwaltungsapparate andererseits sind nur in längeren Zeithorizonten änderbar. Sind solche Voraussetzungen nicht gegeben, so sind damit zwar kurzfristige nationalistische Moden und Massaker nicht ausgeschlossen, aber es kommt nicht zu einer langfristigen Etablierung nationaler Loyalität, zu Nationalgefühl und historischem Nationalbewußtsein, oder mit Tenbruck formuliert: zu den konkreten kulturellen Grundlagen moderner Gesellschaften. Ich habe in diesem Kapitel, im Anschluß an eine Formulierung von Emerich Francis, versucht, die von ihm begonnene Kritik am planimetrischen Irrtum bei der Umgrenzung dessen, was ein Gesellschaft ist, in verschiedenen Hinsichten zu entfalten. Im ersten Abschnitt ging es um die nur historisch bedingten, definitorischen Prämissen einer solchen Umgrenzung. Der zweite Abschnitt widmete sich der suggestiven Wirkung des Kartenbildes und den Schwierigkeiten funktionale Differenzierung in planimetrischer Projektion angemessen zu kartographieren. Im dritten Abschnitt sollte die Unhaltbarkeit einer Theorie hierarchischer Kontroll-Beziehungen zwischen den einzelnen Subsystemen der modernen Gesellschaft aufgezeigt und damit die wichtigste theoretische Prämisse für die Identifikation von Gesellschaft und Nation beseitigt werden. Der vierte und letzte Abschnitt richtete sich auf ein, man möchte fast sagen ideologisches Problem: mit der Ausdifferenzierung von Politik wachsen die Chancen einer parasitären Publikumsbeteiligung, hier gewinnt der moderne Begriff der Nation sein Profil und unter diesen Titel wird dann schließlich - mehr oder weniger moderat, also patriotisch oder nationalistisch - das gesamte gesellschaftliche Leben flächendeckend zu subsumieren versucht. Aber gerade hier wird auch sichtbar, daß dies nur in Sonderfällen einigermaßen gelungen ist und ein zunächst nur planimetrisches Projekt soziale Wirklichkeit geworden ist.249 Im nächsten Kapitel möchten wir uns den in

248 Zur Differenzierung unterschiedlicher Zeitebenen vgl. Giesen, Bernard, The Temporalization of Social Order, a.a.O., 1992, insbesondere S. 298f.

249 Wir kommen darauf im V.Kapitel zurück.

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diesem Kapitel schon verschiedentlich angeklungenen erkenntnistheoretischen Fragen noch einmal auf einer abstrakeren Ebene nähern. Wie kann sich eine Gesellschaft selbst beobachten, und inwiefern variiert das Bild einer Gesellschaft in der Vorstellungswelt der Menschen, die sich als ihre Mitglieder verorten, mit dem Grad sozialer Differenzierung.

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II. Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen "If we take a cinematograph of a plant at, say, one frame a

minute, and then show this moving picture speeded up to

30 frames a second, the plant appears to behave like an

animal. When something is placed near it, it clearly

perceives it and reacts to it. It is obviously a sentient

being. Why, then, does it not ordinarily appear conscious?

The answer is, perhaps, because it thinks to slowly. To

beings which reacted eighteen hundred times as quickly as

we reacted, we might appear as mere unconscious

vegetables. Indeed, the beings who moved so quickly

would be justified in calling us unconscious, since we

should not normally be conscious of their behaviour."250

"Like the nuclear physicist we are studying things which

cannot be seen by the naked eye. However, in the case of social forms it is not that our subject is too small, but that

it is too large; it is not that it moves too fast to see, but that

its basic processes are to slow to see by a single glance of

the eye."251

"Institutionen beruhen gerade darauf, daß die Lebenszeit

nicht das Maß aller Dinge ist, vielmehr Verfügungen über

deren Grenzen hinaus getroffen, Traditionen über sie

hinweg gesetzt und angenommen werden müssen."252

"Das Bestreben, einen absoluten Raum und eine absolute

Zeit einzuführen, stammt daher, daß der Beobachter, der

die Relativität zweier Subjekte untersucht, mit

Notwendigkeit seine eigene Zeit und seinen eigenen Raum als absolutes Maß der Vergleichung zugrunde legt."253

250 Spencer Brown, George, Probability and Scientific Inference, London 1957, S. 7.

251 Warriner, Charles K., The Emergence of Society, Homewood, Illinois 1970, S. 14.

252 Blumenberg, Hans, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/M. 1986 S. 83.

253 Uexküll, Jakob von, Theoretische Biologie, Frankfurt/M. 1973, S. 79.

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1. Die Unterscheidung von Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen Aus dem Fenster eines Flugzeugs schauend, eröffnet sich bekanntlich eine deutlich andere Perspektive auf das soziale Geschehen, beispielsweise einer Großstadt, als vom, sagen wir einmal, Sitzplatz eines Straßencafés. Aus großer Distanz von oben betrachtet werden ganz andere Strukturen sichtbar und erschließen sich ganz andere Zusammenhänge als aus der Nähe. Aus der Nähe, in der Horizontale, aber rückt dafür eine Dynamik und Detailfülle des Geschehens ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die man aus großer Distanz kaum erahnt hätte. Die so angestellten makro- und mikroskopischen Beobachtungen lassen sich häufig nur schwer auf einen Nenner bringen. Aus der "Vogelperspektive" erschließt sich eine andere Wirklichkeit als im tête-a-tête. Diese mittlerweile zum Alltag gehörende Erfahrung soll im Folgenden theoretisch entfaltet werden. Dazu wollen wir zunächst ganz allgemein das jeweils spezifische Auflösungsvermögen eines beobachtenden Systems von seinem wiederum systemspezifischen Unterscheidungsvermögen unterscheiden. Im zweiten Abschnitt wenden wir uns dem Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen der Soziologie zu, im dritten Abschnitt der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Dabei wird es uns insbesondere um die durch Selbstbeobachtung erfaßte und bestimmte räumliche und zeitliche Ausdehnung der Gesellschaft gehen. Unter welchen organisatorischen und institutionellen Voraussetzungen vermag sich eine Gesellschaft z. B. als Stammesgesellschaft oder als Reich, als Nation oder als Weltgesellschaft wahrzunehmen? Daran anschließend wollen wir im dann folgenden Kapitel III anhand des Begriffsrasters von Talcott Parsons eine zentrale und bis heute dominante Unterscheidungstechnik der Soziologie diskutieren. Soweit ein System Zusammenhänge zwischen einzelnen Details und Facetten seiner Umwelt oder auch seiner selbst erkennen kann, wollen wir dies dem Unterscheidungsvermögen dieses Systems zurechnen. Um einen Zusammenhang erkennen zu können, muß es die zusammenhängenden Einzelheiten voneinander unterscheiden und korrelieren können. All das aber, was dieses System überhaupt als Einzelheiten - ob zusammenhängend oder nicht - zu verorten in der Lage ist, verdankt es seinem systemspezifischen Auflösungsvermögen. Das Auflösungsvermögen macht die Elemente verfügbar, über die das Unterscheidungsvermögen Relationen konstruieren kann. Wir unterstellen, daß das System Dinge oder Ereignisse zu registrieren vermag, mit denen es u. U. nicht viel anzufangen weiß, die es vielleicht irritieren, überraschen oder enttäuschen, aber die, wenigstens im Augenblick, kein einfaches Fazit zulassen. Wir unterstellen also eine auch vom System selbst irgendwie bemerkte, auf einem Komplexitätsgefälle beruhende Asymmetrie zwischen System und Umwelt. Ein System vermag nur das zu unterscheiden,

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was es auch im Rahmen seines Auflösungsvermögens zu registrieren in der Lage ist. Das Auflösungsvermögen bildet also einen constraint für das Unterscheidungsvermögen. Was sich der Wahrnehmung entzieht, läßt sich auch nicht unterscheiden. Komplexe Systeme mögen aber die unvermeidbare Beschränkung ihres Auflösungsvermögens wenigstens indirekt als Handikap erfahren und nach Kompensationsmöglichkeiten suchen oder diese zufällig aufgreifen und, wenn sich ein Erfolg zeigt, beibehalten. Beide Vermögen hängen eng zusammen, der jeweilige Wortgebrauch wurde aber historisch wohl durch unterschiedliche Wissensbereiche geprägt: Der Begriff des Auflösungsvermögens ist aus Erörterungen über die Leistungsfähigkeit optischer Instrumente vertraut; der Begriff des Unterscheidungsvermögens hingegen findet sich eher im Kontext der Psychophysik und Sinnesphysiologie. Die Sinnesphysiologie fragt, in welcher Hinsicht und auf welche Weise kann ein Beobachter etwas von etwas anderem unterscheiden, wann kann er etwas als etwas Bestimmtes wiedererkennen. 254 Es lassen sich zahlreiche in etwa parallel gelagerte Unterscheidungen mit jeweils ähnlichem oder doch verwandtem Problembezug nennen, auf die wir uns teilweise im folgenden beziehen werden. Daten und Theorie, Wahrnehmung und Urteil, Sichtbares und Sagbares, Reiz und Empfindung, Medium und Form sind Unterscheidungen, die sich partiell und auf jeweils besonderer Weise mit der Unterscheidung von Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen decken. Die Frage nach dem Auflösungsvermögen soll zunächst kurz durch einige Beispiele veranschaulicht werden. Sie zielt auf die Leistungsgrenzen eines Instruments, Gegenstände oder Qualitäten einer bestimmten Größe noch verorten oder aufzeichnen zu können, kleinere oder auch größere hingegen nicht mehr. Bei einer Fotoplatte oder einem Film beispielsweise wird das Auflösungsvermögen durch die Körnigkeit des lichtempfindlichen Materials, die sich im wesentlichen nur auf Kosten der Lichtempfindlichkeit verringe rn läßt, bestimmt. Bei einem Fernsehbildschirm wird die Auflösung durch die Dichte der Pixel bestimmt und in der Retina des Auges durch die Dichte der Nervenzellen. Immer gilt hier, daß Objekte jenseits dieses Auflösungsvermögens nicht mehr adäquat erfaßt werden können. Solche Grenzen ergeben sich aber nicht nur nach "unten", sondern auch dann, wenn es um die Erfassung größerer Einheiten oder Aggregate geht. Ein Wanderer kann vielleicht einzelne Berge, aber nicht die Alpen im ganzen fotografieren. Eine Eieruhr erfüllt ihren Zweck beim Eierkochen, aber taugt kaum dazu, die Reifezeit eines Weines zu kontrollieren. Ein Sommerurlaub ist zu kurz, um die Bewegung eines Gletschers zu beobachten. Ein Menschenleben ist zu kurz, um ohne moderne Instrumente die Bewegung bestimmter Sterne zu orten oder eine Astronomie des

254 Heute laufen beide Problemstellungen in den "cognitive sciences" zusammen. Vgl. z. B. die Diskussion der Unterscheidung von "perception" und "cognition" bei Pinker, Steven, Visual Cognition: An Introduction, in: ders. (Hrsg.), Visual Cognition, Cambridge, Mass. 1985, S. 1-63, S. 13f.

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Fixsternhimmels zu entwickeln. Die Beispiele lassen sich schnell multiplizieren und jeder weiß natürlich, daß für die genannten Probleme längst eine Lösung gefunden wurde. Es bedarf dazu eines von den aktuellen Launen des Einzelnen unabhängigen, gewissermaßen überindividuellen Speichers oder Gedächtnisses. Man muß sich Markierungen und Notizen machen, muß Spuren lesen lernen oder muß sich auf die Beobachtungen anderer stützen können. Dadurch läßt sich das jeweilige Problem in eine vom Einzelnen überschaubare Form bringen. Die Frage nach dem Auflösungsvermögen von Beobachtern wird soziologisch interessant, sobald sich dieses Vermögen nicht mehr auf die isolierten Fähigkeiten des Individuums reduzieren läßt. Ohne ein soziales Gedächtnis, ohne die institutionelle Festschreibung und Weiterreichung von zu anderen Zeiten oder andernorts gemachten Beobachtungen und Erfahrungen wäre nicht nur, wie Hans Blumenberg gezeigt hat, die antike und dann die neuzeitliche Astronomie undenkbar.255 Ohne ein soziales Gedächtnis ließe sich weder ein Lebenslauf schreiben, noch eine Familienchronik aufstellen, weder eine Firmengeschichte nachzeichnen, noch ein Nationalmythos weitertradieren, weder ein komplexes Rechtssystem fortschreiben, noch eine Hochreligion behaupten. Nicht nur die Astronomen sind auf die Daten und Erfahrungen ihrer Vorgänger verwiesen, sondern jedes Kulturwesen. "We apprehend society, culture and persons by summarizing a whole series of event observations, just as the astronomer must plot a whole series of observations to get at the orbit of a planet."256 Die Frage, wie ein bestimmter Beobachter seine Welt wahrnimmt oder, in der heute üblichen radikalen Formulierung, wie ein Beobachter seine Welt "konstruiert", läßt sich natürlich auf unterschiedliche Weisen angehen. Soziologen fragen häufig nach den Motiven oder Interessen, die einer bestimmten Konstruktion zugrunde liegen; Biologen scheinen sich eher für die Organe, Techniken oder Instrumente einer spezifischen Art der Welterschließung zu interessieren. 257 Diese Zugangsweisen müssen sich selbstverständlich nicht ausschließen, sondern können sich fruchtbar ergänzen. Dennoch möchten wir uns hier auf die Frage nach der instrumentellen Ausstattung eines Beobachters, auf die Frage nach dem Medium seines Weltzugangs beschränken. Die insbesondere von Jakob von Uexküll entwickelte biologische Umweltlehre, d. h. die Bestimmung des Verhältnisses von System und systemspezifischer

255 Blumenberg, Hans, a.a.O., 1986.

256 Warriner, Charles K., The Emergence of Society, Homewood, Illinois 1970, S. 14.

257 Die beiden hier angedeuteten Perspektiven - die Frage nach den Interessen und die Frage nach den Instrumenten - lassen sich vielleicht am einfachsten durch den Verweis auf zwei Autoren kenntlich machen. Zum einen die Wissenssoziologie, wie sie insbesondere durch Karl Mannheim initiiert wurde, und zum anderen die biologische Umweltlehre, wie sie Jakob von Uexküll begründete. Mannheim, Karl, Ideologie und Utopie, Frankfurt/M. 1978 (Orig. 1929); von Uexküll, Jakob, Theoretische Biologie, Frankfurt/M. 1973 (Orig. 1928).

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Umwelt, muß jedoch, um soziologisch weiter verwertbar zu sein, ergänzt und spezifiziert werden. Biologen und Sinnesphysiologen konzentrieren sich auf jene Besonderheiten der Wirklichkeitskonstruktion, die organisch bedingt und d. h. zumeist artspezifisch sind. Dort wo sich Uexküll auf die organische Ausstattung bestimmter Lebewesen mit bestimmten Sinnesorganen konzentriert, um auf diese Weise ihren jeweiligen Erfahrungsraum zu bestimmen, sollen hier in Analogie dazu Untersuchungen über bestimmte Medien, Institutionen, Organisationen und Kulturtechniken herangezogen werden, um den Erfahrungsraum von menschlichen Gesellschaften zu bestimmen. Die Soziologie ist nicht primär an organisch bedingten gattungsspezifischen Wirklichkeitskonstrukten im Sinne anthropologischer Konstanten interessiert, sondern vielmehr an den biologisch nicht festgelegten, historisch variierenden Wahrnehmungsweisen der Menschen und Beobachtungstechniken sozialer Systeme. Die Selbstbeobachtung und Wirklichkeitskonstruktion sozialer Systeme hängt in einem entscheidenden Maß von der Verfügbarkeit bestimmter Kulturtechniken und Kommunikationsmedien ab. Solche Einrichtungen sind häufig als Organersatz oder als Kompensation und Ergänzung bestimmter Organmängel analysiert worden. In diesem Zusammenhang müssen insbesondere Marshall McLuhan und Arnold Gehlen genannt werden. Das Anregungspotential der biologischen Umweltlehre und deren Abstraktionsleistungen werden heute jedoch kaum noch genutzt, um der, von der klassischen Wissenssoziologie vernachlässigten Frage nach der medialen Gebundenheit spezifischer Wissensstrukturen oder Beobachtungsweisen nachzugehen. Trotz zahlreicher soziologischer, anthropologischer, literaturwissenschaftlicher, linguistischer und schließlich auch den schulischen Medieneinsatz betreffende Studien fehlt immer noch eine allgemeine Medientheorie, um dieses Wissen zu integrieren. Da auch hier keine adäquate Alternative angeboten werden kann, können auch unsere Thesen und Beispiele nicht anders als eklektisch sein und werden dabei lediglich aufgrund der Fragestellung konditioniert. Wir wollen fragen, wie oder auf welche Weise werden bestimmte Phänomene bestimmten soziologischen Theorierichtungen einerseits, sowie bestimmten historisch bekannten Gesellschaften andererseits zum Problem? Was rückt diese Phänomene in das Feld der Aufmerksamkeit oder überhaupt erst in den Bereich des Wahrnehmbaren? Wir wollen uns im folgenden auf die instrumentelle, organisatorische und institutionelle Ausstattung menschlicher Beobachter beschränken und die Fragen nach deren Intentionen, Motiven oder Interessen als Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft oder als Anhänger einer bestimmten Theorierichtung ganz vernachlässigen. Es soll lediglich danach gefragt werden, durch welche Beobachtungstechniken der Bereich des Wahrnehmbaren überhaupt erst eröffnet und schließlich auch beschränkt wird. Aber bevor wir uns diesen Fragen im nächsten Abschnitt widmen, soll hier noch einmal kurz die Problematik und gleichzeitige Unvermeidbarkeit der

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Unterscheidung von Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen aus der Perspektive unterschiedlicher Theorieunternehmungen ausgeleuchtet werden. Die Unterscheidung läßt sich als Skalierungsproblem interpretieren, sie ist in der Informations- und Wissenschaftstheorie zentral, sie benennt ein klassisches Problem der Erkenntnis theorie und sie läßt sich an gestalttheoretischen und heute von den cognitive sciences erneut diskutierten Experimenten veranschaulichen. Die Unterscheidung von Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen ist selbst beobachterabhängig und deshalb nicht unproblematisch. Sie beruht nicht immer auf einer klaren Demarkationslinie, sondern bezieht sich häufig auf eine nur graduelle Differenz. Dies wird besonders deutlich, wenn man sie im Sinne eines Skalierungsproblem interpretiert.258 Wie kann man eine bestimmte Datenmenge so präsentieren, daß einem bestimmten Beobachter bestimmte Beziehungen zwischen den Daten auffallen, die er bei einer anderen Präsentation übersehen würde? Ein Schaubild erlaubt es u. U. einem Beobachter leichter, bestimmte Abhängigkeiten zwischen bestimmten Ereignissen festzustellen als eine Statistik - eine Liste von Zahlen -, die "objektiv" die gleiche Information enthält. Wird die graphische Darstellung geschickt gewählt, liegen die Abhängigkeiten im Datensatz gewissermaßen offen zu Tage.259 Die Wahl einer bestimmten Art und Weise der Präsentation kommt deshalb schon einer ersten rudimentären Interpretation gleich. Sobald man bemerkt, daß es verschiedene, mehr oder weniger anschauliche, mehr oder weniger ökonomische, abstrakte oder ästhetisch attraktive Präsentationsformen desselben Datensatzes gibt, läßt sich schon die Entscheidung für eine bestimmte Datenpräsentation als eine theoretisch motivierte Entscheidung identifizieren. Das Arrangement der Daten läßt sich als Optimierungsproblem behandeln, in dem es darauf ankommt, die Dimensionalität, d. h. die Freiheitsgrade der Daten in angemessener Weise zu reduzieren. Der Reduktionsprozeß ist die Theorie. Aber dieser Prozeß beginnt unweigerlich schon bei der Erfassung der Daten selbst, beginnt schon z. B.

258 Vgl. z. B. Borg, Ingwer / Thomas Staufenbiel, Theorien und Methoden der Skalierung, Bern/Stuttgart/Toronto 1989.

259 Eine der raffiniertesten Techniken ist hier vermutlich der früher insbesondere in der Physik, aber heute allgemein und insbesondere in der Systemtheorie verwandte sogenannte Phasenraum.( vgl. zum Beispiel Ashby, Walter Ross, Design for a Brain, (Orig. 1952) London 1978, S. 20ff.) Wenn er nicht über unsere räumlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten hinaus dimensioniert ist, macht er die Dynamik eines Systems gewissermaßen auf einen Blick sichtbar. Die Bewegung eines Pendels mit geringer Auslenkung beispielsweise läßt sich durch eine Kurve in einem durch Winkelgeschwindigkeit und Auslenkung aufgespannten Koordinatensystem darstellen. Will man auch extreme Auslenkungen (Überschlag des Pendels) als geschlossene Kurve abbilden, muß man die Topologie des Koordinatensystems ändern, indem man es entlang der Auslenkungswinkel-Koordinate zu einem Zylinder zusammenrollt, so daß -180 und +180 Grad identisch werden. Wenn man diesen Zylinder nun noch in eine U-Form biegt, so daß der Koordinaten-Nullpunkt unten liegt, läßt sich auch das Energieniveau sofort bestimmen, so daß man zum Beispiel Reibungseffekte sofort in ihren Konsequenzen sichtbar machen kann. Vgl. dazu Stewart, Ian, Does God Play Dice? The New Mathematics of Chaos, Harmondsworth 1989, S. 73-94.

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auf der Netzhaut. Das Erkennen bestimmter Abhängigkeiten zwischen den Daten - das Unterscheidungsvermögen - und die Fähigkeit, überhaupt einzelne Elemente des Datensatzes zu identifizieren - das Auflösungsvermögen - lassen sich häufig nur schwer voneinander scheiden; jede Präsentation von Daten ist unweigerlich immer auch ein Arrangement dieser Daten und enthält deshalb immer auch schon eine erste Interpretation. Auch die Informationstheorie und in ähnlicher Weise auch die Wissenschaftstheorie haben sich das Problem der Datenpräsentation und der informatorischen Verdichtung von Datenreihen zum Problem gemacht. Hat man es mit einer endlichen Folge von Ereignissen zu tun, so läßt sich diese Sequenz gewöhnlich durch eine ganze Reihe unterschiedlicher Theorien interpretieren, ebenso wie man eine endliche Zahlenfolge mit Hilfe von unterschiedlichen, potentiell unendlich vielen Algorithmen produzieren kann und dadurch ihre Komplexität auf eine weniger redundante Weise erfaßt (es sei denn, man findet keinen und erklärt die Folge bis auf weiteres für zufällig). Die Interpretation entspricht dem, was wir Unterscheidungsvermögen genannt haben, während die Identifikation der einzelnen Elemente durch das Auflösungsvermögen bestimmt ist. Beide Vermögen sind aufeinander angewiesen: Ohne die Fähigkeit zu unterscheiden, ist die Welt unstrukturiert und ohne Anhaltspunkte, während umgekehrt das Auflösungsvermögen einschränkt, welche Unterscheidungen passen und welche nicht. Ein besonderes Problem entsteht, wenn es darauf ankommt, in einem bestimmten Datensatz einen kleineren, deutlicher geordneten Datensatz zu identifizieren, bzw. wenn dies nicht gelingt, den ursprünglichen Datensatz solange zu ergänzen, bis es schließlich doch möglich wird. Dieses Problem stellt sich in typischer Weise zum Beispiel dann, wenn ein Beobachter zu bestimmen versucht, welche Komponenten oder Variablen in seinem Objektbereich ein System definieren und welche der Umwelt dieses Systems zuzuordnen sind. Wie lassen sich die Grenzen einer Gesellschaft, einer Gruppe, eines Ökosystems oder eines Organismus bestimmen? Ein analoges Problem stellt sich in fast jeder historisch angelegten Untersuchung, wenn es darauf ankommt, in der zeitlichen Abfolge der Ereignisse unterschiedliche Epochen auszumachen. Um eine Epoche identifizieren zu können, müssen ihr Anfang und ihr Ende festgelegt werden. Eine solche Festlegung ist aber nur dann sinnvoll, wenn die durch Anfang und Ende eingegrenzte Datenreihe in irgendeiner Weise kompakter dargestellt werden kann. Sie muß sich durch eine gewisse Gleichförmigkeit und Redundanz auszeichnen, die es erlaubt, die Einheit der Epoche zu definieren. Eine Theorie, die es erlauben soll, beispielsweise System/Umwelt Differenzen oder Epochenschwellen zu identifizieren, muß ihren Gegenstandsbereich in akzeptabler Weise vereinfachen können, sie muß kompakter sein als ihr Objekt.260 Soll man eine große Menge

260 Vgl. insbesondere Chaitin, Gregory J., Randomness and mathematical proof, ders., Toward a mathematical definition of life, beides in Information, Randomness and Incompleteness, Singapore 1987, S. 3-10; S. 92-110. Da Chaitin als Beispiele Zahlensequenzen wählt, kann er das, was hier Kompaktheit genannt

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von Daten durch eine lange Theorie erklären oder besser durch mehrere, aber dafür in ihrer Summe wesentlich kürzere Theorien? Soll man aufgrund bestimmter, nicht erklärbarer Daten eine Theorie aufgeben, soll man diese Daten als zufällige Störungen behandeln oder soll man den Geltungsbereich der Theorie einschränken? Reicht es, wenn man im Groben richtig liegt oder sollte man sich besser auf einige wenige genau berechenbare Details beschränken? Die Unterscheidungen, mit der eine Theorie die Redundanzen der von ihr erfaßten Realität kondensiert, definieren, was der Fall ist. Aber noch vor der, wie auch immer motivierten Wahl für einen bestimmten theoretischen Zugang, für eine bestimmte Art des Unterscheidens, beschränkt das Auflösungsvermögen, mit dem ein bestimmter Ausschnitt der Realität jeweils beobachtet wird, die Zahl der Möglichkeiten, diesen Auschnitt theoretisch sinnvoll zu verrechnen. Die Eigendynamik der Theorieevolution verdankt sich aber nicht zuletzt der jeweils theoriegeleiteten Verlagerung der Aufmerksamkeit und der Verschiebung des Auflösungsvermögens in einen theoriekonformen Bereich, dessen Redundanzen sich leicht mit Hilfe der theoretischen Begrifflichkeit informativ verdichten und identifizieren lassen. Die Unterscheidung von Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen bezieht sich auf die Wahrnehmung bestimmter Ereignisse oder Umstände einerseits und deren mehr oder weniger bewußtem Arrangement andererseits. In dieser Unterscheidung setzt sich die klassische Gegenüberstellung von Daten und Theorie fort, die auch hier nicht ganz aufgegeben werden soll. Sie hat darüberhinaus eine deutliche Affinität zu der in klassischer Weise von John Locke entwickelten Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten. Diese Unterscheidung ist jedoch heute kaum mehr akzeptabel, wenn man den primären Qualitäten dadurch einen beobachterunabhängigen ontologischen Ort glaubt reservieren zu können. Bischof Berkeley hat bereits gezeigt, daß auch Qualitäten wie Größe, Gewicht etc. beobachterabhängig sind.261 Die Frage ist nur, in welchem Sinne solche Qualitäten beobachterabhängig oder bestimmte Beobachtungen theorieabhängig sind. Kann man beispielsweise so weit gehen und behaupten, "man sieht nur, was man weiß"? Sicherlich macht es einen Unterschied, ob man beispielsweise als bildungshungriger Urlauber vor der Exkursion einen Reiseführer durchgearbeitet hat oder nicht. Dem Belesenen werden viele Dinge in einem ganz anderen Licht erscheinen als dem Unbelesenen. Durch die Lektüre kann die Aufmerksamkeit auf Dinge gelenkt werden, die man ansonsten vielleicht übersehen hätte. wurde, elegant auf die Länge des Computerprogramms zu ihrer Herstellung reduzieren. Ein akzeptables Verhältnis zwischen der Länge der Zahlensequenz und der Länge des sie reproduzierenden Algorithmu s ist dann gegeben, wenn der Algorithmus für eine längere Zahlensequenz nicht kürzer ist als die Summe der Längen des erste Algorithmus und eines weiteren Algorithmus zur Berechnung des zusätzlichen Abschnitts.

261 Vgl. dazu Putnam, Hilary, Two philosophical perspectives, in: ders., Reason, Truth and History, Cambridge 1981, S. 49-74.

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Aber dennoch ersetzt die Lektüre nicht unbedingt schon die Reise. Irgendeine Asymmetrie zwischen Beobachtung und Gegenstand muß man unterstellen, sonst macht die Idee der Bildungsreise nicht nur keinen Sinn mehr, sondern wird der Begriff der Beobachtung selbst unsinnig. Wie sich das Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen voneinander unterscheiden lassen, möchten wir abschließend noch einmal - gewissermaßen im Selbstversuch - an einem Beispiel zur visuellen Wahrnehmung zeigen. Wenn man entscheiden soll, ob ein bestimmter Punkt auf einem Blatt Papier innerhalb oder außerhalb einer geschlossenen Kurve liegt, so läßt sich dies nur dann auf einen Blick entscheiden, wenn diese Kurve relativ einfach ist.

(Schaubild Nr.1)

Dieses Beispiel läßt sich leicht verkomplizieren. Wenn man den Gesamtplan eines Labyrinths auf einer Karte vor sich ausbreitet und betrachtet, findet man den Ausweg sicherlich schneller, als wenn man sich im Labyrinth selbst befinden würde und immer nur eine einzelne Weggabelung vor sich hätte. Aber man sieht den Ausweg auch häufig auf der Karte nicht sofort, nicht unmittelbar. Man nimmt zwar deutlich jeden einzelnen Weg und jede einzelne Gabelung und jeden einzelnen Endpunkt wahr, aber der Zusammenhang erschließt sich nicht. Sackgassen lassen sich häufig nicht sofort und ohne weiteres vom schließlich wirklich nach außen führenden Weg unterscheiden. Nimmt man aber einen Finger oder einen Stift zur Hilfe und fährt mit ihm mögliche Routen ab, so erschließt sich der Ausweg erfahrungsgemäß wesentlich schneller. Die Orientierung am Stift oder Finger ändert an der aus der Vogelperspektive erfaßten Architektur des Labyrinths - also gewissermaßen am Datenmaterial - nichts, das Auflösungsvermögen ist in beiden Fällen - ob mit Stift oder ohne - das gleiche. Aber das Unterscheidungsvermögen wird durch die Zuhilfenahme eines Stifts erheblich gesteigert. Die Ergänzung der Augen durch den Stift gibt dem Blick einen festen Orientierungspunkt, und die Ergänzung des Stifts durch die Augen ermöglicht von dort aus

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einen gewissen Überblick, der es unnötig macht, alle jeweils möglichen Wege vollständig abzufahren, so als befände man sich selbst im Labyrinth und müßte sich die Wände entlang tasten. Die wechselseitige Ergänzung erlaubt es, Sackgassen früher zu erkennen und von weiterführenden Wegen zu unterscheiden. Im Unterschied zum Finger ermöglicht der Stift sogar einen Lernprozeß, denn die von ihm hinterlassene Spur kann den Suchenden an schon einmal erfolglos eingeschlagene Routen erinnern, die er ohne Stift vielleicht ein weiteres Mal durchirren würde.

2. Unterschiedliche Auflösungsvermögen als constraint soziologischer Theorien Die Unterscheidung von Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen erlaubt es, einen constraint in bezug auf mögliche soziale Selbstbeschreibungen zu formulieren. Aus konstruktivistischer Perspektive sind alle Beobachtungen beobachterrelativ, aber das heißt noch nicht, daß sie beliebig wählbar sind. Sie müssen sich konstruieren lassen. Es lassen sich die verschiedensten Daten erheben und die verrücktesten Theorien formulieren, aber das Verhältnis einer bestimmten Theorie zu ihren Daten ist nicht beliebig. Auf diese Nichtbeliebigkeit kommt es uns im folgenden an. Jakob von Uexküll begründet seinen Relativismus nicht durch Verweis auf unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten, sondern durch Verweis auf die unterschiedlichen, artspezifischen Arten der Wahrnehmung. Ihm geht es nicht um die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretationen oder um einen Theorienrelativismus, sondern er setzt elementarer an, nämlich auf der Ebene der Wahrnehmung und des Auflösungsvermögens. Schon auf dieser Ebene läßt sich die Relativität aller Beobachtung einsichtig machen, aber gleichzeitig - und das scheint uns entscheidend - läßt sich über diese beobachterinterne Ebenendifferenz die Relativität aller Beobachtung einschränken. Jakob von Uexküll fragt nach den Organen, nach dem Medium, in dem sich einem bestimmten System eine bestimmte Umwelt erschließt. Dieses Medium schränkt bereits ein, was sich überhaupt unterscheiden läßt. Die Rückbindung aller Beobachtungen an die jeweils besondere Operationsweise eines bestimmten Systems muß also nicht nur die Unterscheidungen, Codes oder Theorien in Rechnung stellen, über die sich das jeweilige System eine Welt konstruiert, sondern ebenso die Organe oder das Medium, über die es sich diese Welt erschließt. Die Leistungsgrenzen des Mediums sind dabei für das System selbst nicht direkt erfahrbar, denn ihm ist nicht zugänglich, was sich jenseits dieser Grenzen auftun könnte. Von Uexkülls Beispiele und die anderer Autoren, die an diese Forschungsrichtung anschließen, beziehen sich auf das Auflösungsvermögen eines Systems,

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nicht auf sein Unterscheidungsvermögen. Inkompatibilitäten auf der Ebene des Unterscheidungsvermögens lassen sich nur schwer durch Verweis auf das Benutzen einer bestimmten Untersche idung und deren Referenz auf einen bestimmten Gegenstand entscheiden. Dies ist wiederholt anhand der Wissenschaftsgeschichte durch Autoren wie Pierre Duhem, Ludwig Fleck, Gaston Bachelard, Thomas Kuhn, Norwood R. Hanson oder Paul Feyerabend gezeigt worden. 262 Von Uexkülls Beispiele und die zahlreichen später angestellten Experimente zur Sinnesphysiologie und Wahrnehmungspsychologie überzeugen dagegen gewissermaßen theorieunabhängig, da sie anhand von Wahrnehmungsvorgängen entwickelt werden, die sich in actu beobachten und variieren lassen. 263 Über Fakten läßt sich lange streiten, über Phänomene gar nicht. Auf der Ebene des Auflösungsvermögens, soweit sich ein Weg finden läßt, diese Ebene überhaupt selbst ins Feld der Sichtbarkeit zu heben und zu unterscheiden, läßt sich die Relativität allen Beobachtens schon anhand des jeweils erlebten Phänomenbereichs oder der jeweils zugänglichen Datensätze aufzeigen. Diese Relativität ist einerseits radikaler, da es hier nicht um verschiedene Interpretationen derselben Daten geht, sondern um unterschiedliche Daten. Andererseits begrenzt das Auflösungsvermögen aber auch den Möglichkeitsraum des Unterscheidungsvermögens. Das jeweilige Auflösungsvermögen beschränkt die Zahl möglicher Weltinterpretationen. Wir möchten diese Überlegung in diesem Abschnitt im Hinblick auf die Beobachtungsmöglichkeiten der Soziologie, und im nächsten Abschnitt im Hinblick auf die Beobachtungsmöglichkeiten der von der Soziologie beobachteten Gesellschaft entfalten. Fragt man danach, warum bestimmte Beobachter bestimmte Phänomene als neu oder emergent klassifizieren, die andere Beobachter vielleicht überhaupt nicht zu Gesicht bekommen und wiederum andere vielleicht noch weiter zerlegen und herleiten können, so kann unter dieser allgemeine Fragestellung auch das Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen der Soziologie selbst zum Thema gemacht werden. Die Soziologie kann die Gesellschaft als ein Gebilde mit eigenem Charakter nur identifizieren, indem sie sie im historischen Zeitraffer oder im geographischen Vergleich sichtbar macht. Der soziologische Beobachter kann sich seinen Gegenstands- und Problembereich nur dann erschließen, wenn er das Auflösungsvermögen des alltäglichen Erlebens in bestimmter

262 "Die Begriffe zweier Theorien stehen in keiner intensionalen oder extensionalen Beziehung zueinander. (...) Es gibt kein unabhängiges Rationalitätskriterium." heißt es - diese Diskussion zusammenfassend - bei Bernard Giesen und Michael Schmid, Basale Soziologie: Wisenschaftstheorie, München 1976, S. 114. Vgl. auch Stegmüller, Wolfgang, Logische Analyse der Struktur ausgereifter physikalischer Theorien. `Non-statement view' von Theorien, Berlin 1973; ders., Theoriendynamik. Normale Wissenschaft und wissenschaftliche Revolutionen. Methodologie der Forschungsprogramme oder epistemologische Anarchie?, Berlin 1973.

263 Vgl. z. B. von Bekesy, Georg, Physiologie der Sinneshemmung, München 1970; Pöppel, Ernst, Grenzen des Bewußtseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung, Stuttgart 1985.

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Hinsicht überbietet. Aus dem Blickwinkel des Alltags ist die uns umgebende Gesellschaft gewöhnlich zu groß und in ihren Veränderungen zu langsam, um überhaupt in den Bereich des Sichtbaren zu gelangen. 264 So wie man die Bildung einer Wolkenformationen über Nordeuropa erst im Zeitraffer und über Satellitenfotos zu beobachten vermag, so erschließt sich auch der häufig schleichende soziale Wandel einer solchen Region erst im Spiegel der über Jahre hinweg geführten und das Gebiet möglichst lückenlos erfassenden Statistik. So wie die Entwicklung des heimatlichen Stadtbildes erst im späteren Durchblättern des Fotoalbums augenfällig wird, so läßt sich auch der vielleicht eine Epochenschwelle markierende Bedeutungswandel politischer Begriffe erst im Vergleich der über mehrere Jahrzehnte oder Jahrhunderte gesammelten, zu unterschiedlichen Zeitpunkten verfaßten Schriftstücke ermitteln. Komplexe und zeitlich ausgedehnte Zusammenhänge wie Industrialisierung, Urbanisierung, Ghetto- oder Nationenbildung entziehen sich der unmittelbaren Wahrnehmung. Zur Beobachtung dieser Prozesse bedarf es bestimmter Beobachtungstechniken und Instrumente, die es erlauben, die Kontraste anders zu setzen. Analoges gilt aber auch für die Feinauflösung des sozialen Geschehens, wie sie seit einigen Jahren insbesondere von der Konversationsanalyse vorangetrieben wird. Dabei wird eine soziale Realität zu Tage gefördert, die man als direkter Teilnehmer eines Gespräches kaum bemerkt, und die, wenn sie in Form eines Transkripts vorliegt und dadurch der Flüchtigkeit des Augenblicks entzogen ist, zunächst als ein ungewöhnliches Durcheinander überrascht, in dem sich kaum noch in bezug auf die Wahl der Mittel durchrationalisierte Handlungen, ja nicht einmal grammatikalisch korrekt formulierte, vollständige Sätze identifizieren lassen. Die schriftliche Fixierung das Geschehens ist aber unabdingbare Voraussetzung aller weiteren theoretischen Bearbeitung, die dann, nach zahlreichen Vergleichen schließlich doch hoch strukturierte, deutlich repetitive Muster identifizieren kann. Diese Komplexität des Geschehens wird aber erst durch den Wechsel des Mediums, in diesem Fall durch das Transkript, sichtbar. Die Auflösung sozialer Kontakte oder Wechselwirkungen läßt sich aber auch beispielsweise in psychologischer Hinsicht über das, was in der konkreten Situation jeweils sichtbar und zum Thema gemacht werden kann, hinaustreiben. Abgekoppelt von den sozialen Pressuren und dem Zeitdruck der Situation, lassen sich retrospektiv in der Erinnerung und mit Hilfe therapeutischer Techniken oder aufgrund schriftstellerischer Akribie unter Umständen Details und Facetten einer sozialen Beziehung ans Licht bringen, Strukturen der Situation erhellen oder kaum artikulierbare Motive des Handelns einsichtig machen, die im Normalfall unbewußt bleiben oder einfach übergangen werden. Aber auch hier ist das mikoroskopisch-minuziöse Sensorium des

264 Dieses Argument findet sich bei Warriner, Charles K., a.a.O., S. 14.

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Fachmanns gefordert, um neue Zusammenhänge ans Licht zu bringen und zu analysieren. 265 Insbesondere Talcott Parsons hat den Realitätsbezug seiner Theoriearbeit und seiner Begriffsdefinitionen immer wieder als abhängig von einem bestimmten Auflösungsvermögen vorgestellt. Er nutzt die Differenzierung unterschiedlicher Auflösungsebenen, um das kleinste sozial und soziologisch relevante Ereignis zu bestimmen. Er definiert den "unit-act" als dieses kleinste Ereignis. Mit einer Elementar-Handlung, einem "unit-act" ist ein Ereignis gemeint, das von jedem Betroffenen als Handlung identifiziert werden kann. Damit dies geschehen kann, muß dieses Ereignis in einen bestimmten Kontext plaziert werden können, dessen Struktur Parsons durch vier Bezugspunkte spezifiziert. Diese Bezugspunkte sind: die durch eine bestimmte Situation gegebenen Umstände, die sozial jeweils geltenden Normen, die gewählten Mittel und schließlich die der Handlung zugeschriebenen Ziele. Man kann die Beobachtung solcher Zusammenhänge natürlich weitertreiben und verfeinern, aber wenn man den von Parsons durch diese vier Bezugspunkte definierten Zusammenhang weiter analysiert und in kleinere Einheiten zerlegt und auflöst, verliert das hier als Einheit definierte Ereignis den Status einer Handlung, eines "unit-acts". Es wird dann zu einem Geräusch, einer Bewegung oder dgl., kurz: es verliert seinen Sinn für die Betroffenen. Eine in andere Wirklichkeitsdimensionen vordringende Steigerung des Auflösungsvermögens ist sicherlich für andere wissenschaftliche Disziplinen, wie die Biologie oder die Psychologie zentral, aber sie ist für die Identifikation einer Handlung, also einem Ereignis, das für die an dem jeweiligen Handlungszusammenhang beteiligten Personen relevant ist, nur von geringem Interesse. Eine Beleidigung beispielsweise ist als physikalisches Ereignis, als rein akustisches Phänomen, als Schallwelle, sozial völlig belanglos; erst wenn sie als ein Mittel zur Erreichung eines bestimmten Ziels identifiziert ist, das aufgrund bestimmter Umstände gewählt zu sein scheint und bestimmte Normen verletzt, erst dann kann ein solches Ereignis als Handlung bezeichnet werden und u. U. weitere Handlungen veranlassen. Parsons bindet die Wahl eines spezifisch soziologischen Auflösungsvermögens an das Auflösungsvermögen, mit dem sich der Gegenstand der Soziologie selbst beobachtet und konzentriert sich dann darauf, die mit diesem Auflösungsvermögen arbeitenden Unterscheidungen raffinierter zu arrangieren. 266 Für die Entstehung der Soziologie war aber vermutlich nicht zuletzt auch eine Steigerung des Auflösungsvermögens selbst ins Große und ins Kleine, in die Makrodimensionen der Gesellschaft und in die Mikrodimensionen der alltäglichen

265 Vgl. dazu auch Sacks, Harvey, Doing `being ordinary', in: ders., Lectures on Conversation, Vol. II, (hrsg. von Gail Jefferson) Oxford 1992, S. 215-221, S. 217f.

266 Wir kommen darauf im nächsten Kapitel zurück.

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Begegnungen und Konflikte konstitutiv, denn nur darüber war es möglich, eine eigenständige, von anderen Disziplinen noch nicht abgedeckte Fragestellung zu formulieren und darauf bezogene Antworten am Datenmaterial zu erproben. Um unproduktive Theoriedebatten zu vermeiden, scheint es uns wichtig, die deutlich divergierenden Analyseebenen und das ihnen korrespondierende Auflösungsvermögen der verschiedenen soziologischen Theorierichtungen stärker in Rechnung zu stellen. Begriffsoptionen müssen auf das jeweilige Auflösungsvermögen der Methoden bezogen werden, das heißt auf die Datensätze, auf die sich eine bestimmte Theorie beruft. Wenn die Auflösungsvermögen erheblich divergieren, ist es kaum verwunderlich, daß auch die jeweils als angemessen erscheinenden Unterscheidungen zur Bestimmung des beobachteten Materials nicht identisch sind. Stellt man dies in Rechnung, dürfte sich die Kompatibilität zwischen unterschiedlichen Forschungsprogrammen deutlich erhöhen und ließen sich Imperialismen und Indifferenzen vielleicht eher überwinden. Mikrosoziologische Forschungen, wie zum Beispiel die Konversationsanalyse, die sich für Sequenzen von häufig weniger als fünf Sekunden Dauer interessieren und ihr Auflösungsvermögen in diesem Bereich entsprechend steigern, wären maßlos überfordert, wenn man sie auf Probleme von ganz anderem zeitlichen Zuschnitt ansetzen würde. Das gleiche gilt für jede makrosoziologische Betrachtungsweise, die unter Stichworten wie longue durée, Kulturen der Achsenzeiten, asiatische Produktionsweise oder stratifikatorische Differenzierung häufig Zeitabschnitte von 1 000 Jahren und mehr zu integrieren versucht. So wie sich aus mikrosoziologischer Perspektive der Zusammenbruch eines Weltreichs kaum fokussieren läßt, ist umgekehrt natürlich auch das makrosoziologische Beobachtungsraster viel zu grob, um noch die entscheidenen Strukturmerkmale beispielsweise des turn-taking oder der Reparaturmechanismen einer Konversation erfassen zu können. 267 Aber nicht nur bei dieser extremen Divergenz der Zeithorizonte erscheinen ganz andersartige Phänomene auf dem Bildschirm der jeweiligen Theorie, auch bei einem auf den ersten Blick von mehreren Theorien geteilten, beispielsweise mikrosoziologischen Zuschnitt des Objektbereichs erscheinen in Abhängigkeit vom jeweils benutzten Auflösungsvermögen ganz unterschiedliche Strukturen des sozialen Geschehens. Der rational-choice-Ansatz wählt als theoretischen Ausgangspunkt das Verhalten einzelner Individuen. Ein in dieser Perspektive als Wahlverhalten identifiziertes Geschehen ist aber immer noch sehr kompakt, selbst wenn es sich zum Beispiel bloß um einen einzelnen Kaufakt handelt, der selbst von der in diesem Zusammenhang als Käufer identifizierten Person gewöhnlich kaum detaillierter beschrieben wird als "Ich habe mir eine Zeitung gekauft". Das Budget, die Präferenzen und

267 Vgl. auch Collins, Randall, The Microfoundations of Macrosociology, in: ders., Sociology since Midcentury. Essays in Theory Culmination, New York 1981, S. 261-293.

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die Erwartungen der Person sowie das Angebot sind hier aus der rational-choice- Perspektive entscheidend. Sie lassen sich vielleicht durch direkte Befragung und andere Erkundigungen ermitteln. Dies sind aber im wesentlichen Umstände, die der Konversationsanalytiker, anscheinend dasselbe Geschehen vor Augen, gar nicht unmittelbar registriert und in seinen Aufzeichnungen nicht wiederfindet. Ihn interessiert vielmehr eine Analyse ganz anderen Zuschnitts, die das, was für den rational-choice-Ansatz ein einziges Ereignis war, in eine komplexe Sequenz zahlreicher turns zerlegt und weiter analysiert. Gerade weil die Fragestellungen und dementsprechend die jeweils gewählte Art und Weise der Analyse des Problems und der Datenerhebung divergieren, gerade weil die jeweils zugrundeliegenden Auflösungsvermögen divergieren, können die Antworten unterschiedlicher Theorien durchaus kompatibel sein und müssen sich nicht mit Notwendigkeit ausschließen. Die hier genannten Theorierichtungen und ihre unterschiedlichen Auflösungsebenen lassen sich bislang nicht aufeinander reduzieren. 268 Das muß nicht heißen, daß eine Reduktion unmöglich ist. Es scheint uns aber gegenwärtig aus pragmatischen Gründen sinnvoller, das Projekt der Reduktion "der" Makroebene auf "die" Mikroebene durch das ontologisch weniger voreingenommenes Projekt einer Mikrofundierung der Makrosoziologie zu ersetzen, wie dies beispielsweise Randall Collins vorgeschlagen hat.269 Die Soziologie und in ähnlicher Weise vielleicht auch die Biologie haben es mit Systemen zu tun, die in der Lage sind, sich selbst und ihre Umwelt zu beobachten. Eine Theorie beobachtender Systeme müßte deshalb entweder das spezifische Auflösungsvermögen, mit dem sich ein solches System selbst beobachtet, angemessen in Rechnung stellen, oder die Irrelevanz solcher Selbstbeobachtungen plausibel machen können. Der Versuch, die Selbstbeobachtung sozialer

268 Zum Problem der Reduktion vgl. Giesen, Bernard / Michael Schmid, Basale Soziologie: Wissenschaftstheorie, München 1976, S. 131ff. Solche Probleme sind natürlich nicht auf die So ziologie beschränkt. In der Physik zum Beispiel war das Verhältnis von phänomenologischer und statistischer Thermodynamik lange umstritten und sind bis heute die Elementarteilchen nicht vollständig erfaßt, ohne daß dies die Forschung in anderen Bereichen zum Stillstand gebracht hätte. Für die makroskopische Beschreibung eines idealen Gases mit Hilfe des Gasgesetzes beispielsweise braucht man nur drei Variablen (Temperatur, Druck und Volumen), während man für die mikroskopische Beschreibung die über diverse Erhaltungsgesetze aufeinander bezogenen Orts- und Impuls -Koordinaten der einzelnen Moleküle in Rechnung stellen muß. Ähnliche Probleme finden sich auch in der Biologie. DNS-Ketten beispielsweise werden mal als Gene im Sinne von "Programmen" oder gar "Symbolen" oder "Bauplänen" behandelt, aber bei anderen Problemstellungen als nur chemisch und physikalisch interessante Molekülverbindungen. Das gegenwärtig häufigste Beispiel zur Verdeutlichung unterschiedlicher Auflösungs- oder "Emergenz"-Ebenen bildet vielle icht die Computerbenutzung. Der eine kennt nur eine bestimmte Benutzeroberfläche, der nächste das Betriebssystem und ein dritter ist vielleicht sogar in der Lage, auf der Ebene der Maschinensprache mit dem Gerät in Kontakt zu treten. Schließlich könnte man auch noch die Hardware selbst aus anderen Einheiten komponieren, ohne daß dies auf höheren Programmebenen notwendigerweise Folgen hätte. Andrew Tanenbaum spricht deshalb mit Bezug auf das, was dem Benutzer aufgrund seiner jeweils besonderen Zugangsweisen gegenübersteht, von "virtuellen Maschinen". Vgl. Tanenbaum, Andrew S., Structured Computer Organization, Engelwood Cliffs, N.J. 1990 (3. Auflage).

269 Collins, Randall, a.a.O., 1981, S. 261-293.

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Systeme als bloße Rhetorik, als Epiphänomen oder Wiederspiegelung für belanglos zu erklären, scheint uns aber nicht nur unplausibel, sondern auf einen performativen Widerspruch hinauszulaufen. Wenigstens als Soziologe wird man deshalb die Selbstbeschreibung sozialer Systeme mit in Rechnung stellen wollen. Was aber, wenn in der Selbstbeschreibung selbst auf Makroeinheiten Bezug genommen wird, wenn sich Akteure in ihren Situationsdefinitionen auf Umstände berufen, die zwar eine Mikrosoziologie weiter auflösen und auf andere Variablenkombinationen reduzieren kann, aber die sozialen Beobachter in ihrer aktuellen Situation selbst eben nicht? Auf diesem Umweg ist, wie Collins meint, die Soziologie gezwungen, auch die Makrobedingungen sozialen Handelns ausdrücklich in ihre Analysen einzubeziehen. 270 Wenn sich die Kommunikation selbst durch Verweise auf Makroeinheiten, wie zum Beispiel Klassen, Minderheiten, Organisationen oder Funktionssysteme etc. strukturiert und dadurch Anschlußmöglichkeiten limitiert, muß eine Theorie der Kommunikation dieses Beobachtungsraster rekonstruieren können und die mit diesem Raster georteten, der Soziologie aufgrund ihres feineren Auflösungsvermögens selbst gewissermaßen unsichtbaren Gegenstände aufgrund ihrer Effekte in der Kommunikation mit zu berücksichtigen versuchen. Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit ist kein Epiphänomen, sondern ein konstitutives Strukturmerkmal sozialer Systeme und deshalb notwendigerweise auch Gegenstand soziologischer Analyse.271 Es lassen sich eine ganze Reihe von Mechanismen identifizieren, die bei dieser Konstruktion genutzt werden. Mit Hilfe von individuellen und generellen Typisierungen, wie Georg Simmel und Alfred Schütz sie analysiert haben, durch die Annahme bestimmter frames, wie Erving Goffman gezeigt hat, aufgrund von spezifischen membership categories, der sich heute insbesondere die Konversationsanalyse widmet und unter Benutzung bestimmter Zurechnungsschemata, wie sie von der Sozialpsychologie identifiziert werden, konstruieren die in Kommunikation verstrickten Individuen eine eigene soziale Realität.272 Es ist aber sicherlich überstürzt zu behaupten, daß diesen immer wieder neu ansetzenden Konstruktionsprozessen selbst unterschiedliche Realitäten zugrunde liegen müßten. Wer so zu argumentieren versuchte, würde sich unweigerlich in einem

270 Ders., a.a.O., 1981, S. 261-293, S. 266f.

271 Hier kann natürlich The Social Construction of Social Reality (Harmondsworth 1984) von Peter Berger und Thomas Luckmann nicht ungenannt bleiben.

272 Simmel, Georg, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1983, S. 24; Schütz, Alfred, Commonsense and scientific interpretations of human action, in: ders., Collected Papers, The Hague 1962, S. 3-47; Goffman, Erving, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, New York 1974; Jayyusi, Lena, Categorization and the Moral Order, London 1984; Meyer, Wulf-Uwe, Die Attributionstheorie, in: Theorien der Sozialpsychologie Bd. 1: Kognitive Theorien, (hrsg. von Frey, Dieter und Martin Irle), Bern 1984, S. 98-136.

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Selbstwiderspruch lahmlegen. Er müßte schließlich behaupten, daß sich die Wirklichkeit selbst widersprächen und nicht identisch mit sich selbst wäre und damit würde unklar werden, über was man eigentlich spricht, wenn nicht über die Wirklichkeit.273 Aber auch die umgekehrte Behauptung, der eine oder andere Beobachter irre oder täusche sich, habe Vorurteile oder sei ideologisch verblendet, wird dem Problem nicht gerecht, denn soziale Systeme fertigen kontinuierlich und gewissermaßen naturwüchsig Selbstbeschreibungen von sich an. Sie enthalten immer ein Modell von sich und dieses Modell kann nie mit dem System selbst identisch sein. 274 Es kommt deshalb darauf an, herauszubekommen, in welcher Hinsicht sich ein System selbst beobachtet und mit welchem Auflösungsvermögen diese Beobachtungen arbeiten. Statt die Wirklichkeit zu multiplizieren, zu der niemand einen direkten Zugang hat, und die Logik zu verabschieden, mit deren Hilfe sich erst mögliche Inkonsistenzen in der eigenen Theoriearbeit sichtbar machen lassen oder einen anderen Beobachter einfach zu verurteilen, kommt es darauf an, nach den Instrumenten, Techniken und Methoden des jeweils besonderen Weltzugangs zu fragen und deren Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen zu untersuchen. Ein Zimmer wird mit Hilfe eines Blindenstocks sicherlich anders erfahren als mit Hilfe eines Echolots, und mit Hilfe von Röntgenstrahlung sicherlich anders als mit Hilfe von Wärmestrahlung und nur wenn man dies in Rechnung stellt, läßt sich auch im Ansatz verstehen, warum unterschiedliche soziologische Methodologien unterschiedliche Resultate zutage fördern können, oder warum moderne Gesellschaften, die beispielsweise über eine Tagespresse verfügen, schon allein deshalb eine andere Selbstwahrnehmung haben als vormoderne Großreiche, für die dies noch nicht galt. Jakob von Uexkülls Umweltlehre entspricht in ihrer Ausrichtung der von Willard van Quine geforderten naturalisierten Epistemologie.275 Eine solche Epistemologie empfiehlt sich auch der Wissenssoziologie, um aus den logischen Dilemmata des Historismus und Relativismus herauszufinden, ohne dabei Gefahr zu laufen, in einen ebenso überholten Szientismus zurückzufallen. Natürlich entscheidet die jeweilige theoretische Fragestellung darüber, was ein brauchbarer Datensatz ist und was nicht. Aber auf der anderen Seite schränken die Methoden und Techniken der Datenerhebung und die mit ihnen produzierten Datensätze auch immer

273 Vgl. Atlan, Henri, Disorder, Complexity and Meaning, in : Livingston, Paisley (Hrsg.) Disorder and Order, Saratoga, Cal. 1984, S. 109-128, S. 127f.

274 Vgl. dazu insbesondere MacKay, Donald M., Behind the Eye, Oxford 1991; sowie Rosen, Robert, Anticipatory Systems. Philosophical, Mathematical and Methodological Foundations, Oxford 1985.

275 Van Quine, Willard, Epistomology Naturalized, in: ders., Ontological Relativity and Other Essays, New York 1969, S. 69-90.

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schon deutlich ein, welche Interpretationsstrategien anschließend noch sinnvoll sind. Die Theorie befragt nicht nur die Daten, sondern aufgrund der Daten kann der Forscher auch auf Theoriedefizite aufmerksam werden. Neue, bis dahin nicht zugängliche und deshalb auch nicht bearbeitete Datensätze, die sich nicht ohne weiteres einem schon etablierten Forschungsprogramm zuordnen lassen, provozieren vielleicht neue Fragestellungen und neue Theorieunternehmen. Eine Steigerung des Auflösungsvermögens kann neue Phänomene im Gesichtsfeld einer Wissenschaft zutage fördern und neue Interpretationsstrategien nahelegen. Hier können Veränderungen schon durch kleine technische Innovationen eingeleitet werden. Ohne das transportable Tonbandgerät wäre die Konversationsanalyse sicherlich nicht möglich. Ohne die Erweiterung des Wahrnehmungsraumes durch die amtliche Statistik hätten klassische Texte der Soziologie wie Durkheims `Selbstmord', Engels `Lage der arbeitenden Klassen in England' oder Webers Analyse des indischen Kastensystems nicht geschrieben werden können. 276 Die moderne Gesellschaft als Ganzes und ihre diversen Subsysteme entziehen sich der unmittelbaren Wahrnehmung, ihre komplexen sozialen Strukturen lassen sich nur indir ekt ausloten. 277 Wer sie auszuloten versucht, muß diese Strukturen selbst nutzen, verstrickt sich in sie und macht sich unweigerlich abhängig von ihnen. Die moderne Gesellschaft läßt sich schon allein aufgrund ihrer räumlichen Ausdehnung nicht mehr in den Wahrnehmungsraum eines einzelnen Menschen einbetten. Unmittelbar sind dem einzelnen immer nur Fragmente gegenwärtig. Eine moderne Gesellschaftstheorie kann heute deshalb nur noch in einem metaphorischen Sinn einen Blick auf das Ganze versprechen. Die insbesondere von der britischen Sozialanthropologie genutzten und kanonisierten Verfahren zur Beobachtung einfacher Gesellschaften bewähren sich nicht in gleicher Weise, wenn es um eine Theorie der modernen Gesellschaft geht. Die moderne Soziologie ist unweigerlich Teil der modernen Gesellschaft; der Soziologe reist nicht von ferne her an, um sich ein Bild von ihr zu machen. Weder gibt es zu ihr ein Außen im Sinne eines bestimmten, sie umgebenden Gebietes, noch läßt sich mit dem Finger auf sie zeigen, um deutlich zu machen, daß diese Gesellschaft dort gemeint sei und nicht jene da. Und trotzdem wird immer wieder so verfahren. Robert Redfield zeigt, worin

276 Da es sich bei dieser Art von Beobachtung letztlich immer auch um eine Selbstbeobachtung der Gesellschaft handelt, darf nicht verwundern, daß die Codifizierung und Publikation solcher Daten wiederum prägend auf die soziale Wirklichkeit zurück wirkt. "Interessant ist etwa, daß das von Max Weber minutiös analysierte `indische Kastensystem' auch mit ein praktisches Ergebnis der von Weber als Forschungsleistung gelobten Codifizierung durch die britische Verwaltung war." So Hanns Wienold, Fragekultur und bäuerliche Gesellschaft, a.a.O., S. 406 mit Verweis auf Rösel, J.A., Zur Hinduismus-These Max Webers. Eine kritische Würdigung, München 1982.

277 Mit der These, daß sich eine Gesellschaft nicht direkt beobachten lasse, beginnt auch Bernhard Giesen seine Makrosoziologie. Ders., a.a.O., Hamburg 1980, S. 15.

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die Attraktivität eines solchen Verfahrens liegt, aber er verweist auch darauf, daß diese Art des Beobachtens nur bei einfachen Gesellschaften legitim ist. Aber selbst da entspricht sie schon häufig nicht ganz der sozialen Realität, denn deren Determinanten beschränken sich nicht unbedingt auf die Lokalität der Untersuchungseinheit. "The simplicity of such a society - which became a point of our methodological strength - lies partly in the congruence of all the major conceivable systems that make it a whole: the society, the culture, the community, the self-defining group with common and exclusive loyalties - these coincide with one another in the same real entity; those few people, right there. For a time anthropologists made scientific capital of this completeness and discreteness. Even where some independence of the group studied with another was present, it was often ignored, and the larger system was not made subject of inquiry."278 Nachdem die Unzulänglichkeiten der von den Klassikern bis einschließlich Parsons vorgelegten Entwürfe zu einer Theorie der modernen Gesellschaft wiederholt herausgearbeitet wurden, ist die Entwicklung einer solchen Theorie erneut zu einer Herausforderung des Fachs geworden. Um eine Theorie des umfassendsten Sozialsystems zu erarbeiten, muß jedoch die Frage beantwortet werden, wie eine solche Theorie zu ihrem Material - zu ihren Daten - kommen kann. Wenn es nicht mehr möglich ist, hinzufahren, sich vor Ort umzuschauen und von einem oder vielleicht mehreren Informanten über das soziale Geschehen ins Bild setzen zu lassen, wie erschließt sich der Theoretiker die soziale Welt dann? Und umgekehrt, inwiefern entscheidet der gewählte methodologische Zugang und das zutage geförderte Datenmaterial über das spätere Aussehen und die Architektur der Theorie. Daß Theorien zwischen Schreibtisch und Bibliothek entstehen, ist nichts Ungewöhnliches und unterscheidet die Soziologie und ihre diversen Theorierichtungen nicht von anderen Disziplinen. Aber daß sich eine Minimaltheorie der modernen Gesellschaft von jedem ihrer Mitglieder, von jedem, der ihr eine Zeitlang ausgesetzt ist, gewissermaßen introspektiv generieren läßt, ist doch erklärungsbedürftig. Eine biographisch glücklich geschulte Sensibilität scheint bis heute die bedeutendste Ressource und Inspirationsquelle soziologischer Theoriebildung. Ein Text von Erving Goffman überzeugt, weil man die meisten Dinge so oder so ähnlich auch schon selbst erlebt hat. Die Schulung des soziologischen Blicks scheint keiner anderen als der natürlichen Optik zu bedürfen. Inwiefern entspricht soziologische Theorie einer Verallgemeinerung von Alltagserfahrungen? Der von C. Wright Mills und anderen an die Produzenten von "grand theories" gemachte Vorwurf, sie würden in der Hauptsache jedermann verständliche Konzepte in einen aufgeblasenen Jargon übersetzen, ist natürlich polemisch zu verstehen, aber obwohl dieser Vorwurf

278 Redfield, Robert, Societies and Cultures as Natural Systems, a.a.O., S. 131.

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wissenschaftlich unfruchtbar ist, ist er dennoch nicht völlig abwegig.279 Kann man ohne Mikroskop Mikrosoziologie betreiben und ohne Teleskop Makrosoziologie?280 Bei Harvey Sacks findet sich auf diese Frage wenigstens eine Teilerklärung. Er diskutiert in seinen Lectures die Frage, wieso soziologische surveys, obwohl sie den von der Statistik her erforderlichen Annahmen über das Datenmaterial vielfach nicht entsprechen können, trotzdem passable Resultate produzieren oder, wieso ein Anthropologe eine treffende Analyse einer Gesellschaft liefern kann, obwohl er sie nur ausgesprochen kurz besucht und seine Informationen ein oder zwei zufällig gesprächsbereiten Informanten verdankt. Wieso läßt sich die soziale Ordnung einer Gesellschaft beobachten, obwohl man diese Gesellschaft gar nicht als Ganzes und nicht statistisch repräsentativ erfaßt hat? Und in gleicher Weise können wir fragen, wieso lassen sich selbst heute noch durchaus passable Gesellschaftstheorien ohne Teleskop oder Mikroskop mehr oder weniger introspektiv und im Alleingang schreiben. Sacks Antwort lautet, es gebe vermutlich "order at all points" und es mache deshalb kaum einen Unterschied, an wessen Verhalten man eine theoretische Überlegung zu bestätigen sucht oder von wem man seine Informationen erhalte.281 Die unterschiedlichen Ebenen sozialer Ordnung oder wenigstens die Art von sozialer Ordnung, für die sich die Soziologie bislang hauptsächlich interessiert hat, nämlich die kulturellen Grundlagen des sozialen Zusammenlebens, lassen sich über mehr oder weniger beliebig aufgegriffene Individuen ermitteln. Die kulturelle Ordnung einer Gesellschaft läßt sich, wenn man diese Ordnung verinnerlicht hat, gewissermaßen introspektiv im Alleingang erforschen, wenn es dem Beobachter gelingt sich seiner eigenen blinden Flecke und kulturellen Selbstverständlichkeiten reflexiv zu vergegenwärtigen und sein implizites Wissen zu explizieren. Primär aufgrund persönlicher Eindrücke und aus dem Gedächtnis (aber natürlich auf den Schultern von Riesen und unter Nutzung von Bibliotheken und Zettelkästen) geschriebene Gesellschaftstheorien haben notwendigerweise einen kulturalistischen bias, denn sie schöpfen schließlich vorrangig aus dem, was im Prinzip jederman erfahrbar ist und von allen in fast gleicher Weise geteilt wird. Das vielleicht größte Problem ist, schreibt Edwin Hutchins, daß "the cultural grammar we are looking for is most often transparent to

279 Mills, C. Wright, The Sociological Imagination, New York 1959; vgl. auch Andreski, Stanislav, Social Sciences as Sorcery, London 1972.

280 Vielleicht müssen, ohne die Bezugnahme auf divergierende Auflösungsvermögen, theoretische Debatten notwendigerweise polemisch geführt werden. Wenn sich alle auf alltägliche Erfahrungen berufen und um denselben Datensatz konkurrieren, kann man sich nur schwer aus dem Weg gehen. Erst der Bezug auf ein spezifisches, noch unbearbeitetes Auflösungsvermögen erlaubt die Ausdifferenzierung eines Theorieunternehmens. Die Stabilität einer Theorie verdankt sich ihrer Datennische.

281 Ders., Lectures on Conversation Vol. I (hrsg. von Gail Jefferson), Oxford 1992 S. 484.

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those who use it. Once learned, it becomes what one sees with, but seldom what one sees."282 Dieses Problem, so scheint es, läßt sich aber wenigstens im Ansatz reflexiv auflösen, so daß die kulturellen Codes selbst sichtbar werden. 283 Bernhard Giesen hat gezeigt, daß eine Entlastung von spezifischen handlungsleitenden situativen Zwängen eine elementare Voraussetzung für eine Reflexion kultureller Codes bildet und daß, wenn eine solche Entlastung und Entkoppelung von der Pragmatik alltäglicher Handlungszwänge möglich wird, sich in typischer Weise intellektuelle Diskurse ausdifferenzieren. 284 Insofern sich die situativen Vorgaben und die kulturellen Codes einigermaßen gleichen, scheint die Annahme nicht abwegig, daß Harvey Sacks' Resümee, "Tap in to whomsoever and you get pretty much the same thing,"285 auch auf das Gros soziologischer Theorieunternehmen selbst zutreffen könnte. Betrachtet man sie aus einer gewissen Distanz, verlieren sich viele der individuellen Theoriekonturen und ein gemeinsames Grundgerüst wird sichtbar (vgl. den Anhang zu Kapitel III). So wie Benjamin Lee Whorf aufgrund von Gesprächen mit einem einzigen Navajo in New York eine mehr oder weniger akzeptable Grammatik der Navajosprache entwickeln konnte, schreibt Sacks, "it may well be that we could give a formal account in the way of singular activities."286 Durch Zugriff auf das Verhalten oder auf das implizite oder explizite Wissen eines einzelnen Mitgliedes einer Gesellschaft läßt sich - so lautet mehr oder weniger deutlich Sacks' These - eine Soziologie dieser Gesellschaft schreiben. Diese These müßte überraschen, wenn man nicht schon wüßte, daß vielleicht die meisten Gesellschaftstheorien in eben dieser Weise - nämlich in einem sich selbst reflektierenden Alleingang am Schreibtisch - konstruiert werden. Dieses Verfahren ist ohne weiteres legitim, wenn man dabei, wie dies Parsons und die Klassiker vor ihm tun, unterstellt, daß die Werte und Normen einer Gesellschaft von jedem Mitglied dieser Gesellschaft verinnerlicht sein müssen, oder wenn man, wie der symbolische Interaktionismus, die Sprechakttheorie und die

282 Hutchins, Edwin, Culture and Inference. A Trobriand Case Study, Cambridge, Mass. 1980, S. 12. Hutchins spricht in diesem Zusammenhang von einer "referential transpaency" des kulturellen Codes. Vgl. auch Moerman, Michael, A little knowledge, in: Tyler, Stephen A., (Hrsg.), Cognitive Anthropology, New York 1969, S. 449-469.

283 Die Soziologie steht natürlich mit diesem Problem nicht allein. Auch Phänomenologen und Sprachphilosophen müssen sich bekanntlich damit auseinandersetzen. Ein vermutlich durch Erwa rtungsenttäuschungen angeregtes und selbstreflexiv gesteigertes Kontingenzbewußtsein bildet die elementare und aller Wahrscheinlichkeit nach kulturinvariante Voraussetzung für diesen Perspektivenwechsel.

284 Giesen, Bernhard, Die Entdinglichung des Sozialen. Eine evolutionstheoretische Perspektive auf die Postmoderne, Frankfurt/M. 1991, S. 165ff.

285 Sacks, Harvey, Lectures on Conversation, Vol. I. (hrsg. von Gail Jefferson) Oxford 1992, S. 485.

286 Sacks, Harvey, a.a.O., S. 485.

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Diskursanalyse es tun, davon ausgeht, daß die symbolisch vermittelten kulturellen und kognitiven Muster einer Gesellschaft sich im Verlauf der Sozialisation von jedem Individuum in mehr oder weniger gleichem Maße angeeignet werden. Wenn es stimmt, daß jedes Individuum ein Spiegelbild der Gesellschaft bzw. ihrer Kultur ist, dann wird der Leser einer dieses Bild nachzeichnenden Theorie natürlich nur erfahren, was er implizit ohnehin schon lange wußte.287 Dadurch wird der Theoriebau am Schreibtisch jedoch nicht überflüssig, denn er kann natürlich trotzdem erheblich über das jedermann aktuell verfügbare Alltagswissen hinausgehen. Die geduldige Arbeit am Text, Korrekturen, Konsistenzprüfungen, Ergänzungen und Umstellungen machen es möglich, daß "das Geschriebene schließlich gescheiter als der Schreiber ist."288 Sacks' These der "order at all points" ist nur brauchbar, wenn man erstens, wie Sacks dies auch selbst fordert, "sorts of order" unterscheidet und zweitens, was leider nur selten geschieht, die Skalenabhängigkeit dieser unterschiedlichen Arten der Ordnung in Rechnung stellt. Als skalenabhängig wollen wir jene Strukturen oder Merkmale eines Gegenstands bezeichnen, die sich nur mit einem bestimmten Auflösungsvermögen erfassen lassen und deren Qualität oder Ausprägung sich mit ihrer Größe, Verbreitung oder Häufigkeit selbst verändern kann, so daß sich nur schwer Verallgemeinerungen über mehrere Größenordnungen hinweg formulieren lassen. 289 Bestimmte kulturelle Muster, mit Sicherheit beispielsweise die Beherrschung der Muttersprache, mögen relativ homogen in einer bestimmten Population verteilt sein und durch jedes Individuum in gleicher Weise

287 Ob sich durch dieses Beobachtungsverfahren eine einheitliche Theorie erarbeiten läßt, ist damit jedoch nicht entschieden. Wenn man aber den nach wie vor hohen Orientierungswert der soziologischen Klassiker und das Fehlen standardisierter, kumulativ ergänzter Lehrbücher bedenkt, dann drängt sich der Eindruck auf, daß man es in den meisten Fällen nicht mit großen Theorien, sondern zuallererst mit talentierten und fleißigen Autoren zu tun hat. Selbst bei den Unternehmen, die C. Wright Mills ironisch "grand theories" genannt hat, handelt es sich wohl überwiegend um "schwache Erklärungsheuristiken" im Sinne von Bernhard Giesens. "Ist eine Erklärungsheuristik schwach, so stellt sie große Anforderungen an den Einfallsreichtum des Forschers und benötigt eine Vielzahl von fre mden Hypothesen und restriktiven Zusatzannahmen, um ihr Erklärungsversprechen zu halten." Ders., a.a.O., Hamburg 1980, S. 16. Ein primär an solchen Heuristiken orientierter Diskurs hat notwendigerweise Schwierigkeiten, sich unter Sachgesichtspunkten von der ihn umgebenden Gesellschaft zu unterscheiden. Dies ist, wie Niklas Luhmann schreibt, ein Indikator für einen relativ geringen Grad der disziplinären Ausdifferenzierung, "für einen Grad der Ausdifferenzierung, der nicht viel mehr als `Muße' für eine denkende Lebensführung voraussetzen muß." Ders., Wie ist soziale Ordnung möglich?, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, Frankfurt/M. 1981, S. 195-286, S. 212. Nicht mehr auf einen einzelnen Autor zurückrechenbare Forschungsprogramme haben sich eigentlich erst in den letzten zwei Jahrzehnten entwickeln können. Die Netzwerkanalyse und die Konversationsanalyse lassen sich als solche kumulativ fortschreitende Forschungsprogramme begreifen und es ist sicherlich kein Zufall, daß in beiden Fällen mehr oder weniger formale Analysetechniken und besondere, das natürliche Sensorium des einzelnen Forschers ergänzende Datenerhebungstechniken eine entscheidende Rolle spielen.

288 Braitenberg, Valentin, Gescheit sein und andere unwissenschaftliche Essays, Zürich 1987, S. 34f.

289 Fragen der Skalierung bilden ein zentrales Thema in der theoretischen Ökologie. Vgl. dazu Allen, T. F. H. / Thomas W. Hoekstra, Toward a Unified Ecology, New York 1992.

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repräsentiert werden. Es ist deshalb gleichgültig, welche oder wieviele Personen man befragt und auf ihr Verhalten hin beobachtet, solange man sich auf Mitglieder der fraglichen Population beschränkt. Um die Möglichkeiten der Machtausübung in einer Bürokratie oder die Verteilung finanzieller Kapazitäten in einem Industriezweig in Erfahrung zu bringen, empfiehlt sich dieses Vorgehen jedoch sicherlich nicht. Hier ist es ganz entscheidend, wen man zu Rate zieht, von wem man seine Informationen erhält, und ob sich über die jeweils befragten Personen die Struktur des interessierenden Netzwerkes im ganzen rekonstruieren läßt, obwohl das Wissen um die spezifischen Ordnungsformen dieser Bereiche natürlich wiederum, wenigstens teilweise Bestandteil der allgemeinen Kultur sein kann. Aber auch im Wirtschaftssystem oder im Bereich des Politischen wiederholen sich Ordnungsformen auf verschiedenen Größenordnungen. Einander bekämpfende Individuen geben ihren Naturzustand auf, um sich einem Leviathan unterzuordnen, aber die verschiedenen Leviathane begegnen sich wiederum im Naturzustand. Miteinander konkurrierende Individuen schließen sich zu einem korporativen Akteur zusammen, der dann anschließend mit anderen gleichartigen Akteuren konkurriert, die sich wiederum zusammenschließen mögen, um wiederum mit Unternehmen von ähnlichem Kaliber konkurrieren zu müssen etc. Bestimmte Ordnungsmuster lassen sich auf mehreren Ebenen beobachten. Solche Phänomene werden heute unter dem Titel der Selbstähnlichkeit und der Skaleninvarianz behandelt.290 Aber es gibt auch einfachere Formen der Skaleninvarianz. So wie Newton gesagt haben soll, die Planeten würden denselben Gesetzen gehorchen wie der fallende Apfel vor unseren Augen, so überträgt die alteuropäischen Sozialphilosophie die von Angesicht-zu-Angesicht, also im Nahbereich der Interaktion geltenden Strukturmerkmale des sozialen Zusammenleben auch auf die Ebene der Gesellschaft im Ganzen. Gesellschaft ist in alteuropäischer Perspektive nicht anders als im Sinn von Freundschaft oder abstrakter, als ein interpersonales Verhältnis denkbar. Insbesondere Niklas Luhmann hat wiederholt die Unangemessenheit dieser Sichtweise herausgearbeitet und kritisiert.291 Bereits bei Emile Durkheim finden sich jedoch zahlreiche Überlegungen, die die Unhaltbarkeit einer solchen Extrapolation vom Kleinen ins Große als häufig unangemessen und unhaltbar aufzeigen. Es gibt bestimmte Schwellenwerte, deren Überschreiten zur Folge hat, daß die Beziehungen zwischen bestimmten Variablen des beobachteten Systems plötzlich anderen Gesetzmäßigkeiten

290 Vgl. z. B. Creswick, R. J. / H. A. Farach / C. M. Poole, Introduction to Renormalization Group Methods in Physics, New York 1991, S. 1ff. In der Soziologie hat insbesondere Harrison C. White auf solche Strukturmerkmale aufmerksam gemacht. Vgl. ders., Identity and Control. A Structural Theory of Social Action, Princeton, N.J. 1992, S. 19f.

291 Vgl z. B. ders., Arbeitsteilung und Moral, in: Durkheim, Emile, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977, S. 17-35, S. 26.

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folgen. Mechanische Solidarität verhält sich beispielsweise in gewissen Grenzen indifferent zur Bevölkerungsdichte, beginnt sich aber aufzulösen, sobald diese Dichte einen bestimmten Wert überschritten hat. Das klassische Gemeinschaftsideal - jenen Integrationsmechanismus, den Durkheim mechanische Solidarität nennt - läßt sich also nicht ohne weiteres von kleinen und überschaubaren Verhältnissen wie der Familie auf die Gesellschaft im ganzen oder von der vormodernen auf die moderne Gesellschaft übertragen. Aber im "Selbstmord" behandelt Durkheim auch einen Schwellenwert, der keinen zeitlichen Umschlagpunkt markiert, sondern der sich aufgrund unterschiedlicher beobachterspezifischer Auflösungsvermögen ergibt. Über die soziologisch interpretierte Selbstmordstatistik erschließt sich Durkheim eine soziale "Tatsache sui generis", die sich auf der Ebene des jeweils einzelnen Selbstmordes und aus der Perspektive des die Statistiken jeweils erstellenden "subalternen Beamten der Untersuchungsbehörde" nicht hätte beobachten lassen. 292 Sacks' These einer "order at all points" muß nicht heißen, daß es immer dieselbe Ordnung und dieselben Gesetzmäßigkeiten sind, nach denen sich alles gliedert. Was im Kleinen gilt, muß nicht auch im Großen gelten. Ergebnisse der Kleingruppenforschung lassen sich nicht ohne weiteres auf die Gesellschaft übertragen. Was auf der Mikroebene gilt, muß nicht automatisch auch auf der Makroebene Gültigkeit haben; was auf der Makroebene gilt, kann auf der Mikroebene mehr oder weniger unbemerkt bleiben. Die Evolution der modernen Soziologie und der modernen Physik um die letzte Jahrhundertwende verdanken sich eben dieser Einsicht. Mit der immensen Steigerung des wissenschaftlichen Auflösungsvermögens hat sich die Annahme eines über alle Größenordnungen hinweg uniform strukturierten Universums mehr und mehr als Fehlannahme entpuppt. Was für Newtons Apfel gültig ist, gilt weder im ganz Großen noch auf der Ebene der Elementarteilchen; was in der geselligen Kommunikation gilt, läßt sich nicht ohne weiteres auf die Gesellschaft oder eines ihrer Funktionssysteme übertragen. 293 Die zu Beginn des ersten Abschnittes erwähnte Inkongruenz zwischen einer Vogel- oder besser noch Satellitenperspektive auf das soziale Geschehen und dem, was sich von Angesicht zu Angesicht oder wenigstens in Rufweite zum beobachteten Objekt in Erfahrung bringen läßt, läßt sich nur dann voll ermessen, wenn man die dabei zugrunde gelegten unterschiedlichen räumlichen Distanzen auf die unterschiedlichen Reichweiten und

292 Ders., Der Selbstmord, Frankfurt/M. 1983, S. 30., S. 153ff.

293 Man könnte, in Analogie zur Systematik der Elementarteilchen, daran denken, wie man sie in Physikbüchern findet, eine Systematik der diversen Kommunikationsmedien aufzustellen. Die Kriterien "Lebensdauer" und "Reichweite" ließen sich vielleicht direkt übernehmen. Moral beispielsweise hat sicherlich im Vergleich zu Geld eine sehr kurze Reichweite, ihre Sanktionen sind kaum in der Lage, andere als die unmittelbar anwesenden Personen zu treffen und moralische Empörung ist im Kontrast wenigstens zu bestimmten Investitionsprogrammen nur von vergleichsweise geringer Lebensdauer.

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Kapazitäten unserer einzelnen Sinne bezieht. Wir können kaum mehr als einer einzelnen Person gleichzeitig zuhören, und wir können ihr nur zuhören, wenn die Entfernung nicht sehr groß ist. Visuell hingegen läßt sich das Verhalten einer Vielzahl von Personen mehr oder weniger simultan verfolgen, aber bei zu großer Distanz läßt sich der Sinn ihres Verhaltens kaum mehr erschließen und es ist deshalb fraglich, ob man aus der Satellitenperspektive soziales Verhalten überhaupt noch als soziales Verhalten beobachten kann. Bodenreformen oder Urbanisierungsprozesse lassen sich sicherlich auch aus dieser Perspektive und mit diesem Auflösungsvermögen identifizieren und in bestimmten Hinsichten vielleicht viel besser analysieren, aber das dabei entstehende Bild ist ein ganz anderes als das der unmittelbar Betroffenen. Aus zu großer räumlicher Distanz beginnt die menschliche Gesellschaft einer Insektengesellschaft zu gleichen. Bei zu lang gewählten Zeitausschnitten verwandelt sich die Soziologie in Anthropologie, denn es erscheint nur noch sozial Invariantes. Aber auch, wenn man sich dem vermeintlichen Forschungsgegenstand zu sehr nähert und das Auflösungsvermögen im Mikrobereich über eine gewisse Grenze hinaustreibt, verschwindet das spezifisch gesellschaftliche oder auch das spezifisch menschliche im Visier des Beobachters. Wenn man die Analysen auf Bruchteile von Sekunden hochtreibt und beschränkt und sich beispielsweise auf Augenbewegungen und Mimik oder auf Angstreaktionen und Abwehrhaltungen konzentriert, wird man vermutlich überwiegend nur noch solche Strukturen entdecken, die sich auch an anderen höheren Säugetieren beobachten lassen. Eine Theorie der Gesellschaft ist also auf ein ganz spezifisches zeitliches und räumliches Auflösungsvermögen angewiesen. An dessen oberer Grenze beginnt das soziale Geschehen zu erstarren, an dessen unterer Grenze beginnt es sich zu verflüchtigen. Aber auch innerhalb dieser Margen sind, wie wir gezeigt haben, unterschiedliche Optionen möglich. Mit der Konzentration der theoretischen Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Bereich dieses Spektrums variiert die Struktur und Größe dessen, was sich jeweils als Gesellschaft identifizieren läßt.

3. Unterschiedliche Auflösungsvermögen als constraint gesellschaftlicher Selbstbeobachtungen Die im letzten Abschnitt im Hinblick auf das Auflösungsvermögen verschiedener soziologischer Forschungsprogramme vorgestellten Überlegungen wollen wir nun anhand der Frage, wie Gesellschaften beobachten und insbesondere, wie sie sich selbst beobachten,

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weiterführen. Mit der wachsenden Differenzierung von Interaktion und Gesellschaft entzieht sich ein immer größerer Teil des sozialen Geschehens dem Wahrnehmungsraum des einzelnen Individuums. Die Gesellschaft als Ganzes läßt sich dann nur noch indirekt beobachten; ihre Einheit und ihre Grenzen lassen sich nur noch in symbolischer Vermittlung erfahren. Aber nicht nur das umfassendste soziale System, die Gesellschaft, oder, wie wir heute sagen können, die Weltgesellschaft, entzieht sich der unmittelbaren Wahrnehmung und läßt sich nur imaginär fassen. Auch die vielen noch rudimentär vorhandenen, wiederbelebten oder neu entworfenen Gemeinschaften oder Kollektive entziehen sich überwiegend der unmittelbaren Wahrnehmung. Insofern unter modernen Lebensverhältnissen überhaupt noch, jenseits von Freundeskreis und Familie, von Gemeinschaft die Rede sein kann, handelt es sich um "imagined communities" im Sinne Benedict Andersons.294 Persönlich können sich die in der Vorstellung vielleicht geeint wissenden Menschen schon aufgrund ihrer bloßen Zahl gewöhnlich nicht mehr vertraut sein. Soweit man soziale Systeme als sinnkonstituiert begreift, muß man davon ausgehen, daß sie immer auch über ein gewisses Maß an Reflexion verfügen, ja daß sie anders gar nicht denkbar sind. Soziale Systeme sind immer auch sich selbst beobachtende Systeme. Sie existieren nicht nur im Modus des "an sich", sondern auch im Modus des "für sich". Dies gilt für einfache Interaktionssysteme, für formale Organisationen und schließlich auch für die Gesellschaft im Ganzen. Ihre Einheit ist Produkt ihrer Selbstbeschreibung. Sie ist imaginär im Sinne Spencer Browns.295 Sie verdankt sich einer vielstimmigen Einbildungskraft und die Produktivität dieser Einbildungskraft macht es, wie Cornelius Castoriadis behauptet, unmöglich, die Einheit der Gesellschaft im Sinne der Identitäts- und Mengenlogik zu fixieren. 296 Versucht man hingegen die Gesellschaft als eine imaginäre Institution zu begreifen, dann erscheint sie letztlich selbst als etwas Unbestimmtes, das sich mit jedem

294 Ders., Immagined Communities, 2. erweiterte Auflage, London 1991.

295 Sie ist eine Unterscheidung, die in den von ihr unterschiedenen Raum selbst immer wieder eintritt. Der Wert dieser Unterscheidung ist real in der Zeit, aber imaginär im Raum. Spencer Brown, George, Laws of Form, New York 1979, S. 61.

296 Vgl. Castoriadis, Cornelius, Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt/M. 1987, insbesondere S. 372ff. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Peter Fuchs, a.a.O., 1991. Während Castoriadis seine Überlegungen jedoch lebensphilosophisch zu begründen versucht und sich gerade für die Produktivität dieser Imagination interessiert, setzt Peter Fuchs auf die von Niklas Luhmann im Anschluß an Spencer Brown formulierte Beobachtungstheorie und konzentriert sich primär auf die Kontingenz, um nicht zu sagen logische Unmöglichkeit solcher Selbstbeschreibungen. Castoriadis versucht, sich dem "Strömen", dem "Bedeutungsmagma" (S. 603f.) gewissermaßen vor aller Unterscheidung theoretisch zu nähern, gleichwohl wissend, daß dies im Rahmen der Identitätslogik, der seiner Meinung nach alles Sprechen und so auch sein eigener Text gehorcht, nicht möglich ist (S. 373).

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Versuch, es zu fassen, erneut verformt.297 Die imaginäre Einheit der Gesellschaft muß also wenigstens in bezug auf zwei Probleme thematisiert werden. Einmal im Hinblick auf ihr Medium oder ihre Medien, wie Benedict Anderson oder Karl Deutsch dies getan haben und zum anderen im Hinblick auf ihre Logik, wie Cornelius Castoriadis oder Niklas Luhmann dies getan haben. Die Gesellschaft oder wenigstens die moderne Gesellschaft läßt sich nicht unmittelbar wahrnehmen, sondern verdankt ihre Einheit einer medial stimulierten Vorstellungskraft. Sie ist immer nur eine imaginierte Gemeinschaft. Aber auch als Produkt der Imagination ist sie sich selbst aktuell nicht zugänglich, sondern bewegt sich wie Walter Benjamins Engel der Geschichte mit einem immer nur der Vergangenheit zugewandten Gesicht in die Zukunft. Sie vermag sich reflexiv nicht einzuholen und unterscheidet sich immer wieder nur von sich selbst, ohne sich je in toto bestimmen zu können. Hier soll zunächst nachgezeichnet werden, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Was bei dieser Selbstbeobachtung überhaupt ins Visier gerät, was jeweils auffällt, für relevant gehalten wird und als erklärungsbedürftig gilt, variiert geschichtlich deutlich. Gesellschaftliche Selbstbeschreibungen scheinen zuweilen, d. h. für bestimmte Beobachter dieser Selbstbeobachtungen, in einem Ausmaß zu variieren, das es so gut wie unmöglich zu machen scheint, hinter diesen unterschiedlichen Formen der Selbstbeobachtung noch einen systematischen Zusammenhang zu erkennen. Der bereits in der Romantik vorgezeichnete, aber erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Schule machende und in verschiedenen Varianten artikulierte Historismus und Relativismus verdankt sich aber selbst einem spezifisch modernen Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen. Herder, Ranke oder Lévi-Strauss polemisieren gegen die Idee eines unilinearen Fortschritts in der Geschichte, aber dies nicht nur aus einer Laune heraus, sondern weil sie über mehr Daten und andere Erfahrungen verfügen als die Aufklärungsphilosophen, so daß sich die von diesen postulierten Strukturen bis zur Unkenntlichkeit aufzulösen drohen und nicht mehr identifizieren lassen. Dieser Relativismus läßt sich aber, wenn man wiederum anders beobachtet, vielleicht selbst wiederum in Abhängigkeit von einem bestimmten Auflösungsvermögen rekonstruieren und dadurch vermeiden. Die Formen sozialer Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung wandeln sich - so unsere These - in Abhängigkeit vom jeweils verfügbaren Auflösungsvermögen. Was dabei als Einheit registriert und unterschieden werden kann, hängt insbesondere von der zeitlich simultanen Erfassung der Bevölkerung eines bestimmten Territoriums und der in dieser

297 Castoriadis begreift die Verleugnung der Zeitlichkeit und damit der Unbestimmtheit der gesellschaftlichen Einheit selbst als eine (wenigstens bis heute erfolgreiche) gesellschaftliche Institution. Spencer Brown optiert hier anders und behauptet, daß erst bei Inrechnungstellung der Zeitlichkeit die durch re-entry produzierte Unbestimmtheit verschwindet.

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Simultanität als gemeinsam erfahrenen Vergangenheit und Zukunft ab. Die jeweils verfügbaren Kommunikationsmedien limitieren das soziale Auflösungsvermögen und dies wiederum fungiert als constraint für mögliche gesellschaftliche Selbstbeschreibungen, also für das soziale Unterscheidungsvermögen. Der Differenzierungstyp einer Gesellschaft und ihre jeweilige Selbstbeschreibung lassen sich als abhängig von der Verfügbarkeit bestimmter Kommunikationsmedien, wie z. B. Mündlichkeit, Schrift, Buchdruck, Telegraphie, Postwesen etc. analysieren. Diese Medien spezifizieren jeweils ein bestimmtes Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen und limitieren damit, was sich in der Selbstbeobachtung erschließen und in der Selbstbeschreibung festhalten läßt. Die geschichtlich jeweils verfügbaren Medien schränken ein, was möglich ist, ohne die Wahl der in der Selbstbeobachtung dann genutzten Unterscheidungen jedoch im einzelnen zu determinieren. Im Unterschied zur Variationsbreite unterschiedlicher Selbstbeschreibungen, von der her die historistische Skepsis ihre Berechtigung erfährt, gehorcht die Evolution der Medien einem vergleichsweise eindeutigen Muster, über das sich die Ideengeschichte und damit die Geschichte sozialer Selbstbeschreibungen ordnen und in systematischer Weise nachzeichnen läßt. Zur Differenzierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Auflösungsvermögen empfiehlt es sich, zwei mehr oder weniger unabhängig voneinander variierbare Dimensionen dieses Vermögens zu unterscheiden. Das zeitliche Auflösungsvermögen ermöglicht ein Bewußtsein von Geschichte, das räumliche Auflösungsvermögen ermöglicht ein Bewußtsein von Territorialität.298 Die Erfassung und Berücksichtigung eines, die Lebensspanne von mehr als zwei oder drei Generationen übersteigenden Zeithorizontes bei der Konstruktion gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen ist nur möglich, wenn das Wissen um vergangene Ereignisse nicht mehr ausschließlich in Köpfen abgespeichert ist, sondern sich auch auf externe Speicher stützen kann. Eine Steigerung des zeitlichen Auflösungsvermögens in diesem Sinne ist auf die Institutionalisierung eines sozialen Gedächtnisses angewiesen. 299 Von einem sozialen oder, wie es bei Maurice Halbwachs heißt, von einem kollektiven Gedächtnis wollen wir sprechen, wenn es um Erinnerungsleistungen geht, die sich nicht mehr ohne weiteres auf Einzelpersonen zurückrechnen lassen, sondern eine diachrone und synchrone Wissensdistribution über mehrere Köpfe voraussetzen, über die sich aufgrund diverser Speicher- und Kommunikationsmedien ein, dem einzelnen unverfügbares Bild der 298 Hans Blumenberg schreibt die Steigerung des zeitlichen Auflösungsvermögen sozialen Institutionen zu und die Steigerung des räumlichen Auflösungsvermögens Organisationen. Ders., a.a.O., 1986, S. 99, S. 106. Wir übernehmen diese, auch von Blumenberg nicht systematisch entwickelte Unterscheidung für die Zwecke dieses Kapitels, da eine soziologische Begrifflichkeit zur Markierung dieser Differenz nicht existiert.

299 Vgl. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.

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Vergangenheit generieren läßt.300 Ein soziales Gedächtnis kann im Sinne Arnold Gehlens als Institution begriffen werden. Eine solche Institution gibt dem Einzelbewußtsein und der individuellen Wahrnehmung eine Außenstütze oder einen Außenhalt.301 Das soziale Gedächtnis kann den Lebenden reflexiv Ereignissequenzen zugänglich machen, die die Lebenszeit des einzelnen um mehrere Größenordnungen übersteigen können. Dazu muß, was in der Zeit nacheinander geschieht, in ein räumliches Nebeneinander übersetzt werden können.302 Im Modus des Nebeneinanders wird das unwiederbringlich Vergangene der Wahrnehmung indirekt wieder zugänglich. Grabsteine und Altarbilder, Grenzsteine und Landschaften, Kruzifixe und Denkmale, Tempel und Stadtarchitekturen, Schriftensammlungen und Bibliotheken, Ruinen und Datenbanken können z. B. diese Funktion erfüllen.303 Die Items dieser Liste unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Speicherkapazität und Lebensdauer natürlich erheblich. Wer seine Botschaft in Stein hauen muß, kann alleine sicherlich keine langen Texte hinterlassen, er kann dafür aber seine Botschaft im Hinblick auf kommende Generationen in ganz anderer Weise verewigt sehen als jemand, der seine Worte auf Pergament oder Papier setzt. Diese weniger dauerhaften, zeitlich fragileren Medien hingegen erlauben andererseits die Überlieferung eines schneller notierbaren und deshalb nicht nur weit umfassenderen, sondern auch leichter ergänzbaren und manipulierbaren Wissenskorpus.304 Von Gedächtnis zu sprechen macht aber erst Sinn, wenn das im Modus des Nebeneinanders gespeicherte Wissen auch gelesen werden kann. Das mag zunächst trivial klingen, aber erst über diese Relationierung ist Vergessen reflexiv erfahrbar und bekommt Erinnern einen Sinn. Das Vergessen wird nicht sogleich mit vergessen, wenn sich ohne große Umstände rekonstruieren, ja sogar wahrnehmen läßt, daß etwas vergessen wurde. Das Denkmal macht, wie der berühmte Knoten im Taschentuch, präsent, daß da noch

300 Vgl. Assman, Jan, a.a.O., S. 35-37; vgl. dazu auch das von Donald T. Campbell entworfene "fish-scale model of collective omniscience". Ders., Methodology and Epistemology for Social Science, Chicago 1988, S. 437-439.

301 Vgl. z. B. Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur, Wiesbaden 1986, S. 42f., S. 51ff., S. 54ff. Vgl. auch Douglas, Mary, How Institutions Think, New York 1986, S. 69ff.

302 Das mag auch - wenigstens in Einzelfällen und im Hinblick auf vom Einzelnen selbst erlebte Dinge und Ereignisse - für das Gedächtnis im jeweils eigenen Kopf gelten. Vgl. dazu die faszinierende Fallstudie von Aleksandr R. Luria, The Mind of the Mnemonist. A little Book about a vast Memory, Cambridge, Mass., 1987. Auch die Rhetorik empfiehlt, daß man sich die zu erinnernden Items am besten räumlich geordnet merken solle. Die verschiedenen Orte (Topoi) des geistig visualisierten Erinnerungsbildes sind dann direkt der inneren Wahrnehmung zugänglich und können in der Imagination besonders markiert und beleuchtet werden. Vgl. dazu insbesondere Yates, Francis A., The Art of Memory, London 1984.

303 Vgl. dazu auch Edward Shils' Kapitel über "The Endurance of Past Objects" in: ders., Tradition, London 1981, S. 63-161.

304 Von Fragen der räumlichen Mobilität dieses Wissens wollen wir hier zunächst absehen.

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irgend etwas zu erinnern war. Erst an der Möglichkeit des Vergessens profiliert sich das Erinnern. 305 "Was sich dem Gedächtnis entgegensetzt, ist nicht das Vergessen, sondern das Vergessen des Vergessens" bemerkt dazu sehr treffend Gilles Deleuze.306 Um die Lesbarkeit der in bestimmten Objekten und Einrichtungen materialisierten Geschichte sicherzustellen, bedarf es deshalb zudem noch bestimmter, am Material sozialisierter Interpreten. Die Rolle des Interpreten, soweit sie auf nur langfristig erwerbbarem Sonderwissen beruht, wird zumeist von bestimmten Trägergruppen monopolisiert. Aber erst aufgrund der erfahrbar gemachten Möglichkeit des Vergessens wird die Pflege der Tradition zu einer eigenen Aufgabe und erst im Verweis auf diese Möglichkeit können sich die Hüter der Tradition vor ihrem Publikum legitimieren. 307 Auch die Steigerung des Auflösungsvermögen in räumlicher Hinsicht über das, was sich der individuellen Wahrnehmung direkt erschließt, läßt sich auf eine ganze Reihe recht unterschiedlicher Faktoren zurückführen. Es scheint uns sinnvoll, diese in wenigstens vier grob eingrenzbare, aber unweigerlich interdependente Bereiche zu untergliedern. Einen ersten Bereich bildet die Einführung und der Ausbau von neuen Transport- und Kommunikationsmedien und deren Koordination und Instandhaltung durch formale Organisationen, der zweite Bereich umfaßt die Organisation zentralisierter Informationsnetze und die Nutzung artifizieller Wahrnehmungsorgane, ein dritter Bereich bildet die Entwicklung anschaulicher Darstellungsformen des über diese Organisationen und Instrumente registrierten Materials und der vierte und letzte Bereich umfaßt alle willkürlich gesetzten räumlichen Markierungen zur Orientierungshilfe. Den Transport erleichtern Kamele, Trampeltiere und Pferde und, insbesondere insofern sie Wagen oder Kutschen ziehen, entsprechende Wegenetze, Schiffe mit entsprechenden Häfen und Wasserstraßen, Eisenbahnen und ein entsprechendes Schienennetz, Autos und ein entsprechendes Straßennetz und Flugzeuge mit entsprechenden Flughäfen. Kommunikationsmittel sind Boten, Briefe, Zeitschriften, Telegraphie, Telefon, Funk und Fernsehen. Komplexe, formal organisierte und öffentlich präsente Informationsnetze unterhalten insbesondere Militär, Polizei und Verwaltung, aber auch an die diversen Nachrichtenagenturen und den Wetterdienst, die Meinungsforschungs- und ähnliche Institute und das Bundesamt für

305 Samuel Beckett pointiert diesen Gedanken in seiner Analyse Prousts. "The man with a good memory does not remember anything because he does not forget anything." Ders., Proust and three dialogues with George Duthuit, London 1987, S. 29.

306 Ders., Foucault, Frankfurt/M. 1987, S. 151.

307 Daß Erinnern einen Bruch mit der Vergangenheit voraussetzt, betont auch Jan Assmann. Ders., a.a.O., 1992, S. 34 und überhaupt.

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Statistik,308 die Telefonauskunft und das Arbeitsamt, an den das VLB nutzenden Buchhandel und an Partnervermittlungsinstitute ist hier beispielsweise zu denken. Als artifizielle Wahrnehmungsorgane fungieren z. B. Kompaß und Sextant, Lot und Chronometer, Zirkel und Lineal, Fernrohr und Mikrophon, Kamera und Satellit; Anschauungshilfen sind z. B. Zeichnungen, Bilder, Listen, Tabellen, Karten, Statistiken und Filme; Orientierungshilfen sind z. B. Verkehrsschilder und Kilometersteine, Bojen und Landmarken, Grenzsteine und Straßennamen, Gipfelkreuze und Wasserstandsmarkierungen. 309 Die in den letzten beiden Absätzen unter verschiedenen Rubriken aufgelisteten Items mögen wie ein buntes Sammelsurium von Tricks, Techniken, Medien und Institutionen wirken, wenn man die diesen Listen zugrunde liegende Fragestellung aus den Augen verliert. Wenn man sie aber auf die Frage nach den verschiedenen Möglichkeiten einer gesellschaftlich relevanten Steigerung des zeitlichen und räumlichen Auflösungsvermögens bezieht, dann lassen sich die einzelnen Items in unterschiedlichen Graden durchaus als funktional äquivalente Problemlösungen behandeln. Um ein Gefühl für ihre systematisch verortbare Relevanz zu bekommen, möchten wir im folgenden eine kleine Auswahl der genannten Beispiele ein wenig ausführlicher diskutieren. Wir beginnen mit einem kurzen Blick auf die "Medienlandschaft" der sogenannten primitiven Gesellschaften, um eine Kontrastfolie zu erhalten, vor der sich alle weitere Entwicklung abheben kann. Stellt man in Rechnung, daß in einfachen, d. h. segmentär differenzierten Gesellschaften so gut wie keine künstlichen Kommunikations- und Speichermedien zur Steigerung des gesellschaftlichen Auflösungs- und Unterscheidungsvermögens verfügbar sind und deshalb das, was sich der Wahrnehmung entzieht und nicht im Kopf behalten werden kann, schnell an Relevanz verliert, dann bleibt diesen Gesellschaften kaum mehr eine andere Möglichkeit, als ihre Wissensbestände und Erklärungsmuster, ihr Selbstbild und ihre Genealogie primär mündlich zu reproduzieren und von Generation zu Generation

308 Die von diesen Organisationen veröffentlichten Daten sind natürlich nicht nur wissenschaftlich interessant. Die Veröffentlichung von Wählerumfragen kann Wahlentscheidungen beeinflussen und Parteien zu einer anderen Selbstdarstellung bewegen, Statistiken über sexuelle Wünsche oder Praktiken mögen die Schamgrenzen verschieben oder die Urteile in Scheidungsverfahren begründen helfen, wenn sie Überraschendes zu Tage fördern, der Preisindex für Konsumgüter spielt natürlich bei Lohnverhandlungen eine entscheidende Rolle, die Kriminalstatistik mag Einbrechern Mut und den Verkäufern von Alarmanlagen Hoffnung machen oder den Propheten der Apokalypse neue Argumente liefern.

309 Von einer nicht im Hinblick auf den Zweck der Orientierungserleichterung, also gewissermaßen unwillkürlich entstandenen "Semiotisierung unserer äußeren Welt" (Bense, Max, Einführung in die informationstheoretische Ästhetik, Reinbek 1969, S. 132), die gleichwohl diesen Zweck erfüllen kann, wollen wir hier absehen. Zeichencharakter kann z. B. die städtebauliche Dingwelt oder die von Maurice Halbwachs untersuchte topographie légendaire des Heiligen Landes nur im Umweg über andere Medien gewinnen. Solche sekundären Effekte können natürlich eine große Bedeutung haben, sollten aber im Sinne unserer Einteilung eher im Zusammenhang mit den Medien, denen sie sich verdanken, diskutiert werden. Zu Halbwachs und dem Mnemotyp Palästina vgl. auch Assmann, Jan, a.a.O., 1992, S. 59f.

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weiterzugeben. Heute und für unsere Zwecke läßt sich die Kultur einer einfachen Gesellschaft am schnellsten negativ charakterisieren. "This culture preserves its continuity from generation to generation without depending on the printed page."310 Die folk ways einfacher Gesellschaften verdanken ihre Form und Struktur, wie Robert Redfield zeigt, der Abwesenheit von Schrift. In einer Gesellschaft ohne Papier und Schreibstift, ohne Handschriften und Bücher, ohne Nachschlagewerke und Datenbanken kann es nur lebendiges Wissen geben, jedes Mitglied ist eine wandelnde Enzyklopädie. Das Sich-arrangieren-müssen mit einem solchen Zustand bildet deshalb auch den Ausgangspunkt für Jack Goodys Untersuchungen über die Unterschiede zwischen mündlichen und schriftlichen Kulturen. "Our more concrete interest in the subject arose from wartime deprivation of written matter we experienced in different parts of the world and our sojourn amongst non- literate, illiterate or semi- literate peoples."311 Um die Überlieferung und Verbreitung von nur aus dem Kopf abrufbarem Wissen zu gewährleisten, muß es auf eine bestimmte Form getrimmt werden. Das Medium der Mündlichkeit und die kognitiven Speichermöglichkeiten der einzelnen Gesellschaftsmitglieder eignen sich nicht für alle möglichen Wissensbestände in gleicher Weise. Wie alle Medien wirken sie hoch selektiv auf das, was sich über sie weitergeben läßt. Die besonderen Restriktionen mündlicher Überlieferung lassen sich an einfachen Gesellschaften jedoch besonders gut beobachten, da es in ihnen zur Mündlichkeit kaum Alternativen gibt. Ein kollektives Gedächtnis generieren solche Gesellschaften im Medium der Mündlichkeit. Um die Leistungsfähigkeit dieses Mediums zu erhöhen, müssen Mythen und Erzählungen in eine prägnante, rhapsodische Form gebracht werden. Im rhapsodischen Sprechgesang läßt sich die Körpermotorik als Gedächtnisstütze nutzen. Durch formelhafte und rituelle Wiederholungen prägt sich das Wissen leichter ein. Im Rollenwechsel von Sprecher und Chor wird dieses Wissen erinnert, so daß sich individuelle Kopierfehler überspielen lassen und der einzelne nicht überfordert wird. Jeder reagiert auf die Vorgaben der anderen, so daß sich individuelles Vergessen in der kollektiven Performance augenblicklich kompensieren läßt. Einfache Gesellschaften reproduzieren ihr Selbstbild über eine kollektiv generierte Mythomotorik. Diese Form der Mnemotechnik kann wenigstens teilweise erklären, warum in diesen Gesellschaften aus der Sicht der Anthropologen ein wildes oder primitives Denken den Alltag beherrscht.312 Diese Art die Unterscheidungen zu

310 Redfield, Robert, Tepoztlan. A Mexican Village, Chicago 1958 (Orig. 1930), S. 2.

311 Goody, Jack, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Literacy in Traditional Societies, Cambridge 1975, S. 1-26, S. 1 (Fußnote).

312 Lévi-Strauss, Claude, Das Wilde Denken, Frankfurt 1968; Hallpike, Christopher, R., Grundlagen primitiven Denkens, Stuttgart 1984. Zu dem normalen Menschen heute fast unbekannten Phänomen des "fremden-Stimmen-Folgens" vgl. insbesondere Jaynes, Julian, The Origines of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind, Boston 1977. Walter Ong führt dieses Phänomen auf die Abwesenheit von Schrift

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setzen, wird erst im Zuge einer komplexen Medienevolution und einer schrittweisen Erweiterung des zeitlichen Auflösungsvermögens aufgrund neuer Aufschreib- und Speichersysteme domestiziert.313 Dem nur mental fixierten, aber - wenigstens sozial - nur sequentiell abrufbaren Wissen ist eine Tendenz zum bloß additiven Aneinanderreihen eigen. Das Vermögen, etwas unter bestimmte Regeln subsumieren zu können oder das Besondere als enthalten im Allgemeinen denken zu können, ist kaum ausgeprägt, denn dazu scheint eine visuelle, schriftliche Fixierung, die quasi simultan präsent hält, was einander untergeordnet werden soll, eine extrem nützliche Denkhilfe.314 Das sogenannte primitive Denken verfährt unsystematisch, verläßt sich auf Beispiele, Sprichworte, Analogien und Metaphern und bleibt zumeist auf die aktuelle Situation beschränkt.315 Lévi-Strauss hat die unter primitiven Umständen mögliche (vor)wissenschaftliche Theoriebildung deshalb als bricolage gekennzeichnet und den Theoretiker als Bastler charakterisiert, der pragmatisch zu nutzen weiß, was gerade zur Verfügung steht. Abstraktes, analytisch gegliedertes und auf seine Konsistenz hin überprüfbares Denken, wie wir es heute in der Schule lernen müssen, verdankt sich erst der Erfindung der Schrift.316 Auf Mündlichkeit eingeschränkte Gesellschaften verdanken dieser Beschränkung aber noch eine ganze Reihe weiterer Charakteristika. Die folk ways einfacher Gesellschaften kennen, obwohl sie immer wieder durch die Einverleibung individueller Improvisationen modifiziert werden, keine individuellen Autoren, denn wem diese Veränderungen oder Neuschöpfungen zu verdanken sind, ist schon nach kurzer Zeit nicht mehr rekonstruierbar. Es gibt kein copyright für mündliche Äußerungen. Die Idee des Autors und damit auch die des Plagiats und die Honorierung von Originalität ist ein Produkt der Epoche des Buchdrucks.317 Folkways kennen auch keine Standards, denn es gibt sie nur als Unikat und ein Vergleich ist nur dem Fremden möglich. Einfache Gesellschaften kennen auch, obwohl sich ihre

zurück. "Bicamerality may mean simply orality." Ders., Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London 1982, S. 30.

313 Goody, Jack, The Domestication of the Savage Mind, Cambridge 1977.

314 Ong, Walter, a.a.O., London 1982.

315 Schiffauer, Werner, Die Bauern von Subay. Das Leben in einem türkischen Dorf, Stuttgart 1987, z. B. S. 220f.

316 Vielleicht fordert die Computernutzung wieder andere Qualitäten. Vgl. dazu - mit lobendem Verweis auf Lévi-Strauss' Bastler - Papert, Seymour, Mindstorms. Children, Computers and Powerful Ideas, New York 1980, S. 173.

317 Eisenstein, Elisabeth L., The Printing Press as an Agent of Change. Communications and cultural transformations in early-modern Europe, Cambridge 1980, S. 121f.

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Volkslieder und -weisen kontinuierlich wandeln, keine Moden, denn dazu bedarf es großräumiger und zeitlich augedehnter Kontakte mit anderen Menschen und Gruppen. 318 Die kulturelle Dynamik einfacher Gesellschaften hat - so eine zentrale These von Jack Goody und Ian Watt - einen homöostatischen Charakter.319 Das kulturelle Gedächtnis paßt sich den aktuellen Gegebenheiten an und gibt dem Vergessen preis, was der Situation nicht mehr entspricht und was aus gegenwärtiger Sicht in Zukunft nicht mehr von Belang zu sein scheint. Die Kapazitätsschranken oraler Mnemotechnik zwingen zum Vergessen der sich von von Generation zu Generation, ja von Augenblick zu Augenblick mehrenden Ereignisse. Sie erlauben es vielfach nicht, den Zeitverlauf in der von uns für selbstverständlich gehaltenen Weise eines kontinuierlichen Fortschreitens wahrzunehmen. Da alles Wissen im Kopf behalten werden und sich nicht als totes Wissen beispielsweise in Buchform in Regale auslagern läßt, ist der Zeithorizont und die Menge der memorierten Ereignisse zwangsläufig begrenzt. Aber nur ein externer Beobachter, der einen längeren Zeitabschnitt zu memorieren vermag als die von ihm beobachtete Gesellschaft selbst, ist in der Lage, dies festzustellen, denn der mündlichen Kommemoration ist nach einer Weile nicht mehr präsent, daß etwas vergessen wurde, geschweige denn, was vergessen wurde. Aufgrund ihrer typischen Kapazitätsschranken und der Ausrichtung auf die jeweils aktuelle Situation konzentriert sich die schriftlose Geschichtserinnerung unbewußt auf eine ganz bestimmte, von Jan Vansina herausgearbeitet Weise.320 Die jüngste Vergangenheit wird gewöhnlich relativ gut und ausführlich erinnert und ebenso lassen sich über die vermeintlichen Ursprungszeit eine Fülle von Erinnerungen im kollektiven Gedächtnis abrufen, aber zwischen Ursprung und jüngster Vergangenheit klafft eine Informationslücke, ein "floating gap". Vansina spricht von "floating gap", weil sich diese Lücke mit jeder neuen Generation wieder um ein entsprechendes Stück verschiebt. Aus der Sicht der Betroffenen aber läßt sich diese Lücke nicht rekonstruieren und die beiden Zeitabschnitte schließen direkt aneinander an. In der Genealogie werden dann die mythischen Vorfahren häufig zu der Generation, die der letzten, den noch Lebenden unmittelbar bekannten Generation vorausging. Auch dieses "floating gap" ist erst von einem Beobachter zweiter Ordnung verortbar, jedoch nur, insofern er sich aufgrund eines anderen Auflösungsvermögens einen entsprechend weiter gefaßten Zeithorizont vergegenwärtigen kann.

318 Robert Redfield entwickelt die drei zuletzt genannten Kontraste anhand eines Vergleichs von Volkslied (folk song) und Schlager (popular song). Ders., a.a.O., 1958, S. 4ff.

319 Goody, Jack / Ian Watt, The Consquences of Literacy, in: Goody, Jack (Hrsg.), a.a.O., Cambridge 1975, S. 27-68, S. 31ff. Vgl. auch Ong, Walter, a.a.O., London 1982, S. 46ff.

320 Vansina, Jan, Oral Tradition as History, London 1965. Wir folgen der Darstellung bei Assmann, Jan, a.a.O., 1992, S. 48ff.

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Wir haben über die Gedächtniskultur und damit das zeitliche Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen einfacher, nämlich segmentär differenzierter Gesellschaften primär im Negativprofil referiert, als würde ihnen etwas fehlen, als handele es sich um defiziente Varianten der eigenen Gesellschaft. Die Beschreibung eines Gegenstandes aufgrund von Kriterien, denen er in der Ansicht eines bestimmten Beobachters nicht nachkommt, ist sicherlich kritisierbar.321 Aber der so akzentuierte Kontrast wird es uns im folgenden erlauben, einige Besonderheiten der Gedächtniskultur und der räumlichen Erfassung des sozialen Geschehens in verschiedenen höher entwickelten Gesellschaften trotz einer in unserem Zusammenhang notwendigerweise extrem verkürzenden Darstellung noch erfassen zu können. Insofern sich hier eine Steigerung und Verschiebung des zeitlichen und räumlichen Auflösungs- und Unterscheidungsvermögens nachzeichnen läßt, soll dies als Produkt sozialer Evolution begriffen werden; es geht also nicht um Genialität, Intelligenz, Bildung oder Reflexionsvermögen, es geht nicht primär um Bewußtseinsinhalte oder einen dem Denken selbst zurechenbaren Wandel der Denkstile. Die Originalität individueller Beiträge verliert sich mit einer gewissen Notwendigkeit in den langsamen Rhythmen gesellschaftlicher Reproduktion und Evolution. Wenn man Erfindungen aufgrund von jeweils hundert oder tausend Jahre zusammenfassenden Zeitintervallen datiert, werden die Erfinder notwendigerweise gesichtslos und geraten statt dessen z. B. materielle oder institutionelle Selktionskriterien deutlicher in den Vordergrund. Besondere Leistungen müssen deshalb in evolutionstheoretischer Perspektive nur noch statistisch in Rechnung gestellt werden. "It is a profoundly erroneous truism, repeated by all copy-books and by eminent people when they are making speeches, that we should cultivate the habit of thinking of what we are doing. The precise opposite is the case. Civilization advances by extending the number of important operations which we can perform without thinking about them."322 Alfred North Whitehead entwickelte diese These anhand der Geschichte der Mathematik; er führt als Beispiele für solche, das Denken entlastenden Mechanismen verschiedene Verbesserungen in der Art und Weise, wie sich mathematische Probleme notieren lassen, an. Er zeigt dies am Beispiel der arabischen Zahlen, des Gleichheitszeichens, der Null, des Koordinatensystems und der analytischen Geometrie etc., aber seine Schlußfolgerung hat allgemeinen Charakter. Damit sich die Zahl der wichtigen Operationen, die wir ohne zu denken ausführen können, erhöhen kann, bedarf es eines symbolischen oder technischen, jenseits des individue llen Talents verfügbaren Außenhalts.

321 Wir haben uns deshalb zumeist darauf beschränkt, den Differenzierungstyp einer Gesellschaft zu ihrer näheren Bestimmung zu benutzen und die segmentär differenzierte Gesellschaft nicht vorrangig durch Prädikate wie primitiv, archaisch, schriftlos, geschichtslos, staatenlos oder gar unterentwickelt zu charakterisieren gesucht.

322 Whitehead, Alfred North, An Introduction to Mathematics, Oxford 1948, S. 41f.

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Anhand eines aufgrund seiner längst selbstverständlich gewordenen Lösung gewöhnlich übersehenen Problems wollen wir diesen Vorgang der Entlastung und der damit einhergehenden Verschiebung der Aufmerksamkeit und Kultivierung der Beobachtung beispielhaft aufzeigen. Die "Erfindung" von Grenzsteinen ermöglicht ein soziales Gedächtnis und ein räumliches Auflösungsvermögen, das den allein auf lebendiges Kommemorieren angewiesenen Gesellschaften nicht zur Verfügung steht. Der Grenzstein verkörpert eine Kulturtechnik, die das individuelle Gedächtnis entlastet und das kollektive Gedächtnis steigert. Diese Kulturtechnik ist bereits vielen segmentär differenzierten Gesellschaften vertraut. Sie läßt sich als eine Vorform der Dokumentation interpretieren. Das Setzen von Grenzsteinen, also die bewußte symbolische Markierung und Eingrenzung eines Gebiets, wird sozial interessant, wenn die durch den Bau von Hütten und Tempeln, die Bestellung von Gärten oder Feldern oder die Anlage von Gräbern quasi naturwüchsig entstehende räumliche Ordnung nicht mehr von selbst die soziale Struktur der Raumnutzung mitverbürgt. Kleine Gebietsvergrößerungen oder -verschiebungen von beispielsweise hortikulturellen Gesellschaften oder einzelnen Mitgliedern solcher Gesellschaften über mehrere Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinweg lassen sich ohne bewußt angebrachte künstliche Markierungen aktuell kaum beobachten und nachweisen. Auf längere Sicht lassen sich solche Veränderungen natürlich anhand von jetzt brachliegendem, aber früher deutlich erkennbar einmal bebautem Land oder an verlassenen Gebäuden und Ruinen ablesen, aber diese Perspektive hilft wenig, wenn es um kurzfristig zu entscheidende Eigentums- oder Grenzkonflikte geht. Nach außen hin ist die Schwierigkeit der Erfassung von Gebietsveränderungen solange irrelevant, wie das nächste Dorf ohnehin in weiter Entfernung liegt. Die große Distanz macht eine genaue Markierung der Grenze überflüssig. Aber, wenn es um Besitz von Grund und Boden innerha lb eines beschränkten und eng besiedelten Gebietes geht, wenn es um die Scheidung zwischen Mein und Dein geht, dann sind über die aktuelle Nutzung hinausgehende, genauere und dem Lauf der Zeit besser standhaltende Markierungen erforderlich. Erst die Benutzung von Grenzsteinen erlaubt es, bestimmte Gebiete symbolisch zu markieren und Grenzen über mehrere Generationen, also über eine Kette von mehreren Erben hinweg, festzulegen. Grenzsteine fungieren hierbei nicht bloß als Symbol, sondern auch als Gedächtnisstütze und aufgrund dieser Funktion auch als Beobachtungsinstrument. Sie machen Grenzübertretungen eindeutig oder wenigstens leichter beobachtbar und sind insofern Voraussetzung nicht nur von privatem Eigentum an Grund und Boden, sondern auch von Territorialgewalt. Ein andere, vergleichbare Kulturtechnik, der wir uns schon im ersten Kapitel relativ ausführlich gewidmet haben, verkörpert die Landkarte. Landkarten können eine ähnliche Funktion wie Grenzsteine erfüllen, wenn man sie zur Dokumentation und Fixierung

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politischer oder privater Besitzverhältnisse nutzt, aber, und das unterscheidet sie von Grenzsteinen, sie ordnen darüber hinaus den Wahrnehmungsraum selbst auf neue Weise. Sie bieten eine neue Sicht der Welt, obwohl sie sich doch primär auf die alten Daten stützen. Man hat es hier wieder mit einem typischen Problem der Datenrepräsentation, der Abbildung und Skalierung einer bestimmten Datenmenge aus einem Datenraum in einen anderen zu tun, aus dem komplexen und in unterschiedliche Relevanzbereiche fragmentierten Erfahrungsraum in den planimetrisch homogenen Raum der Karte. Eine andere denkbare und bei Reisen ohne Karte häufig hilfreiche Form der Orientierung ist eine Liste der Orte, durch die der zurückzulegende Weg definiert wird. Die Liste hat nur eine Dimension und man muß sich deshalb von Ort zu Ort weiterfragen, um die genaue Richtung für die Weiterreise in Erfahrung zu bringen. Eine Liste mit den einzelnen Orten einer Reiseroute verrät nichts über andere, nicht auf der Route liegende Orte. Karten hingegen suggerieren einen vollständigen Überblick und lassen den Betrachter ein Land in Abgrenzung zu verschiedenen Nachbarn als Einheit erleben, indem sie es aus der Vogelperspektive abbilden. So werden zum Beispiel die territorialen Grenzen eines sozialen Systems zu einer geschlosenen Kurve, zu einer einzigen Grenze, während sie ohne Karte nur hier und da erfahren werden konnten und mancherorts vielleicht gar keine Bedeutung gehabt haben mögen. Auch in bislang irrelevante Gebiete können nun Linien eingezogen werden. Die Karte zwingt gewissermaßen dazu, Grenzen auch dort festzulegen, wo es bis dahin nie die Frage nach Grenzen in diesem Sinne gegeben hatte. Unbestimmtes wird zu Zwischenräumen, und Zwischenräume werden benannt und eingefärbt. Auf der Karte läßt sich alles ohne große Umstände unterscheiden. Die Karte als artifizieller Wahrnehmungsraum ermöglicht Unterscheidungen, die ohne Karte haltlose Fiktionen wären. 323 Die größte Aufmerksamkeit in der Diskussion über die Wechselwirkungen zwischen bestimmten Medien und Kulturtechniken einerseits und der Sozialstruktur und dem Welt- und Selbstbild einer Gesellschaft andererseits hat bislang die Erfindung von Schrift und die Einführung des Buchdrucks gefunden. Die Erfindung der Schrift und hier insbesondere der alphabetischen, also einer relativ nahe an der Lautsprache orientierten Schrift, führte zu bedeutenden sozialen Veränderungen. Erst das Alphabet, so argumentiert Eric A. Havelock, ermöglicht die griechische Antike.324 Das Alphabet ist das Medium der griechischen

323 Vgl. Harman, Lesley D., The Modern Stranger - On Language and Membership, Berlin/New York/Amsterdam 1988, S. 98ff; sowie Anderson, Benedict, Imagined Communities, London 1991 (2. ergänzte Auflage), S. 170ff.

324 Havelock, Eric A., The Literate Revolution in Greece and Its Cultural Consequences, Princeton, N.J. 1982; ders., Preface to Plato, Cambridge, Mass. 1982. Kritisch gegenüber der "Verabsolutierung und Verzerrung der Medienfrage" bei Havelock äußert sich Assmann, Jan, a.a.O., 1992, S. 259ff. Über die Vorteile anderer, primär im asiatischen Raum genutzter Notationsweisen informiert Coulmas, Florian, Über Schrift,

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Philosophie und Geschichtsschreibung. Aber auch unabhängig von der Frage, ob es nicht auch ein anderes Schriftsystem getan hätte, kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß weder der systematische Ausbau der verschiedenen, aber durch eine gemeinsame europäische Tradition geprägten Rechtssysteme noch die Ausdifferenzierung einer auf Geld und Kredit gestützten, über doppelte Buchführung balancierten Wirtschaft im Abendland ohne die Möglichkeiten schriftlicher Fixierung möglich gewesen wären. Schrift ist hierfür natürlich nicht die einzige "Ursache" gewesen, aber sie ist sicherlich Bedingung der Möglichkeit abendländischer Rationalität.325 Die Erfindung und Verbreitung von Schrift verändert die Gesellschaftsstruktur und die soziale Wahrnehmung, sie steigert das Auflösungsvermögen einer Gesellschaft im Hinblick auf die eigene Identität, sie steigert die Möglichkeiten der Selbstbeobachtung. Die frühen Schriftsysteme werden zunächst kaum für kommunikative Zwecke genutzt. Das schriftliche Festhalten von bestimmten Ereignissen und Sachverhalten dient vor allem als Gedächtnisstütze und wird als eine vom einzelnen unabhängige Form der externen Speicherung genutzt. Die Sicherung und Übermittlung von Wissensbeständen ist seit der Erfindung von Schrift nicht mehr auf die verschiedenen Mnemotechniken individueller und kollektiver Art, wie das rhapsodische Rezitieren, den gemeinsamen Gesang mit Wechsel zwischen Vorsänger und Chor angewiesen oder an das Entlanghangeln an stereotypen Sprichworten gebunden. 326 Was man nicht im Kopf behalten kann, läßt sich nun aufschreiben und nachschlagen. Damit entsteht ein kollektives Gedächtnis mit ganz neuen Kapazitäten und einem bis dahin ungekannten Auflösungsvermögen. Die Memorierung wird genauer, von einzelnen so gut wie unabhängig und das so gespeicherte Wissen kann nun in ganz anderer Weise über Generationen hinweg kumulieren. Mit der Erfindung der Schrift wandelt sich die Form gesellschaftlicher

Frankfurt/M. 1981.

325 Gerade Max Weber widmet sich - obwohl er natürlich nicht als "Medientheoretiker" argumentiert - immer wieder den diversen Formalisierungs- und Verschriftlichungstechniken als Bedingungen des abendländischen Rationalismus. Weber stellt nicht nur die Bedeutung der, insbesondere vom römischen Recht augehenden, systematischen Kodifizierung - also Verschriftlichung - der einzelnen Rechtssysteme und die Durchsetzung einer streng logischen und fachjuristischen Methodik scharf heraus (das englische common law bildet hier natürlich eine Ausnahme), er analysiert auch die spezifisch modernen, eine rationale Erwerbswirtschaft erst möglich machenden Formen der Geld- bzw. Kapitalrechnung: die Commenda - eine Abrechnungstechnik zwischen verschiedenen, in einem Unternehmen zusammengeführten Parteien und die doppelte Buchführung - die spezifisch moderne Form der innerbetrieblichen Rentabilitätskontrolle mittels eines quasi fiktiven Kontensystems. Ders., Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 468ff. (Rechtssoziologie §§ 5,6,7 und 8) und S. 49, S. 51 (Geldrechnung).

326 Einen systematischen Überblick zum Thema Mündlichkeit und Schriftlichkeit liefert Ong, Walter J., a.a.O., 1982.

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Selbstbeschreibung. Schriftlichkeit, so könnte man sagen, bahnt den Weg vom Mythos zum Logos. Schriftlich verfaßte und tradierte Selbstbeschreibungen erlauben wiederholte Konsistenzprüfungen und Ergänzungen. Der Kopie eines Textes folgt schon bald der Kommentar. Neu erworbenes Wissen findet schnell einen Stellplatz, ohne daß dadurch anderes Wissen zwangsläufig in Vergessenheit geraten müßte, denn die Speicherkapazität der Bibliothek scheint im Gegensatz zu der des eigenen Kopfs unbegrenzt. Schriftlich dokumentiertes Wissen bietet neue Chancen für kontrolliertes Abweichen und ermöglicht dadurch Lernprozesse mit einer ganz neuartigen Dynamik. Die Niederschrift erzwingt ein langfristig kontrolliertes Arrangement der Unterscheidungen, eine solide Abstimmung der Begrifflichkeit. Die avancierteste Form sozialer Selbstbeschreibung im Hochmittelalter, die Abschnitt für Abschnitt systematisch ausgearbeiteten, hierarchisch gegliederten und mehrere Volumen umfassenden Summen der großen Kirchenmänner hätten im Medium der Mündlichkeit weder produziert noch tradiert werden können. Das Unterscheidungsvermögen der Scholastik speist sich aus Bibliotheken. Die Kontrahenten sind nicht mehr, wie Eric Havelock für Plato zu zeigen versucht, lokale Dichter und Volkssänger, deren Weisen - wie die Odyssee - gerade erst transkribiert worden, 327 sondern selbst mit vergleichbaren Ressourcen arbeitende und in gleicher Weise an Schrift geschulte Kleriker und Gelehrte, deren Netz sich über ganz Europa und teilweise sogar darüber hinaus erstreckt und deren Schriftensammlungen Kopien der gesamten bis dahin verfügbaren Textproduktion enthalten. Das hier kristallisierende Wissen stellt einen Unterscheidungsreichtum zur Verfügung, dem schließlich die Daten zu fehlen scheinen. Das Auflösungsvermögen entwickelt sich nicht in gleicher Weise, sondern stagniert. Die Scholastik beginnt über Dinge zu sprechen, die es gar nicht zu geben scheint. Wilhelm von Ockham empfiehlt deshalb, deren Multiplikation, soweit sie über das Nötigste hinausgeht, zu unterlassen. Ockham steht vielleicht im Zenit der Scholastik, während Francis Bacon nur dreihundert Jahre später bereits eine neue Epoche einläuten hilft, wenn er rät, im Buch der Natur selbst zu lesen, statt in denen der Kollegen. Das über die mittelalterlichen Handschriften tradierte und in Bibliotheken kumulierende Wissen war nur einer zahlenmäßig kleinen Schicht der Gesellschaft verfügbar, das Leben der Massen war nach wie vor vom "Idiotismus des Landlebens"328 geprägt. Mit der Erfindung des Buchdrucks beginnt sich diese Lage zu wandeln. 329 Er macht letztlich - so

327 Havelock, Eric A., Preface to Plato, a.a.O.

328 Idiot bzw. Idiotismus sollte hier natürlich im bis ins 19. Jahrhundert üblichen Sinn verstanden werden. Der Idiot ist ein einfacher Mensch, ein unkundiger Laie. Marx und Engels mögen es vielleicht aber schon anders gemeint haben. Dies., Manifest der Kommunistischen Partei, Peking 1975, S. 38.

329 Vgl. Eisenstein, Elizabeth L., The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early-Modern Europe, Cambridge 1982; Gieseke, Michael, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und

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eine These von Ernest Gellner - eine nicht mehr an Schichtung und Lokalität gebundene, national homogene Hochkultur möglich. 330 Aber es ist nicht nur der Buchdruck, sondern eine ganze Reihe neuer Beobachtungstechniken, Kommunikations- und Transportmittel, die die Welt in einem neuen Licht erscheinen lassen. Dem Buchdruck scheint jedoch eine gewisse Vorreiterfunktion zuzukommen. Die Evolution und Verbreitung moderner Medien forciert die Differenzierung von Kommunikation und Wahrnehmung.331 Die modernen Medien ermöglichen einerseits eine gewissermaßen gesichtslose Kommunikation mit Personen und Organisationen, die dem Blick entzogen sind, und machen andererseits anonyme Menschen und Menschenmengen sichtbar, die sich kaum sinnvoll adressieren lassen. Die moderne Medienevolution stimuliert eine Neuordnung, Umschichtung und Ausdifferenzierung verschiedener Diskurse und sozialer Subsysteme und erzwingt eine jeweils diskurs- und systemspezifische Restrukturierung der Berührungspunkte zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren. 332 Im Vergleich zu vormodernen Gesellschaften kommt es mit Bezug auf individuelle Beobachter (ob Menschen, Gemeinschaften oder Organisationen) zu einer charakteristischen Umgewichtung des Verhältnisses von Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen. Die sozialen Selbstbeschreibungen und kollektiven Identitätsbehauptungen müssen sich deshalb mit einer besonderen Problemlage zu arrangieren lernen: Sie müssen einem vergleichsweise hohen Hintergrundrauschen standhalten können, das sich der Multiplikation von insbesondere räumlich weit gestreuten, aber fast simultan präsenten Daten (Katastrophen, Skandalen, Vorwürfen etc.) verdankt, die häufig nicht mehr sinnvoll als Nachrichten unterschieden und in die eigene Geschichte integriert werden können. Auf einige der in unserem Problemkontext relevanten Aspekte dieser Medienevolution soll hier kurz eingegangen werden. Da wir uns hier aber auf wenige beschränken müssen, kann deren Wahl letztlich nur eklektisch und willkürlich sein. Der Buchdruck unterwandert zunächst das institutionell gesicherte Deutungsmonopol des Klerus und führt deshalb zur Ablösung einer primär an Religion orientierten Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems. Heresien hat es natürlich immer gegeben, aber

Kommunikationstechnologien, Frankfurt/M. 1991.

330 Gellner spricht von dem "age of universal high culture". Ders., Nations and Nationalism, Oxford 1983, S. 35ff.

331 Dieser Umstand, diese Unübersichtlichkeit macht im übrigen heute Verschwörungstheorien so unwiderlegbar. Während in einfachen Gesellschaften Ge heimnisse noch sorgfältig gepflegt werden mußten (vgl. Barth, Frederik, Ritual and Knowledge among the Baktaman of New Guinea, Oslo 1975), scheint eine verführerische Geheimnistuerei heute fast überflüssig, ein Hauch von Paranoia hält sich auch so.

332 Vgl. dazu insbesondere Deleuze, Gilles, Foucault, Frankfurt/M. 1987, S. 49ff., S. 57ff., S. 69ff.

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erst die Drucktechnik macht ihre institutionelle Unterbindung so gut wie unmöglich. Statt der institutionellen Bahnen, auf denen während des Mittelalters die einzelnen Handschriften weitergereicht und kommentiert wurden, nutzen die Autoren, Produzenten und Vertreiber der Druckerzeugnisse von Anfang an den freien Markt.333 Weder die Kirche noch die weltlichen Herrschaftsverbände sind in der Lage, die mit diesem Medium und seiner Vermarktung eröffneten Kommunikationskanäle effektiv zu kontrollieren. Die Zensur scheitert an der beliebigen Reproduzierbarkeit dessen, was sie zu greifen sucht. Sie bekommt allenfalls einzelne Autoren oder einzelne Schriftstücke zu fassen. Aber nicht nur die Zensur, sondern auch der vormoderne Datenschutz, das Arkanum der Herrschaft, erweisen sich mit der wachsenden Relevanz des neuen Mediums mehr und mehr als ineffizient. Hier wird deshalb erstmals deutlich, daß Information kein ohne weiteres räumlich fixierbarer Gegenstand, keine Entität mit intrinsischem Wert ist. Die durch den Buchdruck revolutionierte Verfügbarkeit von Texten hat nicht zuletzt auch entscheidende strukturelle Folgen sowohl für die Vermittlung von Glaubensinhalten wie auch für die Vermittlung und Limitierung von wahrem Wissen. Im Medium des Buchdrucks wird die Religion zu einer nicht mehr wahrheitsfähigen Privatangelegenheit und die Definition von wahrem Wissen schließlich zu einem wissenschaftlichen Sonderdiskurs. Die Doktrin von der doppelten Wahrheit wird dadurch auf institutioneller Ebene gegenstandslos. Aufgrund der schwarzen Kunst wird die Anschaffung der Heiligen Schr ift auch für Haushalte und Privatpersonen finanziell tragbar. Seit der Bibelübersetzung ist der preisgünstige Text in jedem besseren Haus verfügbar und die Offenbarung läßt sich gewissermaßen aus dem Regal oder der Schublade ziehen. Fast jedermann ist auf diese Weise die institutionell unvermittelte, persönliche Konfrontation mit Gottes Wort in aller Stille möglich. Die unmittelbare Eindringlichkeit des gesprochenen Wortes geht dabei verloren und die Autorität des Priesters verblaßt. Die traditionelle Rolle der Kirche als Pfleger, Hüter und Interpret der Botschaft gerät in eine Krise.334 Aber nicht nur im Kontext der Religion hat der Buchdruck revolutionäre Folgen. Er definiert auch in neuer Weise, was wahres Wissen ist. Wie Michael Giesecke zeigt, gelten nur noch visuelle, nach bestimmten perspektivischen Verfahren gewonnene Informationen als wahres Wissen. 335 Das durch Druck vermittelte Wissen muß sich als reproduzierbar auszeichnen, um den Leser zu überzeugen. Es setzt deshalb standardisierte Beobachtungstechniken voraus und fördert dadurch die Ausdifferenzierung

333 Dies wird insbesondere von Gieseke, Michael, a.a.O., S. 393ff. betont.

334 Vgl. dazu Ong, Walter J., The Presence of the Word. Some Prolegomena for Cultural and Religious History, Minneapolis, MN 1981.

335 Giesecke, Michael, a.a.O., 1991, S. 499ff.

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von Wissenschaft. Das nur implizit Gewußte oder vage Gefühlte läßt sich drucktechnisch nicht vermitteln und verliert deshalb an Relevanz. Weisheit, Handfertigkeit, Glaube und Gefühl lassen sich nicht ohne weiteres typographisch umsetzen oder in Schaubildern und Diagrammen erfassen. Der Buchdruck fordert neue Techniken der Argumentation und neue Methoden der Beweisführung und verpflichtet den Autor, seine Thesen in bis dahin unüblicher Weise zu belegen. Die klassische Form des Dialogs eignet sich deshalb, wie Walter Ong zeigt, immer weniger zur Ermittlung der Wahrheit und ist deshalb - abgesehen von der in Promotionsverfahren vorgesehenen Disputation und einer karikaturhaften Wiederbelebung in talkshows - so gut wie verschwunden. 336 Die Publikation von Wissen hört auf, eine Performance unter Anwesenden zu sein. Die Produktion wahrer Aussagen ist nun vor allem Textproduktion und was sich, seit es ein ausdifferenziertes Wissenschaftssystem gibt, nicht in den entsprechenden Fachzeitschriften unterbringen läßt, hat keinen Anspruch mehr auf Wahrheit.337 Mit der Entwicklung formaler Kalküle beginnt sich schließlich sogar ein wahres, also intersubjektiv geteiltes Wissen zu entwickeln, daß sich der Sprache selbst zu entziehen scheint und gewissermaßen nur noch auf dem Umweg über das Papier kommuniziert werden kann und es von da aus erlaubt, Experimente zu strukturieren. 338 Mit der Verbreitung des Buchdrucks und wachsender Alphabetisierung verliert die Schicht der Schriftgelehrten an Kontur. Zunächst beginnt sich - oft in Opposition zu den scholastischen Universitäten - eine europäische Gelehrtenrepublik, oder wenigstens die Idee einer solchen Republik zu formieren, aber mit der Aufgabe des Latein differenziert sie sich, angezogen durch die im 18. Jahrhundert einsetzende Ausdifferenzierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, schließlich in nationale Segmente. Mit der Etablierung dieser Öffentlichkeit schließlich beginnt eine universale, nicht mehr nur auf eine kleine Oberschicht beschränkte, national segmentierte Hochkultur zu entstehen. 339 Die Geschichtsschreibung erweitert sich langsam zu einer umfassenden Nationalgeschichte; sie beschränkt sich nicht mehr allein auf die Taten und Untaten der Oberschicht. Das Volk, der einfache Mann, seine Wünsche und Gedanken, die Arbeit und der Alltag beginnen ins Feld der Sichtbarkeit zu rücken und gelten von nun an als Determinanten des sozialen Geschehens. Einher mit dieser "vertikalen" oder

336 Vgl. dazu insbesondere Ong, Walter J., Ramus Method, and the Decay of Dialogue. From the Art of Discourse to the Art of Reason, Cambridge, Mass. 1983.

337 Vgl. Stichweh, Rudolf, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt/M. 1984, S. 394ff; Knorr-Cetina, Karin, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Wissenschaft, Frankfurt/M. 1984.

338 Vgl. Bellone, Enrico, A World on Paper. Studies in the Second Scientific Revolution, Cambridge, Mass. 1982.

339 Vgl. Gellner, Ernest, a.a.O., 1983, S. 35ff.

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schichtübergreifenden Erweiterung geht aber eine "horizontale" oder geographische Verengung: Geschichte wird nicht mehr vorrangig als Universalgeschichte, sondern als Nationalgeschichte geschrieben. Mit der Renaissance beginnt sich ein wachsender Teil der des Lesens und Schreibens kundigen europäischen Oberschicht verstärkt als Produkt der eigenen Kultur zu erfahren. Der Aufbau außereuropäischer Kolonialreiche und die Intensivierung des Welthandels liefert diesen Reflexionen dann ein ständig wachsendes Material. Im 18. Jahrhundert schließlich erhalten diese Betrachtungen aufgrund eigener Bildungsreisen ein neues, individuelle Nuancen und nationale Eigentümlichkeiten betonendes, persönliches Kolorit. Binnen weniger Jahrhunderte hatte sich der intellektuelle Horizont so geweitet, daß eine Neubestimmung von Eigenem und Fremden nötig schien. Die bloß negative Ausgrenzung des anderen durch Gegenüberstellungen wie Zivilisation und Barbarei wird zu unspezifisch und greift nicht mehr, sobald es um medial erschlossene nächste Nachbarn geht. Die Eigentümlichkeiten unterschiedlicher Nationen beginnen deshalb ins Feld der Aufmerksamkeit zu rücken. Die eigene Kultur und politische Verfassung wird zunehmend als losgelöst und unabhängig von religiösen Ordnungsschemata begriffen. Ihre Eigentümlichkeit und Kontingenz wird sichtbar und eine Gefährdung der politischen Gemeinschaft wird jetzt nicht mehr als Schicksal, sondern zunehmend als eine säkulare Selbstgefährdung mit eigenem Zeithorizont erlebt, der nur durch einen neuen Bürgersinn entgegengewirkt werden kann. 340 Die Kontingenz und historische Relativität der eigenen politischen Verfassung und Kultur wird schließlich - so Hermann Lübbe - zu einer "lebensprägenden Jedermannserfahrung". 341 Gleichzeitig aber erhält das Individuum durch den Roman die Chance, sich in einer psychologischen Komplexität, Bedürftigkeit und Perfidie jenseits aller sozialen und selbst auferlegten Tabus und Peinlichkeitsgrenzen zu erfahren, die es ihm anschließend so gut wie unmöglich machen, sich noch als Teil der Gesellschaft zu fühlen. 342 Der Roman macht ein Innenleben zugänglich, das im Drama oder auf der Bühne des öffentlichen Lebens unsichtbar bleibt und von keiner Regieanweisung und keiner Norm unmittelbar erreicht wird.343 Er macht die notwendig inadäquate Beziehung "zwischen Seele und Wirklichkeit" sichtbar: "die Unangemessenheit, die daraus entsteht, daß die Seele breiter und weiter angelegt ist als die

340 Vgl. Pocock, J.G.A., The Machiavellian Moment - Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton, 1975.

341 Lübbe, Hermann, Religion nach der Aufklärung, Darmstadt 1986, S. 112.

342 Vgl. Watt, Ian, The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding, Harmondsworth 1983.

343 Vgl. Foster, E.M., Aspects of the Novel, Harmondsworth 1990, S. 85ff.

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Schicksale, die ihr das Leben zu bieten vermag."344 Während Emile Durkheim noch zu plausibilisieren sucht, daß sich in der Religion die Gesellschaft selbst anbetet und nach einem zeitadäquaten Kompensat sucht, diagnostiziert Georg Lukacs bereits ein Zeitalter der "transzendentalen Obdachlosigkeit". 345 Seit das Wort Gesellschaft nicht mehr nur die gehobene Gesellschaft meint, beginnt die so bezeichnete Entität sich in eine irgendwie selbständige, aber adressenlose, immer schuldige, aber unbelangbare Instanz zu verwandeln. Der Ruf nach mehr Verantwortung ertönt zwar immer lauter, aber die Kunst, es nicht gewesen zu sein, hat längst eine Raffinesse erreicht, die sich so scheinbar nicht mehr einholen läßt. Kein Über-Ich sagt mehr, daß man selbst gemeint sein könnte. Warum sollte man sich auch in dieser Weise vereinnahmen lassen? Aber gleichwohl gelingt es immer wieder, wenn auch häufig nur kurzfristig, das vermeintlich konkrete Allgemeine zu identifizieren und breite Bevölkerungsgruppen unter einer gemeinsamen Fahne zu sammeln. In nationalistisch überstiegener Form verdankt sich kollektive Identität häufig einer geschichtsphilosophischen Selbstermächtigung, einer Vorwegnahme von Zukunft. Der Nationalismus bietet den von ihrer Tradition vielfach abgeschnittenen und durch den Modernisierungsprozeß mehr und mehr entwurzelten Menschen eine neue soziale Identität und kann zur Legitimationsgrundlage des politischen Systems werden. Motiviert wird diese Identität durch die Demonstrationswirkungen der Fortschritte andernorts, deren Status gleichwohl ambivalent ist, da die offene Nachahmung wiederum identitätsgefährdend wirken muß.346 Die Imagination nationaler Gemeinschaften ist aber nicht einfach ein Hirngespinst und bloßes Phantasieprodukt. Sie verdankt sich einer spezifischen Veränderung des Auflösungsvermögens gesellschaftlicher Selbstbeobachtung, insbesondere in Form eines immensen Ausbaus der Massenmedien. Die Behaup tung eines Nationalstaates kann aber, wie Karl W. Deutsch gezeigt hat, nur gelingen, wenn die nationale Rhetorik von einer Reihe weiterer integrativer Prozesse unterstützt und begleitet wird. Eine Vereinheitlichung des politischen Territoriums, eine Verdichtung von Siedlungsstruktur und Transportwesen, die Durchsetzung einer Nationalsprache und einer gemeinsamen Währung, die Entstehung einer nationalen Elite und einer von ihr getragenen einheitlichen Kultur dürfen als wesentliche Voraussetzungen der Nationenbildung gelten. 347 Die soziale

344 Lukacs, Georg, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Form der großen Epik, Frankfurt/M. 1989, S. 98.

345 Während Durkheim angesichts dieser Lage von der Soziologie Therapie erhofft, empfiehlt Lukacs bekanntlich wenig später Marxismus.

346 Auf dieses Problem haben insbesondere Reinhard Bendix und in einem allgemeineren Rahmen René Girard hingewiesen.

347 Vgl. Deutsch, Karl W., Nationalism and Social Communication, Cambridge, Mass. 1966; ders.,

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Mobilisierung und die Verdichtung der nationalen Kommunikation forcieren sich wechselseitig und führen im Idealfall zu "politisch-kultureller Assimilation". 348 In Deutschland beispielsweise entwickelt sich erst während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der wachsenden Verschriftlichung von Kommunikationsprozessen auf Grundlage des Buchdrucks und des Pressewesens eine eigene Nationalkultur 349. Gleichzeitig damit etablierte sich eine bürgerliche Öffentlichkeit.350 Die unter dem Titel "Deutschland" zusammengefaßten Territorien gewinnen in diesem Prozeß überhaupt erst eine übergreifende kulturelle Kontur.351 Die Umstellung der Kommunikationstechniken ist der gemeinsame Nenner im Prozeß der Nationenbildung und der damit einsetzenden Modernisierung. 352 Das Pressewesen schafft auf regionaler und später nationaler Ebene neue Aggregate, es definiert ein neues Publikum. Eine nationale Öffentlichkeit entsteht, indem sich - und das scheint uns

Nationalism and its Alternatives, New York 1969.

348 So sollte es Deutsch zufolge wenig stens sein; für das Gelingen dieser Assimilation aber haben die verantwortlichen Stellen in Politik, Erziehung und Wirtschaft häufig nicht unerhebliche Kapazitäts- und Ressourcenprobleme zu überwinden. Die von Deutsch gewählte begriffliche Unterscheidung von Mobilisierung und Assimilation hat sich jedoch als flexibel genug erwiesen, um, am eben benannten Problem ansetzend, auch eine Entwicklung hin zu wachsender Desintegration verbuchen zu können: Die Mobilisierungsprozesse können nämlich gegenüber der Assimilation ein solches Eigengewicht gewinnen, daß der Nationalismus schließlich "disruptiv" wirkt, die ih m zugedachte Funktion der Integration also nicht erfüllt. Hier zeigt sich deutlich die häufig erörterte Janus-Köpfigkeit des Nationalismus. Mit Blick auf das Problemfeld von Teilnahme versus Ausschluß bestimmter Bevölkerungsteile vom Prozeß der Modernisierung hat Alfred Marshall den Begriff der Inklusion entwickelt, womit er den Einschluß und die Möglichkeit zur Teilnahme der Bevölkerung in die verschiedenen, durch zivile, politische und soziale Rechte determinierten Teilbereiche der modernen Gesellschaft meint. (Vgl. Parsons, Talcott, The Evolution of Societies, Englewood Cliffs, 1977, S. 168ff.) Die Idee der Nation läßt sich in diesem Sinne als eine solche Inklusionsschübe einleitende oder fordernde Inklusionsformel begreifen.

349 Mit Nationalkultur ist sowohl die Etablierung einer Nationalliteratur als auch die endgültige Durchsetzung einer überregionalen Nationalsprache gemeint. Vgl. statt anderer: Woesler, Winfried, Die Idee der deutschen Nationalliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Graber, Klaus (Hrsg.), Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Tübingen 1989, S. 716-733; Wilke, Jürgen, Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688-1789), Teil I: Grundlegung, Stuttgart 1978, S. 92-99.

350 Vgl. Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit - Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962; Dülmen, Richard van, Die Gesellschaft der Aufklärer, Frankfurt 1986; Williams, Raymond, The Long Revolution, Harmondsworth 1961.

351 Eine ausführlichere und stärker evolutionstheoretisch akzentuierte Diskussion der Entstehung der "Deutschen Kulturnation" findet sich in: Giesen, Bernhard, Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt/M. 1993, und ders. / Kay Junge, Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der "Deutschen Kulturnation", in: Giesen, Bernhard (Hrsg.), Nationale und Kulturelle Identität, Frankfurt/M. 1991, S. 255-303.

352 "Das Unbewußte und Vegetative im Werden der Nation" wie es bei Friedrich Meinecke heißt, läßt sich aus soziologischer Perspektive deshalb am ehesten wohl auf diesen Nenner beziehen. Ders., Weltbürgertum und Nationalstaat, München 1908, S. 26.

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der entscheidende Punkt - ein neues Bewußtsein der Gleichzeitigkeit eines über persönliche und lokale Kontakte hinausgehenden, aber gleichwohl relevanten sozialen Geschehens entwickelt. Erst über die öffentlich hergestellt Simultanität läßt sich, wie Benedict Anderson betont, eine nationale Gemeinschaft mit gemeinsamer Vergangenheit und gemeinsamer Zukunft imaginieren. 353 Die Printmedien ermöglichen eine großräumige Synchronisation des sozialen Lebens und garantieren durch einen kontinuierlichen und intensiven Informationsabgleich gleichzeitig dessen Homogenität. Im Rhythmus einer Woche, später sogar innerhalb von 24 Stunden und heute innerhalb von wenigen Minuten oder gar Sekunden, kann man sich über entfernte Geschehnisse unterrichten lassen und das eigene Handeln entsprechend orientieren. Die situativen Befindlichkeiten gleichen sich großräumig einander an und lokale Ideosynkrasien werden eingeebnet. Es wird heute geschätzt, daß die periodische Tagespublizistik in Deutschland schon um 1750 mit 100-120 Unternehmen ein Publikum von mehr als einer Million Leser erreicht hat.354 Sie war also schon nicht mehr allein auf die `Republik der Gelehrten' beschränkt. Auch das noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Schriftsprache vorherrschende Latein ist an dessen Ende auf einen nur noch marginalen Anteil an den Publikationen zurückgedrängt. Ebenso deutlich verschiebt sich die inhaltliche Ausrichtung der Publikationen: Der Anteil theologischer Schriften an den Neuerscheinungen nimmt deutlich ab, das literarische Angebot hingegen nimmt zu, insbesondere auch in Form von Unterhaltungsliteratur.355 In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts beginnt die "extensive" Rezeption die "intensive" zu verdrängen. Die Wiederholungslektüre wird von der Jagd nach aktuellem Lesematerial abgelöst.356 Diese an Schrift und Druck gebundenen Kommunikationsprozesse erlauben es, daß immer wieder neue aktuelle Themen simultan in einer persönlich füreinander nicht mehr erreichbaren Population diskutiert werden. Erst diese Simultanpräsenz konstituiert die Gemeinschaft. Die Medien definieren für die modernen, d. h. charakterlos außengeleiteten, also lernbereiten Individuen gemeinsame Themen zu gemeinsamer Empörung oder gemeinsamer Freude, zu gemeinsamem Konsens und gemeinsamem Dissens und schafft

353 Anderson, Benedict., a.a.O., S. 22ff.

354 Vgl. Welke, Martin, Zeitungslesen in Deutschland, in Dann, Otto (Hrsg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981, S. 29-53, S. 30. Die quantitative Auswertung der sogenannten "Leserevolution" ist aber bis heute leider nur wenig eindeutig, wie auch Welke deutlich macht. Horst Möller z. B. vermutet, daß noch um 1800 von den 24,5 Millionen Deutschen das "eigentliche Lesepublikum" kaum 1% umfaßt. Ders., Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1986, S. 269.

355 Willke, Jürgen, a.a.O., S. 75.

356 Engelsing, Rolf, Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit, in: ders., Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, Göttingen 1978, S. 112-154.

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darüber die Möglichkeit kollektiver Identität. Ohne eine großräumig generalisierte und jedermann sichtbare Themenvorgabe wäre ein im Vergleich zur Flüchtigkeit der meisten Kontakte viel zu hoher Zeitaufwandt nötig, um herauszufinden, was man als bekannte Themen unterstellen darf und welche Unterstellungen dieser Art man sich zumuten können lassen muß. Die Medien stimulieren und orientieren das tägliche face-to-face Palaver und schaffen erst auf diesem Umweg eine Gemeinschaft. Die Medien alleine können immer nur auf ein anonymes Publikum bezogen sein, sie wenden sich also an eine auf dieser Ebene gar nicht gemeinschaftsfähige Population. 357 Die ständige Medienpräsenz erlaubt es aber, daß alle Individuen ihres Einzugsbereiches auf dieselben Themen ansprechbar sind und auch als einzelne von Angesicht zu Angesicht in die Pflicht genommen werden können. "Tap in to whomsoever and you get pretty much the same thing."358 Das Themenspektrum und das Niveau der Erörterung sind natürlich schon aus Kapazitätsgründen begrenzt. Es geht nicht um Börsenkurse und nicht um Wissenschaft, nicht um religiöse Fragen und nicht um Probleme der politischen Taktik. Die sozialen Selbstbeschreibungen richten sich an Themen aus, zu denen jedermann nach der morgendlichen Zeitungslektüre ohne weiteres Stellung nehmen kann. Solche Stellungnahmen müssen sich generalisierten Schemata wie unten/oben oder innen/außen einfügen lassen. Nur insofern ein Thema Abgrenzungen dieser Art erlaubt, ist es geeignet, an Schichtung oder Lokalität gebundene kollektive Identitäten zu generieren. Die Selbstbeobachtung der Gesellschaft, soweit sie über die Medien der diversen vorrangig national segmentierten Öffentlichkeiten läuft, kann deshalb schwerlich einer allgemeinen Vernunft gehorchen, sondern ist, wie alle Beobachtung an ein spezifisch ausgerichtetes Sensorium gebunden. Aber die von Schrift und Druck ausgehende Revolutionierung sozialer Selbstbeobachtung ist nicht auf den öffentlichen Raum beschränkt, obwohl die semantisch und textmäßig verfügbaren Selbstbeschreibungen hauptsächlich dort entstehen und von dort aus das Selbstbild der modernen Gesellschaft entschieden prägen. Die modernen Medien führen nicht nur zu einer Steigerung des räumlichen Auflösungsvermögens im Sinne eines durch Lektüre oder Fernsehen erweiterten Wahrnehmungsraums, sondern ermöglichen durch Einsatz in anderen Bereichen auch eine erhebliche Erweiterung der individuellen Kommunikationsmöglichkeiten. Die im wesentlichen von Bürokratien organisierten Kommunikationsmöglichkeiten erlauben die individuelle Knüpfung einer Vielzahl von organisatorischen und persönlichen Kontakten auch jenseits persönlicher Bekanntschaften

357 Zu der hier benutzten Unterscheidung zweier Ebenen (Medien und face-to-face Kommunikation) bei der Konstitution von Öffentlichkeit vgl. insbesondere Gouldner, Alvin W., The Dialectic of Ideology and Technology. The Origins, Grammar, and Future of Ideology, London 1976, S. 91ff.

358 Sacks, Harvey, a.a.O., S. 485.

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und jenseits des unmittelbaren Wahrnehmungshorizontes. Die Koordination unpersönlicher, quasi gesichtsloser Beziehungen - am ausgeprägtesten sicherlich im Bereich der Wirtschaft - macht dabei eine Standardisierung der einzelnen Adressen erforderlich. Die gesellschaftliche Steigerung des Auflösungsvermögens ist deshalb indirekt am Modus der Adressierung von Kommunikation ablesbar. Neben dem in der direkten Anrede benutzten Namen gewinnen Nummern zunehmend an Relevanz, um auch jenseits des Wahrnehmungsraums Kommunikation noch adressierbar zu machen. Hausnummern, Zimmernummern, Postleitzahlen, Steuernummern, Dienstnummern, Kontonummern, Versicherungsnummern, Telefonnummern, e-mail etc. haben den Status von individuellen, aber eigentlich nicht mehr persönlichen, sondern bestimmten Rollenvorgaben folgenden Adressen. Die Adressierung aufgrund solcher Nummern bezieht sich dabei gewöhnlich auf eine bestimmte Stelle im Raum und für die Richtigkeit dieser Adresse bürgt nicht mehr ein persönlich bekannter Mittelsmann, sondern eine formale Organisation. Die Schnittstellen, über die dem einzelnen diese Erweiterung seiner Kommunikationsmöglichkeiten zugänglich werden, sind Briefkästen, check-points, Terminals, Büros, Telefon- und Faxanschlüsse. Statt von Angesicht zu Angesicht, kommuniziert man von Interface zu Interface. Das über solche Schnittstellen zugängliche Auflösungsvermögen trägt einen vom öffentlichen Diskurs deutlich verschiedenen Kommunikationstyp. Aber die über diese Schnittstellen lancierten Kommunikationen sind nicht nur inhaltlich anders ausgerichtet, sondern in Abhängigkeit von ihren Inhalten auch im Hinblick auf ihre Adressaten wesentlich selektiver und gegenüber kollektiven Grenzziehungsversuchen deshalb in systematischer Weise subversiv. Schließlich muß auch noch das moderne Rechtssystem als ein von modernen Medien in spezifischer Weise abhängiger Beobachtungskontext genannt werden. Auch hier handelt es sich um einen moralische und kollektive Grenzziehung häufig unterwandernden Systemtyp. Ohne ein hohes zeitliches und räumliches Auflösungsvermögen wäre der moderne Rechtsstaat nicht denkbar. Die Unterscheidung von Recht und Unrecht duldet kein Drittes, und deshalb muß der Geltungsbereich des Rechts klar umgrenzt sein. Geht man davon aus, daß das Recht die Funktion hat, Verhaltenserwartungen zu stabilisieren, so kann dies nur gelingen, wenn es sich selbst einem Vollzugszwang unterstellt, denn ein Rechtsbruch, der nicht verfolgt würde, legitimiert sich schließlich aufgrund seiner bloßen Sichtbarkeit für jedermann selbst. Für die Etablierung eines modernen Rechtssystems ist deshalb die Bewältigung des vom Vollzugszwang ausgehenden Zeitdrucks eine unabdingbare Vorausset-zung. Das für einen Nationalstaat konstitutive Recht kann sich deshalb nur behaupten, wenn es in ein geeignetes Verkehrs- und Informationsnetz eingebunden ist. Nur so kann es bei Bedarf die von ihm ausgehende ordnungsgarantierende Drohung mit Gewalt auch wahrmachen. Die rechtliche Einheit einer Nation verdankt sich deshalb nicht zuletzt dem

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Ausbau und der Entwicklung postaler und telekommunikativer Einrichtungen. 359 "Der Telegraph hat den Arm der Polizei lang gemacht," schreibt Karl Knies schon 1857 und zwar gleich so lang, daß sogar ein Griff über die nationalen Grenzen hinaus möglich wird, "so lang, daß er bis in die fernsten Bezirke des Continents und bis auf die Schiffe im Hafen der Seestädte reicht."360 Das Auge und der Arm des Gesetzes müssen schneller sein als der Delinquent. Die Telegraphie ist das Nervensystem, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese beiden Organe flächendeckend und ohne große Verzögerungen zu koordinieren erlaubt. Gleichwohl läßt sich über diese Organe, über die Medienwelt der Polizei keine allgemein attraktive Selbstbeschreibung der Gesellschaft generieren. Dies liegt weniger daran, daß sie nicht in der Lage wären, ein allgemeines Bild zu liefern, sondern vielmehr daran, daß dieses Bild nicht allgemein zugänglich, nicht verfügbar, nicht kommentier- und manipulierbar ist. Ähnlich wie das postal und über private Datenbanken organisierte Nervensystem der Wirtschaft operiert es weitestgehend im Jenseits des öffentlich Sichtbaren. Aber auch umgekehrt scheint es so gut wie aussichtslos, die öffentliche Meinung mit polizeilichen Mitteln unter Kontrolle bringen zu wollen. Wo es Schreibmaschinen und Kopiergeräte, Radios und Tonbandgeräte, öffentliche und private Treffpunkte und ein preisgünstiges Transportsystem gibt, dort läßt sich die öffentliche Meinung nicht mehr ohne weiteres zensieren. Wer Einfluß sucht, ist gezwungen, mit eigenen Meldungen mitzumischen. Zum Ende dieses Abschnitts möchten wir zum einen noch einmal einige Überlegungen thesenartig verdichten, die in den knappen Kommentaren zu den sicherlich recht heterogenen Beispielen vielleicht nicht immer deutlich genug sichtbar geworden sind, und zum anderen auf einen Moment aufmerksam machen, durch den sich identitätsstiftende, kollektive Selbstbeschreibungen von soziologischer Theorie unterscheiden. Wir wollen uns auf drei Thesen oder Trendaussagen beschränken. 1. Das Auflösungsvermögen gesellschaftlicher Selbstbeobachtungen erhöht sich schrittweise im Verlauf der sozialen Evolution und erstreckt sich auf immer längere Zeithorizonte und auf immer größere Territorien. Die Gesellschaft entzieht sich dabei mehr und mehr dem unmittelbaren Wahrnehmungsraum ihrer Mitglieder. Während in einfachen Gesellschaften die Gesellschaft selbst Teil der sichtbaren Welt ist und diese Welt für die übergroße Mehrzahl ihrer Mitglieder noch in gleicher Weise, nämlich unmittelbar, zugänglich ist und in gleicher Weise definiert

359 Vgl. dazu, wenn auch eher unter militärtechnischem als polizeitechnischem Blickwinkel Haase, Frank, Kleists Nachrichtentechnik, Opladen 1986, S. 162-174.

360 Ders., Der Telegraph als Verkehrsmittel. Mit Erörterungen über den Nachrichtenverkehr überhaupt, Tübingen 1857, S. 222, zitiert nach Siegert, Bernhard, Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post - 1751-1913, Berlin 1993, S. 195.

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wird, entzieht sich in der modernen Gesellschaft das soziale Geschehen nicht nur der individuellen Wahrnehmung und den Beobachtungsmöglichkeiten des einzelnen, sondern wird auch aufgrund jeweils unterschiedlicher Situationsvorgaben auf unterschiedliche Weisen definiert. 2. In Abhängigkeit vom jeweils genutzten Medium werden gleichzeitig, aber von verschiedenen Stellen aus und mit jeweils funktionsspezifischen Unterscheidungen ganz unterschiedliche Gebiete und Zeitausschnitte erfaßt. Diese einzelnen Selbstbeobachtungen laufen aber an keiner Stelle mehr zusammen und sie ließen sich vielleicht auch gar nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Die Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft konzentriert sich deshalb heute auf das Medium der Öffentlichkeit. Der öffentliche Diskurs beschränkt sich inhaltlich auf Politik und Kultur und folgt damit bestimmten territorialen Vorgaben und darüber definierten Relevanzen. Vor diesem Hintergrund werden Probleme definiert, Themen gepflegt und die dazu passenden Ereignisse präsentiert. Hier wird die dem Wahrnehmungsraum entschwundene kollektive Identität schwarz auf weiß wieder publik gemacht, wird kritisiert, hinterfragt, zum Schicksal erklärt und von neuem festgeschrieben. 3. Mit der wachsenden Abhängigkeit und zunehmenden Nutzung von artifiziellen Medien verschiebt sich das Verhältnis von Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen. Es entstehen riesige Datenmengen, die sich nicht mehr sinnvoll zurechnen und narrativ oder theoretisch integrieren lassen. Den Ereignissen fehlt eine Geschichte, den Orten und Namen ein Gesicht. "Fact is a poor story-teller."361 Echatologisch oder geschichtsphilosophisch inspirierte Formen der Selbstbeschreibung scheitern an der verwirrenden Buntheit der Welt. Die "grand recrits" können nicht nur die Datenmassen nicht mehr richtig verdauen, sondern lassen sich aufgrund ihres kontinuierlich zunehmenden Volumens auch kaum mehr erzählen. Sie sind gleichzeitig zu klein und zu groß. Alle öffentlichen Identitätsbehauptungen müssen sich gegen eine wachsende Flut von vielleicht auch relevanten Ereignissen immunisieren. Immer wieder machen sich überraschend Effekte bemerkbar, deren Ursachen man nicht kennt. Man wird mit Ereignissen in fernen Weltregionen konfrontiert, deren Hintergrund sich nicht erschließen läßt.362 Forderungen und Anklagen werden allerorts erhoben, die sich nur mehr mit Mühen in die eigene Geschichte integrieren lassen. Selbst wenn man sich immer nur abgrenzend verhalten wollte, wäre man

361 Maugham, W. Sommerset, Ashenden or The British Agent, London 1991, S. V.

362 Insbesondere im Verweis auf das Fernsehen ist dies oft erörtert worden. Die Flut der ständig wechselnden Bilder produziert Augenzeugen, ohne daß genügend Zeit bleibt, ein den Einzelfällen angemessenes Urteilsvermögen auszubilden. Umgekehrt könnte man aber auch sagen, es bilde ein Urteilsvermögen aus, das der eigenen Situation nicht entspricht. Es produziert Betroffenheit aufgrund "geliehenen Elends" (Gehlen). Da diese selbst wiederum von den Medien aufgegriffen wird, sollte man, wie Jean Baudrillard vorschlägt, nicht nur von der Verführung der Massen durch die Medien, sondern auch von der Verführung der Medien durch die Massen sprechen. Ders., Die Fatalen Strategien, München 1985, S. 104.

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überfordert. Die von der Aufklärung zunächst gefeierte Informationsflut führt zur Paralyse ihrer Begrifflichkeit, zurück bleiben nur Fetzen einer Erzählung. Die Rechenkapazitäten des öffentlichen Diskurses sind beschränkt, aber die Datensätze scheinen ohne Ende und an den Einlesegeräten wird unermüdlich gearbeitet. Das Publikum schwankt zwischen Apathie und Amoklauf und findet nur mit Mühe eine Balance. In Anbetracht dieser Lage liegt die Frage nahe, ob hier Theorie helfen kann. Die Antwort fällt nicht schwer, aber die Theorie, so scheint es, fehlt. Wir wollen deshalb die Frage zum Anlaß nehmen, um einen entscheidenden Unterschied zwischen theoretischen Modellen und öffentlichen Identitätsbehauptungen aufzuzeigen. In beiden Fällen handelt es sich um gesellschaftliche Selbstbeschreibungen, aber in der Art und Weise, wie sie mit Zufällen umgehen, unterscheiden sie sich deutlich. Identität wird über eine Geschichte konstruiert. Soziale Identität muß erzählbar sein. "Die Geschichte steht für den Mann" heißt es treffend bei Wilhelm Schapp,363 und Analoges ließe sich über andere Einheiten sagen bis hinauf zur National-, Wirtschafts- oder Weltgeschichte etc.364 Schapps Philosophie der Geschichten hat den Vorteil, daß sie die Frage nach der Identität gewissermaßen unabhängig vom Inhalt der Antwort zu stellen erlaubt. Auch die Geschichte vom Identitätsverlust ist noch eine identitätsstiftende Geschichte, solange sich ihr Sprecher mit ihr identifiziert. Die Geschichte hat kein Subjekt, sondern nur einen Referenten, der in sie verstrickt ist. Geschichten antworten auf die Frage, wer man sei. Das Kontingente, das, was auch hätte anders kommen können, zwingt dazu, Geschichten zu erzählen. Man erzählt eine Geschichte, weil es anders kam, als erwartet. Geschichten sind Prozesse der Systemindividualisierung. 365 Die Einheit, auf die eine Geschichte referiert, gewinnt über Zufälle an Kontur. Über Zufälle kommt eins zum anderen und gewinnt die Geschichte schließlich eine eigene Selektivität in bezug auf dann noch Passendes. Wer schon eine Geschichte hat, wird bestimmten Dingen aus

363 Schapp, Wilhelm, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt/M. 1985, S. 103ff.

364 Hier ist nicht der Ort, um auch nur in Überfliegermanier auf unterschiedliche Konzepte sozialer Identität einzugehen. Auch die Philosophie der Geschichten ist nicht frei von den typischen Paradoxien aller Identitätstheorien von Fichte über Mead und Sartre bis Habermas, die in gewisser Weise immer schon voraussetzen müssen, was erst erklärt werden soll. Der Vorteil von Schapps Philosophie der Geschichten scheint uns aber zu sein, daß sie erstens die Selbstreferenz des durch die Geschichte als identisch Behaupteten nicht in einer Paradoxie kurzschließt und zum Verschwinden bringt, sondern eben als Geschichte entfaltet und zweitens, daß Zufälle dabei nicht als identitätsgefährdend, sondern gerade umgekehrt, als identitätsaufbauend begriffen werden können. Anfang und Ende einer Geschichte sind natürlich willkürlich gesetzt, und vollständig kann die eigene Geschichte, wie man seit Tristram Shandy weiß, auch nicht sein. Der Anfang ist vergessen, das Ende erlebt man nicht und dazwischen bleibt nicht genug Zeit zum Erzählen, wenn man das Erzählen selbst miterzählen will.

365 Vgl. dazu insbesondere Lübbe, Hermann, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel 1977, S. 90ff.

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dem Weg zu gehen versuchen. Eine Geschichte muß sich also, obwohl sie sich selbst dem Zufall verdankt, schließlich im Lärm der Zufälle behaupten. Theorien haben demgegenüber ein ganz anderes Verhältnis zum Zufall. Zwar ist der Theoriebau auch nicht anders als in Form einer Geschichte erklärbar, aber Gültigkeit reklamiert eine Theorie, unabhängig von ihrem Entstehungskontext. Aber nicht nur der Entstehungskontext wird als irrelevant ausgeblendet. Durch ceteris-paribus-Klauseln und andere Imunisierungstechniken entledigt sich die Theorie auch vom theoriefremden Rest der Welt, vom Lärm des Alltags. Theorien abstrahieren vom Zufall, sehen von ihm ab. Geschichten greifen ihn auf und bauen ihn ein. Über Theorien ist aber auch schon deshalb keine Systemindividualisierung möglich, weil sie von jedermann kopierbar sind und schließlich intersubjektiv geteilt werden wollen. 366 Obwohl sich natürlich auch Theoriemoden beobachten lassen und ein gewisser Grad an Unverständlichkeit durchaus Identifikationschancen bietet, versuchen sich wissenschaftliche Theorien im allgemeinen als zeitgeist- und benutzerindifferent zu behaupten. Reflexionsprobleme lassen sich gewöhnlich auf die Sache abwälzen oder auf Metaebenen isolieren, so daß ein Forschungsprogramm sich nie unmittelbar selbst zum Gegenstand hat. Im Unterschied dazu zeichnen sich identitätsverbürgende Geschichten gerade durch die Thematisierung ihrer zeitlichen und sozialen Determinanten aus. Diese identitätsstiftende Selbstthematisierung produziert jedoch einen paradoxen Effekt. Sie garantiert, daß die Geschichte als Ganze immer in einem unfertigen Zustand bleibt. Kollektive Identität, oder besser gesagt, der immer wieder aufgenommene Versuch, sie in eine Geschichte zu fassen, verdankt sich einem ontologischen Defekt. Mit dem Erzählen der Geschichte spinnt sie sich selbst weiter. Aber gerade weil sich mit jeder Wiederaufnahme des Erzählfadens die Erzählung selbst verändert und verlängert, erlangt die eigene Geschichte nie eine endgültige Fassung. Der Erzähler ist selbst Gegenstand der Geschichte, aber der Theoretiker nicht ohne weiteres Gegenstand seiner Theorie. Insofern dies aber doch der Fall sein sollte, wird sich der Theoretiker in eine Geschichte verstricken und mit logischer Notwendigkeit die Kontrolle über das Unternehmen verlieren. 367 Im Versuch, dem Zirkel zu entkommen, verfällt er einer fatalen Strategie.368 Gleichwohl scheint es nicht abwegig und sogar üblich, Geschichten durch Theorien zu rahmen. Die Theorie erlaubt es dann, viele Fragen abzuwehren und die Aufmerksamkeit auf Spezifisches zu beschränken, während die Geschichte in ihrer

366 Man könnte dies auch umgekehrt zu einem Definitionskriterium machen: Nur was sich auch kopieren läßt, verdient es, Theorie genannt zu werden.

367 Hier ist ein Verweis auf Karl R. Popper unvermeidbar. Ders., Das Elend des Historizismus, Tübingen 1969.

368 Im Sinne Jean Baudrillards. Vgl. ders., a.a.O., München 1985.

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Vertracktheit genügend Komplexität anbietet, um Identität bei Bedarf ausflaggen zu können. Theorie wird aber nicht Sicherheiten garantieren können, sondern allenfalls dazu befähigen, einzelne Risiken besser voneinander zu unterscheiden.

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III. Topik und Topologie "Ich bemerckte auch daß die Topica oder sammelplätze

der erklärungs- und beweißmittel nicht wenig dienen, uns

dasjenige so wir zwar im kopf aber nicht in gedanken

haben, zu gehöriger zeit zu erinnern, also nicht nur von

den sachen viel hehr zu schwäzen, sondern auch sie beßer

zu untersuchen."369

"One of the virtues of working with a formal paradigm is

that the existence of "empty cells" or other formal

components to which no special significance is attributed,

raises questions which keep nagging for answers."370

"Perhaps this type of analysis might be called ordinary language systems theory."371

"To constitute the social system thusly may well

accomplish the objective of establishing a charter for an

independent social science. But it may be a Phyrric

victory bought at the cost of a scientific ritualism, where

logical elegance is substituted for empirical potency"372

369 Leibniz, Gottfried Wilhelm, Brief an Gabriel Wagner, in: ders., Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaft, Darmstadt 1992, S. 4-21, S. 8f.

370 Parsons, Talcott, Equality and Inequality in Modern Society, or Social Stratification Revisited, in: ders., Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 321-380, S. 371.

371 Menzies, Ken, Talcott Parsons and the Social Image of Man, London 1976, S. 149.

372 Gouldner, Alvin W., Reciprocity and Autonomy in Functional Theory, in: N.J. Demerath III und Richard A. Peterson (Hrsg.), System, Change, and Conflict, New York 1967, S. 141-169, S. 147.

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1. Die Inventio Wir möchten in diesem Kapitel zwei unterschiedliche Theorietechniken oder Architekturen vorstellen und diskutieren, die sich durch ihre explizite räumliche Bezugnahme oder Einbettung von anderen Theoriebautechniken unterscheiden: die dem Arsenal der Rhetorik entnommene, seit gut zweitausend Jahren bewährte Technik der Inventio und das aus der Physik entlehnte, keine hundert Jahre genutzte Konzept des Phasenraums. Es geht in beiden Fällen um abstrakte Räume, die zwar die Möglichkeit lassen, auch geographisch-territoriale Bezüge zu integrieren, aber nicht primär mit dieser Intention konstruiert worden sind. Die Inventio kann als eine Liste oder Matrix der möglichen Ursachen und Gründe eines sozialen Ereignisses betrachtet werden. Sie liefert ein grobes Raster jener Umstände, Motive etc., die man heranziehen könnte, um ein beliebiges Ereignis zu erklären. Sie kann, wenn das Ereignis umstritten ist, sowohl der Anklage wie auch der Verteidigung dienen. Sie hilft bei der Zuschreibung von Verantwortung wie auch bei der Formulierung von Entschuldigungen. Das Bezugsproblem der Inventio ist mnemotechnischer Art. Sie erlaubt eine systematische Vergegenwärtigung möglicher Gründe eines Ereignisses zwecks retrospektiver Anklage oder Rechtfertigung. Die an das Phasenraummodell geknüpften Hoffnungen sind im Vergleich dazu weit ambitionierter und die damit verbundenen Probleme bis heute nicht befriedigend gelöst. Ziel einer solchen Modellbildung ist die Prognose eines zukünftigen Ereignisverlaufs. Ein Phasenraum ist ein Koordinatensystem, dessen Achsen die für relevant erachteten Dimensionen des Geschehens repräsentieren, so daß jedes aufgrund dieser Dimensionen spezifiziertes Ereignis in diesem Raum verbucht werden kann. Prognose wäre dann möglich, wenn sich zeigen ließe, daß bestimmte Ereignissequenzen einer typischen Trajektorie in diesem Raum folgen. In der Soziologie ist die Technik der Inventio fast überall, wenn auch zumeist als solche unreflektiert, präsent. Man könnte fast sagen, daß sie als Theoriebautechnik eine paradigmatische Funktion innehat. Sie bildet eines der Grundmuster, nach denen Typologien oder Klassifikationssysteme konstruiert werden. Hingegen hat der Versuch, die Gesellschaft in einem Phasenraum darzustellen bisher nur wenige Anhänger gefunden. Lediglich auf einige vorsichtige Versuche bei Talcott Parsons, Robert Bales und Pierre Bourdieu kann hier verwiesen werden, obwohl sich bei einer ganzen Reihe von Autoren metaphorische Anlehnungen an ein solches Konzept nachweisen lassen. Überall dort, wo von unterschiedlichen "Dimensionen" des sozialen Geschehens die Rede ist und "multidimensionale" Theorien gefordert werden, scheint das Konzept des Phasenraums mehr

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oder weniger stark, jedoch selten explizit das Denken zu orientieren. 373 Explizit topologische Überlegungen haben nach dem Scheitern oder Verblassen der sogenannten "feldtheoretischen" Konzeptualisierungsversuche, um die sich insbesondere Kurt Lewin und Jakob Moreno bemüht hatten, in der Soziologie nur noch wenig Resonanz gefunden. Dies lag vermutlich nicht zuletzt daran, daß diese Konzeptualisierungsversuche einerseits zu sehr räumlich-territorial ausgerichtet waren und sich andererseits auf die Analyse von Kleingruppen beschränkten. In gewisser Weise kann man insbesondere die Unternehmen von Bales und Parsons als zwei, nach diesem Scheitern noch einmal abstrakter ansetzende Entwürfe zu einer Sozialtopologie begreifen. Eine noch einmal ganz anders ausgerichtete Alternative zu den in diesem Kapitel diskutierten topologischen Forschungsprogrammen stellt die Netzwerkanalyse dar, auf die wir in Kapitel IV kurz eingehen werden. Wir möchten in diesem Kapitel zweierlei zeigen: erstens, daß die Wahl und Anordnung soziologischer Grundbegriffe, wie sich an einer ganzen Reihe von Texten zeigen läßt, der Figur der Inventio folgt und zweitens, daß sich das Phasenraummodell selbst aus der Rhetorik herleiten läßt und deshalb in gewisserweise als eine high-tec-Variante der Inventio gelten darf. Die Inventio entspricht dem, was C. Wright Mills "vocabularies of motives" genannt hat.374 Die Rhetorik offeriert unter dem Titel `Inventio' (griechisch: Heuresis, deutsch: Erfindung) ein Reservoir heuristischer Grundpositionen oder Gesichtspunkte, die berücksichtigt werden müssen, damit ein Redegegenstand glaubhaft erscheint.375 Diese Sammlung von Fragen oder Gesichtspunkten sei deshalb hervorgehoben, weil sie ein Raster

373 Wenigstens scheint es uns attraktiv, die Formel von der Multidimensionalität als in dieser Weise orientiert zu beobachten. Der vielleicht wichtigste Vertreter eines betont multidimensionalen Ansatzes ist heute vermutlich Jeffrey C. Alexander. Vgl. dazu insbesondere ders., Theoretical Logic in Sociology Vol. IV. The Modern Reconstruction of Classical Thought: Talcott Parsons, Berkeley 1983.

374 Mills, C. Wright, "Situated Actions and Vocabularies of Motive", American Sociological Review, V. Dezember (1940), S. 904-913. Vgl. auch Bloor, David, Wittgenstein. A Social Theory of Knowledge, London 1983, S. 72ff.

375 Die Inventio läßt sich in gewisserweise auch als ein Forschungsprogramm im Sinne Imre Lakatos interpretieren. "The programme consists of methodological rules: some tell us what paths of research to avoid (negative heuristic), and others what paths to pursue (positiv heuristic)." (Lakatos, Imre, The Methodology of scientific research programmes, Philosophical Papers Vol. 1., Cambridge 1978, S. 47.) Entscheidend für die Möglichkeit einer solchen Interpretation ist Lakatos' Unterscheidung von "conceptual frameworks" und Theorien, denn die Inventio selbst ist natürlich noch keine Theorie. "One may point out that the negative and positive heuristic gives a rough (implicit) definition of the `coceptual framework' (and consequently of the language). The recognition that the history of science is the history of research programms rather than of theories may therefore be seen as a partial vindication of the view that the history of science is the history of conceptual frameworks or scientific languages." (Ders., a.a.O., S. 47, Fußnote 1). Der Anhang zu diesem Kapitel dokumentiert, in welchem Maße selbst dem zeitgenössischen soziologischen Denken, trotz einer kaum mehr zu überblickenden Pluralität von im Einzelnen sehr unterschiedlichen Theorien, ein gemeinsamer - wenn auch hoch abstrakter - konzeptueller Bezugsrahmen zugrunde liegt.

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der Selbstbeobachtung sozialer Zusammenhänge bildet, eine Heuristik, die schon im Gegenstandsbereich der Soziologie selbst verwandt wird und der jede weitere, also auch jede soziologische Beobachtung, so gut es geht, gerecht werden muß, will sie dessen Dynamik angemessen erfassen. Anthony Giddens hat genau dies zu einer Regel der soziologischen Methode erhoben: "The sociological observer cannot make social life available as a `phenomenon' for observation independently of drawing upon his knowledge of it as a resource whereby he constitutes it as a `topic for investigation'."376 Die Inventio bildet vermutlich das am häufigsten implizit oder auch explizit benutzte Raster oder Schema, mit dessen Hilfe sich das soziale Geschehen selbst zu einem "topic for investigation" wird.377 Auch noch der "soziologische Blick" bedient sich dieses Rasters und die Ausrichtung der soziologischen Grundbegriffe folgt den in der Inventio festgeschriebenen Vorgaben (vgl. dazu auch den Anhang zu diesem Kapitel). Die durch die Inventio verorteten und seit mehr als zweitausend Jahren tradierten Gesichtspunkte lassen sich durch folgenden Fragekatalog bündeln: quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando; oder etwas kompakter durch Quintilian aufgelistet: personam, causam, locum, tempus, instrumentum, occasionem.378 Hiermit sind Suchformeln oder Leitunterscheidungen zusammengefaßt, die insbesondere bei der Abfassung von juristischen Plädoyers zum Finden eines passenden Gedankens führen sollen. 379 Es lassen sich verschiedene Varianten der Inventio, mit einer jeweils leicht variierenden Zahl von Topoi oder `Örtern', finden. Raimund Lullus hat beispielsweise eine aus fünf Drehscheiben konstruierte kombinatorische `Denkmaschine' entwickelt, die u. a. auf der Suchformel der Inventio beruht. Die entsprechende Scheibe, der Circulus Questionum, ist mit folgenden Fragen versehen: "An?, Quid?, Cur?, Ex quo?, Quantum?, Quale?, Quando?, Ubi?, Quocum?"380 Thomas Wilson verdanken wir eine

376 Giddens, Anthony, New Rules of Sociological Method, London 1976, Regel C1, S. 161.

377 Vielleicht sollte man diese These auf das Abendland und die von dort aus beeinflußten Kulturen beschränken. Sehr zwingend scheint uns diese Einschränkung jedoch nicht. Zu variieren scheint lediglich die jeweilige Gewichtung der einzelnen von der Inventio offerierten Topoi. Vgl. Geertz, Clifford, "From the Native's Point of View": On the Nature of Anthropological Understanding, in: ders., Local Knowledge, New York 1983, S. 55-70.

378 Lausberg, Heinrich, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, München 1960, S. 183, § 328.

379 Eine der heute bekanntesten ersten Auflistungen dieses anschließend zu festen Topoi ausgearbeiteten Fragekatalogs findet sich in Aristoteles' Ethik: "Es ist nun wohl nicht unpassend, anzugeben, welche und wie viele Einzelheiten überhaupt bei einer Handlung in Betracht kommen können. Es fragt sich da also, wer etwas tut, und was er tut und in bezug auf was oder an wem, oft auch, womit, ob z. B. mit einem Werkzeug, und weshalb, ob z. B. der Rettung halber, und wie, z. B. ob gelinde oder intensiv." Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1111 a, Hamburg 1983, S. 42.

380 Viehweg, Theodor, Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, München, 5. Aufl. 1974, S. 79.

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aufgrund von Reim und Rhythmus mnemotechnisch attraktive Form: "Who, what, and where, by what help, and by whose: why, how, and when, do many things disclose."381 Seit dem 19. Jahrhundert wird dieser Fragenkatalog nicht mehr als rhetorisches Wissen weitertradiert, sondern von einzelnen Autoren immer wieder neu erfunden. Ohne Schwierigkeiten wird man eine Variante der Inventio z. B. in Laswells Kommunikationsmodell wiedererkennen: "Who says What in Which Channel to Whom with What Effect?"382 In Kenneth Burkes "Grammar of Motives", dessen Lektüre u. a. Clifford Geertz, Erving Goffman und C. Wright Mills stark beeinflußt hat, begegnet uns die Inventio in einer dramaturgischen Fassung. Burke unterscheidet fünf Motive mit Hilfe darauf bezogener Fragen: Act: Was hat sich ereignet? Scene: Wo, in welchem Kontext und unter welchen Bedingungen und Umständen hat es sich ereignet? Agent: Wer hat die Handlung ausgeführt? Agency: Wie und womit wurde die Handlung ausgeführt? Purpose: Warum wurde die Handlung ausgeführt?383 Auch Parsons "action-frame of reference" folgt, wie Kenneth Burke gezeigt hat, diesem Muster.384 Was auf den ersten Blick an Parsons' Theoriekonstruktionen in Form von Begriffsschemata, Dichotomien und Kreuztabellen wie willkürliche Akrobatik wirkt, erweist sich auf den zweiten Blick durch die Schulrhetorik gedeckt. In "The Structure of Social Action" bestimmt Parsons die Einheit einer Handlung, indem er vier Komponenten unterscheidet: Conditions, Ends, Means, Norms.385 Seine lebenslange Theoriearbeit läßt sich als ein unentwegtes Experimentieren mit diesen und ähnlichen Bestimmungen lesen, 386 deren

381 Zitiert nach Plett, Heinrich F., Einführung in die rhetorische Textanalyse, 7. Aufl., Hamburg 1989, S. 12.

382 Zitiert nach Ueding, Gert und Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte - Technik - Methode, Stuttgart 1986, S. 164.

383 Burke, Kenneth, A Grammar of Motives, Berkeley/Los Angeles/London 1969 (Orig. 1945).

384 Burke, Kenneth, Dramatism, in: Encyclopedia of the Social Sciences, New York 1968, S. 445-452. Auch in einem von George A. Lundberg angestellten Theorievergleich wird, obwohl Lundberg dies selbst nicht zu bemerken scheint, die Nähe von Parsons Theoriedesign zur Figur der Inventio sofort deutlich. Er ordnet der dreiteiligen Unterscheidung von Akteur, Situation und Orientierung folgende Fragen zu: Who?, When? Where? How? und Doing what? Why?. Lundberg, George A., "Some convergences in Sociological Theory", American Journal of Sociology, Vol LXII, 1956/7 S. 21-27, S. 25.

385 Parsons, Talcott, The Structure of Social Action, 2 Bde., New York 1968 (Orig. 1937), insbesondere Bd. 1, S. 43ff, Bd. 2, S. 731ff.

386 Georges Devereux hat diese Arbeit deshalb mit dem Birnam Wood, dem sich bewegenden Wald im `Macbeth' verglichen (vgl. Jonas, Friedrich, Geschichte der Soziologie, Bd. 2, Opladen 1980, S. 309f.) Bezieht man dieses begriffliche Experimentieren aber auf die Inventio zurück, werden die Invarianten sofort erkennbar.

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letztes Resultat schließlich das "Vier-Funktionen-Paradigma", das AGIL-Schema ist. Die Inventio dient auch hier als Beobachtungstechnik. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob sich Parsons dieser Tradition bewußt war oder nicht; es spricht vielmehr umgekehrt für die Stärke dieser Tradition, wenn man - ohne es zu wissen - in ihren Vorgaben zu denken gezwungen ist. Parsons "action-frame of reference", bzw. das AGIL-Schema läßt sich als eine Fortführung und Systematisierung dieser Tradition betrachten. Die Affinität der Parsonschen Theorie zur Technik der Inventio ergibt sich aus einem reflektiert abstrakten, beiden gemeinsamen Problembezug. Es geht in beiden Fällen um die Entwicklung und Strukturierung eines nach Prämissen oder Gesichtspunkten suchenden Verfahrens, um eine ars inveniendi. 387 Das Hinterfragen von Prämissen kann, wenn es reflexiv wird, in gewisser Weise selbstzerstörerisch wirken, und es drängt sich deshalb die Frage auf, ob die Inventio der Reflexion standhält. So wie es aussieht, scheint dies durchaus der Fall zu sein. Aus einem reflexiv gewordenen Strukturfunktionalismus geht beispielsweise die Ethnomethodologie hervor. Aber auch hier erweist sich die Inventio als eine strukturelle Invariante.388 John Heritage beschreibt diese Form der Analyse zum Beispiel wie folgt: "This involves viewing an utterance against a background of who said it, where and when, what was being accomplished by saying it and in the light of what possible considerations and in virtue of what motives it was said. An utterance is thus the starting point for a complicated process of interpretative inferences rather than something which can be treated as self-subsistently intelligible."389 Zersetzend wirkt die von der Ethnomethodologie thematisierte und betriebene Selbstreflexion nicht auf die Technik der Inventio, sondern höchstens auf den Status soziologischer Theorie, als ein von den Ethnomethoden, zu denen ja die Inventio selbst gehört, deutlich abgrenzbares professionelles Sonderwissen. Im nächsten Abschnitt wollen wir der Frage nachgehen, inwiefern sich die durch die Inventio strukturierten Prämissen und Determinanten menschlichen Verhaltens noch abstrakter spezifizieren lassen.

387 Vgl. auch Hartmann, Heinz, Stand und Entwicklung der amerikanischen Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Moderne amerikanische Soziologie, Stuttgart 1973, S. 2-134, insbesondere S. 35-53.

388 Auch im Fall der Luhmannschen Systemtheorie - einer weiteren Variante eines reflexiv gewendeten Strukturfunktionalismus - ließe sich vermu tlich ähnliches zeigen.

389 Heritage, John, Garfinkel and Ethnomethodology, Oxford 1984, S. 139f.

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2. Sinndimensionen der Inventio Lassen sich die einzelnen Topoi, die Orte der Inventio, in einem gemeinsamen Raum unterbringen? Was für einen Raum beschreiben diese Orte? Läßt sich die `ars combinatoria' der Inventio `more geometrico' entfalten? 390 - das sind die Fragen, denen wir uns in diesem Abschnitt zuwenden wollen. Um einen möglichst ökonomischen Theorierahmen zu konstruieren, kommt es darauf an herauszubekommen, inwieweit die Antworten auf die einzelnen durch die Inventio nahegelegten Fragen unabhängig voneinander variieren. Dies ist auch Parsons erklärtes Ziel. "But how is this independent variation to be demonstrated?"391 Man könnte z. B. eine Cluster- oder Faktorenanalyse vornehmen, um die Topoi der Inventio miteinander zu vergleichen. Da es uns aber im folgenden um die Konstruktion eines Raumes geht, würde sich multidimensionale Skalierung als ein geeignetes Verfahren anbieten. Das Ziel dabei ist es, einen möglichst gering dimensionierten "sozialen Raum" zu konstruieren, dessen einzelne Achsen als die wesentlichen Dimensionen zur Verbuchung der einzelnen Topoi der Inventio interpretiert werden könnten. 392 Unter Benutzung eines bestimmten formalen Verfahrens der Datenanalyse ist dies jedoch, soweit uns bekannt, nie versucht worden. Gleichwohl finden sich in der soziologischen Literatur - und nicht nur dort - zahlreiche Versuche, einen solchen abstrakten Raum mit anderen Mitteln, sei es aus dem Stegreif oder aufgrund von langjähriger Lektüreerfahrung, zu konstruieren. Sie reichen von mehr oder weniger formalen Modellen über geometrische Konstrukte, die vorrangig als Anschauungshilfe dienen, bis hin zu eher metaphorisch gemeinten Raumkonstruktionen. Talcott Parsons arbeitet beispielsweise mit einem Modell, dessen drei Koordinaten eine Raumachse, eine Zeitachse und eine Kontrollbeziehung bilden. 393 Auf der Raumachse

390 Gute Argumente gegen eine Mathematisierung der ars inveniendi finden sich bei Viehweg, Theodor, Topik und Jurisprudenz, a.a.O., S. 77f.

391 Parsons, Talcott, The Structure of Social Action, a.a.O., S. 742.

392 Man könnte einen solchen Raum z. B. aufgrund der jeweiligen Unähnlichkeiten zwischen den acht Fragen, die Thomas Wilson in seiner Version der Inventio anführt, zu konstruieren versuchen. Die Unähnlichkeiten könnte man empirisch, z. B. mit Hilfe eines Fragebogens ermitteln. Die über diese Unähnlichkeiten definierten Distanzen müssen dann so in einen Raum eingebettet werden, daß sich einerseits die Dimensionen dieses Raumes sinnvoll interpretieren lassen und andererseits den Daten nicht zuviel Gewalt angetan wird. Vgl. Borg, Ingwer, Anwendungsorientierte Multidimensionale Skalierung, Berlin 1981.

393 Normalerweise wird die Parsonssche Theorie bekanntlich mittels einer anderen Darstellung vorgestellt. Die Raum- und die Zeitachse spannen ein zweidimensionales Koordinatensystem auf, in das die vier funktionsspezifischen Subsysteme des allgemeinen Handlungssystems eingetragen werden können. Die Kontrollhierarchie wird dann durch ein eigenes, separates Schaubild dargestellt, um die Beziehungen zwischen diesen vier Subsystemen zu spezifizieren. Wählt man aber für die Kontrollhierarchie eine weitere Koordinatenachse senkrecht zu der von Raum und Zeit, dann lassen sich alle drei Dimensionen integrieren und

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unterscheidet er System und Umwelt, die Zeitachse ist durch die Unterscheidung von Mitteln und Zwecken bestimmt und durch die Kontrollachse bringt er die vier über die Raum- und Zeitachse unterschiedenen Komponenten in eine transitive Ordnung. Parsons konstruiert einen dreidimensionalen Raum, dessen einzelne Volumenelemente durch seine vier, den Vorgaben der Inventio folgenden Grundbegriffe voneinander geschieden sind. Will man dieses Modell als ein Phasenraummodell nutzen, darf nicht vergessen werden, daß die Zeitachse hier nicht den Ablauf von Zeit repräsentiert, wie er durch Uhren gemessen werden kann, sondern unterschiedliche Funktionsbezüge oder Handlungsorientierungen verbuchen helfen soll. Alle drei Achsen des Koordinatensystems stehen für einen endlichen, in beide Richtungen Eintragungen ermöglichenden Spielraum der jeweiligen Variablen. Parsons begründet die Wahl der Dimensionen dieses Raumes mit wiederholten Verweisen auf Newton und Anleihen aus der Kybernetik. Parsons Konstruktion ist sicherlich die heute prominenteste, sie irritiert vermutlich in der Hauptsache deshalb, weil sie zu präzisieren versucht, was nur wirklich überzeugt, wenn man es im Vagen läßt. Aber ähnlich ausgerichtete Raumkonzeptionen finden sich bei einer ganzen Reihe von Autoren. Fünf fast identische und eine deutlich andere seien hier in aller Kürze vorgestellt. (vgl. auch den Anhang zu diesem Kapitel). Peter Berger und Thomas Luckmann unterscheiden eine räumliche, eine zeitliche und eine soziale Dimension. Sie führen diese Dimensionen mit Hilfe sprachtheoretischer und phänomenologischer Theorieanleihen ein.394 Niklas Luhmann spricht von drei Sinndimensionen, einer sachlichen, einer zeitlichen und einer sozialen. Die Sachdimension verdankt sich der Unterscheidung von diesem und jenem, die Zeitdimension der Unterscheidung von früher und später und die Sozialdimension der Unterscheidung von ego und alter. Luhmann begründet die Wahl dieser Dimensionen primär phänomenologisch. 395 Bernhard Giesen spricht nicht explizit von Dimensionen, sondern unterscheidet drei problemspezifische Formen der Codierung. Er differenziert zwischen topologischen, temporalen und reflexiven Codes und begründet diese Trias vor allem erkenntnistheoretisch, in der Tradition Kants.396 Auch bei Reinhart Koselleck oder Harald Weinrich erscheinen die drei Dimensionen oder Problemfelder in spezifischen Varianten. Der Historiker nennt drei

man erhält, wie oben vorgeschlagen, einen dreidimensionalen Raum, in dem die vier Subsysteme nach hinten um jeweils eine Position versetzt plaziert werden müssen. Ihre Anordnung folgt einer Spiraldrehung.

394 Berger, Peter und Thomas Luckmann, The Social Construction of Reality. A Treaties in the Sociology of Knowledge, Harmondsworth 1984, S. 54.

395 Luhmann, Niklas, Soziale Systeme, Frankfurt/M. 1984, S. 112ff.

396 Giesen, Bernhard, Die Entdinglichung des Sozialen. Eine evolutionstheoretische Perspektive auf die Postmoderne, Frankfurt/M. 1991, S. 21ff. (Teil I) und S. 156ff.

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grundlegende, alles menschliche Zusammenleben charakterisierende, immer präsente Unterscheidungen: innen und außen, oben und unten und vorher und nachher.397 Er begründet seine Wahl anthropologisch. Der Linguist und Literaturwissenschaftler hingegen begründet seine Trias natürlich grammatisch. Er unterscheidet drei Morpheme, die die Bedeutung eines Verbs in bezug auf die Sprechsituation determinieren. Person, Tempus und Assertion sind die drei grundlegenden Determinanten der situativ gebundenen Bedeutung eines Satzes.398 Trotz leichter, aber unter Umständen folgenreicher Variationen bei der Akzentsetzung und zum Teil anscheinend völlig heterogenen Theorieressourcen sind die Gemeinsamkeiten dieser Dimensionsanalysen schwerlich zu übersehen. 399 Für die Zeitdimension ist das offensichtlich, aber auch für die andern beiden Dimensionen läßt sich dies zeigen. Wo Luhmann von einer Sachdimension spricht, bevorzugen Parsons, Giesen, Koselleck und Berger/Luckmann eine deutlicher räumlich akzentuierte Definition. Die Differenzen scheinen sich vor allem unterschiedlichen Problembezügen und Abstraktionslagen zu verdanken. Die Sachdimension impliziert natürlich räumliche Bezüge, denn anders als im Raum lassen sich Sachen schließlich nicht unterscheiden. Auch im Hinblick auf das, was Luhmann die Sozialdimension nennt, lassen sich die unterschiedlichen Bestimmungsversuche durchaus, wenn auch mit Abstrichen, ineinander übersetzen. Die von Koselleck gewählte Unterscheidung von oben und unten entspricht dem Parsonsschen Kontrollmodell und wenn man oben und unten mit der klassischen Figur von Herr und Knecht übersetzt, läßt sich hier leicht ein Sonderfall von Luhmanns Unterscheidung von ego und alter oder von Weinrichs Unterscheidung von Ich und Du erkennen. Wenn man schließlich noch bedenkt, daß es seit dem 18. Jahrhundert mehr und mehr zur Funktion des Knechts wird, die Sozialdimension zu reflektieren, läßt sich auch die von Giesen als reflexiv charakterisierte Form der Codierung hier wiederentdecken. Die drei von den genannten Theoretikern mehr oder weniger gemeinsam favorisierten

397 Koselleck, Reinhart, "Sprachwandel und Ereignisgeschichte", in Merkur, August 1989, S. 657-673.

398 Weinrich, Harald, Linguistik der Lüge, Heidelberg 1974, S. 49f. Das Personenmorphem bezeichnet den Ort oder die Quelle der vom Verb angezeigten Information. Es bezieht sich auf die Grundsituation allen Sprechens, auf das Kommunikationsdreieck von Ich, Du und Er. Das Tempusmorphem gibt an, ob die Rede unmittelbar oder mittelbar auf die aktuelle Sprechsituation bezogen ist. Das Assertionsmorphem schließlich erlaubt es, jeden Satz auf ein Ja oder Nein hin zu befragen.

399 Vielleicht sind sie Resultat eines viel allgemeineren Mechanismus, vielleicht folgen sie aus der Logik des Unterscheidens selbst. Jede Unterscheidung trennt; sie scheidet ein Innen von einem Außen. Jede Unterscheidung braucht Zeit (Vergangenheit/Zukunft) und jede Unterscheidung zieht, wenn sie Sinn macht, andere nach sich, so daß auf der Innenseite Struktur entsteht (Oben/Unten). Vielleicht folgen sie aus der Art und Weise, in der wir eine black-box identifizieren. Wir unterscheiden Input und Output mit Hilfe der Unterscheidung von Vorher und Nachher und zwar mit dem Ziel, ihr Innenleben, ihr inneres Oben und Unten zu erhellen. Diese Überlegungen sind noch fast substanzialistisch formuliert, vgl. deshalb: Glanville, Ranulph, Objekte, Berlin 1988.

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Dimensionen dürfen sicherlich nur in einem metaphorischen Sinne als Koordinatenachsen verstanden werden. Wenigstens spannen sie kein Koordinatensystem für kontinuierliche metrische Variablen auf. Ein solches Koordinatensystem schien zwar Parsons zeitweilig sehr attraktiv, meßtechnisch praktikabel dürfte eine solche Konzeption jedoch nicht sein. Statt mit großem Aufwand metrische Daten zu erheben, scheint es ratsamer, mit diskreten Variablen zu arbeiten. 400 Statt eines Phasenraums erhält man dann einen Zustandsraum mit einer endlichen Zahl verschiedener Zustände.401 Robert Bales' SYMLOG darf sicherlich als das elaborierteste Theorieunternehmen in dieser Richtung betrachtet werden. 402 SYMLOG steht für "System for the Multiple Level Observation of Groups". Angeregt durch einen Vorläufer dieses in der Kleingruppenforschung erprobten Beobachtungsrasters hat Parsons bekanntlich seine "pattern variables" entwickelt,403 aber im SYMLOG lassen sich die von Parsons spezifizierten fünf, bzw. später vier Dichotomien nur noch mit viel Phantasie in geschrumpfter Form wiedererkennen. Viele Facetten scheinen verlorengegangen, aber dafür ist Bales' Modell forschungspraktisch einsetzbar. Es hat die Form eines Würfels. Die drei Achsen dieses Würfels verdanken sich drei Fragen: War das beobachtete Verhalten freundlich oder unfreundlich oder keines von beiden? War es dominant oder submissiv oder keines von beiden? War es zweckrational oder emotional oder keines von beiden? Auf jede der drei Fragen sind drei verschiedene Antworten möglich und deshalb lassen sich mit dem SYMLOG-Würfel 27 verschiedene Zustände verbuchen. Aber Bales' Modell ermöglicht bereits mehr als ein bloßes Verbuchen von Ereignissen mit einer vergleichsweise hohen Validität und Reliabilität.404 Es ermöglicht auch - wenigstens ansatzweise - Prognosen. Damit stellt sich die Frage nach möglichen Kovariationen zwischen den einzelnen Dimensionen und nach den Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen den einzelnen, räumlich spezifizierten Systemzuständen.

400 Parsons' Konzeption des allgemeinen Handlungssystems erlaubt kurioserweise sowohl eine diskrete als auch eine kontinuierliche Verbuchung von Ereignissen. Parsons beginnt mit Dichotomien, aber diese Dichotomien lassen sich wiederholt auf den durch sie bestimmten und dichotomisierten Koordinaten einsetzen. Der erste Einsatz teilt sie in zwei Hälften, der zweite eine Hälfte in Viertel, der dritte ein Viertel in Achtel usw. Die Dichotomien lassen sich rekursiv verwenden und können deshalb die Position eines Punktes in diesem Koordinatenraum beliebig genau spezifizieren.

401 Dies entspricht im übrigen auch Leibniz' Versuchen, die ars inveniendi als ars combinatoria zu modellieren. Vgl. dazu Vieweg, Theodor, a.a.O., S. 78.

402 Bales, Robert F. / Stephen P. Cohen, SYMLOG, New York 1979.

403 Dubin, Robert, Parsons' Actor: Continuities in Social Theory, in: Parsons, Talcott, Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, S. 521-536; Parsons, Talcott, Pattern Variables Revisited: A Response to Robert Dubin, in: ders., Sociological Theory and Modern Society, a.a.O., S. 192-219.

404 Vgl. Bales, Robert F., a.a.O., S. 296ff.

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3. Kovariation der Sinndimensionen Die Inventio und die im letzten Abschnitt genannten Raumkonzeptionen dienen vorrangig der Beschreibung von Verhalten. Sie erleichtern eine systematische Beobachtung und erlauben eine einheitliche Integration der Daten. Soll aus dieser Beobachtungstechnik eine prognosefähige Theorie werden, dann muß ein Weg gefunden werden, der es erlaubt, die jeweils schon im Koordinatenraum verbuchten Ereignissequenzen in die Zukunft zu verlängern. Wir wollen hier alle technischen Probleme ausblenden, an denen diese Versuche mit der Ausnahme von SYMLOG bisher gescheitert sind und uns auf einige theoretische Annahmen konzentrieren, die diese Art und Weise der Konzeptualisierung von Handlungssequenzen nahezulegen scheint. Wenn das Raummodell auch der Prognose dienen soll, dann dürfen die Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen den einzelnen Raumelementen nicht gleich verteilt sein. Prognose ist nur dann möglich, wenn sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sagen läßt, wo im Phasenraum das nächste Ereignis stattfinden wird. Die Trajektorie der einzelnen, aufeinander folgenden Handlungen muß deshalb mehr oder weniger kontinuierlich sein, größere Sprünge von einem Raumpunkt zu einem weit entfernten müssen ausgeschlossen werden können. Das einfachste Modell wäre ein Markovketten- oder random-walk-Modell. Jedes Ereignis bildet den Mittelpunkt eines bestimmten Volumenelements des Koordinatenraums und innerhalb des so spezifizierten Volumens kann das nächste Ereignis zufällig plaziert werden. Auf diese Weise lassen sich die maximalen Distanzen zwischen einzelnen Ereignissen begrenzen. Die Herrschaft des Zufalls wird auf ein durch das jeweils vorhergehende Ereignis bestimmtes Volumenelement beschränkt. Um längere Distanzen zu überwinden, sind eine größere Zahl von Schritten, also eine größere Zahl von Ereignissen nötig. Größere Veränderungen brauchen mehr Zeit. Man kann deshalb prognostizieren, daß kurzfristig alles mehr oder weniger beim alten bleiben wird. Die Treffsicherheit der Prognose sinkt, desto weiter sie in die Zukunft zu schauen sucht. Ferne Folgeereignisse können schließlich an beliebigen Orten stattfinden. Ein spezifischeres Modell erhalten wir, wenn wir die Übergangswahrscheinlichkeiten von einem Volumenelement zu dessen Nachbarn in Abhängigkeit von der jeweiligen Dimension und Richtung spezifizieren. Weitere Variationen ließen sich leicht erdenken, man könnte z. B. nicht nur das jeweils letzte Ereignis für Zwecke der Prognose heranziehen, sondern eine längere Ereigniskette; man könnte Wiederholungen ausschließen oder über

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größere Volumenelemente und Zeitabschnitte definierte Mittel- oder Extremwerte mit berücksichtigen; man könnte mehrere Ereignissequenzen gleichzeitig simulieren und sich bestimmte Mechanismen für ein Zusammenspiel dieser Sequenzen ausdenken und dgl. mehr. Durch die zuletzt genannte Option entsteht überhaupt erst ein soziologisch interessantes Problem. Der Soziologe, so scheint es zunächst, muß die Inventio immer zweimal gleichzeitig verwenden. "The structure of social systems cannot be derived directly from the actor-situation frame of reference. It requires functional analysis of the complications introduced by the interaction of a plurality of actors."405 Parsons charakterisiert diese "Komplikationen" später mit dem Begriff der "doppelten Kontingenz". 406 Eine doppelt kontingent strukturierte Situation macht in den ersten Momenten für Zufälle sensibel, man greift sie auf, um einen ersten Orientierungspunkt zu haben. Sobald aber einmal einzelne Erwartungen in der Kommunikation spezifiziert sind, empfiehlt es sich, für die involvierten Individuen an ihnen festzuhalten, denn sie geben einen ersten und zunächst alternativenlosen Anhaltspunkt der Orientierung. Durch diese Ausrichtung der Orientierung und dadurch geleitetes Verhalten entsteht quasi im Selbstlauf ein Komplexitätsgefälle zwischen der Systemgeschichte und den Möglichkeiten, die im Verlauf dieser Geschichte mit jedem neuen Ereignis ausgeschlossen werden. Solange diese Möglichkeiten von beiden Teilnehmern als unberechenbar qualifiziert werden, zwingt dies beide zu Konformität gegenüber der durch sie selbst tradierten Ordnung: Das Problem der doppelten Kontingenz provoziert Strukturen, die es schließlich zum Verschwinden bringen. 407 Ob dies jedoch dazu berechtigt, es theoretisch von Anfang an zu ignorieren, möchten wir bezweifeln.408 Wir können den Spekulationen zu

405 Parsons, Talcott, Essays in Sociological Theory, New York 1954, S. 229.

406 Er zielt damit auf ein Strukturmerkmal, das seiner Ansicht nach allen sozialen Beziehungen zugrunde liegt, nämlich, daß jeder Teilnehmer sowohl als Handelnder wie auch als Gegenstand der Orientierung von Bedeutung ist und zwar sowohl für sich selber als auch für sein Gegenüber und zweitens, daß jeder Betroffene eben dies auch dem jeweils anderen gegenüber in Rechnung stellt. Ders., Social Interaction. in: ders., Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York / London 1977, S. 154-176, S. 167f; ders. et al., The General Theory of Action. In Parsons, T. / Shils A. (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, New York 1951, S. 3-29, S. 15f. Obwohl die von Parsons hier zugrundegelegte Struktur sozialer Beziehungen reflexiv komplizierter angelgt ist als ein einfaches Gefangenendilemma, lassen sich Anregungen aus der Spieltheorie kaum verkennen. Vgl. zur neueren Diskussion statt anderer: Poundstone, William, Prisoners Dilemma, New York 1992.

407 Gelingt dies nicht, und können sich die Betroffenen auch nicht einfach aus dem Weg gehen, dann entstehen mehr oder weniger schizophrene Situationen. Vgl. Laing, Ronald D. /Phillipson, H. / Lee, A. R., Interpersonelle Wahrnehmung, Frankfurt 1971; sowie insbesondere Laing, Ronald D., Knots, Harmondsworth 1972.

408 Dies legt z. B. James Coleman nahe. Ders., Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass. 1990, S.29ff. Die komplexeste Form der Handlungsverknüpfung, die Coleman im Anschluß an J. W. Friedman und M. Smith für relevant hält, ist die "evolutionary interdependence" oder die evolutionär stabile Strategie.

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einer modelltheoretischen Implementierung dieser Überlegungen hier nicht weiter nachgehen. Das Problem der doppelten Kontingenz wird sich, aufgrund der dieser Struktur inhärenten, reflexiv produzierten Komplexität409, vermutlich nicht in die hier diskutierten Raumkonzeptionen übersetzen lassen. Es wäre aber sicherlich denkbar, zur Modellierung relativ einfacher, reflexiv wenigstens in dieser Weise nicht gebrochener Ereignisverläufe z. B. einen sogenannten zellularen Automaten zu konstruieren. 410 Modellbildung und Prognose wären natürlich vergleichsweise einfach, wenn sich die jeweiligen Ausgangsbedingungen sozialen Verhaltens tatsächlich mit den wenigen Variablen des Modells deckten und die Verhaltenssequenzen bei gleichen Ausgangsbedingungen immer wieder, wenigstens in etwa, der gleichen Trajektorie folgten. So wie der Physiker die Bewegung eines Pendels oder die Bahn eines Planeten in seinen Koordinatenräumen verbucht und in Formeln faßt, könnte dann auch der Soziologe den Verlauf von Kindergeburtstagen oder Revolutionen in die seinen einzeichnen. 411 Aufgrund der Reflexivität allen sozialen Verhaltens werden solche Prognosen, falls sie denn überhaupt möglich sein sollten, jedoch spätestens dann in die Irre gehen, wenn sie in ihrem Gegenstandsbereich wieder auftauchen und praktisch werden. Aber mit einer so ansetzenden Kritik rennt man heute fast überall offene Türen ein.412 "However, a sort of yearning for the

409 Alfred Kuhn hat dazu ein kleines Beispiel durchgerechnet, das gleichzeitig deutlich macht, daß dieses Problem auch im normalen Alltag gar nicht behandelt werden kann: Gegeben seien zwei Personen, die jeweils auf drei verschiedene Weisen zueinander in Kontakt treten können: Jede Person kann sich entweder eigensüchtig, großzügig oder feindselig verhalten. Das gibt fürs erste 9 mögliche Arrangements. Welche dieser Möglichkeiten der Wirklichkeit entspricht, muß den beiden Personen nicht unbedingt bekannt sein; jeder der beiden macht sich ein bestimmtes Bild von sich selbst und von seinem Gegenüber. Dabei kann sich jeder der Betroffenen sowohl über sich selbst täuschen als auch über sein Gegenüber, damit erhalten wir 9 mal 9 mal 9 , d. h. 729 Möglichkeiten, nämlich die wirklichen Möglichkeiten multipliziert mit den jeweils möglichen Einschätzungen der Situation durch die beiden Personen. Für jede dieser 729 Möglichkeiten gibt es nun für die beiden involvierten Personen jeweils wieder neun Möglichkeiten bezüglich dessen, wie ihrer Vorstellung nach die Situation sein sollte, d. h. wir erhalten nun 729 mal 9 mal 9, also 59049 Möglichkeiten. Da es sich nun um eine doppelt kontingent strukturierte Situation handelt, müßten die beiden Betroffenen - taking the role of the other - auch noch wechselseitig all die bisher aufgelisteten Möglichkeiten aus der Perspektive des jeweils anderen in Rechnung stellen, d. h. das letzte Ergebnis wäre noch zweimal mit 9 zu multiplizieren, so daß wir schließlich annähernd 4,8 Millionen Kombinationsmöglichkeiten erhalten. Vgl. Kuhn, Alfred, The Logic of Social Systems - A Unified, Deductive, Systembased Approach to Social Science, San Francisco 1974, S. 272ff.

410 Vgl. Toffoli, Tommaso / Norman Margolus, Cellular Automata Machines. A New Environment for Modelling, Cambridge, Mass., 1987.

411 Vielleicht könnte er, sobald er über die richtigen Formeln verfügt, sich sogar als Sozialingenieur versuchen. So wie der Ingenieur das Verhalten einer Maschine ändert, indem er andere Parameter vorgibt, könnte auch der Sozialingenieur sein Objekt manipulieren, indem er eine der drei hier genannten Systemvariablen fixiert und dadurch die Trajektorie des Systems umlenkt.

412 Einige rational-choice Theoretiker bilden hier vielleicht die Ausnahme. Aber von den in diesem Kapitel genannten Autoren wird das Problem der Reflexivität mehr oder weniger durchgängig mit in Rechnung gestellt. Das SYMLOG-Modell beispielsweise empfiehlt sich sogar vorrangig als eine Technik der Selbstbeobachtung von Gruppen und versteht sich in diesem Sinne durchaus als emanzipativ.

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arrival of a social-scientific Newton remains common enough", meint Anthony Giddens, um mit einem großen "Aber" fortzufahren: "But those who still wait for a Newton are not only waiting for a train that won't arrive, they're waiting in the wrong station altogether."413 Giddens zielt hier natürlich zuallererst auf Talcott Parsons. Wir halten diese Polemik für überzogen und möchten uns deshalb einer bestimmten, insbesondere von Parsons benutzten Theoriefigur zuwenden, die vermutlich zwingend erforderlich wird, wenn man die Dynamik des sozialen Geschehens in einem Raummodell unterzubringen versucht. Es handelt sich um das "principle of inertia", um eine soziales Trägheitsprinzip.414 Das Postulat eines solchen Prinzips muß natürlich zwangsläufig einen Mechanizismusvorwurf provozieren, andererseits scheint ohne ein solches Postulat aber auch eine Prognosen ermöglichende Theoriebildung nicht denkbar. Warum macht das Raummodell ein Trägheitsprinzip erforderlich? Eine Antwort haben wir oben implizit schon gegeben. Die Trajektorie sozialer Ereignisse ist nur dann prognostizierbar, wenn die Ereignissequenz einigermaßen kontinuierlich ist und keine willkürlichen Sprünge aufweist. Die Trajektorie der Ereignisse folgt einer mehr oder weniger kontinuierlichen Bahn, weil sie einem Trägheitsmoment gehorcht. Da wir uns auch im Alltag mit mehr oder weniger Erfolg vorrausschauend verhalten und das soziale Leben - aller Reflexion zum Trotz - bestimmten Regelmäßigkeiten folgt, scheint es nicht abwegig, ein gewisses Trägheitsmoment zu postulieren, das die Möglichkeiten von Veränderungen limitiert. Das soziale Leben, so scheint es, läßt sich nicht ohne weiteres aus der Bahn bringen, und nur weil dies so ist, hat es Bestand und Dauer und die Soziologie einen raum-zeitlich fixierbaren Gegenstand. Drei Varianten eines solchen Trägheitsmoments wollen wir uns kurz anschauen: Talcott Parsons' "principle of inertia", Pierre Bourdieus "lex insista" und Niklas Luhmanns "Konservativismus aus Komplexität". Talcott Parsons geht davon aus, daß jede Handlung nur aufgrund einer individuellen Anstrengung (effort) möglich ist. Diese Anstrengung determiniert die Handlung jedoch nicht. Sie stellt lediglich die Energieversorgung des Handlungssystems sicher, über dessen Koordinaten eine Handlung erst ihre spezifische Ausrichtung erhält. Jede Anstrengung verbraucht motivationale Energie, die als eine knappe Ressource begriffen wird. Das Trägheitsprinzip besagt nun, daß eine sparsame oder effiziente Energieverausgabung immer nur einer einzelnen Dimension des Handlungssystems folgt. "Action by any actor cannot, on this principle, be maximized along all coordinates, nor along any two coordinates, at the same

413 Ders., New Rules of Sociological Method, London 1976, S. 13.

414 Vgl. dazu insbesondere Bershady, Harold J., Ideology and Social Knowledge, Oxford 1973, S. 119ff.

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time."415 Die Konsequenzen dieser Annahme sind extrem weitreichend. Parsons leitet aus ihr seine Theorie funktionaler Differenzierung ab. "Since a steady state of the system requires that the exigencies of action be met along all four coordinates, prolonged action along any one coordinate places a strain on the system. Therefore, differentiation of action into phases may be derived, given the preceding assumptions, as a necessary condition of the `existence' of the system. ... If the direction of structural differentiation is not along all four coordinates, the system will dissolve. ... Structural and temporal differentiation are `derived' as necessary conditions of system stability given the `principle of inertia' and the four `system problems'."416 Der jeweilige Grad sozialer Differenzierung läßt sich über die Kovariation aller gesellschaftlichen Handlungen entlang der vier Koordinatenachsen bestimmen. 417 Jede einzelne Abweichung von dieser Verteilung kann nur durch größere Anstrengung (effort) erreicht werden, durch eine höhere Verausgabung von motivationaler Energie und Parsons kann deshalb davon ausgehen, daß dies im Normalfall nicht geschehen wird.418 Die Kovariation der Handlungen im Phasenraum begreift Parsons deshalb als "pattern maintenance". "Pattern-maintenance in this sense plays a part in the theory of social systems of action ... comparable to that of the concept of inertia in mechanics. It serves as the most fundamental reference point to which the analysis of other, more variable factors can be related."419 Der nach den Vorgaben der Inventio dimensionierte - hier zweidimensionale - Phasenraum zusammen mit der Annahme eines Trägheitsprinzips bilden den Kern der Parsonsschen Theorie. In einer der Parsonsschen Theorie nicht unähnlichen Weise versucht auch Pierre Bourdieu "das Feld des Sozialen" als einen "mehrdimensionalen Raum" zu konzipieren. Er begreift sein Unternehmen sogar ausdrücklich als "eine Art Sozialtopologie."420 Die gesamte

415 Bershady, Harold, a.a.O., 1973, S. 119. Bershady spricht hier von vier Koordinaten. Diese Redeweise muß ein wenig verdutzen - gemeint sind die vier Arme eines zweidimensionalen Koordinatenkreuzes. Wir beschränken uns auf Bershadys Analysen, da Parsons eigene Formulierungen zum Trägheitsprinzip über ein Vielzahl von Texten verstreut sind, ohne irgendwo pointiert zusammengefaßt zu werden.

416 Bershady, Harold, a.a.O., S. 119ff.

417 Wir übernehmen hier Bershadys irreführende Redeweise von den "vier Koordinaten". (vgl. Fußnote 45)

418 Parsons geht sogar noch einen Schritt weiter und postuliert, daß diese Verteilung von den Persönlichkeitssystemen nicht nur als externe Einschränkung empfunden wird, sondern auch internalisiert wird.

419 Parsons, Talcott, An Outline of the Social System, in: ders. et al., Theories of Society, New York 1965, S. 30-79, S. 39. Im Anschluß an Formulierungen wie diese ist das "Gesetz der Trägheit" bei einigen Theoretikern des Neofunktionalismus heute zu einem, im Vergleich zu Parsons relativ unkompliziert eingesetzten, Gemeinplatz geworden. Vgl. z. B. Münch, Richard, Kulturen, Strukturen und Lebensstile: Eine theoretische und vergleichende Analyse, in: Hans-Rolf Vetter (Hrsg.), Muster moderner Lebensführung - Ansätze und Perspektiven, München 1991, S. 153-190, S. 157.

420 Bourdieu, Pierre, Sozialer Raum und `Klassen' / Lecon sur la Lecon, Frankfurt/M. 1991, S. 9.

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Theorieanlage ist jedoch weniger raffiniert angelegt als diejenige Parsons'. Bourdieu geht es primär darum, einen Mechanismus der sozialen Reproduktion zu identifizieren. Eine zentrale Rolle spielt dabei sein Konzept des Habitus. Bourdieu entwickelt sein Konzept des Habitus in Opposition zur rationalistischen Vorstellung von "trägheitslosen" Subjekten. Der Habitus eines Menschen verdankt sich dem "lex insista". Das "lex insista" bildet in diesem Zusammenhang ein deutliches Pendant zu Parsons Trägheitsprinzip. Im Habitus ist aufgrund dieses Gesetztes die gesamte Vergangenheit, die ihn erzeugt hat, präsent.421 "Der Habitus ist nichts anderes als jenes immanente Gesetz, jenes den Leibern durch identische Geschichte(n) aufgeprägte lex insista".422 Das den Leibern aufgeprägte lex insista begreift Bourdieu als eine nicht mehr revidierbare "Erstkonditionierung". Ihr verdanken die sozialen Gruppen "die Neigung zum Verharren in ihrem Sosein"423 bzw. die Individuen ihren jeweiligen Habitus. In der Konstitutionslogik des Habitus ist ein "Hysteresiseffekt" angelegt, der die "Gegenwart der Vergangenheit" garantiert.424 Das lex insista bzw. die Hysteresis bilden den von Bourdieu identifizierten Mechanismus, um soziale Reproduktion zu erklären. 425 Versucht man

421 Ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M. 1987, S. 105.

422 Ders., a.a.O, 1987, S. 111.

423 Ders., a.a.O. 1987, S. 117.

424 Ders., a.a.O., 1987, S. 116; ders., Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/M. 1976, S. 168

425 Im Unterschied zu Parsons verweist Bourdieu nicht auf Newton, sondern zitiert wiederholt eine Analogie von Leibniz. (Bourdieu, Pierre, Sozialer Sinn, a.a.O., S. 109f; ders., Entwurf einer Theorie der Praxis, a.a.O., S. 177f.). Die Zitate sollen plausibel machen, daß die Homogenität der Habitusformen der Individuen einer bestimmten sozialen Klasse "ohne jede direkte Interaktion und damit erst recht ohne ausdrückliche Abstimmung einander angepaßt werden können" (Ders., Sozialer Sinn, S. 109). In dem Text, dem Bourdieu sein Zitat entnimmt, versucht Leibniz sein Konzept der "prästabilierten Harmonie" durch eine Analogie zu plausibilisieren. (Ders., Leibniz, Gottfried Wilhelm, Kleine Schriften zur Metaphysik, Darmstadt 1985, S. 237ff.) Er fragt sich, wie es sein kann, daß zwei an einer Wand befestigte Uhren "vollkommen miteinander übereinstimmen". Das Beispiel ist nicht ausgedacht. Die erwähnten Uhren sind von Huygens beobachtet worden und liefen tatsächlich in anscheinend vollkommenem Gleichtakt, und das muß in der Tat zunächst als höchst unwahrscheinlich gelten. Wenn sich der Sekundentakt der Uhren auch nur um beispielsweise ein Zehntausendstel unterscheiden würde, tickten sie schon nach knapp zwei Stunden um etwa eine halbe Sekunde versetzt. Die von Leibniz beobachteten Uhren ticken aber vollkommen synchron. Da niemand den Gang der Uhren korrigiert und Leibniz auch die Erklärungen der "Vulgärphilosophie" für unsinnig erklärt, bleibt seiner Ansicht nach nur noch ein Verweis auf die außergewöhnliche Qualität der Uhren und damit ein Verweis auf den Uhrmacher als Erklärung übrig. Der perfekte Gleichgang der beiden Uhren verdankt sich ihrer perfekten Konstruktion durch einen perfekten Uhrmacher. Die Uhren laufen synchron, obwohl sie nicht miteinander interagieren, so nehmen Leibniz und ihm folgend Bourdieu an. So wie die Synchronie der Uhren dem Uhrmacher zu verdanken sei, so verdankt sich - so folgert Bourdieu - die Homogenität der Habitusformen der Individuen einer bestimmten sozialen Klasse einer einheitlichen "Erstkonditionierung". Bourdieus Argumentation ist nicht von seinen Anleihen bei Leibniz abhängig. Leibniz' Argumentation aber ist falsch: Die Uhren ticken nur synchron, wenn sie an derselben Wand hängen - das hatte Huygens, wie Leibniz wußte, bereits festgestellt. Aber dieses Wenn verdankt sich einem Weil: Die Uhren ticken synchron, weil sie an derselben Wand hängen. Es handelt sich um zwei gekoppelte Oszillatoren. Die Phasen dieser Oszillatoren synchronisieren sich interaktiv. Vgl. Abraham, Ralph H. / Christopher D. Shaw, Dynamics. The Geometry of Behavior, Redwood City, CA. 1992, S. 167ff. Die Synchronisation der Oszillatoren verdankt sich ihrer Kopplung, also

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Bourdieus Habitus-Konzeption in Parsons' allgemeine Theorie des Handlungssystems zu überführen, so empfiehlt sich natürlich das A-System, der Organismus. Bourdieu kehrt Parsons' Kontrollhierarchie einfach um: Statt dem L-System die strukturstabilisierende Trägheit zuzusprechen, wird sie nun dem A-System zugesprochen. Auch bei Niklas Luhmann findet sich ein Pendant zu diesen Trägheitsannahmen. Es lautet "Konservativismus aus Komplexität" oder "Status Quo als Argument". 426 Man kann zwar alles ändern, aber man kann nicht alles gleichzeitig ändern. Bezogen auf die drei von Luhmann unterschiedenen Sinndimensionen könnte dies erstens bedeuten, daß ein mit ihrer Hilfe verbuchter Systemzustand sich nicht beliebig schnell entlang einer oder aller dieser Dimensionen verändern kann und zweitens, daß er sich in einer einzelnen Dimension schneller ändern kann als in zwei oder drei Dimensionen gleichzeitig. Luhmann begründet seine Überlegungen aber nicht mit Anleihen aus der klassischen Mechanik, sondern gewissermaßen vormodern, nämlich mit Hilfe des Kontingenzbegriffs des späten Mittelalters.427 Das Trägheitsprinzip und seine diversen Pendants verweisen auf bestimmte Systemeigenschaften, die in gewisser Weise, wenigstens auf kurze Sicht, von den Akteuren als unabänderlich akzeptiert werden müssen. Die Reflexion dieser Trägheitsmomente löst sie nicht auf und erschließt auch nicht unbedingt neue Handlungsmöglichkeiten, aber sie gibt der Soziologie einen Gegenstand. Aufgrund seiner Trägheit erhält das soziale Leben Dauer und Bestand. Es verteilt sich nicht homogen in dem durch die verschiedenen Sinndimensionen aufgespannten Phasenraum, sondern bewegt sich auf bestimmten Bahnen. Nur wenn es gelingen sollte, solche Bahnen tatsächlich zu identifizieren, erhielte das von Bourdieu angestrebte Vorhaben einer "Sozialtopologie" einen genauen Sinn. Bislang scheint es sich eher um ein Spiel mit Metaphern zu handeln, das über die "ars bene interpretandi" der Rhetorik 428 noch nicht wesentlich hinausgeht. Auf eine ganz anders ausgerichtete, sich auf

genau dem, was Bourdieu mit einem Verwe is auf Leibniz auszuschließen bestrebt war. Fragen der Kopplung zwischen einzelnen Systemkomponenten werden von fast allen hier genannten Autoren ignoriert.

426 Luhmann, Niklas, Status Quo als Argument, in: ders., Universität als Milieu, Bielefeld 1993, S. 16-29, S. 22.

427 Der Trägheitsbegriff der Mechanik und der Selbsterhaltungsbegriff der neuzeitlichen Philosophie haben sich, wie Hans Blumenberg gezeigt hat, in Opposition zum mittelalterlichen Begriff der Kontingenz und der creatio continua entwickelt. (Ders., Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität, in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, Jg. 1969, Nr. 11, Mainz 1970, S. 333-383.) Luhmann hat diese Entwicklung gewissermaßen übersprungen, und gerade das ermöglicht es ihm heute, seinen am Problem der Kontingenz entwickelten Sinnbegriff mit Hilfe komplexitätstheoretischer Konzepte aus der Kybernetik produktiv zu reformulieren.

428 Vgl. Plett, Heinrich F., a.a.O., S.4.

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soziale Netzwerke konzentrierende Konzeption einer Sozialtopologie werden wir am Ende des nächsten Kapitels zurückkommen.

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Anhang

"Tap in to whomsoever and you get pretty much the same

thing."429

Im ersten Teil dieses Anhangs sind einige Varianten der Inventio gesammelt. Quintilian, Lullus und Wilson begreifen ihre Formulierungen dabei noch direkt als einen festen Bestandteil der Rhetorik, für die meisten späteren Autoren gilt dies nicht mehr. Die Technik der Inventio, so scheint es, wird aber immer wieder von neuem entdeckt. Der zweite Teil enthält Varianten zu einem Kommunikationsmodell, dessen Grundstrukturen wiederum schon in der Rhetorik festgeschrieben sind, das wir aber in Kapitel III nicht eigens behandelt haben. Der dritte Teil bildet eine Liste unterschiedlicher Möglichkeiten der Identifikation von gesellschaftlichen Subsystemen oder Mechanismen vor dem Hintergrund der in der Inventio vorgezeichneten Unterscheidungen. Der vierte Teil schließlich versammelt eine Reihe von Versuchen einer minimalen Dimensionsbestimmung des durch die Inventio strukturierten Raumes. Es geht hier nicht darum theoretische Differenzen zu leugnen, denn die Konkurrenz zwischen den verschiedenen hier genannten Theorieansätzen beginnt erst unterhalb des hier gewählten Abstraktionsgrades. Es soll aber sichtbar gemacht werden, daß auch die immer wieder annocierten Paradigmenwechsel in der Soziologie den Vorgaben einer äußerst robusten Tradition folgen. Die wiederholte Neuentdeckung derselben Strukturen verdankt sich dem Umstand, daß das soziale Leben selbst dieser Tradition folgt und sich bereits selbst mehr oder weniger explizit mit Hilfe dieses Begriffsrasters beschreibt. INVENTIO

Quintilian:

personam, causam, locum, tempus, instrumentum, occasionem. 430

429 Sacks, Harvey, Lectures on Conversation, Vol. I. (hrsg. von Gail Jefferson) Oxford 1992, S. 485.

430 Vgl. Lausberg, Heinrich, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd.1, München 1960, S. 183, Paragraph 328.

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Raimund Lullus (Circulus Questionum):

"An?, Quid?, Cur?, Ex quo?, Quantum?, Quale?, Quando?, Ubi?, Quocum?"431

Wilson:

"Who, what, and where, by what help, and by whose,

why, how, and when, do many things disclose."432

Laswell: "Who says What in Which Channel to Whom with What Effect?"433

Burke:

Act, Scene, Agent, Agency, Purpose434

Parsons:

Conditions, Ends, Means, Norms.435

Giddens:

coding, resource authorization, resource allocation, normative regulation436

Lundberg:

Who? When? Where? How? Doing what? Why?437

Heritage:

Who said it, where and when, what was being accomplished by saying it and in the light of what possible

considerations and in virtue of what motives (was it said)? 438

Lindenberg:

431 Viehweg, Theodor, Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, München 5. Aufl. 1974, S. 79.

432 Zitiert nach: Plett, Heinrich F., Einführung in die rhetorische Textanalyse, 7.Aufl., Hamburg 1989, S. 12.

433 Ueding, Gerhardt, Grundriß der Rhetorik, Stuttgart 198?, S. 164.

434 Burke, Kenneth, A Grammar of Motives, Berkeley/Los Angeles/London 1969 (Orig. 1945), S. XV.

435 Parsons, Talcott, The Structure of Social Action, 2 Bde., New York 1968 (Orig. 1937), insbesondere Bd. 1, S. 43ff., Bd. 2, S. 731ff.

436 Giddens, Anthony, The Constitution of Society, Berkeley 1984, S. 31.

437 Lundberg, George A., " Some Convergences in Sociological Theory", American Journal of Sociology, Vol. LXII, 1956/7 S. 21-27, S. 25.

438 Heritage, John, Garfinkel and Ethnomethodology, Oxford 1984, S.139f.

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RREEMM: restricted, resourceful, expecting, evaluating, maximizing man439

Kelly:

Konsens (Personen), Konsistenz (Zeitpunkte), Distinktheit (Entitäten)440

Elster:

Desires, Beliefs, Evidence441

Popper:

1.Welt, 2.Welt, 3.Welt

Joas:

Subjektive Welt/Körperlichkeit, Objektive Welt/Situation, Soziale Welt/Sozialität442

KOMMUNIKATIONSMODELLE

Plett:

expressiv

rezeptiv

mimetisch rhetorisch443

Bühler:

Ausdruck: Sender, Sprecher

Apell: Empfänger, Hörer

Darstellung: Gegenstand, Sachverhalt444

Weinrich:

439 Lindenberg, Siegwart, "An Assesment of the New Political Economy: Its Potential for the Social Sciences and for Sociology in Particular", Sociological Theory, 3 (1985), S.99-114, S.100f.

440 Kelly, Harold H., "The processes of causal attribution." American Psychologist, 28 (1973), S. 107-128, S. 110.

441 Elster, John, Nots and Bolts for the Social Sciences, Cambridge 1989, S. 30f.

442 Joas, Hans, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. 1992.

443 Plett, Heinrich F., Textwisenschaft und Textanalyse, Heidelberg 1975, S. 50.

444 Vgl. statt anderer Plett, Heinrich F., a.a.O. 1975, S. 46ff.

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1.Person (Sender)

2.Person (Empfänger)

3.Person (Referent)445

Shannon/Weaver:

Kanal

Empfänger

Sender

Luhmann:

Mitteilung

Verstehen

Information

Habermas:

Expressive: Wahrhaftigkeit, Weltbezug: subjektive Welt, dramaturgisch

Regulative: Richtigkeit, Weltbezug: soziale Welt, normenrguliert

Konstative: Wahrheit, Weltbezug: objektive Welt, Konversation

Perlokutionen, Imperative: Wirksamkeit, Weltbezug: objektive Welt, strategisch

GESELLSCHAFTSTHEORIEN

Parsons:

adaption: Wirtschaft

goal attainment: Politik

integration: Gemeinschaft

pattern-maintenance: Kultur

Giesen:

Codes

Prozesse

Situationen

Luhmann:

System (Gesellschaft) Umwelt (Natur, Individuen)

Semantik (Ideen, Kultur)

Bourdieu:

ökonomisches Kapital

445 Weinrich, Harald, Kommunikanten und Aktanten, in: ders., Sprache in Texten, Stuttgart 1976, S. 45-62.

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soziales Kapital

kulturelles Kapital

symbolisches Kapital

Joas:

Ausdruck

Produktion

Revolution

Weber:

Sozialisationsfunktion (Erziehung): ideelle Interessen, soziale Objekte

Sicherungsfunktion (Politik, Recht): materielle Interessen, soziale Objekte

Versorgungsfunktion (Wirtschaft): materielle Interessen, nichtsoziale Objekte

Deutungsfunktion (Religion, Wissenschaft, Kunst): ideelle Interesen, nichtsoziale Objekte446

Weber:

Kompetenzallokation

Ressourcenallokation

Legitimitätsallokation

Kontrollallokation (Sanktionsmacht)447

White: arena/identity

interface/production

council/network population448

Gellner:

Production

Coercion

Cognition449

Giddens:

signification (meaning)

domination (power)

446 Nach Schluchter, Wolfgang, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979, S. 44.

447 Nach Lepsius, M. Rainer, Modernisierungspolitik als Institutionenbildung: Kriterien institutioneller Diffe renzierung, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 53-62, S. 61.

448 White, Harrison C., Identity and Controll, Princeton, N.J. 1992.

449 Gellner, Ernest, Plough, Sword and Book - The Structure of Human History, Glasgow 1991.

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legitimation (sanctions)

Schmitt:

Nehmen

Teilen

Weiden450

Serres: Ausschneiden

Zentrieren

Reinigen451

SOZIALTOPOLOGIEN: DIMENSIONEN DES PHASENRAUMS

Koselleck:

innen/außen

oben/unten

vorher/nachher452

Parsons:

innen/außen instrumentell/konsumptiv

oben/unten

Schmitt:

Nehmen (innen/außen)

Weiden (früher/später)

Teilen (ego/alter)453

Luhmann:

sachlich (dies/jenes)

450 Schmitt, Carl, Nehmen/Teilen/Weiden, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, S. 489-504.

451 Serres, Michel, Der Parasit, Frankfurt/M. 1981, S. 147.

452 Koselleck, Reinhart, "Sprachwandel und Ereignisgeschichte", in Merkur, August 1989, S. 657-673.

453 Diese Zuordnung findet sich in dieser Weise nicht bei Schmitt, scheint aber seiner Begrifflichkeit durchaus zu entsprechen.

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173

zeitlich (früher/später)

sozial (ego/alter)454

Berger/Luckmann:

räumlich

zeitlich

sozial455

Giesen:

räumlich

zeitlich

reflexiv

Hondrich:

Wir/Sie (Drinnen/Draußen)

Hoch/Niedrigstehend

Zur-Sache-gehörend/Abwegig456

Bales:

Negativ/Positiv (Unfreundlich/Freundlich)

Aufwärts/Abwärts (Dominant/Submissiv)

Vorne/Hinten (instrumentally controlled/emotionally expressiv)

Kelly:

Konsens (Personen)

Konsistenz (Zeitpunkte)

Distinktheit (Entitäten)

Weinrich:

Person

Tempus

Assertion457

Bourdieu:

454 Luhmann, Niklas, Soziale Systeme, Frankfurt/M. 1984, S. 112ff.

455 Berger, Peter und Thomas Luckmann, The Social Construction of Reality. A Treaties in the Sociology of Knowledge, Harmondsworth 1984, S. 54.

456 Hondrich, Karl Otto, Die andere Seite der Differenzierung, in: Hans Haferkamp und Michael Schmidt (Hrsg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, Frankfurt/M. 1987, S. 275-303, S. 281.

457 Weinrich, Harald, Linguistik der Lüge, Heidelberg 1974, S. 49ff. Weinrich bezieht sich auf die Morpheme, die die Bedeutung eines Verbs in bezug auf eine Situation determinieren.

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Symbolisch

Kulturell

Sozial

Ökonomisch458

Douglas:

Group (Innen/Außen)

Grid (Oben/Unten)459

458 Bourdieu, Pierre, Sozialer Raum und 'Klasse', Frankfurt/M., S. 11

459 Douglas, Mary, Natural Symbols. Explorations in Cosmology, New York 1982 (Orig. 1970).

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IV. Ordnung und Ortung "The phrase might seem bizarre, but human beings do

`make their own geography' as much as they `make their

own history'."460

"We go on depicting to ourselves the relations between

different nations as concisting exclusively in men and

things in one space, conceiving them as material objects

contained in a container. (...) This central conception of

`container' and `contained' is contradicted on all sides by

modern life ..." 461

"The puzzle is what sorts of spaces and combinations

thereof can coexist, what spaces and array of spaces are

self-consistent."462

1. Raum als Behälter Die Begriffe Ordnung und Ortung bilden eine Einheit. Sie bedeuten nicht dasselbe, aber man kann sie auch nicht - so ein zentraler Gedanke Carl Schmitts - in völliger Abstraktion voneinander begreifen, geschweige denn vorstellen. 463 Schmitt meint in der Geschichte der Menschheit eine ursprüngliche Einheit von Ortung und Ordnung feststellen zu können, die sich aber im Verlauf der jüngsten Geschichte zusehends aufgelöst habe. Durch diesen Auflösungsprozeß ist - so Schmitt - ein ganzes Bündel politischer Begriffe, wie z. B. Staat, Souveränität, Repräsentation oder Nation für eine Beurteilung der heutigen Weltlage nutzlos geworden. Es handelt sich hier um Begriffe, die an eine bestimmte historische Epoche

460 Giddens, Anthony, The Constitution of Society, Berkeley 1984, S. 363.

461 Perroux, Francois, "Economic Space: Theory and Application", Quarterly Journal of Economics, LXIV, No. 1 (1950), S. 89-104, S. 90.

462 White, Harrison C., Identity and Control. A Structural Theory of Social Action, Princeton 1992, S. 307f.

463 Vgl. insbesondere Schmitt, Carl, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1988 (1950).

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gebunden sind, nämlich die Epoche des europäischen Völkerrechts. Carl Schmitt entwickelt seine These der Einheit von Ortung und Ordnung in verschiedenen Hinsichten: anthropologisch, historisch, begriffsgeschichtlich, etymologisch und mythologisch. Hier soll die historisch-empirische Stichhaltigkeit seiner Überlegungen nicht zum Thema gemacht werden, es kommt uns lediglich darauf an, deutlich zu machen, daß unsere heutige Vorstellungswelt und unser Sprachgebrauch noch vielfach von dieser einfachen Identifikation von Ortung und Ordnung geprägt sind, die Schmitt für die Gegenwart in Frage stellt. Im folgenden Abschnitt sollen dann einige theoretische Vorüberlegungen entwickelt werden, die es schließlich einmal erlauben könnten, eine komplexere, zeitadäquatere Relationierung von Ordnung und Ortung zu formulieren. Wie viele andere Autoren auch, unterscheidet Carl Schmitt drei Grundlegendes erschließende Aspekte des menschlichen Zusammenlebens, nämlich Nehmen, Teilen und Weiden. 464 Nehmen steht dabei für Landnahme, für die Okkupation und Umfriedung eines bestimmten Territoriums; Teilen bezieht sich auf die Aufteilung des so in Besitz genommenen Territoriums, der Ressourcen und Posten; und Weiden schließlich steht für Bebauen, Wirtschaften und Produzieren. Er führt diese Begriffe als drei alternative und komplementäre Übersetzungen von Nomos ein. Mit diesen drei Aspekten des menschlichen Zusammenlebens hat sich - so Schmitt - jede Theorie des Sozialen auseinanderzusetzen. Vor jede Gesellschaftsordnung und vor jede Soziallehre stellt sich deshalb die "einfache Frage: Wo und wie wird hier genommen? Wo und wie wird hier geteilt? Wo und wie wird hier produziert?"465 Historisch steht die Landnahme an erster Stelle und bis zur industriellen Revolution waren das Nehmen, die Okkupation und Einfriedung von Grund und Boden die fundamentalen Grundvoraussetzungen aller Aufteilung und Bewirtschaftung. Das scheint zuweilen vergessen zu werden und deshalb stellt sich Charles Tilly die rhetorische Frage: "Why did wars occure at all?" um sogleich zu antworten: "The central tragic fact is simple: coercion works."466 "Die Geschichte der Völker mit ihren Wanderungen, Kolonisierungen

464 Ders., Nehmen/Teilen/Weiden, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, S. 489-504. Selten, vielleicht gar nicht, findet man allerdings ähnlich konkret gewählte Bezeichnungen für diese drei Aspekte. Sie klingen zu sehr nach Agrargesellschaft, zu wenig abstrakt, zu wenig nach Fachworten. Es fällt deshalb manchmal schwer, Parallelen dazu bei anderen Autoren zu entdecken. Aber es gibt sie: Reinhart Koselleck z. B. hält folgende drei Leitunterscheidungen für anthropologisch fundamental: innen/außen, oben/unten und früher/später. Sie entsprechen abstrakt dem Trias von Nehmen/Teilen/Weiden. Auch Talcott Parsons wählt drei ganz ähnlich ausgerichtete Leitunterscheidungen als die Koordinatenachsen seines Vier-Funktionen-Schemas: eine Raumachse, die durch die Unterscheidung von System und Umwelt konstituiert wird und eine Zeitachse, die durch die Unterscheidung von instrumentell/konsumatorisch konstituiert wird. Die dritte Achse schließlich kann über die Kontrollhierarchie (LIGA) definiert werden. Vgl. Anhang, III. Kapitel.

465 Schmitt, Carl, Nehmen/Teilen/Weiden, a.a.O., S. 492.

466 Charles Tilly, Coercion, Capital and European States, Oxford 1990, S. 70. Tilly setzt den Akzent dann allerdings deutlich anders als Schmitt, der die Landnahme quasi als das dem Teilen und Weiden vorausgehende

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und Eroberungen ist eine Geschichte der Landnahme."467 Aber - so Schmitt - das Nehmen gerät schnell in Vergessenheit; "Das Teilen bleibt stärker im Gedächtnis als das Nehmen."468 Mit der industriellen Revolution und den durch sie ins Leben gerufenen Ideologien des Liberalismus und des Sozialismus rückt das Produzieren ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit dem Wachsen der Produktivkräfte - so wenigstens die Erwartung der Zeitgenossen - wird das Teilen problemlos, und das Nehmen hört auf. Soweit die Soziologie später hier anschließt, ist deshalb auch verständlich, warum sie sich fortschritts-skeptisch auf das Teilen und Weiden konzentriert und die Frage der Landnahme und Einfriedung kaum ihr Interesse findet.469 "Die Blindheit der Soziologie für die zwischenstaatlichen und überstaatlichen Verhältnisse und Wirkungen, für nationale Konkurrenz, Beeinflussung und Durchdringung, insbesondere für alle Machtfragen und Machtlagen, gründet in ihrem Weltbild. Ihr Konzept verpflichtet sie, `Gesellschaften' als autonome Einheiten aller wesentlichen Vorgänge, ihre soziale Binnenentwicklung für den Kern der Geschichte zu halten."470 Das Fach beschränkt sich auf das Innere des modernen Nationalstaates und begreift diesen als ihre Gesellschaft; eine Theorie des Krieges, des Imperia lismus oder der Weltgesellschaft konnte man deshalb von der Soziologie nicht erwarten. 471 Die

Unternehmen mit dem höheren Gemeinsinn stilisiert. Soweit es sich um stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften handelt, scheint die erwartete Aufteilung der Beute und die Ausbeutung der Weidenden zum eigentlichen Motiv der Landnahme zu werden und nur, weil es auch die Nachbarn so halten, entwickelt die kriegerische Grenzfestlegung eine gewisse Eigenlogik: "Those who apply substantial force to their fellows get compliance, and from that compliance draw multiple advantages of money, goods, defence, access to pleasures denied to less powerfull people. Europeans followed a standard warprovoking logic: everyone who controlled substantial coercive means tried to maintain a secure area within which he could enjoy the returns from coercion, plus a fortified buffer zone, possibly run at a loss, to protect the secure area. Police or their equivalent deployed force in the secure area, while armies patrolled the buffer zone and ventured outside it; the most aggressive princes, such as Louis XIV, shrank the buffer zone to a thin but heavily-armed frontier, while their weaker or more pacific neigbors relied on large buffers and waterways. When that operation succeeded for a while, the buffer zone turned into a secure area, which encouraged the wielder of coercion to acquire a new buffer zone surrounding the old. So long as adjacent powers were pursuing the same logic, war resulted." (a.a.O., S. 70f.)

467 Schmitt, Carl, a.a.O., 1958, S. 493.

468 Ders., a.a.O., 1958, S. 493.

469 Es fügt sich hier, daß auch Kolonialismus und Imperialismus einerseits und die kommunistische Expropriation der Expropriateure andererseits als spezifische Formen des Nehmens von der Soziologie kaum thematisiert wurden.

470 Tenbruck, Friedrich H., Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen, Graz 1984, S. 201.

471 Dieses Theoriedefizit wird eigentlich erst heute sichtbar. Vgl. dazu z. B. den von Hans Jonas und Helmut Steiner herausgegebenen Sammelband: Machtpolitischer Realismus und pazifistische Utopie, Frankfurt/M. 1989; oder Hondrich, Karl Otto, Lehrmeister Krieg, Reinbek 1992.

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Unterscheidung von Innen und Außen und ihre räumlich-territoriale Manifestation gerät nicht ins Blickfeld. Demgegenüber betont Schmitt die Besonderheit dieser geschichtlichen Rahmenbedingungen, die weder beliebig in die Vergangenheit zurück extrapoliert werden dürfen, noch für die Gegenwart und Zukunft als weiterhin selbstverständlich unterstellt werden können. "Grenze haben heißt Sein" so soll es schon Anaximander gemeint haben. 472 Heute ließen sich zahlreiche postmoderne oder neokybernetische Autoren, die - mit dem Anspruch, etwas Neues zu sagen - ähnlich optieren, heranzitieren. Schmitt legt nun im Hinblick auf soziale Einrichtungen entschieden Wert auf den von ihm mehr oder weniger als Selbstverständlichkeit und Sachzwang präsentierten Umstand, daß diese Grenzen bodenständig zu sein haben, daß soziale Grenzen immer auch räumlich-territoriale Grenzen sind. "Am Anfang steht der Zaun. Tief und begriffsbestimmend durchwirken Zaun, Hegung, Grenze die von Menschen geformte Welt." schreibt der Sprachforscher Jost Trier und wird zustimmend von Carl Schmitt zitiert.473 Recht und Friede beruhen, so Carl Schmitt, ursprünglich auf "Hegungen im räumlichen Sinne". Ohne Landnahme, ohne Grenze, ohne Einzäunung keine Ordnung, keinen Frieden. Die Landnahme geht der Rechtssetzung voraus, welche wiederum eine Voraussetzung für das Wirtschaften bildet. Im Inneren werden sich deshalb die Grenzziehungen, nun mit neuem Problembezug, weiter multiplizieren. Marianne Gronemeyer schreibt zu diesem von Schmitt weit weniger beachteten "Zäunen" - aber wohl durchaus in seinem Sinne - sehr treffend: "Die Landnahme, die Aneignung des Ortes, an dem das zum Leben Notwendige gedeiht, wo es gefunden und erzeugt werden kann, ist die Besitzergreifung, die allen anderen Akten der Machtgewinnung durch Besitz vorausgeht." Aber: "Mit dem Privateigentum an Grund und Boden wird das ausschließliche Verfügungsrecht an allem, was die Natur hervorbringt, ihr gesamtes `lebendes und totes Inventar' reklamiert. ... Wer das Land der allgemeinen Nutzung entzieht, gewinnt Verfügung über die Menschen."474 Die Errichtung von Zäunen kann also auch einem ganz anderen Zweck, als dem der Umfriedung eines gemeinsamen Territoriums zwecks Aufbau einer Rechtsordnung und Behauptung eines inneren Friedens dienen. Der Zaun erscheint dann in einem ganz anderen Licht: "Der Zaun macht aus daseinsmächtigen Menschen

472 Schadewaldt, Wilhelm, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, Frankfurt/M. 1979, S. 120, S. 237, zitiert nach Mühlmann, Wilhelm E., Ethnogonie und Ethnogenese. Theoretisch-ethnologische und ideologiekritische Studien, in: Studien zur Ethnogenese, (hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften) Opladen 1985, S. 9-27, S. 19.

473 Schmitt, Carl, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, a.a.O., S. 43f.

474 Gronemeyer, Marianne, Die Macht der Bedürfnisse. Reflexionen über ein Phantom, Reinbek 1988, S. 31.

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belieferungsbedürftige Mängelwesen. Weder können sie sich nehmen, was die Natur gewährt, noch können sie herstellen, was sie zum Leben brauchen. Sie müssen es sich zuteilen lassen unter Bedingungen eines ungleichen Tausches."475 Erst nach der Landnahme und der Aufteilung von Grund und Boden werden sich die so voneinander geschieden Menschen an die Arbeit machen. Schmitt hat dies in der Formel Nehmen/Teilen/Weiden verdichtet. Die Hegung im räumlichen Sinne begreift Schmitt dabei als die entscheidende Voraussetzung für Recht und Frieden. Im Römischen besteht eine enge Verbindung von Grenze und Frieden. Der Grenzgott Terminus heiligt die Grenze. "Ohne dich, Terminus, gäbe es ewigen Streit" (Ovid)476. Das lateinische `pax' hängt zusammen mit `pagno', zu Deutsch `setzen', und `pagus', einem durch gesetzte Marken abgegrenzten Gebiet, in dem Friedenspflicht gilt. Das Wort `Grenze' stammt aus dem Slavischen und leitet sich her von einem Stamm, der `schützen, bewahren' bedeutet.477 Das dem Slavischen entlehnte Wort `Grenze' verdrängt mit dem Beginn der Neuzeit das gothische `marka', bzw. das germanische `mark', deren "Urbedeutung", wie Jacob Grimm schreibt, sich aus dem Wort `mörk' erschließt und "keine andere als Wald sein kann."478 Es handelt sich also um eine Art natürlichen Rand des sozialen Lebens und noch nicht um eine politische Grenze zwischen unterschiedlichen sozialen Einheiten. Die Begriffsgeschichte von `Grenze' korreliert mit der Besiedlungsdichte. Das englische Adjektiv `bound' leitet sich aus dem nordischen `bua' ab und bedeutet in etwa `leben, wohnen, zurechtmachen'. Daraus entwickelte sich das altenglische `bower', was soviel bedeutet wie `besiedeln, bewohnen, einhegen'. Im Wort `boundary' sind auch noch die deutschen Ausdrücke `Bauer' und `bauen' präsent.479 Auch das Wort `Raum' war nicht immer durch den ihm heute zukommenden Abstraktionsgrad bestimmt, sondern geht auf die Tätigkeit des Räumens zurück. Auch die Vorgeschichte des Wortes Gesellschaft hat eindeutig einen räumlichen Bezug. Es hat seine geschichtliche Wurzel im althochdeutschen Wort `sal', was

475 Gronemeyer, Marianne, a.a.O., S. 32. (Betonung im Orig.)

476 Zitiert bei Demandt, Alexander, Die Grenzen in der Geschichte Deutschlands, in: ders. (Hrsg.), Deutschlands Grenzen in der Geschichte, München 1990, S. 9-31, S. 20.

477 Demandt, Alexander, a.a.O., 1990, S. 9-31, S. 20f. Zum Thema "territoriale Grenzen" findet sich seit Barth, Fredrik (Hrsg.): Ethnic Groups and Boundaries: The Social Organization of Cultural Difference, Boston 1969, vergleichsweise wenig neue soziologische Literatur. Vgl. aber mit dem Themenschwerpunkt "Grenzen": Sowi 20 (1991), Heft 3.

478 Grimm, Jacob, Deutsche Grenzalterthümer, in: ders., Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde, Kleinere Schriften 2. Bd., Berlin 1965, S. 30-74, S. 32. Vgl. auch die Eintragung in: Der Duden. Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim 1989, S. 441.

479 Vgl. Jung, Richard, Levels and Boundary Conditions in the Theory of Action, in: Pedretti, Annetta / Gerard de Zeeuw (Hrsg.), Problems of Levels and Boundaries, London 1983, S. 155-180, S. 163.

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wir heute als `Raum' übersetzen würden.480 Umgekehrt haben auch einige Termini, die wir heute weniger entschieden mit einem sozialen, an Macht ausgerichteten Bezug gebrauchen, eine Herkunft mit deutlich engerer sozialer Konnotation. So war das Wort `Gebiet' eng an den Sinngehalt von `gebieten' gebunden und läßt sich in `Bereich' unschwer das Wort `Reich' wiedererkennen. 481 Die sich in diesen Begriffen spiegelnde Einheit von Ordnung und Ortung sieht Schmitt heute nicht mehr gegeben. 482 Damit hat auch der neuzeitliche, in Hobbes' Leviathan versinnbildlichte Begriff des Staates seine Bedeutung verloren. Schmitt diagnostiziert den Verschleiß und das Unbrauchbarwerden eines an Politik ausgerichteten Gesellschaftsbegriffs. Die Gegenwart scheitert an der "Frage eines neuen Nomos der Erde"; die moderne Gesellschaft läßt sich nicht mehr ohne weiteres als ein politischer Herrschaftsbereich bestimmen. 483 In ähnlicher Weise wie Carl Schmitt hat auch Friedrich Tenbruck die theoretisch konzeptuelle Vernachlässigung des räumlich-territorialen Bezugs allen sozialen Geschehens kritisiert. Aber Tenbruck formuliert sein Problemstellung abstrakter. Er konzentriert sich nicht wie Schmitt auf die "Landnahme", sondern versucht allgemein "die Realgeschichte der gesellschaftlichen Entwicklung als das Ergebnis einer Kette raumgreifender Vorgänge" zu

480 Vgl. Tenbruck, Friedrich H., Die Unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz 1984, S. 196.

481 Demandt, Alexander, a.a.O., 1990, S. 9-31, S. 19.

482 Schmitt verneint also eine bislang bewährte Sichtweise. Was man sich statt dessen vorzustellen habe, läßt er offen. Vielleicht handelt es sich hier nicht nur um ein standortbedingtes Problem der Unerkennbarkeit der Zukunft während einer Übergangsphase, sondern um ein prinzipielles Problem der Veranschaulichung. Unsere Anschauung wenigstens scheint überfordert, wenn sie sich Ordnung anders als im Sinne einer bestimmten Ortung vorstellen soll. Die Forderung zielt auf ein Paradox, nämlich sich ein Bild von etwas zu machen, das sich nicht als Bild darstellen läßt, ja, von dem sich sinnvoll dann auch nicht mehr sagen läßt, daß es ein "etwas", ein bestimmtes Ding überhaupt ist. Auch die soziologische, also wissenschaftlich reflektierte Sprache ist vermutlich deshalb von räumlichen Vorstellungen geradezu durchsetzt. Und es handelt sich hier - so unser Verdacht - nicht um bloße Metaphern, sondern um konstitutive Anschauungshilfen, um Bilder, von denen man nicht vollständig abstrahieren kann. In der Phänomenologie beispielsweise hat die Unterscheidung von Boden und Horizont eine solche paradigmatische Funktion; in der Systemtheorie die Unterscheidung von input und output oder die von System und Umwelt; in der Sprachphilosophie, die Grenzen der Sprache, an der man sich - so Wittgenstein - sogar Beulen holen kann. Auch für die Netzwerkanalyse haben spezifisch räumliche Metaphern eine paradigmatische Funktion: Es gibt Verbindungen, Löcher, einzelne Positionen können nur schwach mit dem weiteren Umfeld verbunden sein oder auch eng eingebunden sein in ein größeres Cluster etc.

483 Genau das versucht Anthony Giddens mit seinem Begriff des `power-container', der ihn zwingt, Nationalstaaten als Gesellschaften zu begreifen. Vgl. ders., The Nation-State and Violence, Cambridge 1985. An der wachsenden Schwierigkeit, die modernen Gesellschaft auf einen politischen Herrschaftsverband zu reduzieren, scheitern nicht nur Nationalismus und Imperialismus, sondern auch die mit dem Scheitern des Sozialismus wieder modern gewordene Konzeption einer Zivilgesellschaft.

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begreifen. 484 Das ist sicherlich eine sinnvolle Verallgemeinerung, um die von Tenbruck ins Auge gefaßten Phänomene wie Migration, Asylbewegungen oder militärische und andere Expansionen zu fassen. Aber viele Grenzen moderner sozialer Systeme lassen sich heute nur noch selten in Form von Zäunen, Gräben oder Mauern identifizieren; um das Moderne an der Moderne im Sinne "raumgreifender Vorgänge" begreifen zu können, muß deshalb vermutlich der Begriff des Raumes selber abstrakter gefaßt werden. Andernfalls operiert man mit einem anachronistisch gewordenen Vokabular, wie Carl Schmitt dies ja schon für den von ihm analysierten, deutlich enger als bei Tenbruck gefaßten Bereich festgestellt hat. Die von Schmitt der Vergangenheit zugeschriebene Begrifflichkeit läßt sich vermutlich auch durch Anleihen bei der Kybernetik und Thermodynamik nicht wiederbeleben. Regis Debray versucht mit solchen Theorieanleihen die Idee der territorialen Umfriedung als Gründungsgeste der Zivilgesellschaft neu auszus taffieren. Angeregt durch einige Überlegungen Michel Serres', liest Debray erneut Rousseaus Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. "Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: "Das ist mein" und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der zivilen Gesellschaft". 485 Dies interpretiert er nun dahingehend, daß, wer keine Grenzen zieht, dem Wärmetod - und Debray hat hier insbesondere die Immigrantenströme vor Augen - ausgesetzt ist.486 Schmitt begreift die Landnahme als konstitutiv für die Behauptung sozialer Ordnung. Sicherlich wird dieser Vorgang bei Schmitt in mancher Hinsicht mythisch überhöht. Die territoriale Umfriedung ist nicht für alle sozialen Vorgänge gleichermaßen grundlegend und relevant. Mit der auf Landnahme beruhenden Ordnung ist vorrangig die politisch-rechtliche

484 Ders., "Gesellschaftsgeschichte oder Weltgeschichte", Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 41, 1988, S. 417-439, S. 418, S. 435.

485 Jean-Jacques Rousseau, Schriften zur Kulturkritik, Hamburg 1983, S. 61-269, S. 191 (in der Übersetzung heißt es "bürgerliche Gesellschaft", im Original "societe civile").

486 Diese Interpretation von Serres ist sicherlich nicht zwingend. Vgl. aber ders., Rome - The Book of Foundations, Stanford, CA 1991. Spencer-Brown ("A universe comes into being when a space is severed or taken apart") ist für die von Debray und vielen anderen artikulierten Belange glücklicherweise noch nicht eingespannt worden, obwohl boundary und mark (= Wald) doch einen deutlich territorialen Bezug haben. Eine deutlicher akzentuierte territoriale Unterscheidung von Mein und Dein, Wir und Sie, Innen und Außen wird aber mittlerweile von einer ganzen Reihe von Autoren gefordert. Für mehr Patriotismus oder im Kleinen: den gerechten öffentlichen Schutz der von den Anliegern gehegten und gepflegten Wohnviertel setzt sich z. B. Michael Waltzer ein. Ders., Spheres of Justice, Oxford 1985, S. 31-63 (Membership); vgl. dazu den Versuch, die dahinter stehenden Interessen zu entlarven bei Reich, Robert B., The Work of Nations, New York 1992, S. 268ff. Die neuen Fürsprecher einer Zivilgesellschaft werden letztlich vermutlich auch für starke territoriale Grenzen optieren müssen, wenn das Konzept nicht nur als Utopie oder als melancholische Erinnerung an die antike Polis verstanden werden soll. (Politische Utopien, die sich dadurch auszeichnen, daß sie sich dem Zwang zur Grenzziehung, dem Zwang des Unterscheidens zu entwinden suchen, pflegen deshalb häufig auf Inseln verlegt zu werden, aber bestätigen gerade dadurch in fataler Weise den "territorialen Imperativ" ihres Wollens. Vgl. dazu auch Willms, Bernard, Die Deutsche Nation, Hohenheim, 1982, S. 49f.)

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Ordnung gemeint, aus der Sichtweise der Theorie sozialer Differenzierung also ein bestimmtes Subsystem der modernen Gesellschaft unter anderen. Nur für rechtlich konditionierte politische Systeme ist eine Abgrenzung nach Außen und eine Befriedung nach Innen unabdingbar. Nur in diesem Fall gibt es eine klare territorial markierte Innen/Außen-Grenze. Für andere Ordnungsformen muß das nicht gleichermaßen gelten. Für die Wissenschaft oder die Wirtschaft, für die Religion oder die Liebe haben diese Grenzen sicherlich keine konstitutive Funktion. Durch sie werden vielleicht wichtige Rahmenbedingungen für das eigene Operieren festgelegt, aber im großen und ganzen verhalten sich die genannten Subsysteme indifferent gegenüber den territorialen Grenzen von Recht und Politik. Soweit sie das eigene Operieren begünstigen, werden die politisch-rechtlichen Grenzen von diesen Systemen quasi blind genutzt. Beobachtet und registriert werden sie vorrangig nur dann, wenn sie hinderlich wirken. Für andere, weniger an gesellschaftlich legitimen Funktionen orientierte Sozialsysteme, wie Spionage, Guerilla, Piraterie, grenzübergreifende Propaganda, Schwarzmarktgeschäfte, Schmuggel und dgl. können politisch-rechtliche Grenzen hingegen einen ganz anderen Stellenwert haben. Diese Systeme - soweit dieser Begriff hier überhaupt paßt - gehorchen dem territorialen Imperativ nicht, im Gegenteil möchte man sagen, sie leben parasitär gerade von ihm. Für sie gibt es Grenzen, damit sie überschritten werden; und ohne überschreitbare Grenzen verlieren sie ihre Existenzgrundlage. Carl Schmitt hat gezeigt, daß sich die früher räumlich eindeutige politische Unterscheidung zwischen Innen und Außen heute insbesondere im Hinblick auf das Wirtschaftsleben, wie auch in bezug auf das Raumbild des modernen Krieges immer schwerer ziehen läßt.487 Aber damit ist nur ein Teilaspekt eines viel allgemeineren Wandels erfaßt. "Ganz unabhängig von dem guten oder bösen Willen der Menschen, von friedlichen oder kriegerischen Zwecken und Zielen, produziert jede Steigerung der menschlichen Technik neue Räume und unabsehbare Veränderungen der überkommenen Raumstrukturen. Das gilt nicht nur für die äußerlichen, auffälligen Raumerweiterungen der kosmischen Raumfahrt, sondern auch für unsere alten irdischen Wohn-, Arbeits-, Kult- und Spielräume. Der Satz `die Wohnung ist unverletzlich' bewirkt heute, im Zeitalter der elektrischen Beleuchtung, der Ferngasversorgung, des Telefons, Radios und Fernsehens, eine ganz andere Art Hegung wie zur Zeit des King John und der Magna Charta von 1215, als der Schloßherr die Zugbrücke hochziehen konnte. An der technischen Steigerung menschlicher Effektivität zerbrechen ganze Normensysteme wie das Seekriegsrecht des 19. Jahrhunderts. Aus dem

487 Schmitt, Carl, Die Wendung zum totalen Staat, in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923-1939, Berlin 1988, S. 146-157; ders., Der Nomos der Erde, a.a.O.; ders., Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1975.

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herrenlosen Meeresboden taucht der Raum, der vor der Küste liegt, das sogenannte Kontinentalschelf, als neuer Aktionsraum der Menschen auf. In den herrenlosen Tiefen des pazifischen Ozeans entstehen Bunker für den Atommüll. Der industriell- technische Fortschritt verändert mit den Raumstrukturen auch die Raumordnungen."488 Carl Schmitt schreibt rückblickend, erzählt die Verfallsgeschichte der Einheit von Ordnung und Ortung, beschreibt überkommene Raumstrukturen. Wie aber läßt sich das Verhältnis von Ordnung und Ortung heute positiv beschreiben? Wie soll man sich die "neuen Räume" vorstellen? Hier kann nicht nach einem "neuen Nomos der Erde", wie Schmitt es fordert, oder nach einer "neuen Weltordnung", wie sie die UNO propagiert, gefragt werden, sondern es soll zunächst einmal - noch weit im Vorfeld solcher politik-spezifischen Problemstellungen - der Frage nachgegangen werden, wie sich das Verhältnis von Ordnung und Ortung überhaupt, als ein bestimmter Teilaspekt einer Theorie der modernen Gesellschaft, soziologisch sinnvoll thematisieren läßt. Die Frage nach einer möglichen Korrelation oder wenigstens doch Kovariation und wechselseitigen Limitierung von sozialen und räumlichen Strukturen hat in den letzten Jahren in der Soziologie deutlich an Attraktivität gewonnen. 489 Natürlich geht heute niemand mehr von der Annahme aus, eine Landschaft, eine Region oder ein bestimmtes geographisch bedingtes Klima würde mit Notwendigkeit ein bestimmtes soziales Geschehen determinieren - falls ein solch naiver Naturalismus überhaupt je ernsthaft vertreten wurde.490 Die Frage ist nur, wie man sich die Kovariation zwischen räumlich-geographischen und sozialen Strukturen dann vorstellen soll. Die Annahme, Raum sei nicht anders als im Sinne eines Behälters oder als absoluter Raum denkbar, prägt so sehr den üblichen Begriffsgebrauch, daß der Versuch, ein alternatives und vielleicht sogar allgemeineres Raumkonzept zu formulieren, das Risiko birgt, als bloß metaphorisch zurückgewiesen zu werden. Das Behälterparadigma scheint so gründlich internalisiert, daß selbst Autoren, die für alternative Raumkonzepte durchaus offen sind, diese schließlich doch als "bloß subjektiv" und wissenschaftlich unbrauchbar verbuchen. Robert Sack beispielsweise hat fünf verschiedene, soziologisch mehr oder weniger relevante und teilweise zum Behälterparadigma alternative Raumkonzepte vorgestellt: den Raum in Mythos und Magie, den Raum in der kindlichen Vorstellungswelt, den Raum des Traumes und der Kunst, den phänomenologische Raum oder Raum der Lebenspraxis und den Raum der

488 Schmitt, Carl, Theorie des Partisanen, a.a.O., S. 71f.

489 Einen guten Überblick über den Stand der Theoriediskussion bietet die Aufsatzsammlung Social Relations and Spatial Structures, hrsg. von Derek Gregory und John Urry, London 1985.

490 Montesquieu wäre wenigstens ein schlechter Beleg.

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Sozialwissenschaften. 491 Für die Sozialwissenschaften empfiehlt er das mehr oder weniger klassische Konzept der Territorialität.492 Er wirbt damit impizit für das Behälter-Paradigma und unterstellt, daß die Grenzen sozialer Systeme sich in planimetrischer Projektion erfassen ließen. Schon bei Carl Schmitt konnte man lernen, daß es so nicht mehr gehen kann. Die moderne Gesellschaft läßt sich nicht mehr auf einen politischen Herrschaftsverband reduzieren. Sack aber versucht, Gesellschaft eben vorrangig aus dieser Perspektive oder modern gesprochen: über Macht zu begreifen. Teilt man diese Prämisse, scheint es fast selbstverständlich, Territorialität als den dazu passenden Raum zu konzipieren. Im Hinblick auf das Medium Macht scheint das Behälter-Paradigma, wie noch zu zeigen sein wird, durchaus angemessen. Aber der Code der Macht erlaubt nur eine bestimmte Perspektive auf das soziale Geschehen; eine Theorie der modernen Gesellschaft kann sich nicht auf dieses eine Medium und den allein über dieses Medium zugänglichen Raum beschränken. "Social spaces will be multiple in an extreme, with very fragmentary and scrappy topology", heißt es treffend bei Harrison C. White.493 Keines der von Sack vorgestellten Raumkonzepte und erst recht nicht das von ihm der Soziologie empfohlene kann dieses Phänomen unmittelbar verständlich machen. Wir werden uns deshalb weiter umschauen müssen. Um den Leser durch die im weiteren Verlauf dieses Kapitels folgenden knappen Skizzierungen dessen, was eine Reihe klassischer und zeitgenössischer soziologischer Autoren zur Frage der räumlichen Einbettung sozialer Strukturen geschrieben haben, nicht zu sehr zu irritieren, sei vorweg gesagt, auf welche der dabei erschlossenen Begriffe es uns schließlich ankommt. Die räumliche Einbettung von Interaktion wird üblicherweise durch den Begriff der Situation mit abgedeckt. Das Konzept der Situation wird im folgenden unter unterschiedlichen Titeln wieder auftauchen (z. B. als place oder als location bei Giddens oder als station bei Hägerstrand). Der Begriff der Situation kann auf unterschiedliche Weise akzentuiert werden. Soziologisch ist sicherlich die jeweils kommunizierte Definition der Situation von größtem Interesse, der Begriff kann aber auch eher psychologisch oder sozialpsychologisch pointiert werden, indem man die individuelle Wahrnehmung der Situation stärker herausarbeitet. Entscheidend ist, daß der Situationsbegriff auf das Konzept der sozialen Erwartung bezogen wird und damit als ein bestimmter Aspekt der Sozialstruktur analysierbar wird. Sobald sich Gesellschaften in unterschiedliche Teilbereiche differenzieren, werden damit auch spezifische Situationstypen ausdifferenziert. Anthony Giddens spricht in bezug auf das räumliche Pendant zu dieser Differenzierung von Regionalisierung. Die so

491 Sack, Robert, Conceptions of space in social thought. A geographical perspective, Basingstoke 1980.

492 Sack, Robert, Human territoriality: Its theory and history, Cambridge 1986.

493 White, Harrison C., Identity and Control. A Structural Theory of Social Action, Princeton 1992, S. 309.

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entstehenden Situationen sind gewöhnlich untereinander so heterogen und zueinander u. U. so indifferent, daß es wenig Sinn macht, die einzelnen Situationen in irgendeiner Weise zu aggregieren oder die Summe dieser Situationen als Territorium zu begreifen. Unabhängig davon, ob man den Begriff eher soziologisch oder psychologisch pointiert - Situation meint immer nur das, was auch der Wahrnehmung zugänglich ist. Die Gesellschaft im Ganzen entzieht sich aber gerade der Wahrnehmung; der Situationsbegriff empfiehlt sich deshalb vor allem zur Spezifizierung von Interaktionssystemen und verliert im Zusammenhang mit größeren Aggregaten schnell an Kontur. Eine Antwort auf die Frage nach dem Bezug zwischen räumlichen und sozialen Strukturen versuchen wir mit Hilfe des Medienbegriffs zu formulieren. Medien dienen dazu, verschiedene Situationen miteinander zu koppeln, indem sie die Erwartungsstrukturen der jeweils an der Interaktion teilnehmenden Personen oder Rollenträger entsprechend modifizieren. Als Medium kann dabei zunächst alles gelten, was der Übertragung sozial relevanter Mitteilungen dienlich ist (das reicht von Transportmitteln, Wegenetzen oder Sprachen, bis hin zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie Macht oder Geld). Die Kopplung unterschiedlicher Situationen läßt sich nicht im Sinne territorialer Nachbarschaften begreifen; auch in Kilometern gemessen weit auseinanderliegende Situationen lassen sich medial koppeln. Der soziale Raum ist deshalb kein in jede Richtung transparentes und durchschreitbares Gebilde, sondern gehorcht einer weit komplexeren Topologie, die sich über die Kopplung unterschiedlicher Situationen, also über die durch die verschiedenen Kommunikationscodes konstituierten Netzwerke der in ihnen erlebenden und handelnden Menschen erschließt. Genausowenig wie es ausreicht, auf das Gehäuse eines Radios zu verweisen, wenn man nach dem Aufbau seiner Schaltung gefragt wird, und genausowenig wie es ausreicht, auf die Ecke eines Zimmers zu verweisen, wenn man nach der Struktur eines Spinnennetzes gefragt wird, genausowenig läßt sich die Struktur sozialer Räume durch Verweis auf Staatsgrenzen, die Grenzen eines Kontinents oder die Form des Globus spezifizieren. Soziale Räume sind zwar in diese Räume eingebettet, aber sie gehorchen einer eingeschränkteren, komplexeren Topologie, sobald sie die Grenzen der Wahrnehmung überschreiten. Fast die einzige, wenigstens aber die prominenteste Alternative zum Behälter-Paradigma sozialer Räume über die die Soziologie verfügt, ist das Zentrum-Peripherie-Modell, wie es in ganz unterschiedlichen Varianten beispielsweise von Edward Shils oder Fernand Braudel vertreten wird.494 In diesen Modellen ist der soziale Raum nicht mehr homogen mit sozialen Kontakten gefüllt und in allen Richtungen in gleicher Weise ausgerichtet; die Vernetzung in der Peripherie ist weniger dicht als die im Zentrum und nur über das Zentrum sind die meisten Punkte der Peripherie zu

494 Vgl. Shils, Edward, Center and Periphery, Essays on Macrosociology, Chicago 1975; Braudel, Fernand, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, 3. Bd., Aufbruch zur Weltwirtschaft, München 1986 (erstes Kapitel).

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erreichen. Eine theoretische Begründung, warum sich gerade solche Strukturen ausgebildet haben, findet sich bei den genannten Autoren aber nur im Ansatz entwickelt,495 ihre Analysen bleiben vorrangig deskriptiv. Unsere Überlegungen zielen darauf, einige Grundbegriffe für einen Analyserahmen zu entwickeln, mit dessen Hilfe man vielleicht später einmal über die bloße Deskription hinausgelangen könnte.

1.1 Globalisierung und Beschleunigung Mit den Termini Globalisierung und Beschleunigung hat die Soziologie sich in den letzten zwei Jahrzehnten zwei neue Begriffe geschaffen, um spezifisch moderne sozialstrukturelle Veränderungen thematisieren zu können. Globalisierung scheint dabei ein zukunftsträchtiges, wenig erprobtes Konzept, während die Idee der Beschleunigung heute selbst schon zu einem Thema historischer Analysen geworden ist und sich bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen läßt.496 Statt von Beschleunigung ist auch häufig, in einem viel allgemeinerern Sinne, von Verzeitlichung oder Temporalisierung die Rede. Sozialer Wandel umfaßt immer größere, im Grenzfall globale Einheiten und hat auch Nebenfolgen von ähnlicher Größenordnung, und seine zeitliche Struktur bezieht sich auf immer größere Zeithorizonte, während seine Dynamik gleichzeitig immer kleineren Takten gehorcht. Der Verlauf der internationalen Börsenkurse spiegelt vielleicht am besten die mit den beiden Termini benannte Entwicklung. Die Entfernungen zwischen den einzelnen Hauptstädten der Finanz scheinen hier fast keine Rolle mehr zu spielen und in nur wenigen Minuten kann in Tokio oder New York über das Schicksal der Weltwirtschaft entschieden werden. Daneben aber hält sich auch, wenn auch weniger beachtet, das nur Lokale und immer noch

495 Für Shils könnte man auf das Orientierungsbedürfnis der Einzelnen verweisen; für Braudel auf die Theorie des ungleichen Tausches. Shils' Problemstellung ist aber auch mit ganz anderen räumlichen Mustern kompatibel; Braudels Verweis auf die Theorie des ungleichen Tausches befriedigt deshalb nicht, weil sich diese Theorie, soweit sie einen Tausch ungleicher Werte im Marxschen Sinne behauptet, nicht konsistent durchhalten läßt. Vgl. dazu Busch, Klaus, "Ungleicher Tausch - Zur Diskussion über internationale Durchschnittsprofitraten, Ungleicher Tausch und Komp arative Kostentheorie anhand der These von Arghiri Emmanuel", Probleme des Klassenkampfs, Heft 8/9 (1973); sowie Masserat, Mohssen, Die Theorie des Ungleichen Tausches in der Sackgasse - Versuch einer Erklärung der Terms of Trade, MS. Osnabrück o.J.

496 Zu Globalisierung vgl. statt anderer z. B. Robertson, Roland / Frank Lechner, "Modernization, Globalization and the Problem of Culture in World-Systems Theory", Theory, Society and Culture, 2 (3), 1985, S. 103-117; zum Konzept der Beschleunigung vgl. insbesondere Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeit, Frankfurt 1979.

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Stagnierende, kurz: die träge Routine des Alltags.497 Die Zusammenhänge sind unklar und die Formeln von der Globalisierung oder von der Beschleunigung wirken vielleicht deshalb am besten plakativ. Vielleicht fehlen aber auch die richtigen Gegenbegriffe, die ihnen Kontur und einen Kontext geben könnten. In der bisherigen Diskussion muß man den Eindruck gewinnen, als ginge es lediglich um Steigerungsformen im Sinne von größer498 und schneller; die beiden Gegenbegriffe scheinen jeweils als etwas sich mit gleicher Geschwindigkeit oder auch gar nicht Änderndes gedacht werden zu müssen, ohne daß man sich über die Dimension oder Qualität der in dieser Weise unverbindlich markierten Zustände und ihrer möglichen Wechselbeziehung klar werden müßte.499 Das wird dann auf die Dauer theoretisch unergiebig und langweilig. Um den Begriffen Globalisierung und Beschleunigung Kontur zu verleihen, muß der räumliche Bezugsrahmen deutlicher herausgearbeitet werden. Beide Konzepte stehen zwar in gewisser Weise für die zunehmende Irrelevanz von Lokalität und Raumstrukturen, müssen diese aber paradoxerweise gleichzeitig voraussetzen, um selbst Struktur zu entwickeln. Würde alles nur gleichmäßig größer und gleichmäßig schneller, dann

497 Z. B. die ortsabhängige Unterscheidung von Tag und Nacht hat sich wenigstens bis heute, trotz Elektrifizierung, als recht robust erwiesen. Das hat Folgen. Der Verlauf der Börsenkurse beispielsweise unterliegt kurz nach der morgendlichen Eröffnung einer anderen Dynamik als während des restlichen Tages. Liegt nicht nur eine durch Zeitverschiebung verkürzte Nacht, sondern ein durch Zeitverschiebung verkürztes Wochenende zwischen dem Schließen der Börse in New York und der Eröffnung der Börse in Tokio, fällt die Differenz bekanntlich sogar noch deutlicher aus. Börsenzusammenbrüche scheinen deshalb, so wenigstens sieht es Paul C. Martin, in Zukunft montags wahrscheinlicher. Ders., Sachwert schlägt Geldwert, Berlin 1986, S. 315f. Die These, daß Globalisierung zur Entstehung einer einheitlichen Weltzeit geführt habe, ist deshalb nicht gleichbedeutend mit einer gleichphasigen globalen Synchronisation des sozialen Geschehens. Solange es die Menschen auf der Schattenseite des Globus vorziehen zu schlafen, während auf der Sonnenseite dem täglichen Geschäft nachgegangen wird, gilt die Globalisierungsthese und die These einer allzeitigen globalen Erreichbarkeit jedweder Kommunikationspartner nur eingeschränkt.

498 Das Wort Globalisierung bezieht sich implizit immer auf eine Mehrzahl von Dimensionen, so daß man mit gleichem Recht behaupten kann, die Gesellschaft wird nicht nur immer größer, sondern sie würde auch immer kleiner oder der Raum würde immer weiter, aber auch immer enger.

499 Im Hinblick auf das Syndrom Beschleunigung darf sicherlich Paul Virilio als der zeitgenössische Meister schnell formulierter und schlecht durchdachter - aber deshalb nicht notwendig uninteressanter - Dichotomien gelten. Die von Virilio vertretene Lehre von der Geschwindigkeit - die Dromologie - betrachtet die Zäsur zwischen der modernen und der vormodernen Welt als durch eine "dromokratische Revolution" begründet. Als Folge dieser Revolution erwartet uns nichts Geringeres als die "Liquidierung der Welt" selbst. Die Vormoderne ist das "Zeitalter der Bremswirkung", die Moderne das "Zeitalter der Beschleunigung"; der "geographische Raum" wandelt sich zum "dromologischen Raum"; der geographische Raum ist der Raum der "Materie", der dromologische Raum ist der Raum der "Transparenz"; "Territorialität" und "Geopolitik" werden durch "Temporalität" und "Chronopolitik" abgelöst. Vgl. z. B. ders., Der negative Horizont, München 1989; ders., Geschwindigkeit und Politik, Berlin 1980. Weil ihm brauchbare Begriffe fehlen, muß Virilio übertreiben. Dennoch sind viele seiner Beobachtungen in unserem Zusammenhang von Interesse und finden sich im übrigen häufig auch schon bei Carl Schmitt. Virilio muß den Raum verschwinden sehen, weil er nur über einen naiven ontologischen Raumbegriff verfügt, wir werden statt dessen im folgenden den Begriff des Raumes abstrakter zu fassen versuchen, um begreifbar zu machen, warum die Welt, solange noch kommuniziert wird, trotz allem nicht verschwindet.

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wäre vermutlich - schon aus bloßem Mangel an Kontrast - gar kein Unterschied auszumachen. Da Globalisierung aber unweigerlich ein Prozeß mit sinkendem Grenznutzen ist, der gegen eine obere Grenze konvergiert, die sich dadurch auszeichnet, daß global schließlich alles mit allem verbunden ist, kann man nur annehmen, daß die Beschleunigungsprozesse die Globalisierungsprozesse letztlich überholen müssen, so daß letztlich nicht nur alles mit allem zusammenhängt, sondern dieser Zusammenhang - im Falle unendlicher Beschleunigung - auch augenblicklich realisiert wird. Ort und Zeit würden damit irrelevante Kategorien. Das soziale Geschehen müßte dann als auf einen einzigen Punkt zusammengeschrumpft begriffen werden. Mit dieser Implosion aber wären auch alle sozial relevanten Differenzen und damit auch alle Handlungsmotive selbst verschwunden. 500 Klassische Forschungsbereiche, die sich auf die Verschränkung sozialer, räumlicher und zeitlicher Strukturen konzentrieren, wie zum Beispiel die Untersuchungen zur Innovationsdiffusion würden damit gegenstandslos. Die räumliche Diffusion wäre kein Prozeß mehr, sondern nur noch ein einziges Ereignis; aber auch die Innovation hätte keine Chance mehr, sich zu behaupten, denn dies kann nur in einer irreversibel verlaufenden Zeit gelingen, in der sich ein Vorsprung vor anderen markieren läßt. Statt Globaliserung und Beschleunigung ins völlig Absurde hoch zu extrapolieren, hat Marshall McLuhans sie im "global village" ausmünden lassen - aber auch das ist irreführend. Es ist sicherlich riskant, den apostrophierten kommunikativen Kollaps von Raum und Zeit501 durch Verweis auf vermeintlich natürliche Schranken für unmöglich erklären zu wollen. Eine knappe Ressource muß man als Soziologe jedoch immer in Rechnung stellen, nämlich Aufmerksamkeit. Soweit man in der Interaktion zu einer gegebenen Zeit jeweils immer nur einer einzigen Person aufmerksam folgen kann und soweit aus Gründen beschränkter Aufmerksamkeit solche Interaktionssysteme deshalb selten eine bestimmte Größe übersteigen, soweit scheint es kaum sinnvoll, die globale Verdichtung der Kommunikation auch nur annährungsweise im Sinne eines die Weltbevölkerung im Ganzen als anwesend behandelndes Interaktionssystem begreifen zu wollen. Die Weltgesellschaft läßt sich nicht als "global village" begreifen, sondern beruht, ganz im Kontrast zum interaktionsnah angelegten Dorfleben, gerade auf der immer einschneidender wirkenden Differenz von Interaktion und Gesellschaft. Die Klassiker der Soziologie, ja selbst noch Talcott Parsons, kannten diese beiden

500 So muß man wenigstens Paul Virilio lesen. Vgl. dazu Stefan Breuer, Der Nihilismus der Geschwindigkeit. Zum Werk Paul Virilios, in: ders., Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation, Hamburg 1992, S. 131-156.

501 Brunn, Stanley D. / Thomas R. Leinbach (Hrsg.), Collapsing space and time: geographic aspects of communication and information, London 1991.

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Formeln noch nicht und konnten die moderne Gesellschaft nicht anders als im Plural denken, nämlich als Nation. 502 Die Identifikation von Gesellschaft und Nation hatte ihr historisches Recht und war zumeist so selbstverständlich, daß sie gar nicht explizit genannt werden mußte. Die historischen Voraussetzungen dieses Gesellschaftsbegriffs sind in unserem Jahrhundert zunehmend aufgelöst worden. Die Soziologie hat auf die Verdichtung weltweiter Kommunikationszusammenhänge und Abhängigkeiten in zwei Formen reagiert: Soweit sie die Identifikation von Gesellschaft und Nation beibehielt, sah sie sich gezwungen, den so gefaßten Gesellschaftsbegriff durch ein Konzept der Globalisierung zu ergänzen; soweit sie dazu übergegangen ist, Gesellschaft als Weltgesellschaft zu begreifen, sah sie sich gezwungen, regionalen Unterschieden durch die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie gerecht zu werden. In beiden Fällen wird der Gesellschaftbegriff also in bezug auf Lokalität spezifiziert und konkretisiert. Wer mit Nation beginnt, beginnt mit einer segmentär differenzierten Einheit, und ist gezwungen, diese auf der Ebene der global dominanten, funktionalen Differenzierung zu ergänzen. Als weltweit oder global ausdifferenzierte Funktionssysteme können Wissenschaft und Wirtschaft genannt werden. Wer mit Weltgesellschaft beginnt, setzt funktionale Differenzierung voraus und muß diese dann mit der segmentären Differenzierung von Politik, Recht, Wohlfahrt, Sprache und Kultur arrangieren. Beide Optionen bedürfen also der Ergänzung. Darüber hinaus sind aber auch noch solche Systeme zu berücksichtigen, deren Operationsbereich großräumiger ist als der einzelner Nationalstaaten, ohne dabei den Status eines weltgesellschaftlichen Funktionssystems einzunehmen. Hier könnte man an die verschiedenen Weltreligionen denken, an Weltliteratur, auch an bestimmte kulturelle, länderübergreifende Wertmuster oder sogar an eine vielfach Sprachgrenzen übergreifende Öffentlichkeit ("die westliche Welt", "die islamische Welt" etc.). Gerade wenn es darum geht, eine Gesellschaftstheorie zu formulieren, die sich nicht - wie das die Klassiker der Soziologie noch mit einer gewissen Selbstverständlichkeit konnten - auf den Nationalstaat als Gegenstand beschränkt,503 sondern globalen Abhängigkeiten und

502 Obwohl Parsons die Möglichkeit der Entstehung einer "world society" nicht ausschloß. Vgl. ders., An Outline of the Social System, in: Parsons, Talcott et al., (Hrsg.), Theories of Society, New York 1965 (Orig. 1961), S. 43. Parsons' Verständnis einer solchen "world society" unterscheidet sich aber dabei deutlich sowohl vom Konzept der Weltgesellschaft, wie man es beispielsweise bei Niklas Luhmann findet, wie auch von Immanuel Wallersteins "world system". Die Unterschiede liegen im jeweils postulierten Modus der Integration: Parsons setzt auf kulturelle Wertmuster, Wallerstein auf Ökonomie und Macht, und im Rahmen der Luhmannschen Theorie schließlich scheint die Figur der Integration fast überflüssig. Man könnte sagen, die von ihr beobachtete Weltgesellschaft integriert sich durch Alternativenlosigkeit.

503 Eine Ausnahme bildet hier natürlich der Marxismus. Das Wertgesetz tendiert dazu, nationale Grenzen zu unterwandern. Der Weltmarkt bildete deshalb das dominante Referenzsystem einer marxistischen (Welt)Gesellschaftstheorie. Diese Modernität des marxistischen Ansatzes wurde jedoch nicht durch Abstraktion des Gesellschaftsbegriffs erzielt, sondern durch Reduktion, nämlich durch die tendenzielle Reduktion von

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Komunikationszusammenhängen gerecht zu werden sucht, scheint es nicht mehr angemessen, den Raum als bloßen Behälter des sozialen Geschehens zu begreifen. Eine Theorie der Weltgesellschaft kann die frappierenden globalen Inhomogenitäten und Heterogenitäten des sozialen Geschehens heute nicht mehr überzeugend als eine Frage nachholender Modernisierung, also als eine bloße Frage der Zeit auslagern. Dies scheint schon aus ökologischen Gründen fast ausgeschlossen. Ebenso wie das Problem der Zeit, der Eigenzeit sozialer Systeme, der Temporalisierung von Komplexität, der Sequenzanalyse von Ereignissen etc. in den letzten Jahren in die soziologisch Theoriebildung integriert wurde, um der "Eigenzeit" sozialer Systeme gerecht zu werden, 504 scheint es uns unabdingbar, auch das Raumproblem soziologisch zu reformulieren, um auch räumliche Verhältnisse gesellschaftstheoretisch präziser in Rechnung stellen zu können. 505 Niklas Luhmann hat gefordert, daß eine überzeugende Theorie in der Lage sein muß, "Variationen der Sozialstruktur und Variationen temporaler Strukturen miteinander zu korrelieren"506. Eine analoge Forderung könnte man für die theoretische Behandlung räumlicher Strukturen aufstellen. Man mag sich wundern, wie es überhaupt gelingen oder doch wenigstens den Eindruck erwecken konnte, daß man heute noch Fragen der Zeit unabhängig vom Problem des Raumes meint begreifen zu können. Unter den einschlägigen Monographien zur Soziologie der Zeit verweist lediglich Norbert Elias auf den inhärenten, positionalen Zusammenhang von Zeit und Raum. "Jede Veränderung im `Raum' ist eine Veränderung in der `Zeit', jede Veränderung in der `Zeit' ist

Gesellschaft auf Ökonomie. Wer, wie die klassische "bürgerliche" Soziologie, Gesellschaft durch (regionale) Kultur oder (nationales) Recht zu bestimmen sucht, hat deshalb historisch-empirisch bedingt zwangsläufig Aggregate und Einheiten anderer räumlicher Ausdehnung zum Gegenstand. Einen Versuch, die auch von ihrer räumlichen Ausdehnung divergierenden Einheiten, nämlich Region, Nation und Weltmarkt über die marxistisch gefaßten, ökonomischen Kategorien Produkt, Profit und Zins am Beispiel Brasilien theoretisch in Beziehung zu setzen, hat Elmar Altvater vorgelegt. Ders., Sachzwang Weltmarkt. Verschuldungskrise, blockierte Industrialisierung, ökologische Gefährdung - der Fall Brasilien, Hamburg 1987. Insbesondere Altvaters Konzept der "Artikulation von Funktionsräumen" (S. 55-132) ist für den "multidimensionalen" (an Parsons anschließenden) Ansatz, wie er am Ende dieses Kapitels angedeutet werden wird, von entscheidender Wichtigkeit.

504 Vgl. z. B. Bergmann, Werner, Die Zeitstruktur sozialer Systeme. Eine systemtheoretische Analyse, Berlin 1981; Elias, Norbert, Über die Zeit (Hrsg. M. Schröter), Frankfurt/M. 1984; Nowotny, Helga, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt/M. 1989; Dux, Günther et al., Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit. Mit kulturvergleichenden Untersuchungen in Brasilien, Indien und Deutschland, Frankfurt/M. 1989.

505 Otto Friedrich Bollnow hat bereits ein Konzept des "Eigenraums" entwickelt. Seine Analyse verbleibt aber im Rahmen der philosophischen Anthropologie. Ders., Mensch und Raum, Stuttgart 1990, S. 284ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die stärker sozialanthropologische, mittlerweile zu einem kleinen Klassiker gewordene Arbeit von Edward T. Hall, The Hidden Dimension, New York 1982.

506 Luhmann, Niklas, Die Zukunft kann nicht beginnen: Temporalstrukturen der modernen Ge sellschaft, in: Peter Sloterdijk (Hrsg.), Vor der Jahrtausendwende: Berichte zur Lage der Zukunft, Bd. 1, S. 119-150, S. 123.

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eine Veränderung im `Raum'."507 In beiden Fällen gilt es, sich von der alltagsüblichen Hypostasierung von Raum und Zeit als Gegebenheiten der Natur zu lösen. 508 Gerade das nicht selten vorgetragene Bekenntnis zur Interdisziplinarität - Stichwort: Selbstorganisation (oder dissipative Strukturen) - hätte hier eine parallele Beschäftigung mit räumlichen Strukturen eigentlich erzwingen müssen, denn bei fast allen Experimenten und Modellen zur Selbstorganisation, geht es um die Selbstorganisation räumlicher Muster.509 Räumliche Muster haben in der Diskussion zum Thema Selbstorganisation einen paradigmatischen Status. Inwiefern solche Modelle auf soziologische Problemfelder übertragbar sind und was dabei die entscheidenden Variablen sein könnten oder ob es sich nur um vage Analogien handelt, blieb in der Diskussion häufig unklar.510 Auch von hierher lassen sich deshalb unsere Überlegungen rechtfertigen, leider aber ohne den Anspruch erheben zu können, diese Lücke zu füllen. Wir wollen uns auf die heute schon in etwa absehbaren Konsequenzen dieser erst in Ansätzen durchschauten räumlichen Dynamiken für einen angemessenen Gesellschaftsbegriff

507 Elias, Norbert, Über die Zeit, Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt 1984, S. 74. Zum gleichen Resümee kommt man, wenn man mit dem topologisch begründeten Kalkül Spencer Browns Selbstreferenz und Selbstorganisation zu analysieren sucht. Vgl. dazu: Junge, Kay, Medien als Selbstreferenzunterbrecher, in: Baecker, Dirk (Hrsg.), Kalkül der Form, Frankfurt/M., S. 113-152.

508 Eine Rückbindung aller Beobachtungen an einen Beobachter ist natürlich auch hier notwendig, aber auch hier wird man heute noch abstrakter formulieren müssen als Kant. Kant begreift Raum "als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen." (Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956, S. 67) Dem soll auch hier nicht widersprochen werden. Problematisch wird es jedoch, wenn diese Bedingung der Möglichkeit zu einer "notwendigen Vorstellung a priori" erhoben wird , "die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt" und gleichzeitig eine einzige ganz bestimmte und alternativenlose Form des Raumes unterstellt wird, die Kant schließlich dazu führt auch die Geometrie zu einer synthetischen und doch a priori gültig und richtigen Wissenschaft zu erklären. Man könnte sich z. B. fragen, ob der Raum notwendigerweise drei Dimensionen ("nur drei Abmessungen" - wie es bei Kant heißt) haben muß, oder ob nicht vielleicht auch weniger Dimensionen als Bedingung der Möglichkeit von Erscheinungen ausreichen, man könnte fragen, ob der Raum immer eine metrische Struktur besitzen muß, ob er homogen und isotrop sein muß etc. Seit dem Ende des 19. Jahunderts hat der Raum in Mathematik und Physik wenigstens den ihm von Kant zugesprochenen Status verloren. Kant betont ausdrücklich, daß der Raum nicht als eine "abhängende Bestimmung" der Erscheinungen "angesehen" werden kann (Ders., a.a.O. S. 67). Hier wollen wir teilweise widersprechen: obwohl ein Beobachter den Raum bzw. das Medium in dem er operiert selbst niemals direkt "ansehen" kann, glauben wir doch, daß es - ähnlich wie in der Mathematik - auch mit Bezug auf soziale Räume sinnvoll sein kann, wenn man sie durch das bestimmt, was in ihnen Möglich ist, also ihre Form gewissermaßen in Abhängigkeit von den Erscheinungen zu bestimmen sucht und diese Formen nicht auf die eine, vielleicht fixe Form des "äußeren Sinnes" beschränkt, wie Kant dies vorgeschlagen hat (Ders., a.a.O., S. 70).

509 Insbesondere die Arbeiten von Peter Allen über räumliche Dynamik und Selbstorganisation geographischer Systeme, die auch Ilya Prigogine wiederholt vorgestellt und diskutiert hat, hätten hier als Anschlußpunkt dienen können. Vgl. z. B. Ilya Prigogine, From Being to Becoming. Time and Complexity in the Physical Sciences, San Francisco 1980, S. 123ff; vgl. auch Peter Gould, The Geographer at Work, London und New York, 1985, S. 104-114. Aber auch ein Blick in ein beliebiges Physikbuch der Oberstufe hätte auf die "Komplementarität" von Raum und Zeit aufmerksam machen können.

510 Mit wenigen Ausnahmen, z. B. Gierer, Alfred, "Sozio-ökonomische Ungleichheiten: Einfluß von Selbstverstärkung, Verknappung und Umverteilung", Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik 196, 1981, S. 309-331.

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konzentrieren und beschränken. Um wenigstens modellhaft zu verdeutlichen, wie schon sehr einfache soziale Beziehungen in ihrer Dynamik als raum-zeitlich konstituiert beobachtet werden können, wollen wir Keith J. Tinkers topologische Analyse periodischer Märkte mit Hilfe der sogenannten Vier-Farben-Vermutung im Ansatz vorstellen. 511 Dieses Beispiel dürfte gerade auch für die systemtheoretisch inspirierte Diskussion um den Zeitbegriff attraktiv sein, weil es sich technisch mit einer Variante der von Spencer-Brown entwickelten Laws of Form formulieren läßt. Bevor wir zu Tinkers Analyse selber kommen, sollten deshalb noch in aller Kürze die in diesem Zusammenhang relevanten Strukturmerkmale der Laws of Form genannt werden. Der Kalkül der Laws of Form ist hier deshalb von Interesse, weil es, ähnlich wie Jacques Derridas Figur der différance, die Räumlichkeit und Zeitlichkeit als zwei inhärente Dimensionen allen Unterscheidens herausarbeitet und zu nutzen versucht. Spencer-Browns distinction, wie auch Derridas différance verweigern sich gewissermaßen dem in der Formel von der Globalisierung und der Beschleunigung des modernen Lebens beschworenen Kollaps von Raum und Zeit. Das Neue an Spencer-Browns Kalkül ist die erfahrungsnahe, topologische Herleitung logischer, arithmetischer und algebraischer Abhängigkeiten und die dadurch gleichzeitig gewonnene Chance, klassische Paradoxien der Selbstreferenz mit Hilfe der Figur des re-entry zu reformulieren. Die Figur des re-entry erlaubt es, selbstreferentielle Beziehungen innerhalb des Kalküls ohne paradoxen Kurzschluß zu formulieren. Dies gelingt, weil deren Zeitlichkeit und Räumlichkeit durch den Kalkül in Rechnung gestellt werden. Der punktuelle, alles in einem Augenblick zusammenziehende Kurzschluß wird durch die Laws of Form umgangen. Im Anschluß an Ernst Mach könnte man sagen: "der Umweg ist die erste Form."512 Seine Leistungsfähigkeit - so der Anspruch Spencer-Browns - beweist der Kalkül unter anderem in der Behandlung des Vier-Farben-Problems. Bis 1976 galt es als unbewiesen, ob vier verschiedene Farben ausreichen, um eine beliebige Landkarte so zu färben, daß keine benachbarten Gebiete die gleiche Farbe haben. 513 Mit Hilfe einer notationstechnischen Variante der Laws of Form erhält man ein Rezept, das es erlaubt, Karten so lange neu zu färben, bis die Farbkombination stimmt und keine weiteren

511 Tinker, Keith J., "The topology of rural periodic market systems", Geografiska Annaler, 55 B, (1973), S. 121-133.

512 Sommer, Manfred, Evidenz und Augenblick - Eine Phänomenologie der reinen Empfindung, Frankfurt/M. 1987, S. 162f.

513 Vgl. Saaty, Thomas L. / Paul C. Kainen, The Four-Color Problem. Assaults and Conquest, New York 1986.

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Veränderungen mehr nötig sind.514 Inwiefern das Rezept tatsächlich immer zum Erfolg führt, soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Von einem funktionstüchtigen Algorithmus zu sprechen, scheint vermutlich noch ein wenig übertrieben. Das Vier-Farben-Problem findet sich in der soziologischen Literatur vermutlich nur als Gedankenexperiment bei der Erörterung graphentheoretischer Konzepte. Doch es gibt wenigstens eine Ausnahme, die hier nun vorgestellt werden soll, da sie nicht nur methodischen, sondern auch soziologisch-substantiellen Wert hat. Periodische Zeitabschnitte, die nicht unmittelbar von natürlichen Vorgaben abhängig zu sein scheinen, wecken einen besonderen soziologischen Erklärungsbedarf. Insbesondere der Sieben-Tage-Rhythmus der Woche hat hier einige Autoren fasziniert.515 Die Länge der Woche scheint anders als die Länge des Jahres oder die eines Tages nicht durch na türliche, also kulturell nur wenig modifizierbare Rhythmen determiniert. Die Länge der Woche scheint willkürlich, bei dieser Periodenlänge scheint es sich um ein soziales Konstrukt zu handeln und deshalb variiert sie historisch und geographisch. Aber es gibt noch eine ganze Reihe anderer Perioden von scheinbar ähnlich willkürlicher Dauer. Periodische Märkte gehören hierhin und damit sind wir bei unserem Beispiel. 516 Auch die Perioden von Märkten variieren deutlich. Man kann das dem Zufall zuschreiben oder der Kultur, aber man kann auch versuchen, ein einheitliches Modell zu entwickeln, das in der Lage ist, unterschiedliche Perioden aus bestimmten anderen, nicht wiederum als willkürlich änderbaren Umständen abzuleiten. Eine saubere Modellbildung ist aber bekanntlich meistens schwierig, da hier im sozialen Leben häufig ganz unterschiedliche systemspezifische Perioden miteinander arrangiert werden müssen, z. B. müssen die religiös bestimmte Wochenlänge und der wirtschaftlich bestimmte Abstand zwischen Markttagen nicht unbedingt harmonieren. Ceteris paribus Klauseln zu dem hier interessierenden Modell sind deshalb im Einzelfall unvermeidbar. Das Modell läßt sich in einer zunächst sicherlich verblüffend klingenden These als strukturelle Analogie zum Vier-Farben-Theorem formulieren: Die Marktperiode umfaßt im einfachsten Fall nicht wesentlich weniger, aber auch nicht wesentlich mehr als vier Tage, weil die Erde für die jeweils an den einzelnen Märkten teilnehmende Bevölkerung mehr oder weniger flach ist. Das Vier-Farben-Theorem besagt, daß sich eine beliebige Landkarte mit vier verschiedenen Farben so einfärben läßt, daß keine zwei benachbarten Länder die gleiche

514 Vgl. Kauffman, Lou, Map Reformulation, London 1986.

515 Vgl. z.B. Zerubavel, Evitar, Hidden Rhythms. Schedules and Calenders in Social Life, Berkeley, Cal. 1985.

516 Vgl auch Haggett, Peter, Geography. A Modern Synthesis, New York 1979, S. 368.

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Farbe haben. Die Vier-Farben-Vermutung bezieht sich auf eine gewöhnliche ebene Karte und die auf einer solchen Karte möglichen topologischen Nachbarschaften (es gibt also z. B. keine Tunnel zwischen den einzelnen auf der Karte nicht benachbarten Regionen). Die Vier-Farben-Vermutung ist von Keith J. Tinker auf das Problem der Periodenlänge ländlicher Märkte übertragen worden: Tinker versucht die kürzeste Marktperiode durch die räumliche Einbettung bzw. Vernetzung der einzelnen Märkte in Analogie zum Vier-Farben-Problem zu bestimmen. Dazu identifiziert er die verschiedenen Markttage mit verschiedenen Farben. In einem Netz von periodischen, potentiell miteinander konkurrierenden Märkten reicht eine Periodenlänge von vier Tagen hin, um sicherzustellen, daß an zwei durch das Netz verbundenen Orten nicht gleichzeitig, also am selben Tag ein Markt stattfindet. Auf diese Weise kann die gleichzeitige Konkurrenz zwischen benachbarten Marktorten um dieselbe Kundschaft vermieden werden. Darin sieht Tinker den entscheidenden Grund für die Evolution solcher Marktperioden. Hat das räumliche Arrangement der einzelnen Märkte, oder genauer der Graph, dessen Knoten die einzelnen Märkte bilden, aber die Form eines Baums, werden unter der Bedingung der Vermeidung von gleichzeitiger Konkurrenz zwischen benachbarten Märkten auch kürzere Marktperioden möglich. Eine solche Konstellation ergibt sich, wenn die Märkte entlang einer Hauptverkehrsader mit einzelnen, nicht wieder zurückführenden Abzweigungen, stattfinden. Zahlreiche Varianten des Modells lassen sich über eine Modifikation der zugrundeliegenden Topologie oder die Fixierung der Perioden einzelner Märkte im Netz durch äußere Parameter konstruieren. Die Arbeit von Tinker zeigt nicht nur, daß es durchaus Sinn machen und empirisch gehaltvoll sein kann, zunächst einmal esoterisch anmutende und stark vereinfachende formale Überlegungen zu verfolgen, da sie zuweilen Strukturen aufdecken können, die einem Denken ohne Papier und Bleistift gar nicht zugänglich sind. Tinkers Arbeit legt - und darauf kommt es uns hier an - einen Strukturzusammenhang frei, der gegenüber Globalisierungs- und Beschleunigungsprozessen invariant ist.517 Solange der Begriff der Gleichzeitigkeit und das Konzept der - wie abstrakt auch immer definierten - topologischen Nachbarschaft Sinn machen, gibt es soziale Strukturen, deren räumliche Einbettung nicht durch Globalisierungs- und Beschleunigungsprozesse irrelevant wird, sondern sich allenfalls im Verlauf dieser Prozesse ändert. Wir wollen uns deshalb im folgenden der Frage widmen, in welcher Weise und ob überhaupt verschiedene Varianten der soziologischen Handlungs- und Systemtheorien sich der Analyse solcher Strukturen gewidmet haben.

517 Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß die von Tinker analysierten Märkte von solchen Prozessen unberührt bleiben. Invariant ist die von Tinker identifizierte Struktur nur in bezug auf die absolute Länge der Periode und in bezug auf die Ausdehnung des Marktnetzes. Selbst im Sekundenrhythmus wechselnde Märkte und selbst bei einer globalen Ausbreitung des Marktnetzes reicht eine Vierer-Periode.

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1.2 Strukturalistische Handlungstheorien: Die Handlungstheorie folgt einem alltäglich bewährten Zurechnungsschema, wenn sie Handlungen kausal auf jene Einheiten zurückrechnet, die am leichtesten zu fassen sind und zur Verantwortung gezogen werden können, nämlich auf Individuen. Die Handlungstheorie geht hinsichtlich der uns interessierenden Frage nach den räumlichen Beziehungen sozialer Strukturen mehr oder weniger implizit davon aus, daß Handeln in einem unabhängig davon existierenden Raum, wie in einem Behälter, stattfindet. Das klingt trivial, solange man das Geschehen nicht auch anders konzipieren kann. Als Alternative zum Behälter-Paradigma des Raumes soll deshalb im nächsten Abschnitt ein Medium-Paradigma des Raumes vorgestellt werden. Im Medium-Paradigma ist der Raum selbst relational durch die Handlungen definiert, ist also nichts fest Vorgegebenes. Wir haben in diesem, wie auch im nächsten Abschnitt über Systemtheorie jeweils ein einheitliches Label für die jeweils drei diskutierten Theoretiker gewählt. Solche Etikettierungen sind häufig ungelenk oder zu vage, manchmal sogar ärgerlich. Unsere Zuordnung der einzelnen Autoren entspricht hier aber in etwa - so hoffen wir wenigstens - dem soziologischen mainstream. Wenigstens aber suggeriert sie eine gewisse Ausgewogenheit und Symmetrie. Die drei in diesem Abschnitt diskutierten Autoren sind mindestens dadurch verbunden, daß sie alle drei ihre Aufmerksamkeit auf die Inkongruenz von individueller und struktureller Perspektive, - oder klassisch gesprochen: von Individuum und Gesellschaft - konzentrieren und diese Inkongruenz als etwas Produktives, also nicht als bloße Einschränkung begreifen. 518 Simmels Soziologie hatte bekanntlich einen prägenden Einfluß auf die Etablierung der Urban-Sociology in den USA, insbesondere auf die Chicago School

518 Bei Parsons fällt die hier gewählte Etikettierung sicherlich am schwierigsten. Sie scheint mir aber aus zwei Gründen berechtigt: Zum einen verwendet Parsons den Systembegriff lediglich als analytische Kategorie, ohne damit eine ontologische Aussage über den Gegenstand zu machen und zum anderen bezieht er die auf diese Weise analytisch-definitorisch herausgehobenen Strukturprobleme des so konzipierten Gegenstandes immer auf einen fixen Kanon von vier Funktionen zurück. Die These von der durch Perspektiveninkongruenz eröffnete Perspektive geht auf Kenneth Burke, Permanence and Change - An Anatomy of Purpose, Berkeley 1984, (Teil II) zurück. Eine ähnliche Überlegung findet sich auch bei Gregory Bateson, Mind and Nature, Glasgow 1980, S. 79ff. Von hier aus ergibt sich ein fast gleitender Übergang zu systemtheoretischen Problemstellungen. Wenn man "strukturalistische Handlungstheorie" als Oxymoron identifiziert, begreift man als Widerspruch, was die Systemtheorie im Verweis auf die Paradoxie der Selbstreferenz als Einheit faßt.

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und ihren sozialökologischen Ansatz seit den 20er Jahren, und Anthony Giddens kommt das Verdienst zu, das wechselseitige Interesse der Soziologie und Geographie in den letzten zehn Jahren erneut geweckt und auf bislang vernachlässigte Problembereiche hingewiesen zu haben, Talcott Parsons aber scheint, trotz mehrerer systematisch plazierter Innovationen in Sachen Raum ein in dieser Hinsicht kaum rezipierter Theoretiker zu sein.

Georg Simmel Unter den Klassikern der Soziologie hat insbesondere Georg Simmel "die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft" zum Gegenstand theoretischer Überlegungen gemacht.519 Er eröffnet damit jedoch keine neue Forschungsfront. Er formuliert keine neue Problemstellung, sondern greift mit seinem Aufsatz lediglich ein etwas abseitiges Thema auf. In Simmels Reflexionen über die Bedeutung des Raumes werden deshalb auch gerade die Gründe schnell sichtbar, die auch weiterhin die Abseitigkeit der Frage nach dem Verhältnis von räumlichen und sozialen Strukturen garantieren. Simmels Überlegungen dienen uns deshalb eigentlich nur im Negativen, als Kontrastfolie. Er führt vor, wie es nicht weitergehen kann. Versucht man sich in der von Simmel geprägten Art und Weise dem Thema Raum zu nähern, scheint es geradezu zwangsläufig, daß die Wahl dieses Themas als eine Präferenz für - wenn auch reizvolle - esoterische und wohl auch eher sozialpsychologische Fragestellungen gewertet wird. Es soll deshalb an Simmel gezeigt werden, daß es darauf ankommt, die Fragestellung oder allgemeiner noch, den Begriff des Raumes selbst anders zu bestimmen, um das Verhältnis von sozialen und räumlichen Strukturen gesellschaftstheoretisch interessant zu machen. Simmels Text über den Raum lassen sich im wesentlichen zwei theoretische Gründe für die Marginalität der Frage nach der räumlichen Ordnung des sozialen Lebens entnehmen. Beide Gründe sind durch einen spezifischen Raumbegriff bestimmt, nämlich der Konzeptualisierung des Raumes als Behälter oder Container. Der erste Grund ist ein evolutionstheoretischer, der zweite ein erkenntnistheoretischer. Simmel meint feststellen zu können - und dem soll hier auch nicht, wenigstens nicht frontal, widersprochen werden -, daß der Raum im Verlauf der Modernisierung zunehmend seine Funktion als Grundlage und Orientierungsrahmen sozialer Ordnung verliert. Die Orientierung an räumlichen Konstellationen rückt mit der wachsenden Relevanz zeitlicher Größen mehr und mehr in den

519 Simmel, Georg, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1983, S. 460ff. (9.Kap.).

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Hintergrund. Den zweiten Grund entwickelt Simmel in deutlichem Anschluß an Kants Erkenntnistheorie. Er reduziert den Raum auf eine Kategorie der Wahrnehmung, auf eine "an sich wirkungslose Form"520: "Nicht der Raum, sondern die von der Seele her erfolgende Gliederung und Zusammenfassung seiner Teile hat gesellschaftliche Bedeutung."5211 Simmel stellt den Raum als Behälter vor. Dementsprechend gibt es nur "einen einzigen allgemeinen Raum", von dem "alle einzelnen Räume Stücke sind". 522 Mit der evolutionären Behauptung abstrakter Kommunikationsformen, insbesondere dem Geldverkehr, sowie dem technischen Fortschritt im Transportwesen, konvergiert dieser Raum deshalb mit Notwendigkeit auf einen einzigen Punkt und wird damit sozial tendenziell belanglos. Begleitet und getragen wird diese gesellschaftliche Entwicklung auf Seiten des Bewußtseins durch eine wachsende Abstraktionsfähigkeit. "Je primitiver das Bewußtsein ist, desto unfähiger, die Zusammengehörigkeit des räumlich Getrennten oder die Nichtzusammengehörigkeit des räumlich Nahen vorzustellen."523 Die Räumlichkeit sozialer Beziehungen verliert also gewissermaßen gleich auf zwei Ebenen an Bedeutung: einmal aufgrund der modernen Techniken der Distanzüberwindung (Transportmittel und technische Kommunikationsmedien) und zweitens aufgrund des wachsenden Abstraktionsvermögens der Individuen. Man kann natürlich empirisch bezweifeln, daß der Raum der modernen, durch Beschleunigung und wachsende Abstraktion charakterisierbaren Gesellschaft heute schon in einem Punkt konvergiert oder, um eine andere Metapher aufzugreifen, kollabiert ist.524 Offensichtlich leben wir auch heute noch nicht in einem "global village", um ein Schlagwort von Marshall McLuhan aufzugreifen. 525 Selbst in der von Simmel, der hier nur exemplarisch für eine Reihe anderer Autoren stehen mag, entworfenen Perspektive hat der Raum nach wie vor eine gesellschaftliche oder wenigstens doch individuelle Relevanz behalten. 526

520 a.a.O., S. 460.

521 a.a.O., S. 461.

522 a.a.O., S. 462.

523 a.a.O. S. 480.

524 Vgl. Brunn, Stanley D. / Thomas R. Leinbach (Hrsg.), Collapsing space and time: geograpic aspects of communication and information, Cambridge 1991.

525 McLuhan, Marshall / Quentin Fiore, War and Peace in the Global Village, New York 1989.

526 In diese Richtung scheint mir die Argumentation von J. Nicholas Entrikin, The Betweennes of Place: Towards a Geography of Modernity, (Baltimore 1991) zu gehen. Auch er wählt einen neokantianisch orientierten erkenntnistheoretischen Zugang (allerdings ohne deutlichen Bezug auf Simmel) und ergänzt diesen durch eine Theorie der Narration. In der identitätsstiftenden Narration korrespondieren plot und place und bilden gewissermaßen ein Bollwerk gegen die modernitätsbedingte Homogenisierung des Raumes.

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Diese Perspektive läßt sich vermutlich schon in sich selbst ad absurdum führen, denn die These, daß der Raum auf einen Punkt schrumpft, scheint unvereinbar mit der Annahme, daß in diesem Punkt gleichsam noch sozialer Sinn untergebracht werden könne.527 Der Punkt wird hier nach wie vor als Behälter gedacht, der Sinnstrukturen beherbergen kann, denn pur, als reine ungebundene Form kann es auch Sinn nicht geben. Zwar überzeugt die These, daß mit der wachsenden Effizienz von Transportmitteln und Kommunikationsmedien die Bedeutung des Raumes sinkt, aber sie sinkt nur, insoweit es um absolute Entfernungen geht, geht es aber um relative Entfernungen, ist dies nicht notwendig der Fall.

Anthony Giddens Anthony Giddens hat eine Reihe von Neologismen geprägt, um klassische soziologische Dilemmata zu überwinden und um einige, von den Klassikern übersehene oder wenigstens doch konzeptuell vernachläßigte Aspekte gerade auch der modernen Gesellschaft für das Fach greifbar oder wenigstens doch benennbar zu machen. Mit dem Terminus "structuration" hat er versucht, die apodiktische Gegenüberstellung von Akteur und Struktur zu überwinden; mit dem Terminus der "double hermeneutics" hat er ein, die Problematik des Beobachtens von Beobachtern und damit auch den heiklen Status des eigenen Fachs auszeichnendes Label gefunden etc. Viele mögen dies spätestens im nachhinein schon vorher gewußt haben, - aber das rechte Wort hatte sich noch nicht eingestellt.528 Auch für die bislang zwar von

527 In ganz ähnlicher Weise hat auch Walter Isard die ökonomische Theorie, insbesondere die neoklassische Gleichgewichtstheorie kritisiert, da sie alle Elemente des Wirtschaftslebens als in einem Punkt zusammengezogen behauptet, als eine "one-point-world" als ein "wonderland of no spatial dimension". Ders., Location- and Space-Economy, Cambridge, Mass. 1956, S. 25, zit. nach Läpple, Dieter, Essay über den Raum - Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept, in: Hartmut Häußermann et al., Stadt und Raum - Soziologische Analysen, Pfaffenweiler 1992, S. 157-207, S. 170.

528 Wirklich gewußt hat es (in Sachen structuration, um nur die prominenteste Wortschöpfung herauszugreifen) mit Sicherheit z. B. Gordon Pask: "the behaviour makes the structure, and vice versa". Ders., A conversation theoretic approach to social systems, in: Geyer, R. Felix / Johannes van Zouwen (Hrsg.), Sociocybernetics Vol. 1, Leiden 1978, S. 15-26, S. 20. Auch im Rahmen der Netzwerkanalyse ist häufig auf dieses Problem hingewiesen worden (obwohl die meisten Netzwerkanalysen bislang eher statisch ausgerichtet waren): Ronald S. Burt z. B. schreibt: "Actions are ... a joint function of actors pursuing their interests to the limit of their ability where both interests and ability are patterned by social structure. Finally, actions taken under social structural constraint can modify social structure itself and these modifications have a potential to create new constraints to be faced by actors within the structure." (Ders., Toward a Structural Theory of Action, New York 1982, S. 9). Vermutlich war sogar für Talcott Parsons das, was Giddens `structuration' nennt, mehr oder weniger eine Selbstverständlichkeit: "a common culture must on some level be a prerequisite of effective communicative interchange. But it is also typically modified and added to, through the process of communication itself. So we may speak of communicative process starting in a matrix of given `understandings' and ending in a modified system." Ders., The Principal Structures of Community, in: ders., Structure and Process in Modern Societies, New York 1960, S. 250-279, S. 269.

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niemandem bestrittene, aber andererseits auch von niemandem auf den Begriff gebrachte gesellschaftliche Relevanz von Raum und Zeit hat Giddens eine griffige Formel entwickelt: time-space-distanciation. Hier wird Giddens für unsere Zwecke interessant. Giddens schließt in seiner Theoriearbeit in Sachen Raum und Zeit mehr oder weniger locker an Martin Heidegger und den Geographen Torsten Hägerstrand an. 529 Für Heidegger ist das Sein des Menschen Dasein. Das Dasein als ein In-der-Welt-Sein ist durch Sorge bestimmt. Zeitlichkeit ist "der Seinssinn der Sorge" und von da aus versucht Heidegger schließlich auch die spezifische Räumlichkeit des Daseins als in der Zeitlichkeit gründend zu begreifen. 530 Heidegger betrachtet den "Einbruch des Daseins in den Raum" als durch die "ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit" begründet - dieser Option aber folgt Giddens schon nicht mehr, sondern behandelt statt dessen Raum und Zeit eher traditionell, als mehr oder weniger gleichursprünglich. 531 Als zweiten nicht-soziologischen Autor versucht Giddens Torsten Hägerstrand für die Soziologie zu beerben. Insbesondere Hägerstrands Konzept und Darstellungstechnik der time-geography hat dabei sein Interesse geweckt. Hägerstrands time-geography bezieht sich auf die raum-zeitliche Verortung von Personen. Die räumliche Verortung wird dazu auf einer zweidimensionalen Karte eingezeichnet und die zeitliche Veränderung des jeweiligen Standortes in bezug auf eine senkrecht dazu stehende Zeitachse angegeben, also für jeden neuen Zeitpunkt auf eine neue Karte eingezeichnet. Man erhält so ein dreidimensionales Koordinatensystem, in das die Aufenthaltsorte einer oder mehrerer Personen im zeitlichen Nacheinander als Trajektorie eingezeichnet werden können. Die Länge der Zeitachse beschränkt sich bei dieser Darstellungstechnik typischerweise auf eine einschlägige Periode, z. B. den 24-stündigen Tagesablauf, so daß nach dem Durchlauf dieser Periode die so sukzessiv kartographisch verbuchte Person sich wieder an ihrem Ausgangsort befindet (z. B. wieder in der eigenen Wohnung am Frühstückstisch sitzt). Im Koordinatensystem berühren

529 Neben diesen wären vielleicht noch Michel Foucault und Erving Goffman zu erwähnen. Hier handelt es sich aber nicht um genuine Theorieimporte, sondern um auch sonst in der Soziologie präsente Autoren. Wir übergehen sie hier deshalb zunächst.

530 Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 1986, S. 367-369 (§ 70). Giddens' Überlegungen bleiben aber - so glauben wir wenigstens - im Gegensatz zu denen Heideggers (unbemerkt?) dem Behälter-Paradigma des Raumes verpflichtet. Heidegger hingegen setzt radikaler an: "Die Welt ist nicht im Raum vorhanden; dieser jedoch läßt sich in der Welt entdecken." (S. 369.)

531 Wenn man bedenkt, daß Giddens einer der ersten prominenten Soziologen war, der sowohl die Theorie der Autopoiesis und damit indirekt auch das Kalkül Spencer-Browns als auch den Dekonstruktivismus Derridas rezipierte, mag diese nirgendwo begründete Theorieoption Verwunderung auslösen, da doch in beiden der genannten Ansätze Raum gegenüber der von Giddens fortgesetzten Tradition in deutlich heterodoxer Weise konzeptualisiert wird. Vgl. insbesondere Giddens, Anthony, Central Problems in Social Theory, Berkeley 1979, S. 75f. (Autopoiesis), S. 28ff (Derrida).

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sich deshalb die oberste und die unterste Ebene: Die oben endende Trajektorie wird unten wieder fortgesetzt. Diese Darstellungsweise läßt sich verkomplizieren: z. B. läßt sich in einem solchen Koordinatensystem auch notieren, welche möglichen Orte eine bestimmte Person bei Verfügbarkeit bestimmter Fortbewegungsmittel (zu Fuß, mit dem Auto etc.) und Inrechnungstellung bestimmter constraints (z. B. Anwesenheitspflicht am Arbeitsplatz von 7.00 bis 16.00 Uhr und Angewiesenheit auf 7 Std. Schlaf) erreichen könnte. Um das zu verdeutlichen, wird die Trajektorie, dort wo mehrere Optionen offenstehen, durch ein kontinuierlich wachsendes und dann bis zum nächsten definitiven Ortstermin wieder schrumpfendes Volumenelement abgelöst. Giddens hat das Hägerstrandsche Modell in bezug auf die in ihm implizit angelegte Annahme statischer constraints und die damit einhergehende Vernachlässigung von Machtverhältnissen kritisiert und zu ergänzen versucht. Die Ergänzungen beziehen sich sowohl auf die Konzeptualisierung von Zeit als auch auf die von Raum. In deutlicher Anlehnung an Fernand Braudel unterscheidet Giddens drei unterschiedliche Zeitebenen: die `durée' der alltäglichen sich wiederholenden Erfahrungen, die Lebensspanne des Individuums und die generationenübergreifende `longue durée' der Institutionen. 532 Die erste Zeitebene entspricht noch am ehesten dem Hägerstrandschen Modell. Hier wird die Ortsveränderung in bezug auf den typischen Tagesrhythmus notiert. In bezug auf diese Periodenlänge spricht Giddens von "reversible time", denn, was man heute so gemacht hat, könnte man morgen vielleicht anders machen. Korrekturen, Verbesserungen, aber auch Verschlechterungen sind hier möglich, ohne endgültig sein zu müssen. Die Betonung der Reversibilität hält Giddens für eine konzeptuelle Ergänzung der "time-geography" - der visuelle Eindruck einer geschlossenen Trajektorie entsteht aber automatisch, wenn man den Koordinatenraum so dreht, daß der Blickwinkel orthogonal zu den beiden Raumachsen steht, man also die Karte aus der Vogelperspektive betrachtet und der Verlauf der Zeit dadurch unsichtbar wird und deshalb den Eindruck der Reversibilität erzeugt.533 Die bei den anderen von Giddens diskutierten Zeitebenen lassen sich nur noch vage mit der time-geography Hägerstrands verbinden, wenigstens in der formalen Stringenz und Anschaulichkeit, wie sie für Hägerstrands eigenes Modell charakteristisch ist, sind diese Varianten bislang nicht entfaltet worden und die verbale Explikation bei Giddens und Braudel läßt zweifeln, ob dies überhaupt gelingen kann. Die Verweise auf Hägerstrand werden deshalb auch bei Giddens selbst dünner. Die zweite Zeitebene bezieht sich auf die Lebensspanne eines Individuums. Giddens spricht hier von "irreversible time", denn das Leben betreffende Entscheidungen haben

532 Giddens, Anthony, The Constitution of Society, Berkeley 1984, S. 35.

533 Giddens, Anthony, The Constitution of Society, Berkeley 1984, S. 134.

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wegen der Endlichkeit des Lebens etwas Endgültiges und Irreparables an sich. Der Zeitfluß hat hier einen deutlichen Richtungssinn. Die dritte Zeitebene schließlich ist explizit von Braudels Konzeption der `longue duree' her formuliert. Sie ist wiederum reversibel, wenn auch in Zeithorizonten, die den Tagesrhythmus und die Lebenserwartung des Einzelnen weit überschreiten. 534 Der Raum im Hägerstrandschen Modell entspricht einem einfachen Kartenbild. Auch in bezug auf den Raum hat Giddens einige Neukonzeptualisierungen vorgeschlagen. Aber auch hier ist nicht sofort klar, wie sie sich im Sinne der time-geography formalisieren lassen. Hägerstrand hat den Begriff `station' gewählt, um jene Orte zu kennzeichnen, an denen die Trajektorien einer bestimmten Anzahl von Personen mehr oder weniger konvergieren, sich kreuzen oder parallel verlaufen. Eine Schule, ein Büro, eine Fabrik, ein Bahnhof, eine Wohnung oder ein Gefängnis sind jeweils besondere Stationen oder Anlaufstellen für einen bestimmten Personenkreis zu jeweils bestimmten Zeiten. Giddens hat zur Bezeichnung solcher, aber auch anderer Raumausschnitte den abstrakteren Terminus `locale' vorgeschlagen. Locales bezeichnen den Ort und räumlichen Kontext - das `setting' - der Interaktion. Sie sind definiert durch einen hohen Grad an aktueller Erreichbarkeit (`presence availability') der jeweils interessierenden Anderen. 535 Die räumliche Ausdehnung von locales kann dabei relativ beliebig sein und hängt ab vom spezifischen Charakter der sozialen Beziehungen. Es kann sich um einen Schulhof, um einen Supermarkt oder auch um einen Nationalstaat handeln. Soweit diese Einheiten über Macht integriert werden und nach außen hin deutlich abgeschottet sind, spricht Giddens, angeregt durch die Arbeiten Michel Foucaults von Machtbehältern (`power-container').536 Ein Klassenzimmer oder ein Nationalstaat sind z. B. solche Machtbehälter. Gleichzeitig können die als locales bezeichneten Raumausschnitte aber auch nach innen weiter differenziert sein. Giddens bezeichnet diese Art der räumlichen Untergliederung als Regionalisierung. Eine Wohnung z. B. ist typischerweise in unterschiedliche Regionen untergliedert: Wohnzimmer, Flur, Schlafzimmer, Bad, etc., ebenso sind Städte, Fabriken, Gefängnisse, Staaten oder auch das globale System in unterschiedliche Regionen unterteilt. Die Regionalisierung von locales wiederholt sich auf allen Größenordnungen, so daß ein hierarchisches Cluster von ineinander gestaffelten locales entsteht. Die regionale Differenzierung vergleichsweise großer

534 Die These der Reversibilität mag hier verwundern. Giddens wird dazu gezwungen, da er Fortschrittsvorstellungen, Entwicklungslogiken und Evolutionstheorien mehr oder weniger "in einen Topf schmeißt" und kategorisch ablehnt.

535 Giddens, Anthony, The Constitution of Society, Berkeley 1984, S. 118.

536 Ders. a.a.O. z. B. S. 136.

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Territorien kann aber nicht mehr über die habitualisierte und immer nur lokale Alltagspraxis integriert werden, sondern ist auf einen entsprechend hohen Grad der Institutionalisierung dieser Unterteilungen angewiesen. 537 Giddens thematisiert die hierarchische Struktur dieser Cluster jedoch nicht explizit, aber sie scheint uns mehr oder weniger zwingend aus seiner Begriffsbildung ableitbar. Die hierarchische, weil exklusive Aufteilung der Örtlichkeiten oder locales in immer kleinere sich einander nicht überlappende locales mag jedoch schnell zu einer Fehlverbuchung bestimmter settings führen. Z. B. wenn vergleichsweise weit voneinander entfernte, also unterschiedlich lokalisierte Personen über besondere technische Kommunikationsmedien in Kontakt treten können, muß die strenge räumliche Partitionierung nicht mehr notwendig mit den Grenzen des auch sozial Relevanten übereinstimmen. Die Regionalisierung von locales muß nicht notwendig einer Baumstruktur folgen, sondern kann im Prinzip auch wie ein Gitter strukturiert sein. Die Annahme einer exklusiven Partitionierung der Örtlichkeiten und die damit notwendig einhergehende Annahme einer hierarchischen Baumstruktur ihrer Beziehungen ist eine Variante des schon oben erörterten planimetrischen Irrtums. In der Ebene kann ich, was ich einmal durch eine geschlossene Kurve getrennt habe, nicht wieder verbinden, ohne diese Kurve zu kreuzen, für höher dimensionierte Gebilde macht die Linie aber nicht notwendig einen Unterschied. Gerade die von Giddens referierte, auf Erving Goffman zurückgehende, und deutlich räumlich ausgerichtete Unterscheidung von front-stage und back-stage538 könnte einen gute Möglichkeit bieten, Überlappungen und Beziehungsgeflechte beispielsweise zwischen institutionell voneinander separierten Institutionen, die sich dementsprechend auch nach außen hin als deutlich voneinander geschieden darstellen, zu thematisieren. Front-stage und back-stage sind in einer Weise voneinander getrennt und aufeinander bezogen, deren Subtilität oder gar Subversivität sich durch eine einfache geographisch-planimetrische Aufteilung nicht adäquat fassen läßt. Wie die drei von Giddens unterschiedenen Zeitebenen mit den von ihm unterschiedenen räumlichen Konstellationen variieren oder kovariieren und in ein einheitliches Modell der raum-zeitlichen Entwicklung integriert werden können, hat Giddens leider noch nicht demonstrieren können. Wenn man die Korrelation oder Kovariation von räumlichen Beziehungen und zeitlichen Dynamiken lediglich mit der schon oben diskutierten These einer Schrumpfung von Raum und Zeit zu begreifen sucht, bleibt diese Beziehung soziologisch vergleichsweise uninteressant. Giddens ergänzt das Konzept der `time-space-convergence' aber durch das Konzept der `time-space-distanciation' und erlaubt es deshalb,

537 Giddens, Anthony, The Constitution of Society, Berkeley 1984, S. 122.

538 Vgl. auch Giddens, Anthony, The Consequences of Modernity, Stanford, C.A. 1990, S. 86ff.

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das Verhältnis von räumlichen und sozialen Strukturen in einer im Vergleich zu Simmel deutlich anspruchsvolleren Weise zu analysieren. Das Konzept der time-space-distanciation erlaubt es, die unterschiedlichen Modi der Regionalisierung und das heißt immer auch der Integration von locales in Abhängigkeit von der räumlichen Ausdehnung des so untergliederten Territoriums zu thematisieren. Giddens unterscheidet in lockerer Anknüpfung an David Lockwood und auch an Jürgen Habermas zwischen Sozialintegration und Systemintegration. Er definiert diese Termini aber auf deutlich andere Weise und versucht mit ihrer Hilfe das Micro-/Macro-Problem neu zu formulieren. 539 Sozialintegration bezieht sich auf die Interaktion von gleichzeitig anwesenden Personen in einem bestimmten setting. `Copresence' ist die entscheidende Voraussetzung für Sozialintegration. Systemintegration bezieht sich im Kontrast dazu auf das institutionelle Arrangement zwischen Anwesenden und Abwesenden. Systemintegration und Sozialintegration lassen sich deshalb erst dann unterscheiden, wenn Gesellschaft und Interaktion nicht mehr zusammenfa llen. Die Gesellschaft muß also eine gewisse Mindestgröße haben. In segmentär differenzierten Stammesgesellschaften gibt es deshalb noch keine besonderen Institutionen der Systemintegration. Die Systemintegration richtet sich auf die Kopplung unterschiedlicher lokaler settings. Diese Aufgabe kann z. B. durch eine Oberschicht übernommen werden, also durch Stratifikation; auch Städtebildung, also Zentralisierung, ist eine mögliche Antwort auf das Problem der Systemintegration; der Weltmarkt - also in der Sprache der Luhmannschen Systemtheorie: funktionale Ausdifferenzierung - kann schließlich auch als eine mögliche Antwort auf die Frage der Systemintegration begriffen werden, er integriert verschiedene nationale Gemeinschaften auf globaler Ebene. Giddens spricht hier, ähnlich wie auch Parsons schon vor ihm, von einem `intersocietal system'. Das Verhältnis von Sozialintegration und Systemintegration wird von Giddens im Sinne einer Unterordnung der Sozialintegration unter die Systemintegration spezifiziert. Bedenken, wie sie sich bei Jürgen Habermas oder James Coleman finden, nämlich daß diese Umstellung zu einem Verschleiß oder Verbrauch nur lebensweltlich herstellbarer Motivationsressourcen oder einem Abbau des früher durch familiäre Sozialisation akkumulierten sozialen Kapitals führe,540 finden sich bei Giddens nicht. Die von Giddens thematisierten Abhängigkeiten und Kontrollmöglichkeiten sind nur einseitig. Auch unterscheidet Giddens nicht zwischen verschiedenen funktionssystem-spezifischen, unterschiedlichen Sys temimperativen gehorchenden und deshalb miteinander häufig

539 Ders., The Constitution of Society, Berkeley 1984, S. 139ff.

540 Coleman, James, Foundations of Social Theory, Cambridge Mass. 1990, insbesondere Kapitel 22, S. 579ff; Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, 2. Bd., Frankfurt/M. 1981, VI. Kapitel, 2. Abschnitt, S. 229ff.

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inkompatiblen Weisen der Systemintegration, sondern scheint vielmehr anzunehmen, daß sich verschiedene Ebenen der Systemintegration im Sinne einer einfachen Inklusionshierarchie aufeinander beziehen ließen.541 Die zuletzt genannten Kritiken ließen sich vermutlich positiv in Giddens' Ansatz integrieren. Anthony Giddens wird gewissermaßen den Möglichkeiten seines eigenen Vokabulars nicht gerecht: Seine Analyse historischen Wandels mit Hilfe der These der time-space-distanciation läßt sich deshalb in der recht simple Parole `immer länger, immer größer' bündeln. Gleichzeitig wird diese Entwicklung durch den gegenläufigen Prozeß der time-space-convergence, also durch das Schrumpfen von Raum und Zeit wieder kompensiert. Damit sind die evolutionären Veränderungen seit Anbruch der Moderne aber nur in unzureichender Weise bestimmt. Es käme gerade darauf an, die constraints dieser Prozesse und die dadurch entstehende Eigendynamik genauer zu bestimmen, denn wenn sich alles in gleicher Weise ändert, macht dies schließlich keinen Unterschied. Schon bei Braudel finden sich zahlreiche Formulierungen, die anzeigen, daß die verschiedenen früheren Weltwirtschaften oder auch noch die modernen Staaten seit dem 15. Jahrhundert nie den gesamten sozialen Raum ausfüllen. Der wirtschaftliche, aber auch der politische und der kulturelle Raum sind von Löchern durchsetzt. Ihre jeweilige Kartenbilder stimmen selten ohne weiteres überein. Widersprüche sind möglich; alte Strukturen lösen sich auf, neue bilden sich; Zentren verschieben sich; alte Freiräume werden gefüllt und neue tun sich auf etc.542 Aber diese Ungereimtheiten werden auch bei Braudel nicht theoretisch erklärt, sie werden lediglich registriert, aber nicht eigentlich in sein Modell integriert. Diese Tendenz wird bei Giddens noch forciert: Kontrollinstanz der raum-zeitlichen Prozesse ist jeweils die Macht mit der größten Ausdehnung und dem längsten Zeithorizont. Seine Überlegungen bleiben befangen von der Vorstellung, System-zu-System-Beziehungen seien nicht anders als im Sinne von Inklusionsbeziehungen oder als einfaches Nebeneinander denkbar. Der Raum des sozialen Geschehens wird als Behälter imaginiert und die geographischen Projektionen dieser Beziehungen bleiben im Bann einer planimetrischen Vorstellungswelt. Es hat in den letzten 50 Jahren eine Reihe von Versuchen gegeben, räumliche und zeitliche Verhältnisse gesellschaftstheoretisch stärker zu berücksichtigen. Bei Norbert Elias oder bei Fernand Braudel finden sich beispielsweise Überlegungen, die denen Giddens sehr

541 Wenn man eine solche Hierarchie beispielweise mit politischer Spitze auch unter modernen Lebensbedingungen noch für möglich hält, und Geschichtlichkeit und Territorialität versucht zusammen zu denken, wie Giddens dies fordert, ist man auf normativer Ebene fast gezwungen, für einen starken Nationalstaat und für Nationalbewußtsein zu plädieren (es sei denn, man ist Marxist). Vgl. dazu insbesondere Bernard Willms, Die Deutsche Nation, Hohenheim 1982, S. 49.

542 Vgl. den theoretischen Vorspann "Einteilung von Raum und Zeit in Europa" zu seiner `Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, 2. Bd. Aufbruch zur Weltwirtschaft, S. 17-92, z. B. S. 41, S. 51, S. 67, S. 69.

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ähnlich sind. Nur das rechte Vokabular zu ihrer Umklammerung war noch nicht gefunden und dies machte das Zitieren schwierig und eine Übernahme dieser Überlegungen unwahrscheinlich. Jede Wortschöpfung geht zunächst wie Kreditgeld in Umlauf. Ob sich die damit schließlich gemachte Investition auch auszahlt oder ob der Kredit lediglich inflationär wirkt, ist zuvor selten absehbar. Ebenso wenig ist von vornherein absehbar, ob man es mit einem empirisch gehaltvollen innovativen Begriff zu tun hat oder bloß mit einer Worthülse. Giddens' mittlerweile in einer ganzen Reihe von Büchern wiederholt feilgebotene Neologismen haben diese Probe überstanden und dienen heute als Ausgangspunkt sich mittlerweile selbsttragender Forschungsunternehmungen. 543 Wohl nicht zuletzt, weil in diesem Feld noch keine Konkurrenz mit ähnlichem Angebot zu erkennen ist, weil noch niemand die produktiven Überlegungen Giddens kopiert und unter anderen, vielleicht auch noch in anderen Hinsichten attraktiven Theorielabel feilgeboten hat.

543 Hier sind insbesondere die Arbeiten von Allan Pred zu nennen. Vgl. ders., Making Histories and Constructing Human Geographies, San Francisco 1990.

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Talcott Parsons Talcott Parsons' Überlegungen zur sozialen Relevanz räumlicher Beziehungen konzentrieren sich in einem einzigen Aufsatz. 544 Sie nehmen deshalb anscheinend keinen zentralen Platz in seiner Theoriearbeit ein. Parsons behandelt in diesem Aufsatz die grundlegenden Strukturen von Gemeinschaft. Die von ihm gemachten Unterscheidungen erlauben es, einige der von Giddens geprägten Vokabeln wie "locale", "regionalisation" oder "power-container" in, wie zu zeigen sein wird, systematisch eleganterer Weise zu entwickeln. Wir können uns deshalb im folgenden kurz fassen, soweit schon zuvor Referiertes erkennbar wird. Eine Differenzierung unterschiedlicher Zeitebenen, wie sie Giddens von Braudel übernimmt, und deren mögliche Korrelation mit Räumen unterschiedlicher Ausdehnung, wie sie bei Giddens wenigstens angedeutet, wenn auch nicht systematisch entfaltet ist, findet sich bei Parsons allerdings nicht. Auch in einem weiteren, für uns später entscheidenen Punkt bleibt Parsons - aufgrund seiner theoretisch nur konsequenten Präferenz für den Modus normativer Integration - hinter Giddens' Analyse - sprich: Gegenstandszerlegung - zurück: Ihm fehlt die bei Giddens deutlich räumlich, nämlich auf das gesellschaftliche Arrangement von An- und Abwesenheit ausgerichtete Unterscheidung von Sozial- und Systemintegration. 545 Parsons unterscheidet drei, in spezifischer Weise sozial relevante räumliche Strukturen voneinander, nämlich "areas within which", "places at which" und "places between which". 546 Die Art und Weise in der diese unterschiedlichen Raumstrukturen miteinander verschränkt sind, hängt dabei vom Differenzierungsgrad der Gesellschaft ab.547 Parsons beginnt seine Analyse mit einer groben Definition von Gemeinschaft, als demjenigen Ausschnitt der Sozialstruktur, der sich auf die territoriale Verortung von Personen und ihren

544 Parsons, Talcott, The Principal Structures of Community, in: ders., Structure and Process in Modern Societies, New York 1960, S. 250-279.

545 Schließlich wurde diese auf David Lockwood zurückgehende Unterscheidung ja auch erst im Zuge der Parsons-kritik entwickelt. (Vgl. ders., Soziale Integration und Systemintegration, in: Zapf, Wolfgang (Hrsg.), Theorien des Sozialen Wandels, Köln 1969, S. 124-137. Die Unterscheidung von Sozial- und Systemintegration war dabei selbst von einem normativen bias geprägt und wurde in ihrer ursprünglichen Variante vermutlich genausowenig dem Theorieniveau Parsons' gerecht, wie in ihrer Habermasschen Variante den Problemstellungen und dem Abstraktionsniveau der Systemtheorie. Erst Giddens' Neudefinition macht sie eigentlich gesellschaftstheoretisch brauchbar oder bescheidener formuliert: systemtheoretisch kompatibel.

546 Ders., a.a.O., insbesondere S. 266f.

547 Soziale Differenzierung führt also nicht zur Annullierung räumlicher Strukturen, sondern zu ihrer Respezifizierung. Mit dem Vokabular von Gilles Deleuze und Felix Guattari könnte man Parsons Überlegungen auch so wiedergeben: Zwar forcieren Signifikantenregime unweigerlich eine Deterritorialisierung, aber deren Dekodierung erzwingt umgekehrt immer wieder auch eine Reterritorialisierung. Vgl. dies., Kapitalismus und Schizophrenie - Tausend Plateaus, Berlin 1992.

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Aktivitäten bezieht. Es kommt ihm darauf an, die soziale Relevanz dieser vermutlich vielschichtigen Ortsgebundenheit herauszuarbeiten. Sozial relevant wird Raum, nicht weil Menschen sich notgedrungen immer nur im Raum bewegen, sondern nur insofern, als mindestens zwei Personen mit Rücksicht auf ihren jeweiligen räumlichen Standort in Beziehung zueinander treten. Parsons interessiert nicht das räumliche Verhalten des Menschen in toto, sondern nur ein bestimmter Ausschnitt dieses Verhaltens, den er mit Hilfe des Konzepts der sozialen Rolle zu fassen sucht. Er fragt sich, welche Rollenkategorien der Sozialstruktur in besonderer Weise für die Analyse der Beziehung zwischen Personen und ihrer territorialen Verortung relevant sind. Solche Orte sind soziologisch von Interesse, insofern es Orte sind, an denen etwas sozial Bedeutendes passiert ist oder in bezug auf die erwartet wird, daß an ihnen etwas von Bedeutung passieren könnte. Es geht also nicht einfach um eine bestimmte Lokalität an sich, sondern immer um einen "place where" etwas Bestimmtes passiert.548 Parsons nennt vier eng mit einer bestimmten räumlichen Verortung korrelierende Ausschnitte der Sozialstruktur. Diese Ausschnitte umfassen den Wohnort, den Arbeitsplatz, den Gültigkeitsbereich des Rechts und den kommunikativen Komplex, über den sich soziale Verbundenheit herstellt. Schon die zeitlich variablen jeweiligen Aufenthaltsorte des Einzelnen und seine unterschiedlichen Tätigkeiten verteilen sich nicht rein zufällig über ein bestimmtes Gebiet und schon gar nicht über den gesamten Globus. Sie folgen vielmehr einer bestimmten Ordnung. Das von ihm im Verlauf eines Tages erreichbare Gebiet konzentriert sich mehr oder weniger um seinen physisch fest lokalisierten Wohnort, heute: um die jeweilige Wohnung, die eigenen vier Wände, um den Ort, an dem man wohnt und zu Hause ist. Dieser Wohnort wird häufig noch mit der eigenen oder der Familie der Eltern geteilt, dient also nicht nur als Wohnort, sondern ist gleichzeitig der sozialstrukturell definierte Ort der biologischen Reproduktion und der Kinderaufzucht. Darüber hinaus kann er auch noch über diverse Nachbarschaftsbeziehungen in eine größere lokale Gemeinde eingebettet sein. Solche Nachbarschaften und Wohnviertel unterscheiden sich gewöhnlich bezüglich des sozialen Status der jeweiligen Bewohner und bilden damit ein jeweils spezifisches Sozialisationsmilieu. Sie bilden den Kontext für einen bestimmten Lebensstil und Reproduzieren damit tradierte Klassenstrukturen. Die mehr oder weniger fixe Einbettung in Familie und Nachbarschaft führt also zur Ausbildung askriptiver Merkmale. Als zweite ortsspezifische Kategorie der Sozialstruktur identifiziert Parsons die Arbeit und den Arbeitsplatz. Die moderne Differenzierung von Arbeitsplatz und Haushalt hat hier unweigerlich Auswirkungen auf die räumliche Struktur der Gesellschaft. Die institutionelle

548 Parsons, Talcott, a.a.O, S. 251.

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Differenzierung wird von einer räumlichen Separierung begleitet. Aber nicht nur die Arbeit findet in auch räumlich deutlich abgeschlossenen formalen Organisationen statt, auch die Erziehung beispielsweise konzentriert sich mit zunehmender sozialer Differenzierung auf bestimmte Anstalten. Parsons bestimmt den Raum der bisher genannten Sys temtypen als "places at which", als Orte, an denen etwas Bestimmtes passiert. Dazu zählt er nicht nur Wohnung, Fabrik, Büro und Schule, sondern auch z. B. die Kirche. Man könnte leicht noch andere Einrichtungen hinzufügen: Krankenhäuser, Vergnügungsviertel, Friedhöfe, Geschäfte und Einkaufszentren und dgl. Die räumliche Differenzierung dieser Bereiche nennt Giddens - so wird man sich erinnern - Regionalisierung. Damit unterschiedliche "places at which" voneinander separiert werden können, müssen bestimmte technische Bedingungen erfüllt sein. Die Separierung macht schließlich nur dann Sinn, wenn die voneinander separierten Bereiche anschließend auch wieder miteinander verknüpft werden können und für die an diesen Orten verkehrenden Personen erreichbar sind. Insbesondere physische Transportmittel müssen in ausreichendem Maße und mit einem bestimmten Standard zur Verfügung stehen. Vom technischen Stand dieser Transportmedien, von den Distanzen zwischen den einzelnen Einrichtungen und den Zeitkosten zu ihrer Überbrückung hängen die Möglichkeiten der räumlichen Separierung und damit indirekt auch der Grad der möglichen gesellschaftlichen Differenzierung ab. Die von Simmel, Giddens und anderen vertretene These einer universellen, technisch bedingten Schrumpfung aller sozial relevanten räumlichen Distanzen (space-time-convergence) impliziert, daß die von Parsons als Ausgangspunkt gewählte Überlegung, Aufenthaltsorte und Tätigkeiten seien räumlich nicht willkürlich verteilt, zunehmend weniger zutrifft. Auch Parsons bestreitet diesen Trend nicht. Er trifft aber nur im Groben zu. Fraglich ist erstens, ob dieser Trend jemals tatsächlich zu einer völligen Irrelevanz räumlicher Entfernungen führt und zweitens, ob er alle Entfernungen zwischen spezifischen Orten gleichermaßen erfaßt, also den Kontakt zu den Verwandten in gleicher Weise raumindifferent werden läßt, wie den Kontakt zu Freunden, oder die Option für ein bestimmtes Krankenhaus in gleicher Weise ohne Rücksicht auf dessen Standort wählbar macht, wie die Option für eine bestimmte shopping-Route. Komplexer werden solche Fragen, wenn man auch die anderen beiden von Parsons identifizierten Raumtypen mit in die Kalkulation einzubeziehen sucht. Von den eben diskutierten "places at which" unterscheidet Parsons zweitens: "areas within which". Die Rechtsprechung schafft solche Räume. Eine normative Ordnung ist, um ihrer Auflösung entgegenzuwirken, in irgendeiner Weise darauf angewiesen, die Verletzung der Norm zu bestrafen. Parsons definiert den Raum oder das Areal der Rechtsprechung als die Fläche, innerhalb der einer bestimmten Autorität das legitime Recht zukommt, das Verhalten des Einzelnen zu kontrollieren und gegebenenfalls Sanktionen anzuwenden. Hierbei spielt

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physische Gewalt eine strategische Rolle: erstens, da sie sich auf den Organismus richtet, bleibt sie immer eine letzte Möglichkeit, wenn der Betroffene nicht anders wieder auf die richtige Bahn gebracht werden kann; und zweitens ist physische Gewalt, obwohl sich mit ihr nur schwerlich bestimmte Handlungen motivieren lassen, das ultimate Mittel, um bestimmte Handlungen zu verhindern. Ein bestimmtes sozial befriedetes Gebiet innerhalb dessen bestimmte Normen gelten, kann aber nur dann garantiert werden, wenn die Gewaltausübung in hohem Maße monopolisiert ist. Da gewaltsame Sanktionen immer nur konkrete, physisch präsente Personen an konkreten Orten treffen können, ist eine Kontrolle der Gewalt ohne territoriale Rechtsprechung unmöglich. Ferner ist die Behauptung eines Gewaltmonopols auch Voraussetzung für die Durchsetzung bindender Entscheidungen, also für Politik. Die territoriale Ausdehnung politisch-rechtlicher Systeme verdankt sich - so Parsons - einer oberen und unteren Begrenzung der economies of scale.549 Um effizient zu sein, muß das Territorium eine bestimmte Mindestgröße haben. Aber die Effizienz nimmt ab einer bestimmten Größenordnung (natürlich in Abhängigkeit von einer Reihe weiterer Variablen) auch wieder ab, so daß es zwangsläufig zu einer segmentären Differenzierung der über Rechtsprechung definierten "places within" kommen muß.550 Parsons "areas within which", soweit sie über die Macht der Normsetzung definiert sind, nennt Giddens, wie oben angezeigt "power-container". 551 Auf eine dritte soziologisch interessante Konstellation räumlicher Variablen stößt Parsons bei seiner Analyse des "communicative complex". Hier geht es in besonderer Weise um Kommunikation "between persons- in-places", 552 also auf elementarster Ebene zuallererst

549 Parsons, Talcott, a.a.O., S. 263.

550 Parsons betont in diesem Zusammenhang (a.a.O. S. 264ff), daß die Politik zwar die höchste rechtsprechende Autorität besitze und deshalb unabdingbar für das Funktionieren einer jeden Gesellschaft sei, aber deshalb noch lange nicht die höchste menschliche Autorität definiere. Diese kann durchaus anders orientiert sein, beispielsweise moralisch oder religiös, und muß deshalb auch nicht in der politis ch definierten "area within which" aufgehen, sondern kann sich einen anderen z. B. globalen, die gesamte Menschheit oder Schöpfung einbeziehenden Rahmen wählen.

551 Giddens begreift die moderne Staatenwelt als eine Welt von Nationalstaaten (vgl. ders., The Nation-State and Violence, Oxford 1985). Parsons tut dies nicht, aber er nennt einige Gründe, die dahin wirken, daß die Grenzen "of integrated societal systems" heute eine deutliche Tendenz dazu haben, mit den territorialen Grenzen der Rechtsprechung übereinzustimmen. Dies muß aber nicht notwendigerweise immer der Fall sein, wie sich an einigen Beispielen in Ost- und Zentraleuropa leicht zeigen läßt. (Vgl. ders., a.a.O., S. 262). Für Giddens scheinen solche Nuancierungen weniger relevant, da er seinen Machtbegriff schon definitorisch auf einen inflationären Gebrauch hin konzipiert hat und deshalb in ähnlicher Weise den damit angemeldeten Erklärungsanspruch überziehen muß, wie man dies Parsons im Hinblick auf normative und kulturelle Muster zum Vorwurf gemacht hat. Wir werden im letzten Abschnitt dieses Kapitels noch einmal versuchen, die soziale Konstruktion von "areas within which" im Sinne von Machtbehältern in anderer Weise zu begründen.

552 Parsons, Talcott, a.a.O., S. 267.

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um die Erreichbarkeit bestimmter Kommunikationspartner, um die kommunikative Überbrückung räumlicher Distanzen und darauf aufbauend, um die Möglichkeiten der Informationsübertragung, der Einflußnahme und der Instruktion. Es kann sich hier entweder um direkte Kommunikation, also um Interaktion mit Anwesenden handeln, oder - wenigstens in modernen Gesellschaften - um über bestimmte technische Medien, wie Brief, Telefon, Zeitung, Radio oder Fernsehen laufende Kommunikation; darüberhinaus kann sich die Kommunikation unterschiedlicher symbolischer Medien bedienen. Unter modernen Lebensverhältnissen ist die natürliche Sprache nur mehr ein - wenn auch in besonderer Weise ausgezeichnetes - symbolisches Medium neben anderen. Macht und Geld identifiziert Parsons hier als mit Sprache durchaus vergleichbare symbolische Medien, die aber auf jeweils spezifische Zwecke zugeschnitten sind. Parsons erörtert drei Aspekte der Kommunikation oder drei Kommunikationsprobleme, um die spezifische Zweckmäßigkeit der verschiedenen technischen und symbolischen Medien genauer bestimmen zu können. 553 Das erste Problem sieht Parsons in der Informationsübertragung selbst. Der Inhalt einer Mitteilung - also ihr Informationsgehalt - muß vom Rezipienten richtig verstanden werden. Die jeweils kommunizierte Information ist ein entscheidender Faktor bei der Definition der Situa tion des Rezipienten und damit bei der Wahl seines zukünftigen Verhaltens. Die Entschlüsselung der Botschaft, also das Verstehen, begreift Parsons aber zunächst als ein vorrangig kognitives Problem. Hier geht es lediglich darum, daß der Rezipient versteht, daß z. B. etwas Bestimmtes der Fall ist oder wahrscheinlich eintreten wird usw. Es geht hier also noch nicht ausdrücklich um den Versuch einer Einflußnahme auf sein künftiges Verhalten. Die kommunikativ ermöglichte Einflußnahme behandelt Parsons als einen zweiten, theoretisch von der bloßen Informationsübertragung deutlich zu unterscheidenden Aspekt der Kommunikation. 554 Die Mitteilung bestimmter Informationen ist zumeist an die Absicht oder Erwartung gekoppelt, daß der Rezipient sich aufgrund dieser Information in Zukunft anders verhalten wird oder soll. Um eine solche Verhaltensänderung kontrollieren zu können, muß aber wenigstens ansatzweise auch eine Möglichkeit der Sanktionierung gegeben sein. Im Minimalfall kann es sich hier schlicht um eine auf die Reaktion des Rezipienten folgende Begrüßung oder Ablehnung seines Verhaltens handeln. Nur über eine solche positive oder 553 Parsons, Talcott, a.a.O., S. 267ff. Niklas Luhmann spricht in einem ganz ähnlichen Zusammenhang bekanntlich von "Unwahrscheinlichkeitsschwellen" der Kommunikation, die, wenn es denn weitergehen soll, in irgendeiner Weise überwunden werden müssen, so daß das Unwahrscheinliche dennoch wahrscheinlich werden kann. Vgl. insbesondere ders., Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981, S. 25-34.

554 Parsons, Talcott, a.a.O., S. 268.

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negative Rückkopplung ist Kommunikation auch in der Lage, das Verhalten der Kommunikationsteilnehmer zu kontrollieren. Der dritte Aspekt, auf den Parsons bei seiner Analyse der Kommunikation aufmerksam macht, richtet sich gewissermaßen auf die Generalisierbarkeit der kommunikativen Einflußnahme.555 Häufig geht es in der Kommunikation nicht nur um Zustimmung oder Ablehnung bestimmter angezeigter Erwartungen, sondern um mehr, nämlich um die Verpflichtung des Rezipienten auf eine bestimmte Haltung. Es geht nicht mehr nur um Übereinkunft oder Nichtübereinkunft, sondern um in spezifischer Hinsicht generalisierte Folgebereitschaft oder deren Aufkündigung. In bezug auf dieses Problem entwickelt Parsons eine Theorie der symbolisch generalisierten Tauschmedien. Soweit es in der Kommunikation darauf ankommt, über den bloßen Austausch oder auch die nur einseitige Übertragung von Informationen hinaus, den Kommunikationspartner auch auf ein bestimmtes zukünftiges Verhalten zu verpflichten, bedarf es ganz bestimmter symbolisch generalisierter Stimuli, die es erlauben, eine von Einzelheiten unabhängige Folgebereitschaft zu aktivieren. Parsons nennt Geld und Macht als zwei Beispiele für symbolisch generalisierte Tauschmedien. Über Geld laufende Kommunikation involviert immer einen zweistufigen Austauschprozeß: Das Angebot von Symbolen wird mit der Übergabe von Sachen pariert. Dem Austausch von symbolischen Objekten in die eine Richtung korrespondiert also eine Bewegung von physischen Objekten oder ein Gewähren von Dienstleistungen in die andere. Parsons bezieht diese Art der Kommunikation nicht auf die Grenze der Interaktion selbst, sondern begreift sie als einen Tauschprozeß zwischen unterschiedlichen Einheiten des sozialen Systems. Hier wird sichtbar, wie symbolische Prozesse direkt die physische Bewegung von Objekten im Raum kontrollieren können. Auch Macht begreift Parsons als ein symbolisch generalisiertes Tauschmedium, denn auch Macht fungiert vorrangig auf symbolischer Ebene und wirkt in Form der bloßen Drohung mit Gewalt. Sie beruht ferner auf einer generalisierten, also vom Einzelfall unabhängigen Folgebereitschaft. Auch über das Medium Macht laufende Kommunikation erlaubt es, Körper im Raum zu bewegen. Sieht man einmal von dem Umstand ab, daß Parsons seine Theorie der Tauschmedien als eine Antwort auf die Frage nach der Kopplung der vier analytisch von ihm geschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme konzipiert hat, so kann man fast den Eindruck gewinnen, daß hier schon alle entscheidenden Begriffsinstrumente parat liegen, um Kommunikation im Sinne der modernen Systemtheorie, wie sie von Niklas Luhmanns vertreten wird, zu beobachten: Auch hier werden das Verstehensproblem, die Frage nach Zustimmung und

555 Ders., a.a.O., S.268.

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Ablehnung und das Problem der kommunikativen Erreichbarkeit jeweils gesondert behandelt und unterschiedliche soziale Medien vorgestellt, die sich für jeweils eines dieser Probleme besonders zu eignen scheinen. Verständigung wird über das Medium der Sprache gewährleistet; die Motivation zur Annahme bestimmter Sinn-Selektionen wird über symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien produziert und kommunikative Erreichbarkeit wird über diverse technische Medien, insbesondere über Schrift hergestellt.556 Parsons empfiehlt, diese Medien u. a. im Hinblick auf den Spielraum, den sie Rückkopplungsprozessen zwischen Sender und Empfänger einräumen, zu unterscheiden. Dieser medial bedingte Spielraum legt fest, wie leicht man ein Verständnis erzielen kann und welcher Typus von Information sich besonders gut und welcher sich vielleicht gar nicht in diesem Medium übertragen läßt; er legt fest, wie leicht man den Anderen in bestimmter Weise zur Annahme einer bestimmten Offerte bringen kann und dgl. mehr. Nicht zuletzt entscheidet die Wahl eines bestimmten Mediums schließlich auch darüber, ob sich in den Kommunikationsprozeß und damit in die Feedback-Schleife Dritte einschalten können oder nicht. Mit all dem führt die Option für ein bestimmtes Medium deshalb auch zu spezifischen constraints für das, was als gemeinsame Definition der Situation gelten kann. Alle Kommunikation, so betont Parsons, ist auf irgendein oder auch mehrere physische Medien angewiesen. 557 Einzelne Medien eignen sich in unterschiedlicher Weise für unterschiedliche Zwecke. Sie sind also nicht an sich gut oder schlecht. Dennoch gibt es ein gewisses Bedingungsverhältnis zwischen den verschiedenen Medien, das sich auch anhand ihrer jeweiligen historischen Entwicklung abgreifen läßt. Schrift ist z. B. auf Sprache angewiesen; Kreditgeld auf doppelte Buchführung, also auch auf Schrift; die Telegraphie geht dem Telefon voraus; die Radiotechnik der Fernsehtechnik; etc. Hier gibt es also Voraussetzungsverhältnisse. Als eine der elementaren Bedingungen für die Möglichkeit von Kommunikation überhaupt nennt Parsons eine gemeinsame Kultur. Kommunikation impliziert immer eine gemeinsame Kultur. Zum einen bedarf es einer gemeinsamen Sprache, also im Sinne der Informationstheorie eines von Sender und Empfänger in gleicher Weise geteilten Repertoires von Regeln der En- und Decodierung, und zum anderen bedarf es

556 Vgl. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme, Frankfurt/M. 1984, S. 217ff. Die Gemeinsamkeiten gehen vermutlich sogar noch deutlich weiter, aber diesbezüglich divergieren die heute dominanten Parsonsinterpretationen und -revivals. Wer eine vorrangig handlungstheoretische oder voluntaristische Interpretation verficht (z. B. Münch, Richard, Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt/M. 1982; oder Wentzel, Harald, Einleitung, in: Parsons, Talcott, Aktor, Situation und normative Muster, Frankfurt/M. 1986.), wird hier kaum mitziehen können: Parsons geht zwar nicht so weit wie Luhmann mit der These, nur die Kommunikation könne kommunizieren, aber auch er definiert Handlung über Kommunikation: Erst über den Kommunikationsprozeß werden Handlungen kontrollierbar. Vgl. insbesondere: ders., a.a.O. S. 273.

557 Parsons, Talcott, a.a.O., S. 274.

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darüber hinaus auch noch eines gemeinsamen Bezugsrahmens, der es erlaubt, daß die miteinander Kommunizierenden zu einer sinnvollen, gemeinsamen Definition der Situation gelangen. 558 Eine gemeinsame Sprache und eine von den Betroffenen jeweils geteilte Definition der Situation, oder kurz: eine gemeinsame Kultur ist aber nicht nur Voraussetzung von Kommunikation, sondern immer auch Resultat von Kommunikation. Kultur meint hier also keine irgendwie fixe Struktur. Kulturelle Strukturen verändern sich vielmehr im Prozeß der Kommunikation selbst.559 Heute hat sich hierfür der Begriff Rekursion eingebürgert. "The upshot of this discussion of communication is to make it clear that not only must activities of members of a social system be spatially located, and hence their distribution patterned, but the physical aspects of interaction between social units must be definitely patterned."560 Zwei aus Parsons' Überlegungen ableitbare, nicht eindeutig entschiedene Fragen werden uns im weiteren Verlauf dieser Ausführungen noch weiter beschäftigen. Zum einen könnte man fragen, ob alle Kommunikation, unabhängig von der Wahl des Mediums, in gleicher Weise auf eine gemeinsame Definition der Situation angewiesen ist oder in einer solchen, von allen Parteien geteilten gemeinsamen Definition der Situation konvergieren muß, oder ob nicht vielmehr die Art und Weise und das Maß, in dem eine gemeinsame Definition der Situation erreicht werden kann, deutlich von Medium zu Medium differieren kann oder eine gemeinsame Definition der Situation das Medium vielleicht sogar überflüssig macht oder wenigstens zum Ende der Kommunikation führt. Zum anderen interessiert uns die topologische Struktur der medialen Kopplung der diversen interaktiv generierten sozialen Situationen und deren Wandel im zeitlichen Verlauf. Ersetzt man hier den Begriff des Kommunikationsmediums durch die klassische Figur des Kommunikationskanals, dann erhält diese Problemstellung vermutlich eine größere Anschaulichkeit: Es geht um die topologische Struktur der Kommunikationskanäle und um die zeitliche Veränderung eben dieses Kanalsystems durch den Prozeß der Kommunikation selbst. Die Frage nach dem Verhältnis von sozialen Strukturen und räumlichen Beziehungen läßt sich dann in bestimmter Weise zuspitzen: Wir fragen nach der Einbettbarkeit dieser topologischen Struktur der Kommunikationskanäle in die jeweilige geographische Landschaft. Insbeondere Harrison White hat solche und ähnliche Probleme angesprochen und wir kommen deshalb in dem mit seinem Namen überschriebenen Abschnitt darauf zurück.

558 Ders., a.a.O., S. 269.

559 Vgl. ders., a.a.O., S. 269. Giddens spricht diesbezüglich bekanntlich von `structuration'.

560 Ders., a.a.O., S. 275.

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2. Raum als Medium Solange man sich auf die bloß subjektive Wahrnehmung von Einzelnen oder Gruppen beschränkt, dürfte die Behauptung, daß deren jeweiliges Raumbild sich mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheiden kann, kaum auf großen Widerspruch stoßen. Zigeuner nehmen ein Wohnviertel vermutlich anders wahr als die Eigenheiminsassen; Bauernvölker ihre Höfe und Äcker anders als plündernde Seefahrer- oder Reitervölker; Nomaden werden vermutlich wiederum ein anderes Verhältnis zu Straßen haben als seßhafte, an ihre Scholle gebundene Bauern; der Aufsichtsrat eines Weltkonzerns hat ein anderes Bild der Welt als der Bundestag; Homers Odysseus ein anderes als Grimms Sieben Geißlein.561 Unsere Überlegungen zielen aber letztlich nicht auf individuelle, vielleicht sozialpsychologisch erklärbare Beobachterkonstrukte, sondern auf gesellschaftliche Strukturen. Der Vorschlag, Raum als Medium zu begreifen, geht auf Otto Friedrich Bollnows phänomenologisch orientierte Untersuchung zum Raum zurück.562 Aber auch in der Soziologie, Anthropologie und Verhaltensforschung finden sich zahlreiche, ähnlich optierende Ansätze. Diese beziehen sich jedoch zumeist nur indirekt auf Raum und meinen mit dem Medium einer bestimmten Einheit - sei dies nun ein Organismus oder eine Kultur - so etwas wie den natürlichen Ort eines Dings im aristotelischen Sinne, seine Umwelt, sein Milieu, sein Ambiente.563 Der Medienbegriff soll uns helfen, die abstrakte, aber geläufige Trennung von Raum und Ding aufzuheben. Als Medium - so Bollnow - "wird der Raum etwas Quasi-Materielles, insofern man sich jetzt wirklich zum Raum und nicht nur zu den Dingen im Raum in bestimmter Weise verhalten kann (...). Als Medium ist er ein Mittleres zwischen `Gegenstand' und `Anschauungsform', weder ein subjektunabhängiger `Behälter', noch ein bloß subjektiver Entwurf."564 Wilhelm Schapp hat zu zeigen versucht, daß das "starre Wozuding" den Ausgangspunkt für alle Überlegungen über den Raum bildet. Nur wo die stofflich-materiale

561 Vgl. Braitenberg, Valentin, Gescheit sein, Zürich 1987, S. 51; zu Homer und den Gebrüdern Grimm vgl. Negt, Oskar/ Kluge, Alexander, "Der antike Seeheld als Metapher der Aufklärung; Die deutschen Grübelgegenbilder, `Eigensinn'" in: dies., Geschichte und Eigensinn, Frankfurt 1981, S. 741-769.

562 Bollnow, Otto Friedrich, Mensch und Raum, Stuttgart 1990, S. 273f.

563 Vgl. Mühlmann, Wilhelm Emil, Der Mensch in seiner Welt, in: ders., Homo Creator - Abhandlungen zur Soziologie, Anthropologie und Ethnologie, Wiesbaden 1962, S. 80-104; Gibson, James J., The Ecological Approach to Visual Perception, Hillsdale, N.J. 1986.

564 Bollnow, Otto Friedrich, a.a.O., S. 274. Auch bei Maurice Merlau-Ponty finden sich ganz ähnliche Überlegungen. Vgl. insbesondere ders., Die Struktur des Verhaltens, Berlin 1976 und im Anschluß daran Varela, Francisco / Evan Thompson / Elenor Rosch, The Embodied Mind, Cambridge, MA. 1991.

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Substanz eines Gebrauchsgegenstandes oder Wozudings, sei dies ein Messer, ein Tisch, ein Teller, ein Haus etc. dessen zeitliche Dauerhaftigkeit und Stabilität garantiert, bilden diese Wozudinge ein starres System und erlauben uns dadurch, einen Raum im Sinne eines Behälters zu konzipieren. 565 Aber Schapp weist darauf hin, daß es sich hierbei um eine Idealisierung, eine Extrapolation handelt. Die Starre der Wozudinge ist immer nur eine relative, ansonsten würden sie sich schließlich nicht herstellen lassen. Diese, immer nur relative Starre hat Konsequenzen für den Begriff des Raumes, die Schapp allerdings nur andeutet. "Merkwürdig mag dabei sein, daß man von Raumstellen in unserem Sinne nur auf der Grundlage eines starren Systems sprechen kann und daß damit in einer Welt, die nur aus Flüssigkeit oder Gas bestände, die Rede von Raum keinen Sinn mehr hätte, ebenso wie die Vorstellung eines Leibes, der nicht starr oder halbstarr wäre, der aus Flüssigkeit oder Gas bestände, unvollziehbar ist". 566 Diese vielleicht noch vage anmutenden Überlegungen sollen uns später helfen, vom Begriff des Raumes als Behälter auf einen abstrakten Medienbegriff umzusetzen. Wenn die räumliche Ordnung der Gesellschaft seitens der Soziologie vorrangig im Rahmen des Behälter-Paradigmas interpretiert wird, so handelt es sich hier nicht einfach um eine Verallgemeinerung eines phänomenologisch erschlossenen oder durch die Alltagserfahrung geprägten Raumparadigmas. Das Behälter-Paradigma verdankt sich selbst einer entscheidenden Abstraktion, denn der phänomenologisch erschließbare Raum nimmt sich, wie wir gesehen haben, deutlich anders aus. Er entspricht nicht dem Ideal eines sich gleichartig und kontinuierlich in alle Richtungen in gleicher Weise erstreckenden geometrischen Raumes, das wir vermutlich erst über den Schulunterricht verinnerlichen. Bollnow nennt drei entscheidende Unterschiede: der Wahrnehmungs- und Handlungsraum ist inhomogen, diskontinuierlich und anisotrop. Lenelis Kruse und Carl F. Graumann schreiben ganz in diesem Sinne: "Vor aller philosophischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit Raum und Bewegung und jede dieser Beschäftigungen fundierend erfahren wir - und so auch alltagspsychologisch - den Raum als ein Ensemble von Wegen und Richtungen des Hinzu und Vonweg, von Orten und Bereichen, die nach Nähe und Ferne, nach Erreichbarkeit und Unzugänglichkeit für uns und andere artikuliert sind, d. h. aber auf uns als Leibsubjekte bezogen sind."567

565 Schapp, Wilhelm, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt/M. 1985, S. 51-55.

566 Schapp, Wilhelm, a.a.O., S. 54.

567 Kruse, Lenelis / Carl F. Graumann, Sozialpsychologie des Raumes und der Bewegung, in: KZfSS Sonderband: Materialien zur Soziologie des Alltags, hrs g. von Kurt Hammerich und Michael Klein, Opladen 1978, S. 177-219, S. 179.

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Aber nicht nur im Lager der Pragmatiker und Phänomenologen ist das Behälter-Paradigma des Raumes in Mißkredit geraten und seines a priori-Status entkleidet worden, auch von seiten der modernen Physik ist dieses Paradigma vielfach relativiert, spezifiziert und durch einen abstrakter gewählten Bezugsrahmen ersetzt worden. 568 Der Versuch, als Soziologe an solche paradigm-shifts anzuschließen, wirkt nur zu häufig unbeholfen, aber die diesbezügliche Armut an brauchbaren eigenen Konzepten zwingt ein wenig dazu, zunächst einmal woanders zu suchen und andere zu rezipieren, und nicht zuletzt deshalb haben einige Soziologen und Geographen ihre alternativen Raumkonzepte zunächst im zitierenden Anschluß an relativitätstheoretische Überlegungen formuliert.569 Von Bertrand Russell stammt ein Gedankenexperiment, das in umgekehrter Weise den Grundgedanken der Relativitätstheorie einführt, indem er unsere Alltagsvorstellung über räumlich-geographische Gegebenheiten ins anscheinend Phantastische wendet. Dies sei deshalb ausführlich zitiert, weil es erstens den Überlegungen Schapps durchaus entspricht, zweitens weniger phantastisch ist, als es scheint, und deshalb von Pip Forer als Ausgangspunkt für sein Konzept des plastic-space verwendet wird, auf das wir später noch einmal zurückkommen möchten und drittens, weil sich hier die Konsequenzen von Russells impliziter Medientheorie schon deutlich zeigen, in der wir eine allgemeine Alternative zum traditionellen Paradigma des leeren, als Behälter vorgestellten Raumes sehen570: "Aus verschiedenen, mehr oder weniger zufälligen Gründen legen die Verhältnisse auf der Erdoberfläche Vorstellungen nahe, die sich als ungenau herausstellen, obwohl sie uns nun schon als Denknotwendigkeiten erscheinen. Der wichtigste dieser Umstände besteht darin, daß die meisten Gegenstände auf der Erdoberfläche, von einem irdischen Standpunkt aus betrachtet, ziemlich dauerhaft und fast ortsfest sind. Wenn das nicht so wäre, erschiene uns der Begriff der Bewegung nicht so eindeutig. Wenn jemand von King's Cross Station nach Edinburgh fahren will, weiß er, daß er King's Cross dort finden wird, wo es immer war, daß die Schienen in dieselbe Richtung führen werden wie beim letzten Mal, als er diese Reise machte, und das Waverley Station in Edinburgh nicht zum Schloß hinaufgewandert sein wird. Er sagt und denkt deshalb, daß er nach Edinburgh gefahren ist, nicht, daß Edinburgh zu ihm gefahren ist, obwohl diese Behauptung genauso richtig wäre. Daß dieser dem gesunden Menschenverstand

568 Vgl. dazu insbesondere das Vorwort von Albert Einstein zu Max Jammer, Das Problem des Raumes - Die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt 1980, S. XIII-XVII, S. XV.

569 Vgl. z. B. Läpple, Dieter, Essay über den Raum - Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept, in: Hartmut Häußermann et al., Stadt und Raum - Soziologische Analysen, Pfaffenweiler 1992, S. 157-207, S. 172, S. 175, S. 177, S. 189f; Forer, Pip, "A place for plastic space?", Progress in Human Geography, 3 (1978), S. 230-267.

570 Forer, Pip, "A place for plastic space?", a.a.O.

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entsprechende Standpunkt mit soviel Erfolg anwendbar ist, liegt an einer Reihe von Gegebenheiten, die in Wirklichkeit bloßer Zufall sind. Stellen wir uns vor, alle Häuser Londons wären ständig in Bewegung wie ein Bienenschwarm; stellen wir uns weiter vor, Eisenbahnschienen bewegten sich und änderten ihre Form wie Lawinen; und stellen wir uns schließlich vor, materielle Gegenstände bildeten sich ständig neu und lösten sich wieder auf wie Wolken. Diese Annahmen enthalten nichts Unmögliches. Aber offensichtlich hätte in einer solchen Welt ein Begriff wie `Reise nach Edinburgh' keinen Sinn. ...unterwegs würden sich die Stationen nicht ruhig verhalten, sondern es würden sich einige nach Norden bewegen, andere nach Süden, wieder andere nach Osten oder Westen, vielleicht viel schneller als der Zug. Unter diesen Umständen könnte niemand sagen, wo er sich in einem bestimmten Augenblick befindet. Tatsächlich beruht die ganze Vorstellung, daß man sich immer an einem bestimmten `Ort' befindet, auf der Bewegungslosigkeit, die glücklicherweise den meisten großen Gegenständen auf der Erdoberfläche eigen ist. Die Vorstellung `Ort' ist nur eine grobe praktische Approximation. ... Wenn wir nicht um vieles größer als ein Elektron wären, hätten wir nicht diesen Eindruck der Stabilität, der nur auf der Grobheit unserer Sinne beruht. ... Wenn wir, um das entgegengesetzte Extrem zu nehmen, so groß wären wie die Sonne und so lange lebten wie sie und wenn unser Wahrnehmungsvermögen entsprechend langsam arbeitete, würden wir wieder ein kunterbuntes Universum vorfinden. ... Die Idee einer verhältnismäßig großen Stabilität, die zu unserer normalen Vorstellungswelt gehört, beruht auf der Tatsache, daß wir gerade so groß sind, wie wir sind, und auf einem Planeten leben, dessen Oberfläche nicht sehr heiß ist."571 Die Soziologie, die Geschichtswissenschaften und die Geographie aber bemühen sich ja gerade, wie alle anderen Wissenschaften letztlich auch, um eine solche Steigerung des Auflösungs- und Unterscheidungsvermögens, um eine Perspektive, in der das, was der alltäglichen Vorstellungswelt stabil, ewig und ortsfest ist, in einem anderen Licht erscheint. Diese Perspektiveninkongruenz gegenüber der Alltagswelt ist kein Privileg der Physik. Inwiefern die so entstehenden neuen Theorien wieder den Alltag zu prägen vermögen oder inwiefern der technische Fortschritt und der Grad an gesellschaftlicher Differenzierung mehr oder weniger zu einer gesamtgesellschaftlichen Verallgemeinerung dieser, die Welt der Dinge immer weiter auflösenden Sicht zwingt, ist eine andere Frage. Zunächst kommt es einmal darauf an, der wachsenden, aber immer noch esoterisch wirkenden Kritik am Behälter-Paradigma mit der Ausarbeitung einer Alternative neuen Halt zu geben. Als Alternative zum Behälter-Paradigma soll hier ein pragmatisches, operationales Raumverständnis vorgestellt und genutzt werden: "Space is as space does"572. Der Raum

571 Bertrand Russell, Das ABC der Relativitätstheorie, Frankfurt/M. 1989, S. 11ff.

572 Vgl. White, Harrison C., Identity and Control. A Structural Theory of Social Action, Princeton N. J. 1992,

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verliert dadurch seinen Status als einer a priori gegebenen Kategorie.573 Die Struktur des Raumes oder unterschiedlicher Räume wird durch das bestimmt, was in ihnen möglich ist.574 Wir wollen versuchen, Raum immer als einen spezifischen Komplex zu betrachten, der jeweils in spezifischer Weise, also durch bestimmte Operationen, erschlossen werden muß. Im Unterschied zu einer psychologisch oder sozialpsychologisch ausgerichteten, vorrangig aber aus der, wie auch immer kulturell geprägten Perspektive des Individuums argumentierenden Theorie, kommt es uns darauf an, gerade jene Zusammenhänge zu begreifen, die sich dieser Sichtweise mit Notwendigkeit entziehen. Der "im Erleben und Handeln erschlossene Raum"575 ist nicht ohne weiteres identisch mit der räumlichen Struktur der Kommunikation. Die räumliche Struktur der Kommunikation oder der soziale Raum der Gesellschaft ergibt sich vielmehr erst aus der selektiven kommunikativen Kopplung aller einzelnen durch Erleben und Handeln erschlossenen Räume. Der Medienbegriff (und darauf aufbauend, die funktionsspezifische Codierung von Kommunikation) bietet sich an, um verschiedene soziale Räume voneinander zu unterscheiden, die gleichwohl in einem durch zwei oder drei euklidsche Koordinaten vermessenen geographischen Raum enthalten sein können. Solche Räume können sich überlagern, durchdringen oder auch verdrängen und in

S. 339.

573 Es gibt natürlich mehrere Möglichkeiten, einen Raum über die in ihm enthaltenen Objekte zu definieren. Man kann Raum z. B. auch im Sinne eines Feldes konzipieren, wie dies in der Elektrodynamik oder der Relativitätstheorie der Fall ist. Kurt Lewin hat bekanntlich versucht, eine analoge Konzeption für die Sozialwissenschaften zu entwerfen. Auch Otto Friedrich Bollnows Konzeption vom Raum als Medium hat eine deutliche Ähnlichkeit zum Feldkonzept. Diese Alternative zum Behälterraum scheint uns jedoch für die Soziologie wenig empfehlenswert, weil sie kontinuierliche Beziehungen voraussetzt. Das Feldkonzept ist, will man es operationalisieren, auf metrische Daten angewiesen. Dadurch wird es fast unmöglich, eine Mehrzahl von diskreten Ereignissen oder Individuen aufeinander zu beziehen. Der Begriff des Feldes unterstellt, wie schon das Behälter-Paradigma, einen kompakten Raum und taugt deshalb nicht zur Einbettung von sozialen Strukturen.

574 Ernst Mach und Felix Klein sind hier die beiden entscheidenden Autoren, die eine operationale Definition des Raumes für die Physik und für die Mathematik entwickelt haben. Hier wird alle, später formulierten Relativismen in Sachen Raum der Weg gebahnt. Für Newton bildeten träge Masse und absoluter Raum zwei unabhängig voneinander existierende Gegebenheiten. Ernst Mach hielt die Annahme eines absoluten Raumes für unbegründet und hat dagegen gehalten, daß der Masse keine Trägheit in Bezug auf den Raum an sich zukommt, sondern vielmehr in Bezug auf andere Masse. Trägheit verliert dadurch den Charakter, eine Eigenschaft von Dingen zu sein und wird statt dessen als Relation begriffen. Die Summe dieser Relationen entspricht dann wiederum dem, was Raum ist. Vgl. ders., Die Mechanik - Historisch-kritisch dargestellt, Darmstadt 1982, S. 216-243, S. 227ff. Auf Felix Klein geht der Gedanke zurück, geometrische Eigenschaften durch die Gruppe jener Transformationen zu definieren, unter denen sie invariant bleiben. Für die Euklidsche Geometrie z. B. bilden Entfernungen und Winkel die Grundbegriffe, und jene Transformationen, unter denen Entfernungen und Winkel invariant bleiben, sind die Bewegungen starrer Körper. Klein verfährt nun umgekehrt und definiert über diese oder andere Transformationen die dazu passende Geometrie. Vgl. dazu statt anderer: Steward, Ian / Martin Golubitsky, Fearfull Symmetry - Is God a Geometer?, London 1992, S. 43ff.

575 Kruse, Lenelis / Carl F. Graumann, Sozialpsychologie des Raumes und der Bewegung, a.a.O., S. 177.

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ihrer gleichzeitigen Entfaltung blockieren. Wie man sich dies vorzustellen hat, soll zunächst offengehalten werden. Ohne Metaphern scheint es erst einmal nicht zu gehen. Aber eine genügend abstrakt ansetzende Medientheorie könnte es möglich machen, eine Alternative zum Behälter-Paradigma auch in eigenen soziologischen Begriffen zu formulieren. Bollnows Vorschlag, Raum als ein Medium zu begreifen, läßt sich generalisieren und dann auch soziologisch nutzen, wenn man abstrakter zu fassen versucht, was ein Medium definiert. Es kommt uns darauf an, einen Medienbegriff verfügbar zu machen, der es erlaubt, sowohl die von Bollnow und Schapp herausgearbeiteten Wahrnehmungsstrukturen als auch die von Parsons analysierten Kommunikationsprobleme in vergleichbarer Weise zu behandeln. Dazu wollen wir auf die Wahrnehmungstheorie Fritz Heiders, Bertrand Russells und James J. Gibsons und die von Heider eingeführte Unterscheidung von Ding und Medium zurückgreifen. 576 Heider, wie auch Russell, geht es um die Frage, wie es gelingen kann, daß wir Dinge über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg wahrzunehmen in der Lage sind. Dies ist nur möglich, wenn ein bestimmter physischer Träger eine Verbindung zwischen Ding und Wahrnehmung erlaubt. Gibson beschäftigt sich darüber hinaus mit der Frage, wie sich einem bestimmten Organismus über diverse Medien ein bestimmte Raumstruktur erschließt. Medien ermöglichen, was Donald T. Campbell im Anschluß an Egon Brunswick "distal knowing" genannt hat.577 Während alle niederen Organismen nur auf direkte, man könnte sagen, hautnahe Umweltreize reagieren können, sind höhere Organismen, und so auch der Mensch, in der Lage, verschiedene Objekte oder Ereignisse schon auf Distanz zu unterscheiden und ihr Verhalten daraufhin mehr oder weniger selbständig auszurichten. 578 Erst solche Wesen haben überhaupt die Möglichkeit, sich einen Raum medial zu erschließen und dementsprechend die Möglichkeit, sich im Raum zu orientieren.

576 Ders., Ding und Medium, in: Symposium, 1, (1926), S. 109-157; eine gekürzte englische Übersetzung findet sich in: ders., On Perception and Event Structure, and the Psychological Environment, Psychological Issues, Vol. I., No. 3, New York 1959. Verschiedentlich kommt Heider auf diese Unterscheidung auch in The Psychology of Interpersonal Relations, Hillsdale 1958, zurück. (S. 25ff., S. 65ff., S. 103ff.). Zu Bertrand Russells hier relevanten Überlegungen zur Möglichkeit von Wahrnehmung vgl. insbesondere: ders., Human Knowledge - Its Scope and Limits, New York 1964, insbesondere Teil 3, Kapitel IV, S. 195-217; Gibson, James, J., The Ecological Approach to Vision, Hillsdale, N.J. 1986, S. 16-32. Insbesondere Gibson formuliert seine Theorie als Kritik der klassischen Annahmen über einen a priori gegebenen Raum: "Space is a myth, a ghost, a fiction for geometers." (S. 3).

577 Ders., Pattern Matching as an Essential in Distal Knowing, in: Hammond, Kenneth R. (Hrsg.), The Psychology of Egon Brunswick, New York 1966, S. 81-106; ders., Natural Selection as an Epistemological Model, in: Naroll, Raoul und Ronald Cohen (Hrsg.), A Handbook of Method in Cultural Anthropology, New York 1973, S. 51-85, S. 72ff.

578 Erst die Evolution des Erkennens auf Distanz erlaubt es einem Lebewesen, nicht mehr unmittelbar auf Umweltreize reagieren zu müssen. Solche Wesen lassen sich deshalb nicht mehr angemessen mit Hilfe eines einfachen Reiz-Reaktions-Schema beschreiben. Vgl. Campbell, Donald T., a.a.O. 1973.

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Ein Ding ist immer nur über ein bestimmtes Medium wahrnehmbar: Wir sind auf Lichtwellen angewiesen, um einen Gegenstand zu orten und von anderen zu unterscheiden; es braucht Luft, damit Schall übertragen und eine Stimme identifiziert werden kann; es muß sich eine Telefonverbindung herstellen lassen, um mit abwesenden Personen kommunizieren zu können; der Plattenspieler kann nur mit einer entsprechenden Nadel der sich drehenden Platte einen Klang entlocken; Worte müssen verfügbar sein, um sich sprachlich einander mitteilen zu können etc. Wir registrieren dabei immer nur oder wenigstens in der Hauptsache die uns jeweils betreffenden Unterschiede in unserer Umgebung, nicht aber das sich gleichbleibende Medium selbst. Wir hören eine Stimme, aber nicht die Luft; wir reagieren auf eine Äußerung, nicht auf die einzelnen Worte etc. Das Medium macht - wenigstens im Normalfall - für unsere Wahrnehmungsorgane keinen Unterschied. Zwar definieren diese Organe, was als Medium nutzbar ist, aber das Medium selbst bleibt für sie weitestgehend unbeachtet - wenigstens solange es sich um ein für die Beobachtung eines bestimmten Gegenstandes oder Ereignisses gutes Medium handelt. Ein gutes Medium, so könnte man deshalb sagen, ist ein Medium, das einen naiven Realismus plausibel macht. Jedes Medium besteht aus einer großen Zahl von immer wieder nutzbaren Elementen. Das Medium ist mehr oder weniger homogen. 579 Die Art der Elemente und die Struktur ihrer Kopplung aneinander bestimmen dabei, was sich durch ein Medium beobachten läßt. Sie erlauben, daß nur bestimmte Ereignisse oder Dinge mit seiner Hilfe beobachtbar werden, und dies auch nur im Rahmen eines bestimmten Auflösungsvermögens. Der locker gehandhabte Blindenstock macht einen anderen Weltausschnitt zugänglich als das Echolot; der Geruch einen anderen als das Gehör, die visuelle Wahrnehmung einen anderen als der Tastsinn etc. Damit wir ein im Vergleich zum Medium mehr oder weniger starres Ding oder pointiertes Ereignis - also in jedem Fall ein heterogenes Etwas - beobachten können, 580 ohne daß sich das Medium dabei als störend und die Beobachtung verzerrend bemerkbar macht, müssen die Elemente des Mediums in einer für den jeweiligen Zweck relativ beliebigen Weise kombinierbar sein. Nur dann ist eine reibungslose Übertragung möglich. Das Medium muß vom Ding her konditionierbar sein; der mit Hilfe eines bestimmten Mediums beobachtete Gegenstand muß den Elementen des Mediums eine bestimmte Form aufzwingen können. Damit diese Form nun aber auch unser dafür geeignetes Wahrnehmungsorgan erreicht, muß sie sich im Medium kausal fortpflanzen können. Damit eine Übertragung möglich ist, dürfen die einzelnen Elemente des Mediums aber wiederum nicht völlig unabhängig voneinander

579 Gibson, James J., a.a.O. S. 19.

580 Gibson, James J., a.a.O., S. 19. Statt von Dingen spricht Gibson von Substanzen. Darüber hinaus bezieht er Medium und Substanz mit Hilfe einer dritten Kategorie, nämlich der Oberfläche, aufeinander.

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sein. Was dem einzelnen Element jeweils widerfährt, hängt ab von dem, was einem benachbarten Element kurz zuvor widerfuhr: Nur so ist es möglich, daß bestimmte Impulse, Formen oder Nachrichten übertragen werden können. 581 Die Kopplung der Elemente muß also einerseits so locker sein, daß sich dem Medium bestimmte Formen aufprägen lassen, darf aber andererseits nicht zu locker sein, denn sonst könnte das Medium diese Formen nicht weitertransportieren. Die Wahrnehmung eines Gegenstandes ist gewissermaßen das letzte Glied in einer Kausalkette, die beim Gegenstand begann. Ein Medium erlaubt es nur deshalb, einen Gegenstand und nicht das Mediums selbst wahrzunehmen, weil es die einzelnen vom Gegenstand ausgehenden Kausalketten relativ unabhängig voneinander, also ohne wechselseitige Interferenzen überträgt.582 Die hier skizzierte Medientheorie soll uns zu einem allgemeineren Raumkonzept verhelfen. Oder vorsichtiger formuliert: Sie soll die jeweils medienspezifischen Möglichkeiten, einen Raum zu erschließen, unterscheiden helfen. Für alle Beobachtungen, die auf ein bestimmtes Medium angewiesen sind, ist immer nur ein durch dieses Medium strukturierter Raum durchschaubar und zugänglich. Wir haben deshalb weder die Annahme eines absoluten Raumes nötig, noch sind wir gezwungen, den Begriff des Raumes rein metaphorisch zu nehmen und damit der Beliebigkeit preiszugeben, um ihn soziologisch besser nutzbar zu machen. Heiders Medientheorie scheint uns soziologisch attraktiv, weil sie die hohe Plausibilität eines naiven Realismus bezüglich der Dinge im Raum nachvollziehbar und gleichzeitig als unangemessen begreifbar macht, aber gleichzeitig auch nicht gezwungen ist, die These einer nur einmal vorhandenen Wirklichkeit durch ein anything goes auf seiten ihres Beobachters parieren zu müssen. Nicht zuletzt als Soziologe kann man schließlich wissen: Vieles geht eben nicht. Einer der Gründe dafür liegt in den medialen constraints aller Kommunikation. Insbesondere die soziologische Systemtheorie in ihren unterschiedlichen Varianten hat vermutlich nicht zuletzt deshalb an Heiders Theorie der Wahrnehmung anzuschließen versucht.583 Für unsere Zwecke sind hier die Überlegungen Donald T.

581 Heider, Fritz, a.a.O., 1959, S. 16.

582 Russell, Bertrand, a.a.O., S. 206. Rein physikalisch findet die Wahrnehmung als das Ende dieser Kausalkette immer nur in unserem Kopf statt.(Aber natürlich hat keine Kausalkette einen echten Anfang und ein wirkliches Ende, wie Russell anmerkt.) Wir gelangen nur deshalb zur Idee eines bestimmten Gegenstandes, weil zum einen die einzelnen Kausallinien relativ unabhängig voneinander verlaufen und sie sich zum anderen so miteinander verrechnen lassen, daß ein Gegenstand auch dann noch als derselbe wahrgenommen wird, wenn wir ihn z. B. aus einer anderen Perspektive betrachten. Erst nach langer Schulung, sind wir dann auch schließlich in der Lage, Wahrnehmungen so miteinander zu verrechnen, daß wir Gegenstände, so wie sie die Physik beobachtet, zu beobachten lernen. Dann können wir z. B. mitberücksichtigen, daß die Sonne, die wir jetzt sehen, schon bereits vor acht Minuten gestrahlt hat und dgl.

583 Vgl. insbesondere Weick, Karl, The Psychology of Organizing, (2. Aufl.), New York 1979, S. 166f; Luhmann, Niklas, Medium und Organisation, in: ders., Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988, S. 302-323; ders., The Medium of Art, in: ders., Essays on Self-Reference, New York 1990, S. 215-226; Campbell,

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Campbells von besonderem Interesse, denn sie machen sichtbar, was der Medienbegriff aushalten muß, um soziologisch brauchbar zu werden. Campbell schließt an Heider an, um "detection and transmission systems" besser begreifen zu können. 584 Ihm geht es darum, in Abgrenzung zur reinen Erkenntnislehre, eine deskriptive Erkenntnislehre zu entwerfen. Dabei kann er an den Medienbegriff Heiders anschließen, denn "the knowledge it studies will be physically embodied in some substance, some vehicle or carrier. This vehicle will have its own physical nature and limitations."585 Es geht also nicht mehr nur einfach um die Wahrnehmungsmedien wie Luftschwingungen oder Licht, die bei Heider im Vordergrund standen, sondern um einen viel allgemeineren Mechanismus. Der Begriff des Mediums beschränkt sich nicht mehr auf mehr oder weniger homogene physische Substanzen, sondern schließt nun auch "vehicle" und "carrier" ein. Diese Erweiterung des Begriffs erlaubt es uns, auch andere Räume jenseits des in Blickrichtung mehr oder weniger gleich strukturierten Wahrnehmungsraumes zu thematisieren. Solange man es als Soziologe nur mit einem Gespräch unter Anwesenden zu tun hat, ist es durchaus sinnvoll, sich auf den von allen mehr oder weniger geteilten Wahrnehmungsraum zu beschränken. Hier macht es Sinn, die Kommunikation als wie in einen Behälter - z. B. einem Zimmer - enthalten zu analysieren. Sobald die Kommunikation aber nicht mehr im Medium der Mündlichkeit gleichzeitig anwesender Personen füreinander ansprechbar macht, sondern über andere Medien, z. B. Briefe, prozessiert wird, läßt sich der in dieser Weise zugängliche Raum nicht mehr als ein einfacher Behälter konzipieren. Parallel zu Russells Frage nach dem Kausalnexus zwischen Gegenstand und Wahrnehmung, müssen wir nach dem Kausalnexus fragen, der es ermöglicht, daß ein Brief von Person xy in meinen Briefkasten gelangen kann, der ermöglicht, daß mein Gehalt auf meinem Konto verbucht wird, daß ein Gerücht mich schließlich auch erreicht, mein Geld auch morgen noch überall akzeptiert werden wird und dgl. Die Wege der Kausalität sind hier verschlungen; es sind nicht mehr die geraden Linien, die im Gespräch unter vier Augen zwei Personen verbinden. Die wachsende Zahl der die Kommunikation tragenden Vehikel erlaubt es, auch jenseits des Wahrnehmungsraumes kommunikativen Anschluß zu finden. Die mit der wachsenden Zahl technisch verfügbarer Medien zunehmenden Kommunikationschancen werden dabei in entscheidender Weise von symbolischen Medien, also genuin kommunikativen Strukturen,

Donald T., Neurological Embodiments of Belief and the Gaps in the Fit of Phenomena to Noumena, in: Shimmony, Abner /Debra Nails (Hrsg.), Naturalistic Epistemology, Dordrecht 1987, S. 165-192.

584 Campbell, Donald T., a.a.O. 1987, S. 168.

585 Campbell, Donald T., A Tribal Model of the Social System Vehicle Carrying Scientific Knowledge, in: ders., Methodology and Epistemology for Social Science, Chicago 1988, S. 489-503, S. 491.

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konditioniert. In Analogie zu den verschiedenen Kräften in der physikalischen Welt, mit unterschiedlichen Ausbreitungsarten, unterschiedlichen Reichweiten etc., kann man sich auch eine Pluralität sozialer Medien denken. Räume werden über verschiedene Medien zugänglich, sie können ineinander verschachtelt sein, können einander ausschließen, können einander kreuzen oder können sich, wie die verschiedenen Fasern eines Verbundwerkstoffes, auch wechselseitig halten. Die Struktur des jeweiligen Mediums bestimmt den jeweiligen Raum. Der Begriff des Mediums bietet eine Alternative zur Idee des absoluten Raumes. Ein sozialer Raum ist immer nur als ein über bestimmte Relationen konstituierter, also als einen bestimmter sozialer Raum zu begreifen. Ein solcher Raum kann beispielsweise durch die ökonomische, durch die persönlichen oder durch die religiösen Beziehungen, die er medial ermöglicht, definiert werden. Hinterfragt und spezifiziert man mit Hilfe der hier vorgestellten Medientheorie die in der bisherigen Diskussion vermutlich hinderlichste Denkvoraussetzung, es gäbe nur einen einzigen Raum, und dieser sei nach dem Modell eines Behälters zu denken, gewinnt man einen neuen Zugang zum Problem der Kovariation von Ordnung und Ortung. Der Begriff des Mediums erlaubt es, den Gültigkeitsbereich des Behälter-Paradigmas einzuschränken und zu rekonstruieren. Eine Rekonstruktion am Beispiel des Mediums Macht möchten wir im Kapitel VI vorstellen. Was ein Medium ist, wie es funktioniert und welche Formen es tragen kann, interessiert gegenwärtig nicht nur die Soziologie. Eine raffinierte Möglichkeit, Medien zu modellieren, bieten die seit den frühen Tagen der Kybernetik in immer neuen Varianten entworfenen zellularen Automaten. 586 Solche Automaten sind vielleicht selbst die heute am besten analysierten Medien. Mit solchen Automaten arbeitende Modellierungsversuche haben jedoch bisher nur sehr wenig Resonanz in der Soziologie gefunden, aber sie scheinen für die Zukunft einen vielversprechenden Weg zu eröffnen, um quasi experimentell bestimmte Medien zu testen und in Abstimmung mit solchen Modellierungserfahrungen den Medienbegriff zu konkretisieren. Eine realistische Modellierung sozialer Probleme scheint

586 Vgl. z. B. Toffoli, Tommaso / Norman Margolus, Cellular Automata Machines - A New Environment for Modeling, Cambridge, Mass. 1991; Mikhailov, Alexander S., Foundations of Synergetics I - Distributed Active Systems, Berlin 1990). Zellulare Automaten bestehen aus einem Universum aus gleichartigen Raumelementen ("Zellen"), die unterschiedliche Zustände im Laufe der Zeit einnehmen können. Auch die Zeit ist in feste Schritte eingeteilt, die von einem gemeinsamen Taktgeber für alle Raumelemente definiert werden. (Beide Annahmen, also die fest eingeteilten Raumabschnitte und die für deren Zustandsbestimmung synchronisierten Zeitschritte sind keine notwendigen Bedingungen, erleichtern aber die Konstruktion und Durchschaubarkeit solcher Spiele auf dem Papier oder am Computer.) Die einzelnen Zellen können eine endliche Zahl unterschiedlicher Zustände einnehmen. Der jeweils aktuelle Zustand einer einzelnen Zelle ist durch ihren vorherigen Zustand (oder ihre vorherigen Zustände) und die vorherigen Zustände definierter Nachbarzellen determiniert. Mit diesen Annahmen ist der Formträger, also das Medium, ausreichend charakterisiert. Eine Form läßt sich nun beobachten als eine bestimmte Konstellation von Zellzuständen, die sich in der Zeit behaupten, d.h. selbst-reproduzieren kann.

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auf diese Weise jedoch bis lang noch nicht gelungen. 587 Wir wollen uns deshalb auch im nächsten Abschnitt noch weiter mit eher konzeptionellen Fragen auseinandersetzen, um das Problem der Topologie medialer Kommunikation in verschiedenen Hinsichten auszuleuchten.

2.1 Systemtheorien:

Herbert Spencer Plato und Hobbes haben versucht, die Gesellschaft als einen Menschen im Großen zu begreifen; seit Spencer oder Parsons dient häufig - weniger anthropozentrisch und abstrakter - ein Organismus als Anschauungshilfe. In beiden Fällen könnte man meinen, hier wird Gesellschaft als ein Komplex mit deutlichen räumlichen Außengrenzen gedacht, als ein Behälter. Aber schon Herbert Spencer hat eine bis heute kaum übertroffene Kritik der Organismus-Metaphorik bzw. Analogie formuliert. Bevor wir auf die vor Spencer herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten und die gleichfalls gerade auch von ihm klar benannten Differenzen zwischen Organismus und Gesellschaft eingehen möchten, soll aber mit einer kurzen Textpassage angezeigt werden, wie detailliert diese Analogie genutzt werden kann und welche Faszination im Hinblick auf bestimmte Gemeinsamkeiten sie dabei zu wecken vermag. Der zitierte Absatz beschäftigt sich mit der räumlichen Koordination und Kontrolle des sozialen Geschehens. Im Text kurz zuvor hat der ursprünglich als Eisenbahningenieur ausgebildete Universalist Spencer bereits die unterschiedlichen Zentren des `body-politic' analysiert, um wie folgt fortzufahren: "We have yet to consider the channels through which these co-ordinating centres receive information and convey commands. In the simplest societies, as in the simplest organisms, there is no `internuntial apparatus', as Hunter styled the nervous system. Consequently, impressions can be but slowly propagated from unit to unit throughout the whole mass. The same progress, however, which in animal-organization, shows itself in the establishment of ganglia or directive centres, shows it self also in the establishment of nerve-threads, through which the ganglia receive and convey impressions and so control remote organs. And in societies the like eventually takes place. After a long

587 Vor allem einfache Segregations- und Diffusionsprozesse sind bislang in dieser Weise modelliert worden. Vgl. im Anschluß an Thomas Schellings Segregationsmodell z. B. Casti, John L., Reality Rules: I. Picturing the World in Mathematics - The Fundamentals, New York 1992, S. 161ff. (III. Kapitel: Pattern and the Emergence of Living Forms: Cellular Automata and Discrete Dynamics).

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period during which the directive centres communicate with various parts of society through other means, there at last comes into existence an `internuncial apparatus', analogous to that found in individual bodies. The comparison of telegraph-wires to nerves is familiar to all. It applies, however, to an extent not commonly supposed. Thus, throughout the vertebrate sub-kingdom, the great nerve-bundles diverge from the vertebrate axis side by side with the great ateries; and similar, our groups of telegraph-wires are carried along the sides of our railways. The most striking parallelism, however, remains. Into each great bundle of nerves, as it leaves the axis of the body along with an artery, there enters a branch of the sympathetic nerve; which branch, accompanying the atery throughout its ramifications, has the function of regulating its diameter and otherwise controlling the flow of blood through it according to local requirements. Analogously, in the group of telegraph-wires running alongside each railway, there is a wire for the purpose of regulating the traffic - for retarding or expediting the flow of passengers and commodities, as the local conditions demand. Probably, when our now rudimentary telegraph-system is fully developed, other analogies will be traceable."588 Ein solches Zitat scheint vielleicht noch der passabelste Weg an dem selbst aufgelegten Analogieverbot in der Soziologie zu rühren und wieder Geschmack an der Sache zu finden. Auf den ersten Blick ähnlich phantastische Analogien werden wir weiter unten noch bei Harrison White kennenlernen. Natürlich ist jede Analogiebildung ein riskantes Unternehmen, sie kann nicht nur neue Aspekte an der Sache aufdecken, sondern auch in die Irre führen und zu Fehlschlüssen inspirieren. 589 Spencer meint jedoch, die Chancen und Risiken solcher Analogiebildung kalkulieren und das Passende vom Unpassenden scheiden zu können. Ob ihm das praktisch immer gelungen ist, soll uns hier nicht weiter interessieren. Die von ihm angegebenen Gesichtspunkte, unter denen man eine solche Scheidung vornehmen sollte, aber scheinen uns auch in der Spencer-Kritik - oder allgemeiner sogar: der Kritik an Systemtheorien - kaum besser herausgearbeitet. Spencer nennt zunächst die abstrahierbaren Gemeinsamkeiten, die ihm für einen Vergleich beider Systemtypen sinnvoll scheinen: 1. Größenwachstum, 2. Komplexitätszuwachs, 3. funktionale Spezialisierung und 4. den Umstand, daß die Gesellschaft, wie auch der Organismus, ein Ganzes bilden, das unabhängig vom Bestand und der Dauer seiner einzelnen Teile existiert (die Gesellschaft überdauert den Tod einzelner Mitglieder; der Organismus den Tod einzelner Zellen; die Zelle den Wechsel einzelner Moleküle). Heute bezeichnet man diesen Umstand häufig auch als 588 Spencer, Herbert, The Social Organism, in: ders., The Man versus the State. With Six Essays on Government, Society and Freedom, Indianapolis 1982, S. 383-434, S. 432f.

589 Jede Analogie ist riskant, weil man sich ja auch für eine andere hätte entscheiden können; aber falls Analogiebildung denktechnisch unvermeidbar sein sollte, handelt es sich um eine Gefahr, mit der man sich einzurichten lernen muß. Zur Unterscheidung von Risiko und Gefahr vgl. insbesondere: Luhmann, Niklas, Soziologie des Risikos, Berlin 1991, S. 29ff.

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emergente, d. h. nicht auf eine andere Ebene reduzierbare Systembildung. 590 Diesen heuristisch nutzbaren abstrakten Gemeinsamkeiten von Gesellschaft und Organismus stellt Herbert Spencer aber auch vier wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Systemtypen zur Seite. Wer diese Differenzen nicht in Rechnung stellt, wird zwangsläufig bei einem Vergleich beider Systeme irregeleitet.591 Spencer bemerkt: 1. Eine Gesellschaft hat keine äußere Form, sie hat keine kontinuierliche Grenze, keine Umhüllung im Sinne einer Haut.592 2. Sie besitzt keine kontinuierliche Masse. Sie läßt sich weder als ein mit Menschen noch mit Kontakten oder Kommunikation lückenlos gefüllter Behälter sinnvoll begreifen. 3. Sie besteht aus beweglichen Teilen, wenn man die einzelnen Individuen als ihre Elemente begreift. Diesen Unterschied schwächt Spencer allerdings ab, denn wenn man nicht einzelne Menschen, sondern soziale Einrichtungen und Institutionen mit einem spezifischen Funktionsbezug als die entscheidenden Elemente bestimmt, dann scheint es einigermaßen plausibel, diese Einrichtungen als in ähnlicher Weise räumlich fixiert zu denken, wie es die einzelnen Organe des Körpers sind. 4. Im Unterschied zu höher entwickelten Organismen verfügt eine Gesellschaft nicht über zentrale Wahrnehmungsorgane und entsprechende Entscheidungsinstanzen. 593 Diese vier von Spencer genannten Kritikpunkte implizieren, daß man sich eine Gesellschaft nicht sinnvoll als einen irgendwie kompakt gefüllten Behälter vorstellen kann. Ganz in diesem Sinne schreibt auch Niklas Luhmann: "Handlungssysteme sind nicht substantiell undurchdringliche Blöcke, sondern Ereigniskomplexe, die durch verschiedene

590 Anthony Giddens z. B. spricht in diesem Zusammenhang u. a. von der "longue durée of institutions". Ders. The Constitution of Society, Berkeley 1984, S. 35.

591 Die von Spencer formulierte Kritik an den möglichen Analogien zwischen Gesellschaft und Organismus ist bis heute kaum überboten worden. Jürgen Habermas hat - aber natürlich nicht in expliziter Weiterentwicklung der von Spencer angestellten Überlegungen - einen weiteren Kritikpunkt hinzugefügt, nämlich die Schwierigkeit, das Bestandsproblem, das im Falle des Organismus angeblich einfach zu beantworten sei (lebt er noch, oder ist er tot?), in angemessener Weise auf die Gesellschaft zu übertragen. Vgl. ders., Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: Habermas, Jürgen / Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/M.1971, S. 150ff. Vgl. zum Problem "`Leben' oder `Tod' einer Gesellschaft" und zur Kritik an der Organismusanalogie auch Carlsson, Gösta, Betrachtungen zum Funktionalismus, in: Topitsch, Ernst (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln 1966, S. 236-261, S. 237ff., S. 239.

592 Es ist heute fast üblich zu behaupten, Spencer hätte genau dies nicht gesehen (vgl. z. B. Anthony Giddens, The Constitution of Society, Berkeley 1984, S. 163).

593 Spencer, Herbert, The Man versus the State - With Six Essays on Government, Society and Freedom, Liberty Fund Inc., 1982, S. 388ff. Insbesondere bezüglich des zuletzt genannten Punktes grenzt sich Emile Durkheim deutlich von Spencer ab. Durkheim ist der Meinung, daß sich auch in höher entwickelten Gesellschaften, ähnlich wie bei höher entwickelten Organismen, zentrale Entscheidungsorgane herausbilden und vergleicht dementsprechend Regierung und Gehirn. Ders., The Division of Labor in Society, New York 1964, S. 224ff.

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Erwartungsstrukturen Sinn und Begrenzung erhalten. Ihre Grenzen sind Grenzen der Erwartbarkeit von Handlungen."594 Soziale Erwartungen strukturieren sich immer erst im Prozeß der Kommunikation selbst, und soziale Kommunikation und Kontrolle sind immer auf spezifische materielle Medien angewiesen, die sich wie ein System von Nervenbahnen über ein bestimmtes geographisch abgrenzbares Gebiet erstrecken können, ohne aber diese Gebiete flächendeckend oder bloß diffus zu füllen oder mit ihm selber identisch zu sein. Soweit es sich, wie im Beispiel bei Spencer, um physische (im Unterschied zu symbolischen) Medien handelt, lösen sie zunächst einmal nur das Problem der Erreichbarkeit und erlauben es, Kommunikation auch dann, wenn ihr Adressat außer Rufweite ist, adressierbar zu machen. Uns interessiert im weiteren: Über welche physischen und symbolischen Medien sind Erwartungsstrukturen, über den Kreis der jeweils direkt anwesenden Personen hinaus, aufeinander bezogen? Welche räumliche Form und Ausdehnung, welche Topologie haben solche Erwartungsstrukturen und warum können deren Ein- und Ausgrenzungen nicht platterdings auf territoriale Grenzziehungen reduziert werden?

Niklas Luhmann Seitens der Geographie gibt es eine ganze Reihe von Arbeiten, die sich um einen theoretischen Rahmen bemühen, um die Kovariation räumlicher und sozialer Strukturen genauer thematisieren zu können. Soweit hier explizit auf bestimmte soziologische Theorieressourcen zurückgegriffen wird, scheint marxistischen und dramaturgischen Ansätzen dabei eine vergleichsweise hohe Attraktivität zuzukommen. Das ist nicht verwunderlich, denn in beiden Ansätzen ist der räumliche Bezug schon implizit enthalten: Wer soziale Strukturen materialistisch interpretiert, dem bleibt kaum etwas anderes übrig, als sie im Raum zu verorten, und wer einen dramaturgischen Bezugsrahmen zugrunde legt, ist gezwungen, den Ort des Geschehens - die Situation - im Sinne eines Bühnenbildes zu analysieren. 595 Wir möchten im folgenden herausbekommen, zu welchen möglichen

594 Luhmann, Niklas, Funktion und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 60.

595 Vgl. für die marxistische Perspektive z. B. Lefebvre, Henri, The Production of Space, Oxford 1991; Soja, Edward W., Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London 1989; für die eher dramaturgische Perspektive z. B. Entrikin, J. Nicholas, The Betweenness of Place. Towards a Geography of Modernity, London 1991; Klüter, Helmut, Raum als Element sozialer Kommunikation, Gießener Geographische Schriften, Heft 60, Gießen 1986. Für den dramarturgischen Ansatz im allgemeinen vgl. Ly man, Stanford M./ Scott, Marvin B., The Drama of Social Reality, Oxford 1975. Kenneth Burke behandelt die Relationierung der dramaturgischen Grundbegriffe act, scene, agent, agency und purpose sogar unter der Überschrift "Container

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Einsichten die moderne Systemtheorie beitragen könnte, wenn es um die theoretische Bestimmung des Verhältnisses räumlicher und sozialer Strukturen geht. Niklas Luhmann hat einmal diesbezüglich gegenüber einem Geographen geäußert, soziale Systeme existierten nicht im Raum. 596 Dieser Kommentar irritiert vermutlich. Viele Geographen haben sich sicherlich größere Zugeständnisse seitens der Soziologie erhofft, als in den siebziger Jahren die Kontakte zur Soziologie intensiviert wurden. Insbesondere der Marxismus schien damals als die unter Geographen attraktivste Gesellschaftstheorie, da er der materiellen, und das heißt dann immer auch räumlich lokalisierbaren Struktur einer Gesellschaft einen zentralen Platz einräumt. Demgegenüber wirkt der Kommentar "soziale Systeme existieren nicht im Raum" wie eine schroffe Ablehnung jeder theoretisch-konzeptuellen Gemeinsamkeit zwischen Geographie und Soziologie. Uns scheint eine Annäherung unter systemtheoretischen Prämissen aber dennoch denkbar. Entsche idend dafür ist aber eine Revision des Raumbegriffs oder besser der impliziten Vorstellungen, die man sich gewöhnlich von Raum macht, denn dieses Konzept hat Niklas Luhmann vermutlich zu seiner Erwartungsenttäuschung gezwungen. Das interdisziplinäre Anregungspotential wird nur rudimentär genutzt, weil das Behälter-Paradigma des Raumes die wechselseitigen Erwartungen beherrscht. Die Geographen scheinen dann aus soziologischer Sicht mit zu einfachen Korrelationen von räumlichen und sozialen Strukturen zu rechnen. Als Soziologe ist man deshalb gut beraten, wenn man diese Erwartungen mit der Behauptung, soziale Systeme existieren nicht im Raum, rechtzeitig abweist. Wir möchten im folgenden diese Abweisung spezifizieren, um gleichzeitig, gewissermaßen als Komplement dazu, die durchaus bestehenden Möglichkeiten einer produktiven Zuarbeit zwischen Systemtheorie und Sozialgeographie deutlicher hervortreten zu lassen. Dazu scheint es uns sinnvoll, mit der Erörterung einer häufig vorgebrachten Kritik an der Systemtheorie zu beginnen. Die hier referierte Kritik richtet sich auf die vermeintliche Sachabstinenz der Theorie. Vielfach ist die "Sachabstinenz", die konzeptuelle Ausblendung von Sachen und Sachverhältnissen einer primär oder in vielen Fällen sogar ausschließlich auf Sinnbildung und Sinnverstehen abstellenden soziologischen Theoriebildung als eine unangemessene Einengung der fachlichen Ausrichtung kritisiert worden. 597 Diese Kritik richtet sich

and Thing Contained". Ders., A Grammar of Motives, Berkeley 1969, S. 3ff. Bei Anthony Giddens finden sich, wie schon gezeigt, eine Mischung beider Ansätze (insbesondere unter Rückgriff auf Braudels Weltsystemmodell und Goffmans Unterscheidung von frontstage und backstage).

596 In einem Brief an Helmut Klüter. Vgl. ders., a.a.O.

597 Vgl. dazu im Anschluß an einige Überlegungen bei Hans Linde, Sachdominanz in Sozialstrukturen. In Hans Albert et al. (Hrsg.), Gesellschaft und Wissenschaft, Bd. 4, Tübingen 1972, Dieter Läpple, Essay über den

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vornehmlich an die Luhmannsche Systemtheorie.598 Die in Deutschland insbesondere mit seinem Namen verbundene moderne soziologische Systemtheorie hat sich radikal auf die operative Geschlossenheit sozialer Systeme eingestellt und scheint dadurch - so Johannes Berger - zu einer "Phänomenologisierung" und "Entmaterialisierung" ihrer zentralen Begriffe gezwungen. 599 Soziale Strukturen erscheinen im Rahmen dieser Theorie deshalb ausschließlich als Erwartungsstrukturen. 600 Alle anderen Strukturen der modernen Gesellschaft, wie sie insbesondere von der Sozialstatistik ermittelt werden (z. B. die Einkommens- oder Altersverteilung) oder solche, die von der politischen Ökonomie und Makro-Ökonomie als strukturelle Widersprüche oder Inkompatibilitäten bestimmter gesellschaftlicher Teilbereiche thematisiert werden (z. B. Wohlfahrtsstaat versus Arbeitsmobilität oder Konjunkturpolitik versus Geldwertstabilität) oder schließlich jene, die Geographen kartographieren (z. B. das Verkehrsnetz oder die Bevölkerungsdichte), verlieren dadurch an unmittelbarer Relevanz. Sie werden nur indirekt zum Problem oder auch Thema von Kommunikation, nämlich als Umweltbedingungen, als constraints. Als Umwelt haben sie auf der operativen Ebene, auf der Ebene der Anschlußereignisse in der Kommunikation selbst aber keinen determinierenden Einfluß: Sie schränken ein, was möglich ist, sie verbieten und erlauben, aber sie determinieren nicht, was als nächstes passiert. Mehr kann man von der Umwelt auch sinnvollerweise nicht erwarten, wenn man den beteiligten Individuen wie auch der Kommunikation die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung oder allgemeiner zur Selbstreferenz unterstellt, denn einmal beobachtet, wirken diese constraints nicht mehr blind und naturwüchsig. 601 Die Umwelt determiniert das Systemverhalten auf der Ebene von einzelnen Ereignissen nicht unmittelbar. Es kann deshalb theoretisch nicht ernsthaft um einen Kompromiß gehen, um eine Art Neugewichtung von Umwelt und System. Aber ebensowenig scheint es uns sinnvoll, System und Umwelt nur rein kategorial voneinander zu trennen, etwa

Raum, in: Häußermann, Hartmut et al. (Hrsg.), Stadt und Raum. Soziologische Analysen, Pfaffenweiler 1992, S. 157-207, S. 165ff.

598 Sie trifft aber ebenso auch andere Ansätze. Z. B. die Habermasche Theorie des Kommunikativen Handelns, gegenüber der es seit langem üblich ist, das unangemessene Ausblenden materieller Umstände und Ressourcen (insbesondere - so Harald Weinrich - Sitzfleisch) anzumahnen.

599 Vgl. Berger, Johannes, Autopoiesis: Wie "systemisch" ist die Theorie sozialer Systeme, in: Hans Haferkamp und Michael Schmid (Hrsg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, Frankfurt 1987, S. 129-152, S. 132f.

600 Berger, Johannes a.a.O., S. 132f, S. 138ff.; Luhmann, Niklas, Soziale Systeme, Frankfurt/M. 1984, S. 397, S. 398f.

601 Vgl. dazu Gould, Peter, Allowing, forbidding, but not requiring: a mathematic for a human world, in: John L. Casti und Anders Karlqvist (Hrsg.), Complexity, Language, and Life: Mathematical Approaches, Heidelberg/New York 1986, S. 1-20.

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im Sinne der Drei-Welten-Lehre Poppers oder des Parsonschen Vier-Funktionen-Paradigmas. Solche kategoriale Trennung hat zwar ihr Recht gegenüber einem voreiligen Reduktionismus, verliert jedoch gerade da an Wert, wo es wissenschaftlich interessant wird, nämlich wo es darauf ankommt, die Emergenz z. B. von Wissen und symbolischen Strukturen (Welt 3, L-System) oder auch schon von Bewußtsein und Intentionalität (Welt 2, G-System) zu erklären. Die rein analytische oder kategoriale Unterscheidung dieser Bereiche erlaubt es, Fragen des Wechselbezugs dieser Ebenen oder Systeme auszublenden. Das mag natürlich theoriebautechnisch zuweilen von großem Vorteil sein, aber es reduziert die Problemsensibilität der eigenen Theorie insbesondere auch gegenüber Folgeproblemen der eigenen Begriffswahl. Das Problem der Emergenz läßt sich so beispielsweise ausblenden. Einen bestimmten Aspekt dieses Problems sind wir aber hier zu untersuchen gezwungen. Es geht dabei nicht um das Verhältnis von System und Umwelt im allgemeinen, sondern um einen spezifischen Teilaspekt dieser Beziehung. Es soll nach der Abhängigkeit der Kommunikation von ihrem jeweiligen Medium gefragt werden. Sozialen Strukturen erfüllen immer eine doppelte Funktion: sie limitieren das, was möglich ist, aber sie ermöglichen auch, was zuvor vielleicht noch nicht möglich war.602 Soziale Strukturen spezifizieren, welche Handlungen möglich und welche unmöglich sind. Gleichzeitig aber verändert sich der Erwartungshorizont bezüglich künftiger Ereignisse aber auch mit jedem neuen Ereignis. Einen letzten constraint für diesen Möglichkeitshorizont bilden die Medien, die diese Erwartungsstrukturen jeweils tragen. Unterschiedliche Kommunikationsmedien differenzieren und spezifizieren die sozialen Erwartungen auf jeweils spezifische Art und Weise. Zu weiterer Kommunikation ermutigenden Anschluß findet eine Mitteilung nur, wo an ihrem Informationsgehalt, wie erwartet, angeschlossen wird. Die Frage, ob sich jemand den Sinngehalt einer Mitteilung zur Prämisse des eigenen weiteren Verhaltens macht, variiert von Beobachter zu Beobachter. Es kommt deshalb darauf an, den passenden Adressaten zu finden oder durch die Art und Weise der Mitteilung zu einem bestimmten Folgeverhalten zu motivieren. Die potentiellen und erst recht die aktuellen Adressaten einer Mitteilung sind aber immer in spezifischer Weise lokalisierbar (im trivialsten Fall als direktes Gegenüber oder aber z. B. auch als anonyme Leserschaft einer Zeitung oder als Betroffene einer Drohung, einer Vergünstigung etc.). Da Medien - insbesondere die Sprache selbst - das Verstehen einer Mitteilung erhöhen, ein bestimmtes Publikum erschließen helfen (Erreichbarkeit) und schließlich - soweit es sich um symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien handelt - auch die Annahmewahrscheinlichkeit

602 Dies ist wiederholt von Niklas Luhmann (Stichwort: Reduktion und Erweiterung von Komplexität) und Anthony Giddens (enabeling und constraining) betont worden. Aus dieser Perspektive sind Handlung und Struktur deshalb keine Gegenbegriffe mehr, sondern bedingen einander.

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medienspezifisch codierter Mitteilungen erhöhen können, spezifizieren sie immer auch einen bestimmten Bevölkerungsausschnitt als Adressaten. Ein Adressat aber ist immer lokal gebunden (im Fall von Personen durch den Körper, im Fall von Organisationen durch Gebäude). Es kommt deshalb darauf an, die Binnenperspektive eines sozialen Systems auf die Medien (es handelt sich immer um eine Mehrzahl von Medien, z. B. in der Wissenschaft: Sprache, Schrift, Wahrheit und Reputation), in denen dieses System existiert, zurückzubeziehen603, um diese constraints genauer bestimmen zu können. Medien sind nicht nur constraints der jeweils über sie laufenden Kommunikation, sondern immer auch Bedingung ihrer Möglichkeit. Ein Medium - so Luhmann - läßt sich abstrakt als eine eher lockere Kopplung von gleichartigen Elementen charakterisieren, gegenüber der sich die Form durch eine deutlich rigidere Kopplung der Elemente zu erkennen gibt. Medien sind Träger von Formen. Auch Luhmann schließt mit seiner Unterscheidung an die Wahrnehmungstheorie Fritz Heiders und an dessen Unterscheidung vom Medium und Ding an. Im Unterschied zu Heider interessiert sich Luhmann aber nicht primär für die Übertragungseigenschaften eines Mediums, sondern für jene medialen Eigenschaften, die es erlauben, daß sich im Medium bestimmte Formen der Kommunikation selbstreferentiell stabilisieren können. Luhmann plaziert seine Unterscheidung von Medium und Form so, daß sich mit ihr die Differenz von System und Umwelt reformulieren läßt. Jakob von Uexküll versuchte Organismus und Umwelt als eine über einen Funktionskreis konstituierte Ganzheit zu begreifen. 604 Insbesondere Arnold Gehlen hat diese Denkfigur aufgegriffen, durch Überlegungen George Herbert Meads ergänzt und mit seiner Theorie des Handlungskreises in die Soziologie übersetzt;605 hier schließt Luhmann an. Aber statt von einem Funktionskreis oder Handlungskreis, spricht Luhmann abstrakter - und dabei einen deutlich anderen Akzent setzend - von Selbstreferenz: Die Form muß sich auf sich selbst beziehen, um sich in ihrem Medium behaupten zu können.606 Unter dieser Perspektive erhalten bestimmte Eigenschaften des Mediums, die unter dem Gesichtspunkt einer fehlerlosen Übertragung als eher störend gewertet werden müssen, einen ganz neuen Stellenwert:607 Kann eine Mitteilung unter dem Gesichtspunkt der Übertragung gar nicht

603 Also die closure-type-Analyse mit der System-/Umwelt- oder input-output-Analyse theoretisch in Beziehung zu setzen - so im Anschluß an Francisco Varela auch Johannes Berger, a.a.O.

604 Uexküll, Jakob von, Theoretische Biologie, Frankfurt/M. 1973, S. 150ff.; vgl. dazu auch Mühlmann, Wilhelm Emil, Der Mensch in seiner Welt, a.a.O., S. 83f.

605 Vgl. z. B. Gehlen, Arnold, Der Mensch, Wiesbaden 1986, S.54f.

606 Vgl. dazu auch aus biologischer Sicht Winfree, Arthur T., Exitable Kinetics and Exitable Media, in: ders., The Geometry of Biological Time, Berlin 1990, S. 231-257.

607 Diese hier vorgestellten Überlegungen lassen sich, soweit ich sehe, noch nicht durch Luhmann-Zitate

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schnell genug übertragen werden, so gilt dies unter dem Gesichtspunkt selbstreferentiell generierter Formbildung nicht in gleicher Weise. Kommunikation braucht Zeit und das ist gut so. Medien verhindern aufgrund ihrer "Zähflüssigkeit", d. h. durch ihre eigenen Form als Medium, den Kollaps oder Kurzschluß der Kommunikation. 608 Das Medium zwingt die Form auf einen Umweg und gibt ihr dabei einen Grund.609 Auf Grund ihrer eigenen Form sind Medien Selbstreferenzunterbrecher; sie verhindern, daß alles an einem Raumpunkt und gleichzeitig passiert und ermöglichen dadurch, daß überhaupt etwas passiert.610 Sie verhindern, daß alles gleichzeitig gesagt werden kann und zwingen dadurch die Kommunikation in ein "immer schön der Reihe nach". Würden sie ein unendlich schnelles Operieren ermöglichen, dann wäre immer schon alles vorbei. Sie sind zäh, schlucken Zeit und sind nur deshalb erregbar und auch deshalb nur beobachtbar. Begreift man die Formbildung in einem Medium als einen selbstreferentiellen, aber zeitraubenden Prozeß, zwingt dies auch dazu, den dabei in Anspruch genommenen, medial spezifizierten Raumstellen erneut Aufmerksamkeit zu schenken. Solange man sich auf ein einziges System und zwar auf ein Interaktionssystem beschränkt, scheint diese Frage irrelevant. In der Interaktion ist nur die Sequenz der Ereignisse wichtig. Hier ist entscheidend, wann man etwas sagt. Diese Perspektive läßt sich aber nicht auf den Raum der Gesellschaft hochextrapolieren, denn dieser ist keineswegs mehr homogen, sondern muß als polykontextural strukturiert begriffen werden. Unter gesellschaftstheoretischer Perspektive ist es nicht nur entscheidend, wann etwas mitgeteilt wird, sondern auch wo. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien werden erst mit der wachsenden Differenzierung von Interaktion und Gesellschaft nötig und gleichzeitig forcieren sie diese Differenzierung. Kommunikation setzt immer die Nichtidentität der an ihr beteiligten Systeme voraus. Für über symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien laufende Kommunikation gilt dieses Kriterium quasi verschärft. Ihr Bezugsproblem liegt in der Unwahrscheinlichkeit, bestimmte Sinnofferten eines Anderen als Prämissen eigenen Handelns anzunehmen. Diese Unwahrscheilichkeit korreliert mit dem Differenzierungsgrad

decken. Sie scheinen mir aber mehr oder weniger zwingend aus der Theorieanlage zu folgen.

608 Vgl. dazu Junge, Kay, Die Form des Mediums, MS. Gießen 1991. Die hier referierten Überlegungen klingen sicherlich noch zu physikalistisch, aber es scheint, als ließen sie sich kommunikationstheoretisch hochfrisieren. Vgl. Fuchs, Peter, Formen moderner Kommunikation, Frankfurt/M. 1993 (im Druck). Fuchs reduziert das, was üblicherweise als Gedächtnisleistung individuell zugerechnet wird, auf die unterschiedlichen Trägheitsmomente von Kommunikation und Bewußtsein.

609 Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal die treffende Formulierung Manfred Sommers zitiert: "Der Umweg ist die erste Form." Ders., Evidenz im Augenblick, a.a.O., S. 162f.

610 Vgl. dazu: Junge, Kay, Medien als Selbstreferenzunterbrecher, in: Baecker, Dirk, (Hrsg.), Das Kalkül der Form, Frankfurt/M. 1993, S. 114-152.

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der Gesellschaft. In nur wenig differenzierten und interaktionsnah strukturierten Gesellschaften läßt sich das Annahmeproblem durch diverse interaktive Pressurmöglichkeiten konditionieren und lösen; erst mit wachsender Differenzierung wird dieses Problem als ein besonderes und immer bereichsspezifisches Problem mit eigenen Konturen identifizierbar. Eine gemeinsame Situation der Interagierenden kann nun nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden. Deshalb bedarf es besonderer symbolisch generalisierter Sanktionsmöglichkeiten, um die Annahme bestimmter Sinnofferten dennoch wahrscheinlich zu machen. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien erlauben es, Sinnselektionen nicht einfach nur zwischen nichtidentischen Systemen übertragbar zu machen, sondern sogar zwischen räumlich-situativ separierten Systemen. Ihr Bezugsproblem liegt deshalb in der wachsenden Unmöglichkeit einer umfassenden situativen und d. h. nicht zuletzt auch räumlichen Kontrolle des Adressaten. Anhand dieser Fragestellung läßt sich zeigen, daß der kritische Verweis auf die Sachabstinenz der Systemtheorie falsch adressiert ist. Er zielt wohl eher auf eine thematische Vernachlässigung, nicht aber auf eine theoretische Schwäche.611 Die Identifikation sozialer Strukturen mit Erwartungsstrukturen stellt nämlich die materiellen Bedingungen und damit auch Einschränkungen der Kommunikation sehr wohl in Rechnung. Aus physischen Gründen - z. B. aufgrund zu großer Entfernungen, oder aufgrund von Gefängnismauern - unmögliche Kommunikation, kann durchaus in der Analyse von Erwartungsstrukturen erfaßt werden. Um die Tauglichkeit des Begriffs der Erwartungsstruktur für die Behandlung sozialer Strukturen zu zeigen, scheint es uns sinnvoll, zwei Fragen auseinanderzuhalten. Erstens: Deckt der Begriff der Erwartungsstruktur auch das, was man sinnvollerweise unter Sozialstruktur verstehen sollte, wirklich ab? Und zweitens: Läßt sich der Begriff der Erwartungsstruktur forschungspraktisch operationalisieren? 612 Die erste Frage läßt sich gewissermaßen mit einem definitorischen Trick, aber in

611 Vielleicht ist diese Vernachlässigung aber systematisch an bestimmte theoretische Präferenzen gebunden, vielleicht aber auch nicht. Vermutlich aber gibt es Wichtigeres, und sicherlich gibt es noch eine ganze Reihe von vielleicht leichter zu beantwortenden - also wissenschaftlich ergiebigeren - offenen Fragen.

612 Ein drittes Problem soll hier nicht erörtert werden: Wie soll man Erwartung definieren und was für einen operativen Status haben Erwartungen? Erwartungen werden selbst den Erwartenden zumeist nur dann bewußt, wenn sie enttäuscht werden. Sie leiten unsere Orientierung also zumeist gar nicht explizit, sondern nur operativ - um es systemtheoretisch zu formulieren - unterbewußt und implizit. Ähnliche Probleme fängt man sich bei Verwendung des Wittgensteinschen Regelbegriffs ein: Einer Regel folgen, heißt nicht, diese Regel genau aufsagen können zu müssen. Auch hier bemerkt man die Regel erst im Fall eines Regelbruchs. Es geht bei der Unterscheidung von Implizit und Explizit vermutlich um das Verhältnis von subsymbolischen und symbolischen Prozessen, also soziologisch - so unser Verdacht - um das Verhältnis von Wahrnehmung und Kommunikation. In ähnlicher Weise wird zuweilen auch "know-how" von abfragbarem Wissen unterschieden. Vgl. dazu auch Dreyfus, Hubert L., What Computers still can't do - A critique of artificial reason, Cambridge, Mass. 1992.

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theoretisch wohl durchdachter Weise positiv beantworten. Der Begriff der Erwartungsstruktur stellt nämlich eben auch jene sozialstrukturellen Umstände in Rechnung, wie z. B. die physische Unmöglichkeit von Kontakten oder die Unkenntnis von möglichen Kontakten. Der Begriff leistet dies, weil `Struktur' nicht etwas Substantielles meint. Der Sinn struktureller Analysen erschließt sich nicht, wenn man Strukturen naiv wie Dinge behandelt.613 Strukturen sind Relationsgefüge, die sich ebensogut durch vorhandene wie auch durch nichtvorhandene Relationen beschreiben lassen. Eine Struktur besteht nicht nur aus Relationen, sondern eben auch aus Löchern, und Löcher können operativ, d. h. in bezug auf das, was die Struktur erlaubt oder verbietet, einen positiven Wert haben. Der Begriff der Erwartungsstruktur ist genügend abstrakt gewählt, um die beiden verfeindeten Varianten der strukturalistischen Soziologie integrieren zu können. Gemeint ist zum einen der insbesondere mit dem Namen Lévi-Strauss verbundene Strukturalismus, dessen Analysen sich auf die symbolischen Formen konzentrieren und der die Kultur zu seinem eigentlichen Untersuchungsfeld erklärt hat. Die andere Variante einer strukturellen Soziologie tritt heute auch häufig unter dem Titel Netzwerkanalyse auf und reklamiert für sich die Analyse von Sozialstrukturen - häufig verstanden als constraints für individuelles Handeln - als sein eigentliches Thema.614 Man könnte auch sagen, die einen konzentrieren sich auf die Strukturen dessen, was kommuniziert wird, also auf die Inhalte, während sich die anderen vorrangig den kommunikativen Beziehungen selbst widmen. Sobald man die zeitliche Entwicklung eines sozialen Systems zu erfassen sucht, wird man aber nicht umhin können, beide Komponenten aufeinander zu beziehen. Neue Themen und neue Beziehungen lassen sich kaum unabhängig voneinander erfassen. Eine neue Beziehung wird nie völlig willkürlich geknüpft, sondern immer vor dem Hintergrund der schon vorhandenen. Ebenso ist ein Themenwechsel nicht beliebig möglich, sondern immer nur vor dem Hintergrund des bis dahin Gesagten. Darüber hinaus lassen sich aber auch über Themen Beziehungen knüpfen und können Beziehungen zu einem Themenwechsel beitragen. Es kann deshalb kaum verwundern, daß es immer schon beide Varianten des Strukturalismus auch in Personalunion gegeben hat. Durkheim z. B. hat sich schließlich nicht nur mit sozialer Differenzierung, sondern eben auch mit den symbolischen Formen der Religion auseinandergesetzt und ebenso hat sich auch Lévi-Strauss nicht nur der Analyse von Mythen, sondern schließlich auch der von Verwandtschaftsstrukturen gewidmet. Vor die

613 Die hier gemeinte Naivität tritt dann zutage, wenn man sich - was uns kaum vermeidbar scheint - z. B. durch die Frage, ob das Loch eines Ringes zum Ring gehört oder nicht, irritieren fühlt.

614 Die Abgrenzung von Lévi-Strauss findet sich explizit beispielsweise bei Siegfried F. Nadel, The Theory of Social Structure, Glencoe 1957, S. 149f. und bei Peter M. Blau, Inequality and Heterogenity, New York 1977, S. 2.

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Alternative zwischen kulturalistischem und netzwerkanalytischem Strukturalismus gestellt, erscheinen diese Karrieren vermutlich als biographische Zufälle (oder, wenn man sich auf diese beiden Biographien beschränkt, vielleicht auch als späte Einsicht, als Fortschritt, als Sieg des kulturalistischen Ansatzes). Die beiden Perspektiven müssen sich jedoch nicht ausschließen. Kritiker des netzwerkanalytischen Strukturalismus haben wiederholt betont, daß die von der Netzwerkanalyse zugrundegelegten Einheiten immer nur über die von den Betroffenen selbst verwendeten Schemata zu identifizieren sind.615 Die Analyse symbolisch vermittelter Sinngehalte kann deshalb als grundlegend auch für netzwerkanalytische Untersuchungen gelten. 616 Gleichzeitig ist aber auch kaum zu bestreiten, daß sich ohne das Vokabular und die mathematischen Techniken der Netzwerkanalyse viele strukturelle Sachverhalte gar nicht sichtbar machen und benennen lassen. Die Ansätze scheinen deshalb wenigstens dann kompatibel, wenn man die Netzwerkanalyse als problemspezifische Analyse betreibt, mit der sich bestimmte Themen ausgezeichnet erschließen lassen, während andere sich ihr bis auf weiteres verweigern. Wenigstens macht es heute noch keinen rechten Sinn, wenn man den Gegenstand der Soziologie in reduktionistischer Weise durch Netzwerkanalyse einzuengen versucht.617 In beiden Varianten des Strukturalismus hat die Analyse von Lücken und Löchern einen zentralen Platz. Wenn der Vorwurf der Sachabstinenz Sinn machen soll, müßte gezeigt werden können, daß sich die kulturell oder netzwerkanalytisch durchmessenen Strukturen nicht auf sinnvolle Weise mit anderen (z. B. sachlichen) Parametern korrelieren lassen. Das aber wird schwerlich gelingen. Die Diffusion technischer Innovationen, der Ausbau von Transportsystemen, demographischen Entwicklungen, der Einfluß von Medien auf die Art und Weise der Kommunikation und ähnliches mehr bilden gewissermaßen ein klassisches Themenfeld netzwerkanalytischer, kulturgeschichtlicher oder systemtheoretischer Untersuchungen. Der schlichte Verweis darauf, daß dies bisher noch nicht in ausreichendem

615 Vgl. statt anderer z. B. Giddens, Anthony, The Constitution of Society, Berkeley 1984, S. 211.

616 Das wird auch wohl nur von wenigen bestritten, und einige Netzwerkanalytiker bemühen sich deshalb mittlerweile deutlicher darum, die inhaltliche Spezifikation von sozialen Beziehungen stärker in Rechnung zu stellen. Vgl. z. B. Ronald S. Burt / Thomas Schott, Relational Contents in Multiple Network Systems, in: Freeman, Linton C. et al., Research Methods in Social Network Analysis, Fairfax, Va. 1989, S. 185-213. Die Art und Weise, in der Netzwerktheoretiker Kultur, also Fragen nach Sinn und Inhalt sozialer Beziehungen einzubinden versuchen, ist aber nach wie vor stark umstritten. Vgl. z. B. Brint, Steven, "Hidden Meanings: Cultural Content and Context in Harrison White's Struktural Sociology", Sociological Theory 10:2 1992, S. 194-208, sowie die Erwiderung Whites auf den folgenden Seiten.

617 Wenigstens von jenen Netzwerkanalytikern, die sich noch an Talcott Parsons' bzw. Siegfried Nadels Definition sozialer Rollen im Sinne reziproker Erwartungsstrukturen orientieren, ist das wohl auch niemals bestritten worden. Anthony Giddens' Kritik am Strukturalismus mag deshalb Peter Blau treffen, Harrison White beispielsweise trifft sie nicht.

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Maße geschehen ist, ist kein Beweis für die theoretische Unmöglichkeit solcher Untersuchungen. Niklas Luhmann unterscheidet z. B. zwischen Erreichbarkeit, Verstehbarkeit und Zustimmung. Alle drei Kriterien sind von der Verfügbarkeit bestimmter Kommunikationsmedien abhängig und lassen sich in Abhängigkeit davon mehr oder weniger deutlich bezüglich ihres Einflusses auf den Aufbau von Erwartungsstrukturen spezifizieren. Die Option für den Begriff der Erwartung als eines soziologischen Grundbegriffs ist aber noch in einer anderen Hinsicht rechtfertigungsbedürftig. Wie lassen sich Erwartungsstrukturen methodisch sicher und forschungspraktisch sinnvoll überhaupt erfassen? Ganz gleich ob man Krisenexperimente bevorzugt oder sich lieber in die Begriffsgeschichte vertieft, eins scheint sicher: Erwartungen sind immer nur indirekt auslotbar, die Bewußtseinssysteme können sich nicht kurzschließen, sondern bleiben auf Unterstellungen angewiesen. Um diesem Problem zu entgehen, hat Heinrich Popitz vorgeschlagen, Normen - also aus systemtheoretischer Sicht einen bestimmten Typus von Verhaltenserwartungen - auf eine empirisch auf den ersten Blick leichter überprüfbare Weise zu definieren, nämlich als Verhaltensregelmäßigkeiten, bei deren Nichteinhaltung Sanktionen folgen. 618 Aber auch diese Alternative ist nicht problemlos: Wie lassen sich allein aufgrund dieser beiden Merkmale, z. B. Sanktionen, von anderem Verhalten unterscheiden? Muß dazu nicht der sanktionierten Person deutlich sein, daß ihr Verhalten den Erwartungen nicht entsprach? Damit Sanktionen von anderem Verhalten unterschieden werden können, muß der potentielle Normbrecher erwarten, daß er im Falle des Normbruchs, also der Durchkreuzung der Erwartungen der anderen, sanktioniert wird. Er muß Erwartungen erwarten können. Luhmann folgert deshalb, daß der Aufbau sozialer Strukturen - also der Aufbau von Erwartungsstrukturen - nur gelingt, wenn das Erwarten selber reflexiv wird, d. h. als erwartetes Erwarten das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder orientiert.619

618 Popitz, Heinrich, Die normative Konstruktion der Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 12.

619 Luhmann, Niklas, Soziale Systeme, Frankfurt/M. 1984, S. 411ff. Luhmann schließt hier bekanntlich an das von Parsons identifizierte Problem der doppelten Kontingenz an. Reflexives Erwarten ist nicht nur Voraussetzung für die Etablierung von Normen, sondern Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation überhaupt. Damit eine Äußerung einigermaßen verstanden werden kann und damit den Selektionshorizont für alles weitere Erleben oder Handeln modifiziert, muß und wird der Sprecher versuchen, sie in bezug auf den angenommenen Erwartungshorizont des Hörers zu formulieren. Aber auch der Hörer wird versuchen, eine Äußerung oder deren Ausbleiben vor dem Hintergrund der von ihm angenommenen Erwartungen seines Gegenüber in bezug auf ihn selbst zu spezifizieren. Nur insofern dies in etwa gelingt - und gelingen heißt hier zunächst nicht mehr, als daß eine gewisse Interdependenz zwischen den einzelnen Äußerungen erkennbar wird - macht es Sinn, von Kommunikation zu sprechen. In der Kommunikation werden die wahrgenommenen Äußerungen im Sinne von Mitteilungen identifiziert, deren Informationsgehalt in weiteren Mitteilungen traktierbar wird. Die Äußerung wird zur Mitteilung, das Hören zum Verstehen. Die Emergenz von Kommunikation ist dabei identisch mit einer Konvergenz der beiderseitigen Erwartungserwartungen. Die Konvergenz ist aber nur deshalb erwartbar, weil sie sich eben nicht auf das jeweilige Gegenüber in seiner ganzen Komplexität zu beziehen braucht, sondern eben nur auf Erwartungserwartungen, also auf ein reflexiv vorsondiertes Terrain. Die Theoriefigur der Erwartungserwartungen macht es deshalb möglich, quasi

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In dieser vertrackten Lage gewinnt die Aussage Luhmanns, daß soziale Systeme nicht im Raum existieren, Profil. Die Struktur sozialer Systeme besteht nicht aus irgendwie greifbaren Dingen, sondern aus Erwartungen, aus wechselseitigen Unterstellungen, die selber im Normalfall unsichtbar bleiben, nicht expliziert werden und nicht zur Sprache kommen. 620 Erwartungen sind an Personen, an Rollen, an Programme oder an Werte gebunden, aber diese vier Instanzen lassen sich nicht ohne weiteres räumlich verorten. Darauf hatte im Prinzip schon Spencer aufmerksam gemacht. Erwartungsstrukturen gewinnen jedoch ein gewisse Bodenständigkeit, sobald sie auf bestimmte Adressaten der Kommunikation bezogen werden. Programme sind dabei primär an formale Organisationen gebunden, während sich Werte quasi ohne jeden konkreten Bezug zur Situation einklagen lassen. Kommunikationsprozesse lassen sich deshalb vielfach räumlich lokalisieren und wirken ihrerseits wiederum auf die räumliche Gestaltung von Gebäuden, die Entstehung bestimmter Landschaften oder auf die Entwicklung bestimmter räumlicher Verteilungsmuster zurück. Die Erziehung findet in Schulen statt, die Rechtsprechung in Gerichten, der Vereinsabend in der Kneipe, und wenigstens einige Freunde oder Bekannte wohnen gleich in der Nachbarschaft oder doch in der Nähe. Diese Fälle scheinen verhältnismäßig leicht zu verorten, aber wie steht es mit der Liebe, mit der Forschung, mit dem Gelderwerb? Natürlich gibt es auch hier bestimmte Gebäudekomplexe, in denen sich solche Kommunikationsprozesse konzentrieren, aber sie beschränken sich eben nicht auf sie, sondern flottieren gewissermaßen unabhängig von aller Geographie. Man fühlt sich auf offener Straße in seiner religiösen Befindlichkeit verletzt; flirtet auf der Arbeit; muß die Parteizugehörigkeit im eigenen Wohnzimmer verteidigen; wird in der Öffentlichkeit als Mensch angesprochen etc. Es gibt in der Biologie eine interessante Parallele zu unserem Problem: In der

anthropologische Vorannahmen bei der Erklärung sozialer Ordnung auf ein Minimum zurückzuschrauben. Die Kommunikationsteilnehmer müssen aus dieser Perspektive weder dieselben Werte internalisiert haben (wie Parsons voraussetzt) noch Sprachkompetenz besitzen (wie Habermas voraussetzt) noch habituell gleichgeschaltet sein (wie Bourdieu voraussetzt). Vgl. auch Donald Davidson, Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Picardi, Eva und Joachim Schulte (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation, Frankfurt/M. 1990, S. 203-227. Davidson spricht allerdings von Theorien statt von Erwartungen und von Übergangstheorien statt von Erwartungserwartungen. Ich danke Christian Kritschgau für diesen Literaturhinweis.

620 Konsequent zu Ende gedacht, ist dies sogar prinzipiell unmöglich, denn wenn die unterstellte Erwartungsstruktur als Kontext einer Äußerung begriffen wird, also als Kontext zu einem Text, dann wird logisch zwangsläufig ein neuer Kontext eröffnet, sobald der bis dahin unterstellte Kontext selbst den Status eines Textes erhält, d. h. kommunikativ expliziert wird. Die Unterscheidung von Text und Kontext verweist auf dasselbe strukturelle constraint, wie die Unterscheidung von Sprache und Metasprache (Tarski) bzw. Kommunikation und Metakommunikation (Bateson, Watzlawick) oder die von Operation und Beobachtung (Luhmann) oder die von Markieren und Unterscheiden (Spencer-Brown). Auch die Rahmenanalyse von Goffman betont diesen constraint. Deborah Tannen schließt mit der Formel `Frames go nameless' aus konversationsanalytischer Sicht hier an. Vgl. dies., That's not what I meant, New York 1986, S. 82-100, S. 85.

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Kommunikation lassen sich Erwartungsstrukturen anhand der jeweils verwendeten Semantik analysieren. Die jeweils historisch dominante gesellschaftliche Semantik bzw. Kultur orientiert das Verhalten und Erleben des Einzelnen. Hier kondensiert in abstrakter und generalisierter Form, was die Kommunikationsteilnehmer voneinander erwarten und sich gegenseitig zumuten dürfen. Vielfach, insbesondere aber im Fall symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, gehorcht diese Semantik einem binären Code. Wer den Code kennt, weiß, was er zu erwarten hat und wer sich orientieren will, orientiert sich am Code.621 Biologen und Soziologen sehen sich aber nun mit einem parallelen Problem konfrontiert: Wie spezifiziert der Phänotyp den Genotyp, wie spezifiziert ein bestimmter Code einen Kommunikationsprozeß? Semantiken und Codes werden häufig von Soziologen - fast schon platonisch - als abstrakte Ideen behandelt. Raum-zeitlich konkret werden sie immer nur im Vollzug der Kommunikation selbst. Es scheint eine kaum problematisierte Vorannahme, daß das Problem der Sequenzialisierung dabei mehr oder weniger implizit über den Code selber geregelt wird, so als hätten die so instruierten Personen einen Algorithmus abzuarbeiten. Diese Problematik interessiert uns hier jedoch weniger (wir kommen später aber wahrscheinlich darauf zurück). Kommunikationsprozesse sind aber darüber hinaus auch immer situativ oder abstrakter formuliert, auch räumlich eingebettet und definiert.622 Hier hat es die soziologische Kommunikations- und Evolutionstheorie mit einem ähnlichen Problem zu tun wie die biologische Theorie der Morphogenese und die Evolutionstheorie. Biologen fragen sich, wie aus eindimensionalen DNS Strängen dreidimensionale Organismen entstehen können. 623 Parallel dazu muß sich die Soziologie fragen, wie semantische Codes bestimmte Situationen definieren, Subsysteme ausdifferenzieren und kommunikative Netzwerke etablieren helfen, oder abstrakter: wie verschiedene Codes verschiedene soziale Räume konstruieren. 624 Und von da aus läßt sich dann vielleicht erneut nach der territorialen Struktur

621 Auf die Parallelen oder Analogien zwischen genetischen und semantischen Codes ist in der soziologischen Literatur häufig hingewiesen worden. Vgl. z. B. Lenski, Gerhard, Human Societies, New York 1970, S. 20f; Giesen, Bernhard, Evolutionstheorie, in: Kerber, Harald / Arnold Schmieder (Hrsg.), Handbuch Soziologie. Zur Theorie und Praxis sozialer Beziehungen, Reinbek 1984, S. 139 - 143; ders., Code, Process and Situation in Cultural Selection, in: Adams R. / C. Antweiler (Hrsg.), Cultural Dynamics, Vol. IV, S. 172 - 185.

622 Vgl. dazu im Anschluß an ethnomethodologische Überlegungen insbesondere Bernhard Giesen, Die Entdinglichung des Sozialen, Frankfurt/1992, S. 25ff., S. 159ff., S. 173ff.

623 Vgl. dazu insbesondere Edelmann, Gerald M., Topobiology - An Introduction to Molecular Embryology, New York 1988.

624 Zu den Problemen der Gentechniker mit der topologischen Struktur ihres Materials lassen sich viele Parallelen entdecken (man könnte hier an die Topologie von Wortfeldern denken, oder an Fragen der Textgliederung oder auch an Satzbau und Grammatik). Wie wirkt sich eine Manipulation der Gensequenz auf die spätere Form des Organismus aus? Wie muß eine politische Rede strukturiert sein, um die

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der modernen Gesellschaft fragen. "Ein Territorium besteht aus decodierten Fragmenten aller Art",625 seine Struktur erschließt sich erst über die symbolischen Codes der Kommunikation; sie deckt sich heute kaum mehr mit dem, was sich unmittelbar als gegenständlich gegenwärtig wahrnehmen läßt. Anthony Giddens hat mit Hilfe des Konzepts der time-space-distanciation bereits auf einen spezifischen Unterschied zwischen der räumlichen Integration in vormodernen und modernen Gesellschaften aufmerksam gemacht. Mit dem Übergang zur Moderne nimmt aber - so Giddens - nicht nur die Größe des sozial integrierten Territoriums zu, sondern es wandelt sich auch die Art und Weise der Kontrolle. Man könnte deshalb sagen, daß sich auch die Form des Raumes mit dem Übergang vom Personenverband zum Territorialstaat geändert hat. Dieses Argument ist aber bei Giddens selbst kaum über das, was schon von Foucault her bekannt war, hinaus entwickelt. Die Analyse dieses Wandels bleibt eindimensional, insoweit sie ihn auf eine bloße Intensivierung der Kontrolle reduziert. Giddens' Analyse bleibt deshalb einer Art territorialem Imperativ verhaftet. Demgegenüber kommt es darauf an, den jeweils spezifischen Raumbezug unterschiedlicher Funktionssysteme zu analysieren. Elmar Altvater hat am Beispiel Brasiliens versucht, die Artikulation unterschiedlicher "Funktionsräume" zu analysieren. Aber auch Altvater zielt nicht auf eine Kontrastierung des jeweils spezifischen Raumbezugs der verschiedenen modernen Funktionssysteme im Sinne der Theorie funktionaler Differenzierung, sondern unterscheidet lediglich zwischen den unterschiedlichen Reproduktionsmodi von Region, Nation und Weltmarkt. Das Raummodell ist hier dasselbe wie bei Giddens. Die aufgrund der Kategorien Gebrauchswert, Tauschwert und Zins jeweils spezifizierten Einheiten unterscheiden sich räumlich lediglich durch ihre territoriale Ausdehnung und lassen sich deshalb territorial eindeutig ineinander verschachteln. Wie schon bei Giddens beschränkt sich auch bei Altvater die Thematisierung und Analyse des Raumbezugs sozialer Einheiten auf das, was sich planimetrisch problemlos kartographieren läßt. Aber schon in der Geographie gibt es eine wachsende Zahl von Autoren, die an komplexeren Raummodellen arbeiten. Die zweidimensionale, auf Papier gezeichnete Karte gibt platterdings ein irreführendes Bild sozialer Verhältnisse. Pip Forer z. B. hat deshalb versucht, einen plastic space zu konzeptualisieren. 626 Eine Karte, die sich dehnen, stauchen,

Parlamentsangehörigen zur richtigen Wahl zu bewegen? Eines der bekanntesten Beispiele für die gezielte topologische Manipulation des symbolischen Materials ist sicherlich die Emser Depesche. Bismarck kürzt den Text lediglich ein wenig und klebt "Kopf und Schwanz" aneinander und am Ende dieser Mem-Manipulation steht das Deutsche Reich.

625 Deleuze, Gilles / Guattari, Felix, Tausend Plateaus, a.a.O., S. 698.

626 Forer, Pip, "A place for plastic space?", Progress in Human Geography, 3 (1978), S. 230-267.

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strecken und falten läßt. Eine Gummi-Karte könnte einen sinnvolleren `Rahmen' für die Projektion sozial-geographischer Daten bilden. Wollte man versuchen, die Autopoiesis der Kommunikation in ihren unterschiedlichen Medien zu kartographieren, wird jedoch auch Pip Forers Vorschlag als unzureichend gelten müssen. Schon in bezug auf die Autopoiesis des Lebens schreibt Maturana: "All processes occur bound to a topology determined by their participation in the processes of production of relations of constitution. (...) The autopoietic space,(...), is curved and closed in the sense that it is entirely specified by itself". Ein Beobachter mag diesen Raum in ein dreidimensionales Koordinatensystem einbetten wollen, aber in dieser Projektion wird sich das System nicht reproduzieren lassen. 627 Die Beziehungen zwischen den autopoietisch produzierten Elementen gehorchen nicht einer einfachen räumlichen Nachbarschaft. Milan Zeleny hat eine Reihe von Autopoiesis-Modellen für Zellular-Automaten entworfen; sie erlauben es sogar, die Autopoiesis eines Systems in nur zwei Dimensionen sichtbar zu machen. Die Nachbarschaften der einzelnen Zellen und ihre möglichen Zustände erschließen sich dabei aber nicht mehr einfach über ihr räumliches Nebeneinander, sondern müssen vorweg künstlich definiert werden. Das dabei jeweils vor den Augen eines Beobachters entstehende räumliche Muster ändert sich in Abhängigkeit von der topologischen Struktur des Mediums. Wie man soziologisch denken muß, damit solche Simulationen sinnvoll oder sogar realistisch werden und was man sich unter der Topologie sozialer Strukturen vorstellen soll, wollen wir bei Harrison White erfahren.

Harrison C. White "Social networks are spun off as by-products of signalling dynamics, which include stories and other verbal accounting."628 Harrison Whites Konzeptualisierung sozialer Beziehungen berücksichtigt explizit die inhaltliche Ausrichtung und kommunikative Konstruktion sozialer Netzwerke. Daß man dieser Frage aus dem Weg gehen solle, hat zwar niemand je gefordert, aber diese Akzentsetzung scheint dennoch nicht üblich im Lager der Netzwerkanalytiker oder ist wenigstens von vielen Kritikern in dieser Deutlichkeit vermißt worden. Gleichwohl ist sie bis heute nicht befriedigend gelöst, aber eine nur darauf abstellende Kritik wäre sicherlich zu pauschal, zumal es an Alternativen fehlt. White begreift Netzwerke nicht als fix installierte Systeme von Kommunikationskanälen, sondern definiert

627 Maturana, Humberto R. / Francisco J. Varela, Autopoiesis and Cognition, Dordrecht 1980. S. 92.

628 White, Harrison C., Identity and Control - A Structural Theory of Social Action, Princeton 1992, S. 71.

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sie über die Erwartungsstrukturen einer bestimmten Population von Individuen. "The elements of our framework are stable expectations held by persons."629 Erwartungsstrukturen bauen sich durch Kommunikation auf; die so generierten Netzwerke modifizieren dann den nicht mehr homogenen Informationsfluß, der wiederum Anlaß zum Aufbau oder Abbruch neuer Beziehungen sein kann, also auf das Netzwerk selbst zurückwirkt. In seinem jüngsten Buch gibt Harrison White diesem Ansatz eine noch abstraktere Form, die es nicht mehr nötig macht, das soziale Geschehen ausschließlich über individuelle oder individuell zurechenbare Erwartungen zu definieren. White entfaltet seine Überlegungen im Sinne einer allgemeinen soziologischen Theorie. Er wählt Identität und Kontrolle zu seinen Grundbegriffen. "Identity here does not mean the common-sense notion of self, nor does it mean presupposing consciousness and integration or presupposing personality. Rather, identity is any source of action not explicable from biophysical regularities, and to which observers can attribute meaning."630 Whites Grundbegriffe sind in gewisser Weise tautologisch aufeinander bezogen. Soziale Akteure (oder allgemeiner Identitäten) werden über Handlungen (oder allgemeiner Ereignisse) generiert, mit denen wiederum andere Identitäten sich zu arrangieren suchen. Diese Ereignissequenzen gewinnen eine bestimmte Form, weil die einzelnen Identitäten sie zu kontrollieren bestrebt sind. Diese unterschiedlichen Kontrollversuche wiederum führen zu einer Blockade weiterer Aktivitäten. "Any social formation whatever, complex or not, tends to settle into blocking action over time."631 Das Spiel kommt aufgrund von Störungen und dem individuellen Zwang zu biologischer Selbsterhaltung (durch Arbeit) in Gang. "Chaos and accidents are the sources and bases for identities."632 Die ersten Ereignisse sind lediglich so etwas wie Zufälle oder Lärm im Sinne der Informationstheorie und der hilft, wie man im Anschluß an Niklas Luhmann sagen könnte, nicht nur die Selbstreferenz des Gegenstands zu unterbrechen, sondern auch die tautologische Begrifflichkeit des Theoretikers zu entfalten. White experimentiert mit einer ganzen Reihe verschiedener Formalismen, Konzepte, Metaphern und fachfremder Theorieansätze, um die Strukturgenese und Dynamik kommunikativer Beziehungen zu erfassen und zu veranschaulichen. Seine entscheidenden Metaphern entnimmt er nicht mehr - wie Spencer und Luhmann - der Biologie, sondern vor allem der Festkörperphysik und der Chemie. Der Bezug auf Erwartungsstrukturen und auf

629 Lorrain, Francois / Harrison C. White, Structural Equivalence of Individuals in Social Networks, in: Leinhardt, Samuel (Hrsg.), Social Networks - A Developing Paradigm, New York 1977, S. 67-98, S. 68.

630 White, Harrison C., a.a.O., 1992, S. 6.

631 Ders., a.a.O., 1992, S. 255.

632 Ders., a.a.O., 1992, S. 4.

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Selbstorganisationsmechanismen bei Harrison White macht es uns leicht, einige Grundzüge seiner Theoriearbeit direkt im Anschluß an die mit dem Namen Niklas Luhmann verbundene Variante von Systemtheorie zu diskutieren, 633 die in Sachen Raum wenigstens eines deutlich herausgestellt, nämlich wie es in soziologisch akzeptabler Weise auf jeden Fall nicht gehen kann. Mit Verweis auf Herbert Spencer und Niklas Luhmann konnten wir zeigen, daß sich in Sachen Raum, so wie bisher als selbstverständlich angenommen, die Theoriebildung nicht weitertreiben läßt. Das Behälter-Paradigma beruht auf einer soziologisch und insbesondere gesellschaftstheoretisch unzulässigen Verallgemeinerung des Wahrnehmungsraums. Wie man aber statt dessen die Topologie des sozialen Geschehens begreifen soll, ist nicht deutlich geworden. Hier zeigt Harrison White neue Wege. "Networks will probably become as important to sociology as Euclidian space and its generalizations are to physics"634 heißt es in Lorrains und Whites vor mehr als zwanzig Jahren erschienenem Artikel über die strukturelle Äquivalenz von Individuen in Netzwerken. Heute kann man sagen, daß mittlerweile auch in der Physik netzwerktheoretische Überlegungen eine entscheidende Rolle spielen. 635 Harrison White gehört gegenwärtig zu den wenigen Soziologen, die diese Veränderungen oder paradigmatischen Umorientierungen für die eigene Theoriearbeit fruchtbar zu machen suchen. 636 Wir möchten nun zunächst der von

633 Wenn wir auch Harrison White hier nach Spencer und Luhmann unter Systemtheorie verbuchen, so ist dies sicherlich nicht unbedenklich. Wir glauben aber, aufgrund unserer Fragestellung dazu berechtigt zu sein: Ebenso wie Spencer und Luhmann und im Unterschied zu den deutlicher handlungstheoretisch ausgerichteten Ansätzen von Simmel, Giddens oder Parsons, begreift White die räumliche Einbettung sozialer Strukturen nicht als eine schon a priori oder physikalisch vorentschiedene Frage, sondern versucht räumliche Beziehungen über soziale Strukturen zu erklären. Eine weitere Gemeinsamkeit der drei unter Systemtheorie abgehandelten Autoren ist darüber hinaus sicherlich nicht umsonst aber auch eine so abstrakt ansetzende Theorieanlage, daß der Import von Konzepten aus anderen Disziplinen der vielleicht bedeutendste Mechanismus der Theoriebildung geworden ist. Whites Faszinosum oder Paradigma ist nicht die Autopoiesis eines Organismus, sondern die topologische Formenvielfalt von Polymeren. Anders als Spencer und Luhmann, das sei jedoch noch angemerkt, begreift White Systeme als Konstrukte und Produkte der Rhetorik. (Ders., a.a.O., 1992, S. 287ff.) "Rhetorics" suggerieren immer eine größere Einheitlichkeit in bezug auf das, von dem sie zu handeln vorgeben, als tatsächlich nachweisbar ist. Wie Kultur im Allgemeinen dienen sie - so White - im wesentlichen dazu innovatives Handeln zu blockieren. White stellt schließlich sogar auch sein eigenes Theorieunternehmen als Rhetorik vor (Ders., a.a.O., 1992, S. 312ff.) und vollführt damit natürlich unweigerlich einen performativen Widerspruch. Luhmann beginnt da eindeutiger: "Es gibt Systeme..." Whites ontologische Prämisse scheint demgegenüber zu lauten: "Es gibt Lärm..." Nur aufgrund von Lärm können sich Strukturen bilden und rhetorisch als Systeme verfestigen und voneinander abgrenzen.

634 Lorrain, Francois / Harrison C. White, a.a.O., S. 95.

635 Siehe z. B. Wilson, Kenneth G., Die Renormierungsgruppe; und Stein, Daniel, Spingläser, beides wiederabgedruckt in: Chaos und Fraktale, Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung, Heidelberg 1989, S. 128-144, S. 146-152.

636 Vgl. auch Granovetter, Mark und Roland Soong, "Threshold Models of Diffusion and Collective Behavior", Journal of Mathematical Sociology 9 (1983), S. 165-179.

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White favourisierten, topologischen Analyse sozialer Beziehungen, gewissermaßen als Kontrastfolie, die Konstruktion abstrakter sozialer Räume - häufig auch Soziogramme genannt - durch multidimensionale Skalierung voranstellen. Talcott Parsons hat, wie wir bereits erwähnten, auf die alltagssprachliche Identifikation von Gebäuden und Institutionen verwiesen und die Doppeldeutigkeit dieser Begriffe zum Ausgangspunkt seiner Analyse der Beziehungen von sozialen Strukturen und räumlichen Beziehungen gemacht. Gerade die Ambivalenz dieser Begriffe scheint aber auch der substantiellen Identifikation von sozialen Systemen Vorschub zu leisten. Demgegenüber hat sich die Netzwerkanalyse von Anfang an auf primär relational definierte Daten konzentriert. Aber auch hier bilden bestimmte alltagssprachliche Formulierungen den Ausgangspunkt der Theoriearbeit. In der Alltagssprache finden sich eine ganze Reihe spezifisch-räumlicher Metaphern, um soziale Beziehungen zu charakterisieren. Pitrim Sorokin hat anhand dieser Metaphern den Terminus "social space" zu entwickeln versucht. "Expressions like `upper and lower classes', `social promotion',`N.N. is a climber',`his social position is very high','they are very near socially',`right and left party',`there is a great social distance', and so on, are quite commonly used in conversation, as well as in economic, political, and sociological works. All these expressions indicate that there is something which could be styled 'social space'". 637 Sorokin betont, daß sich der soziale Raum deutlich vom geometrischen Raum - gemeint sind räumlich-territoriale Distanzen - unterscheidet. Zwei Brüder, von denen der eine in Amerika und der andere in China lebt, mögen sich sozial durchaus sehr nahe sein, während ein König und seine Diener sich zwar räumlich nahe, aber sozial durchaus fern sein können. "Social space is something quite different from geometrical space. (...) To find the position of a man or a social phenomenon in social space means to define his or its relations to other men or other social phenomena chosen as the "points of reference"."638 Wie man einen solchen Raum formal konstruieren könnte, hat Sorokin jedoch nicht ausgeführt. Erst seit den 60er Jahren sind, insbesondere im Anschluß an einige, Überlegungen von Helmholtz und Wundt wieder aufgreifende Artikel zur Wahrnehmungphysiologie von Roger Shepard, solche Verfahren unter dem Titel multidemensionale Skalierung (MDS) oder smallest space analysis bekannt,639 und auch von

637 Sorokin, Pitrim, Social and Cultural Mobility, New York 1959, S. 3.

638 Sorokin, Pitrim, a.a.O., S. 3f.

639 Shepart, Roger, "The analysis of proximities: multidimensional scaling with an unknown distance function", Psychometrika 27 (1962), S. 125-140, S. 219-246. Eine gut verständliche Einführung ist: Borg, Ingwer, Anwendungsorientierte multidimensionale Skalierung, Heidelberg 1981.

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Soziologen weiterentwickelt und genutzt worden. 640 Es geht dabei darum, über Ähnlichkeitsprofile verschiedener Objekte oder auch über die Interaktionen zwischen verschieden Objekten, also über Eigenschaften, die selbst nicht schon eine Metrik sein müssen, Distanzen zwischen diesen Objekten zu konstruieren und über diese Distanzen einen Raum zu definieren. 641 Die Konstruktion eines solchen Raumes erfolgt dabei analog zur Konstruktion einer Landkarte z. B. aufgrund der Entfernung zwischen einzelnen Städten. Nur der Raum, den diese Distanzen aufspannen, ist nicht von vornherein auf nur zwei Dimensionen beschränkt. Zu einer Vereinfachung des ursprünglichen Datensatzes - und damit zu einem Informationsgewinn - kommt es, insofern es gelingt, einen Raum zu konstruieren, dessen Dimensionszahl deutlich geringer ist als die Zahl der Daten selbst. Das hängt natürlich nicht zuletzt auch von den Daten ab. Legt man z. B. bei der Konstruktion einer Landkarte die Entfernung zwischen einzelnen Städten in Luftlinie zugrunde, läßt sich eine planare Karte wenigstens solange noch recht gut zeichnen, wie die Entfernungen im Vergleich zum Erdumfang noch einigermaßen gering sind. Versucht man aber eine solche Karte z. B. unter Zugrundelegung der jeweils kürzesten Reisezeiten oder der Transportkosten zu entwerfen, so wird man mit zwei Dimensionen kaum mehr auskommen, sobald es in der Region, in der man die Daten erhoben hat, auch andere Fortbewegungsmöglichkeiten als zu Fuß gibt. Ein anderes Beispiel: Will man Personen aufgrund bestimmter Merkmalsprofile oder aufgrund ihrer jeweils persönlichen Sympathien und Antipathien oder schließlich aufgrund der Intensität ihrer Kontakte in einem Raum verbuchen, so gelingt dies schon dann nicht mehr in der Ebene, wenn sich nur vier Personen in gleicher Weise zugeneigt sind, es gelingt nicht mehr im dreidimensionalen Raum, sobald fünf Personen im gleichen Abstand zueinander plaziert werden sollen etc.642 Ferner läßt sich, sobald die Distanzen zwischen den einzelnen Objekten oder Personen nicht mehr symmetrisch sind, die durch sie definierte Konfiguration ohnehin nicht mehr "streßfrei" räumlich einbetten. Die Einbettung ist also immer mehr oder weniger problematisch, muß aber den Daten ein wenig Gewalt antun, um überhaupt eine Struktur sichtbar machen zu können. Joel H. Levine beispielsweise wählt in

640 Vgl. insbesondere McFarland, David D. / Daniel J. Brown, Social Distance as a Metric: A Systematic Introduction to Smallest Space Analysis, in: Laumann, Edward O., Bonds of Pluralism: The Form and Substance of Urban Networks, New York 1973, Appendix A, S. 213-253.

641 Zu einer Reihe von Möglichkeiten, soziologisch interessante Distanzen zu definieren und entsprechende Karten oder Räume zu konstruieren (nämlich aufgrund von zeitlichen, wirtschaftlichen, kognitiven und sozialen Distanzen), vgl. Gatrell, Anthony, Distance and Space: A Geographical Perspective, Oxford 1983.

642 Vgl. dazu auch: Dewdney, A.K., "Programmed Parties", in: Ders., The Magic Machine. A Handbook of Computer Sorcery, New York 1990, S. 151-160.(deutsch: "Die elektrische Beziehungskiste", Spektrum der Wissenschaft, Sonderheft 8 Computerkurzweil III, 1989, S. 48-51.

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seiner, in diesem Zusammenhang klassisch zu nennenden Arbeit für die Darstellung der "spheres of influence" von 14 amerikanischen Banken eine zweidimensionale gnomonische, d. h. durch Zentralprojektion konstruierte Karte. Die Distanzen für diese Kartenkonstruktion hat er aufgrund der sich teilweise überlappenden Mehrfachmitgliedschaften in den Vorständen von 96 Industrieunternehmen gewonnen. "The gnomonic map is a large sociogram whose sectors indicate relatively well- linked bank- industrial ties. But the representation is not the same as the ties, and it is important to emphasize the difference between the network data and the two-dimensional, or three-dimensional or however-many-dimensional representation. The network itself is fourteen dimensional and no fewer number of dimension will describe it fully."643 Schon Sorokin hat auf die Problematik einer Beschränkung auf nur drei Dimensionen hingewiesen: "Euclid's geometrical space is space of three dimensions. The social space is space of many dimensions". 644 Aber es kommt, je nach Fragestellung, natürlich gerade auf eine Datenreduktion in bestimmter Hinsicht an, um den Daten überhaupt Information entnehmen zu können. Deshalb ist eine solche, bestimmte Reduktion unter einer jeweils besonderen Fragestellung natürlich sinnvoll. Wenn sich aber keine zufriedenstellende Antwort bei einer Reduktion der Daten auf zwei oder vielleicht auch noch drei Dimensionen finden läßt, ist dieses Verfahren der Datenrepräsentation häufig nicht mehr ohne weiteres zu gebrauchen. 645 Komplizierte Konstellationen sozialer Beziehungen lassen sich kaum mehr als Soziogramm darstellen. Wählt man eine graphentheoretische Darstellung, wird das Soziogramm schon bei einer vergleichsweise geringen Zahl von Personen und Beziehungen unübersichtlich, wählt man eine durch MDS gewonnene Darstellung, gehen unweigerlich vielleicht wertvolle Informationen verloren, so daß sich auch diese Form der Darstellung ab einem gewissen stress bei der Datenreduktion nicht mehr empfiehlt. Harrison White optiert für eine abstraktere Analyse sozialer Strukturen. Er versucht gar nicht erst, ein bestimmtes Netzwerk in einen zwei-, drei- oder auch höherdimensionalen Raum mit Euklidscher Metrik

643 Levine, Joel H., The Sphere of Influence, in: Leinhardt, Samuel (Hrsg.), a.a.O., S. 433-446, S. 444.

644 Sorokin, Pitrim, a.a.O., S. 7. Dennoch fordert nicht nur Levine, daß das durch multidimensionale Skalierung produzierte Soziogramm in etwa auch der geographischen Plazierung der so verbuchten Einheiten entspricht. "At a minimum, the joint space should recover this regionalism." und resümiert: "Region per se is only a geographical fact. The map of directorates shows that the fact is also social." Ders., a.a.O., S. 436. Auch unter modernen, unter den Imperativen eines voll ausdifferenzierten Funktionssystems stehenden Lebensbedingungen, scheint, wie Levin zeigt, eine gewisse Korrespondenz von sozialen Strukturen und räumlich-territorialen Beziehungen gegeben. Eine deutlichere Korrespondenz läßt sich natürlich für weniger ausdifferenzierte Kommunikationsstrukturen nachzeichnen. Everett M. Rogers und D. Lawrence Kincaid z. B. zeigen dies für das koreanische Dorf Oryu Li. Dies., Communication Networks - Toward a New Paradigm for Research, New York 1981 (vgl. die Landkarte auf Seite S. 3. und das Soziogramm auf S. 28).

645 Vgl. dazu auch: Kruskal, Joseph B. / Myron Wish, Multidimensional Scaling, London 1991, S. 56ff.

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einzubetten. White zielt direkt auf die Topologie des jeweiligen Netzwerks und auf die Kombinatorik der Verknüpfungen. Die Topologie eines Netzwerkes ergibt sich aus der Struktur der Überlappungen zwischen den um einzelne Personen zentrierten Nachbarschaften. 646 Status-Positionen oder Rollen lassen sich aus der Matrix eines solchen Netzwerkes herausabstrahieren, indem man die strukturell äquivalent verknüpften Personen des Netzwerkes bestimmt. In äquivalenter Weise verknüpfte Knotenpunkte des Netzwerkes stehen für gleiche Rollen ausfüllende, also gleiche Erwartungsstrukturen teilende Personen. 647 Eine Analyse der Netzwerktopologie soll es erlauben, ausgehend von diesen knotenpunktspezifischen Mikrostrukturen die "macroscopic flows either of material resources or of abstractions - such as information, uncertainty, attitudes - as seen by an observer" zu behandeln. Diese von White und anderen initierte Perspektive hat mittlerweile zu zahlreichen Forschungsresultaten geführt, deren innovativer Wert vielleicht am greifbarsten dadurch verbürgt ist, daß für die dabei aufgedeckten Strukturmerkmale des Gegenstandes häufig gleich neue Begriffe erfunden werden mußten. Dies liegt vielleicht auch nicht zuletzt daran, daß es sich bei diesen Entdeckungen vielfach um die Entdeckung von Lücken oder Löchern im Gegenstandsbereich handelt, also "Dingen" mit einem ontologisch zweifelhaften Status. Harrison White selbst hat in diesem Rahmen z. B. die Dynamik von "vacancy-chains" in Clustern von formalen Organisationen untersucht; Mark Granovetter hat die "strength of weak ties" bei der Beschaffung von arbeitsplatzrelevanten Informationen analysiert; Ronald Burt hat die Bedeutung von "structural holes" für den über Märkte ausgerichteten wirtschaftlichen Wettbewerb herausgearbeitet.648 Definiert man soziale Räume über die Nachbarschaften der einzelnen Akteure, so wird eine Vielzahl solcher häufig nur spärlich miteinander verbundenen Räumen möglich. In dieser Weise topologisch definierte Räume sind weder homogen noch isotrop; für einen externen Beobachter können sie ineinander verwebt und löchrig sein. "Social spaces are partial and multiple, not some Euclidian totality."649

646 White, Harrison C., Chains of Opportunity - System Models of Mobility in Organizations, Cambridge, Mass. 1970, S. 298. Im strikten Sinne, oder selbst wenn man Topologie als "rubber-sheet geometry" bestimmt, sind diskrete Netzwerke keine topologischen Strukturen, wie auch White mitteilt (S. 407), aber dennoch macht der Begriff hier sicherlich Sinn.

647 Eine gut verständliche Einführung dazu ist: Scott, John, Social Network Analysis - A Handbook, London 1991, S. 126ff.

648 White, Harrison C., a.a.O. 1970; Granovetter, Mark S., Getting a Job, Cambridge, Mass. 1974; ders, The Strength of Weak Ties, in: Leinhardt, Samuel, a.a.O.,, S. 347-367; Burt, Ronald S., Structural Holes, Cambridge, Mass. 1992.

649 White, Harrison C., Identity and Control - A Structural Theory of Social Action, Princeton, N.J. 1992, S. 308.

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Ein einfaches Beispiel, an dem die Bedeutung der Topologie sozialer Beziehungen prägnant hervortritt, ist der Kula Ring. Rolf Ziegler hat versucht, die Entstehung dieses Netzwerks spieltheoretisch zu erklären. 650 Er ergänzt Malinowskis Beschreibung des Kula-Rings durch das auf Robert Axelrod zurückgehende Modell der Evolution von Kooperation und kann - so gerüstet - zeigen, daß der Ringform, also der geographischen Lage der einzelnen Inseln, für die Evolution kooperativer Beziehungen eine entscheidende Rolle zukommt, denn sie bildet ein wichtiges constraint in bezug auf mögliche Kontakte und wechselseitige Beobachtbarkeit.651 Axelrod hat gezeigt, daß die Strategie Tit-for-Tat bei einem iterierten Gefangenendilemma gegenüber vielen anderen Strategien recht erfolgreich ist. Darüber hinaus hat er sich - via Computersimulation - der Frage gewidmet, unter welchen Bedingungen die Tit- for-Tat-Strategie in einer Population weniger kooperativ optierender Strategien erfolgreich sein kann. Ein einzelner Tit-for-Tat-Spieler kann sich z. B. in einer Population von Always-Defect-Spielern nicht mit Erfolg behaupten, er würde immer von neuem schamlos ausgenutzt und niemals auf einen kooperierenden Partner treffen. Die Lage ändert sich aber bei einer Invasion mehrerer Tit- for-Tat-Spieler. Entscheidend sind hier zum einen natürlich die Werte der Gewinnmatrix und zum andern die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Tit-for-Tat-Spieler auf seinesgleichen stößt. Diese Wahrscheinlichkeit hängt aber nicht nur von der relativen Zahl der Spieler ab, sondern sie kann lokal unterschiedliche Werte annehmen, je nachdem wie die einzelnen Spieler vernetzt sind (z. B. bloß zufällige Treffen; oder feste Plätze - und damit dauerhafte Beziehungen - auf einem zweidimensionalen oder auch einem dreidimensionalen Gitter; oder feste Plätze auf einer geschlossenen Kurve, wie hier dem Kula-Ring etc.). Ist diese Wahrscheinlichkeit hoch, kann sich die Tit- for-Tat-Strategie in der ansonsten feindlich gesonnenen Population behaupten. Hier nun setzt die Argumentation Rolf Zieglers ein: Er setzt voraus, daß sich von jeder einzelnen Insel aus (hier identifiziert mit jeweils einem Spieler) erkennen läßt, wie es um die gewählte Strategie und die dadurch erzielten Vorteile der jeweiligen nächsten und übernächsten Nachbarn bestellt ist; und ferner, daß die Möglichkeit besteht, eine erfolgreichere Strategie zu kopieren. Solange nur einzelne, jeweils räumlich voneinander isolierte Spieler die Tit- for-Tat-Startegie wählen, haben sie keine Aussicht auf Erfolg. Sobald aber zwei Nachbarn auf dem Ring für die Tit-for-Tat Strategie optieren, können sie sich behaupten. Zudem wird dann aber auch für die jeweils nächsten nicht-kooperierenden Nachbarn sichtbar, daß auch sie jetzt mit Tit-for-Tat besser abschneiden können. Auf diese Weise kann sich Tit-for-Tat über den gesamten

650 Ziegler, Rolf, The Kula: Social Order, Barter, and Ceremonial Exchange, in: Michael Hechter et al. (Hrsg.), Social Institutions: their emergence, ma intenance and effects, New York 1990, S. 141-168.

651 Michael Hechter spricht in diesem Zusammenhang von "monitoring economies". Ders., Principles of Group Solidarity, Berkeley 1987, S. 150ff.

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(und zwar im Prinzip beliebig großen) Ring verbreiten. Die Einschränkung der jeweiligen Kontakte auf die Ringform ist hier das entscheidende constraint dafür, daß ein Phasensprung des gesamten Systems eintritt, sobald sich nur zwei Nachbarn für Kooperation entschieden haben. Das Beispiel ist so einfach, daß sich die Topologie dieses Systems, also die typische Ringform, ohne weiteres auch durch MDS erschließen und in der Ebene abbilden läßt. Dazu reicht es, wenn man die Unähnlichkeitsmatrix, also die Proximitäten zwischen den einzelnen Inseln über die, auch von Ziegler zugrundegelegten Kontakte zu den jeweiligen Nachbarn definiert. Was dabei aber nicht sichtbar wird, sind die durch die constraints dieser Topologie ermöglichten Chancen kooperativen Verhaltens. Diese Topologie kann aber in anderen kommunikativen Zusammenhängen auch ganz anderen Folgen haben. Sie ist z. B. besonders empfindlich im Hinblick auf Störungen. Eine Kette ist nicht stärker als ihr schwächstes Glied. Das Kinderspiel "Stille Post" ist deshalb reizvoll und spannend, weil die einzelnen Mitteilungen nicht miteinander vergleichbar sind und Fehler sich deshalb nicht kompensieren lassen, sondern zumeist sogar steigern. Folgt die Topologie eines sozialen Systems hingegen eher dem Muster eines Maschendrahtes, gilt obiges Sprichwort nicht mehr. Wenn sich in einer eng verknüpften Gemeinschaft z. B. ein einzelner entschließt, ein bestimmtes Gerücht nicht weiterzutragen, wird dies kaum einen Unterschied machen. Das mag zunächst albern klingen, aber trivial ist es nicht, denn die sozialen Implikationen unterschiedlicher Netzwerktypen sind, trotz langjähriger Bemühungen, erst in Ansätzen erforscht.652 Den meisten Theorien fehlt sogar die Begrifflichkeit, mit der sich solche Strukturen und deren Implikationen überhaupt benennen lassen. Theorien, die mit Dichotomien wie Individuum und Gesellschaft oder auch - wie die Systemtheorie - mit Interaktion und Gesellschaft arbeiten, scheinen diesen "Meso"-Bereich (zwischen Micro und Macro) systematisch auszublenden. White opponiert sowohl gegen die Vorstellung vom Individuum als Atom soziologischer Analyse als auch gegen die Vorstellung von der Gesellschaft als einer autonomen Einheit. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Zwischenbereich, über den diese beiden abstrakt benannten Pole erst aufeinander beziehbar werden und Kontur gewinnen können. Der Grad der Einbettung (embeddedness) und - komplementär dazu - der Grad der Entkopplung (decoupling) spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Einbettung und Entkopplung beispielsweise eines Unternehmens im

652 Ein wichtiger Impuls ging hier vermutlich Anfang der 50er Jahre von den Arbeiten Alex Bavelas aus, der die Netzwerkstrukturen kleiner Gruppen experimentell variierte, um herauszubekommen, wie dadurch ihre Problemlösungskapazitäten beeinflußt werden. Ders., "Communication patterns in task oriented groups", Journal of the Acoustical Society of America 22 (1950), S. 271-282. Vgl. dazu auch von Foerster, Heinz, Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich, in: ders., Wissen und Gewissen, Frankfurt/M. 1993, S. 233-268, S. 262ff.

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Hinblick auf Kunden, Konkurrenten und Zulieferer entscheidet u. a. über die Stabilität von dessen Marktposition und den jeweiligen Manövrierraum. 653 Erfolgreiche Unternehmen sind Okkupanten bestimmter Nischen in diesem Gefüge, die sie vor direkter Konkurrenz schützen. 654 Aber Netzwerkstrukturen lassen sich noch auf einer deutlich abstrakteren Ebene analysieren. Mark Granovetter und Roland Soong haben, angeregt durch physikalische Modelle, auf topologisch bedingte, vom Grad der Verknüpfung eines Netzwerkes abhängige, mögliche Schwellenwerte sozialer Systeme aufmerksam gemacht, die darüber entscheiden könnten, ob beispielsweise bestimmte Diffusionsprozesse möglich sind oder ob das System sensibel für Phasensprünge, sprich: kollektives Verhalten, ist.655 Solche und ähnliche Fragestellungen haben bereits die frühe Kybernetik beschäftigt.656 Sie werden heute z. B. unter dem Stichwort "Perkolation" in einer ganzen Reihe unterschiedlicher Disziplinen diskutiert. Die Problemstellung ist einfach. "Simply identify yourself with a water molecule in a coffee percolator, or an oil molecule in a porous rock, you then can only flow through the open channels, not through the closed ones."657 Aber die Lösung solcher Probleme ist alles andere als trivial. Hier sind Erkenntnisfortschritte vermutlich nur über die gezielte Simulation solcher Phänomene möglich, analytisch verweigert sich der Gegenstand aufgrund seiner Komplexität einer zügigen Erschließung. Gerade was die Modellbildung in diesem Bereich angeht, scheint es uns gegenwärtig schon aus forschungsökonomischen Gründen äußerst sinnvoll, im Auge zu behalten, wie sich die Physiker mit solchen Phänomenen arrangieren. Dies scheint uns auch der Hauptgrund für Harrison Whites teilweise recht

653 White zeigt, daß auch die einfache Opposition von Märkten und Hierarchien hier zu kurz greift und es vielmehr darauf ankommt, die jeweils einzelne Märkte definierenden Schnittstellen zu identifizieren. Ders., a.a.O., 1992, S. 183. Vgl. auch ders., Where Do Markets Come From?", American Journal of Sociology, 87, 3, 1981, S. 517-547. Die Relevanz von Whites Argumentation beschränkt sich nicht auf wirtschaftliche Beziehungen, sondern geht weit darüber hinaus. Insbesondere im Hinblick auf die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien und die Identifikation möglicher Kandidaten für solche Medien (z. B. Liebe, Religion, Kunst, Sport) könnten sich hier neue Perspektiven eröffnen. Der von Bernhard Giesen gemachte Vorschlag, solche Medien u. a. über das Kriterium marktmäßig vermittelter Kommunikation zu definieren, scheint in dieser Schärfe nicht mehr voll zu überzeugen. Ders., Media and Markets, in: Schmid, Michael und F. M. Wuketits (Hrsg.), Evolutionary Theory in the Social Sciences, Dodrecht 1987, S. 171-194.

654 Vgl. Junge, Kay, Evolutionary processes in the economy, in: The Blackwell Dictionary of Twentieth-Century Social Thought, hrsg. von William Outhwaite und Tom Bottomore, Oxford 1993, S. 215f. Ein wesentlich komplexeres Modell entwickelt Burt, Donald, a.a.O., S. 195ff.

655 Granovetter, Mark / Roland Soong, "Threshold Models of Diffusion and Collective Behavior", Journal of Mathematical Sociology 9 (1983), S. 165-179.

656 Vgl. z. B. Ashby, Walter Ross, Introduction to Cybernetics, London 1964, S. 65ff.

657 Stauffer, Dietrich / Ammon Aharony, Introduction to Percolation Theory, London 1992(2. Aufl.), S.17.

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überschwenglichen, aber dennoch Strukturzusammenhänge erhellenden Gebrauch von Metaphern. Wir wollen deshalb noch einmal zum Abschluß dieses Kapitels fragen, welche Anschauungshilfen, Analogien oder Metaphern sich heute anbieten, wenn man die moderne Gesellschaft nicht mehr als Organismus mit räumlich-territorial eindeutigen Grenzen, nicht mehr in der schon von Spencer kritisierten, am Behälter-Paradigma ausgerichteten Weise sich vorzustellen gewillt ist. Wie macht man die Gesellschaft - das für den einzelnen im Ganzen nicht zu überschauende und nur bruchstückhaft und indirekt Erfahrbare - sichtbar?658 Harrison C. White liefert neue Antworten auf diese Fragen. Seine Konzeptionen zur Topologie und Morphogenese sozialer Strukturen kommen dabei den oben referierten, auf phänomenologisch-wahrnehmungstheoretischer Ebene formulierten Überlegungen von Friedrich Bollnow und Wilhelm Schapp sehr nahe. White versucht sich das soziale Geschehen nicht mehr mit Hilfe der Organismusmetapher zu veranschaulichen und interessiert sich deshalb weniger als Spencer, Parsons oder Luhmann für Probleme des "boundary maintenance". White entnimmt seine Analogien und Formalismen vorrangig der Physik der "disordered systems" oder der Chemie der Polymere. "Social scientists should celebrate and exploit the current ability of natural sciences to take as serious topics exactly the gels, goos, and shrads which seem at present the natural analogue to human social contexts with their conundrums of decoupling and embedding."659 Aber es handelt sich hier nicht einfach um Fernleihen aus fremden Disziplinen. Viele dieser Figuren sind bereits seit längerem Bestandteil des soziologischen Vokabulars. Sicherlich ist die Organismusmetapher stärker verbreitet und kann auf eine viel weiter zurückreichende Ahnengalerie verweisen, aber auch die von White gewählten Figuren lassen sich doch wenigstens bis ins späte 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Seit Torbern Bergmanns "De attractionibus elecivis" (1785) hat die elektrische und chemische Anziehung und Abstoßung immer wieder zur Analogiebildung angeregt; die Idee der Wahlverwandtschaft zwischen einzelnen Individuen oder zwischen bestimmten Personengruppen und bestimmten Ideen ist von Goethe und Weber her vertraut. Im deutschen Sprachraum hat insbesondere Norbert Elias eine an chemischen Modellen orientierte Sprache und Theoriekonzeption attraktiv gemacht. Elias spricht von Valenzen,

658 Vielleicht muß man sich davon kein Bild, keine visuelle Vorstellung machen, vielleicht kann man es auch gar nicht oder wenigstens nicht in angemessener Weise. Aber selbst bei Autoren wie Niklas Luhmann finden sich Formulierungen, die kaum Mögliches zu fordern scheinen. "Es ist ... notwendig, sich vor Augen zu führen, daß es sich nur um Sinngrenzen handeln kann, nicht wie bei Dingen oder Organismen, um physische Grenzen". So Niklas Luhmann, Moderne Systemtheorien..., zitiert bei Jürgen Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: Habermas, Jürgen / Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/M.1971, S. 150.

659 White, Harrison C., a.a.O., 1992, S. 338. White verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf Ziman, John M., Models of Disorder - The theoretical physics of homogenously disordered systems, Cambridge 1979 und DeGennes, Pierre-Gilles, Scaling Concepts in Polymer Physics, Ithaca, N.Y. 1979.

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Bindungen oder Ketten und verknüpft diese zu Netzwerken und aus verschiedenen Netzwerken bestehenden Verflechtungszusammenhängen. 660 In diesen Termini kündigt sich, wenn auch vorerst nur metaphorisch, eine, im Vergleich zum Behälter-Paradigma, sicherlich angemessenere Raumkonzeption an. "Theorists of social process commonly assume that their space resembles the planetary heavens as a vast playing field in being regular, continuous, neatly measurable, and controlled by precise rules or even by clockwork. However, liquids, polymer gels, minerals or coral reefs provide more appropriate metaphors. Metaphors they are, since the social generates its own distinctive spaces of possibilities, even though they are ones somehow intertwined with physical-biological spaces. (...)We are creatures living within social goos, shrads, and rubbery gels made up by and of ourselves. We, like gels, may dissolve into a different order under some heat."661

660 Vgl. z.B. ders., Was ist Soziologie?, München 1986, S. 11f., S. 147f. Aber es handelt sich hier nicht nur um Analogien. Die strukturellen Ähnlichkeiten lassen sich auch formal, nämlich graphentheoretisch zeigen. Johann Galtung sah sich deshalb sogar veranlaßt, der Soziologie einen ähnlichen Entwicklungsschritt zu empfehlen, wie ihn die Chemie im Übergang von der analytischen zur synthetischen Chemie getan hat. Ders., Strukturanalyse und chemische Modelle, in: ders., Methodologie und Ideologie, Frankfurt/M. 1978, S. 217-256. Zudem wächst die Zahl der Modelle, die mit leichten Variationen z. B. nicht nur chemische Diffusionsprozesse, sondern auch soziale Innovationsprozesse oder Epedemien in einigermaßen plausibler Weise zu simulieren in der Lage sind.

661 White, Harrison C., Identity and Control. A Structural Theory of Social Action, Princeton U.P. 1992, S. 308, S. 337. Harris on Whites Analogien reizen zur Spekulation: Die Verkettung von Monomeren zur riesigen Makromolekülen, die Vernetzung solcher Ketten und das blending oder Vermischen von solchen Polymerketten, die Veränderung ihrer Strukturen durch Erhitzung oder ihre Verwandlung in ein Gel durch Versetzung mit einem Lösungsmittel etc. stehen, wie White zeigt, für bislang kaum ausgeschöpfte Möglichkeiten der Analogiebildung. Aber es muß nicht bei der Analogie bleiben, denn die formale Analyse und Simulation solcher Prozesse könnte in Zukunft auch im Hinblick auf soziologische Kontexte modifiziert werden. Vielleicht läßt sich mit Hilfe solcher Modelle dann aber auch ein ganz anderes Verständnis von Robustheit gewinnen, als wir es im ersten Kapitel im Zusammenhang mit Herbert Simons "nearly decomposable system" diskutiert haben. Vielleicht gehorchen moderne Sozialstrukturen gar nicht den dabei gemachten Vorannahmen, vielleicht sind diese Strukturen, entgegen der berechtigt erscheinenden Skepsis einer an Organismen geschulten Evolutionstheorie, also wider allen heute noch berechtigten Erwartens, stabil. Vielleicht gehorchen sie nicht der Architektur des Komplexen, wie sie Simon vorgezeichnet und evolutionstheoretisch zu begründen versucht hat. Vielleicht sollte man moderne Sozials trukturen nicht nur mit Amöben und dgl. vergleichen, sondern auch einmal als eine Art hochkomplexen Verbundwerkstoff zu begreifen suchen, dessen wesentliche Matrix natürlich durch funktionale Differenzierung bestimmt ist. Diese Matrix aber wird erst stabil - so könnte man spekulieren-, weil sie von Fasern und Partikeln aus anderen - vielleicht lebensweltlichen - Materialien durchsetzt ist.

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V. Fiktive Körper "Es ist klar, daß bestimmte Typen von

Phänomenen fix und fertig `verpackt' zu uns

kommen."662

"We have here a very simple example of the

filling in of gaps in actual experience with a

fabric of possibilities."663

1. Der Staat als fiktiver Körper "The nation-state, let me repeat, is the sociologist's `society'. The nonchalant use of the term `society' in the literature of sociology belies the complexity of changes creating that bounded and unitary whole that is its usual referent. I say this not in order to prohibit use of the concept in the social sciences but to point to a range of problems it ordinarily conceals. Unlike traditional states, the nation-state is a power-container whose administrative purview corresponds exactly to its teritorial delimitation."664 "The nation-state is (...) a bordered power-container (...), the preeminent power-container of the modern area.(...) All traditional states have laid claim to the formalized monopoly over the means of violence within their territories. But it is only within nation-states that this claim characteristically becomes more or less successful."665 Wir möchten in diesem Kapitel Anthony Giddens' These, der Nationalstaat sei ein power-container - ein Machtbehälter - , neu begründen. Giddens entwickelt seine Theorie des Nationalstaats als power-container vor allem im Anschluß an Michel Foucault und Max Weber.666 Die Idee des power-container läßt sich aber natürlich

662 Hallpike, Christopher Robert, Die Grundlagen des primitiven Denkens, Stuttgart 1984, S. 210.

663 Goodman, Nelson, Fact, Fiction and Forecast, Cambridge, Mass. 1983, S. 50.

664 Giddens, Anthony, The Nation-state and Violence, Cambridge 1985, S. 172.

665 Giddens, Anthony, The Nation-State and Violence, a.a.O., S. 120.

666 Für unseren Zusammenhang ist hier insbesondere Foucaults These einer Koextension von Staat und Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Vgl. ders., Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976, z. B. S. 274. Auch Weber betont die räumliche Dimension durch seine Fassung des Staatsbegriffs: "Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes - dies: das 'Gebiet', gehört zum Merkmal - das Monopol legitimer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht." Weber, Max, Wirtschaft

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weiter zurückverfolgen. Sie entstammt der auf Thomas Hobbes zurückgehenden materialistischen, also modernen Tradition des politischen Denkens. Für Hobbes war Macht nicht anderes als körperlich, nämlich als Bewegung denkbar, und der Staat wurde deshalb als ein fiktiver Körper zu begreifen versucht.667 Machtentfaltung wird dabei zuallererst im Sinne räumlicher Ausdehnung und Expansion gedacht. Die Art der Ortung dieses fiktiven Körpers oder power-containers entspricht dem Behälter-Paradigma des Raumes. Die Idee des power-containers entspricht, wie auch Giddens selbst betont, dem common-sense der Soziologie und vielleicht ist deshalb selten versucht worden, sie eigens systematisch zu begründen. Eine solche Begründung scheint uns aber nun wünschenswert, da sich dieser common-sense aufzulösen beginnt, die These vom power-container aber nach wie vor Sinn macht, wenigstens soweit man ihren Gültigkeitsbereich auf den modernen Territorialstaat, der immer auch ein Rechtsstaat ist, einschränkt. Für den an Tradition oder an bestimmten Personen orientierten vormodernen Herrschaftsverband gilt sie nicht oder höchstens im Ansatz. Der moderne, anstaltsmäßige Staat zeichnet sich gegenüber vormodernen Herrschaftordnungen durch die Pazifizierung seines Territoriums, die Durchsetzung eines Gewaltmonopols und die Behauptung einer öffentlich-rechtlichen Ordnung aus. Der moderne Staat wirkt - und das gilt es im folgenden zu explizieren - raumfüllend; der moderne Staat ist ein fiktiver Körper. Wir haben im vorherigen Kapitel zunächst zu zeigen versucht, daß das Behälter-Paradigma des Raumes kein Erklärungsmonopol in bezug auf soziale Räume besitzt. Deren Topologie kann deutlich von diesem Paradigma abweichen, wenn wir soziale Räume über Nachbarschaften, d. h. Kontaktmöglichkeiten zwischen einzelnen Personen definieren. Aber auch die Metrik sozialer Räume muß nicht notwendig der Euklidschen Metrik entsprechen und kann über ganz unterschiedliche Parameter definiert werden. Häufig ist die Annahme einer Metrik sogar unsinnig und die interessierenden Strukturen können nur topologisch, oder vielleicht nicht einmal topologisch, sondern nur diskret bestimmt werden. Das Behälter-Paradigma hat eine grobe Affinität zum Wahrnehmungsraum, aber läßt sich nur mit Einschränkungen generalisieren. Warum scheint diese Generalisierung in bezug auf den Nationalstaat erfo lgreich? Warum muß der Nationalstaat als power-container begriffen werden, während die meisten anderen sozialen Räume sich wahrscheinlich besser mit anderen Raum-Paradigmen beschreiben lassen? Eine Antwort auf diese Fragen soll hier im Verweis auf die rechtlich stabilisierten Durchhaltemöglichkeiten normativen Erwartens und den spezifischen Sanktionsmechanismus

und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 822. Von einem modernen Staat spricht Weber, wenn es sich um einen anstaltsmäßigen, also nicht auf Tradition oder Charisma, sondern auf formal gesatzter Ordnung beruhenden Herrschaftsverband mit dem Monopol legitimer Gewaltsamkeit handelt.

667 Vgl. Röttgers, Kurt, Spuren der Macht, Freiburg 1990, S. 225ff.

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des Mediums Macht entwickelt werden. Wir werden also erneut bei Parsons anschließen. Aber soweit sich Giddens auf Foucault beruft, scheint auch schon bei ihm durch, warum eine über Recht und Macht konditionierte soziale Ordnung einen behälterähnlichen Raum bedingen. Überwachung, insbesondere die visuelle Überwachung, ist der entscheidende, von Foucault identifizierte Mechanismus.668 Überwachung ist nur dann erfolgreich, wenn sie lückenlos geschieht. Macht, soweit sie auf Überwachung angewiesen ist, wirkt deshalb raumfüllend; sie muß versuchen, das soziale Geschehen in toto zu beobachten; sie muß versuchen, die gesamte Gesellschaft in ihren Wahrnehmungsraum zu fassen. Die Spezifik des durch Überwachung definierten Raumes wird, so vermuten wir, sofort deutlich, wenn man sie mit der Struktur eines über einen ganz anderen Mechanismus integrierten Raumes vergleicht. Man könnte Verhalten ja z. B. auch durch Ködern konditionieren. Ködern oder positive Sanktionen finden immer nur an bestimmten Orten statt, durch sie wird kein kompakter, lückenlos konditionierter Raum definiert. Positive Sanktionen spannen ein bestimmtes Beziehungsgeflecht von Handlungsketten auf, das weder die gesamte Population flächendeckend erfassen muß, noch die diversen, vermutlich ganz unterschiedlich motivierten Handlungen der miteinander verknüpften Personen im Ganzen zu integrieren braucht. Um besser begreifen zu können, warum der Staat immer wieder als ein fiktiver Körper betrachtet wird, empfiehlt es sich zwei, diese Fiktion in unterschiedlicher Weise fixierende Beobachterperspektiven zu unterscheiden. Einerseits die Perspektive der Macht und Recht ausübenden Instanzen: hier geht es um Fragen der Kontrolle und Erzwingbarkeit, und andererseits die Perspektive der Macht und Recht unterworfenen Bevölkerung: hier geht es um Fragen der Legitimation und Akzeptanz. 669 Wir wollen mit der zweiten Frage beginnen und werden uns der ersten in den beiden dann folgenden Abschnitte widmen.

668 Vgl. insbesondere das Kapitel über den Panpotismus in: ders., Überwachen und Strafen, a.a.O., S. 251-292.

669 Damit sind nur zwei abstrakte Adressen und Referenzpunkte benannt; es geht nicht, obwohl unsere Formulierung das nahe legt, um eine der klassischen Gegenüberstellung wie Macht versus Mensch; Herrschende versus Beherrschte; Gesellschaft versus Individuum; Struktur versus Handlung oder dgl. Eine Unterscheidung Michel Foucaults mißbrauchend, könnte man unsere beiden Problembezüge über die Möglichkeiten der Beobachtung eines Schauspiels und die Möglichkeiten der Überwachung des Publikums zu definieren suchen. Ders., Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976, S. 278. Foucault charakterisiert die antike Gesellschaft im Anschluß an N. H. Julius als eine des Schauspiels, die moderne als eine der Überwachung. Diese Pointierung scheint uns jedoch überzogen. Beides findet statt, andernfalls hätte der Begriff der Legitimation, wenn man denn mehr meinen soll als ein bloß formales Verfahren, keinen Gegenstand. Ein anderer Zeitgenosse konnte deshalb mit gleichem Recht schreiben: "Im Staat ist alles Schauhandlung - im Volk alles Schauspiel." Novalis, Blütenstaub, Fragment Nr. 71, in: Werke, hrsg. von Gerhard Schulz, München o.J., S. 338.

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2. Staat als Nationalstaat Macht und Recht beruhen nicht einfach auf Gewalt, und verschaffen sich auch zumeist nicht nur aufgrund eigener Leistungen Respekt, sondern funktionieren insbesondere dann relativ reibungslos, wenn Folgsamkeit zusätzlich durch positive Anerkennung motiviert wird. Wenigstens in der Theorieperspektive des Strukturfunktionalismus oder der sprachpragmatisch renovierten Kritischen Theorie bedürfen das politische und das Rechtssystem einer gewissen kulturellen Einbettung oder Legitimation. 670 Der Staat definiert nicht nur die Rechte seiner Bevölkerung und muß sie deshalb im Blick behalten, kontrollieren und voreinander schützen, wie Giddens und Foucault dies betonen, er - der body politic - muß umgekehrt auch selbst sichtbar sein und um Anerkennung ringen. Der Beobachter muß sich beobachten lassen, um Autorität behaupten und seine Bürger in die Pflicht nehmen zu können. Andernfalls könnten sich die politischen Subjekte nicht orientieren und würden sich nicht durch politische Entscheidungen binden lassen können. In dieser Weise gebundene Individuen bilden ein Kollektiv, eine Wir-Gruppe. Seit der französischen Revolution bildet das Modell `Nation' die erfolgreichste Kopiervorlage für diese Art von kollektiver Selbstfindung. 671 Staaten gelten als legitim, wenn sie Nationalstaaten sind. Und der Staat, das ist soziologisch gesprochen: die Außendarstellung und Selbstvereinfachung von Politik, Recht und Verwaltung. Die klassische Antwort der politischen Theorie auf die Frage, wie die Einheit des Politischen denn sichtbar werden kann, wenn doch das Volk als solches niemals in realer Identität anwesend ist, lautet: durch Repräsentation. Repräsentation ist jedoch strukturnotwendig ein paradoxes Unterfangen. "Die Dialektik des Begriffes liegt darin, daß das Unsichtbare als abwesend vorausgesetzt und doch gleichzeitig anwesend gemacht

670 Von noch größerer Bedeutung mag die Wirtschaftslage sein, aber das soll uns hier nicht weiter interessieren. Bei Parsons ist sie wenigstens als constraint dessen, was politisch möglich ist, berücksichtigt. Anders als Parsons oder Habermas optieren Max Weber, Carl Schmitt oder Niklas Luhmann. Sie sind darum bemüht, Fragen der Legitimität auf solche der Legalität zu reduzieren. Aber wenigstens Weber und Schmitt betonen auch das logisch Ungenügende und emotional Unbefriedigende einer solchen Verfahrensreglung und sehen deshalb in der Idee der Nation ein nützliches Hilfskonstrukt, wo formale Satzung alleine ein Kollektiv nicht zu binden vermag.

671 Die geschickt eingeleitete, allgemeine Mobilmachung ist hier vermutlich die bedeutenste In-Pflicht-Nahme der Bevölkerung. "Im Kriege erst werden sich jene großen machtvollen geistigen Kollektivpersönlichkeiten, die wir `Nationen' nennen, ihrer Existenz und ihres Wesens voll bewußt." - so Max Scheler, Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, Leipzig 1915, S. 119. Ganz ähnliche Überlegungen finden sich im übrigen auch schon bei Kant, Hegel und Fichte, oder bei Georg Simmel, Werner Sombart, Emile Durkheim und Henri Bergson. Vgl. Junge, Kay, Patrimonialer Ordnungsschwund und nationale Sinnstiftung, MS. Gießen 1990.

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wird."672 Sichtbar und für die politische Philosophie interessant wird dieses Paradoxon erst auf rechtlich institutionalisierter Ebene, denn hier läßt es sich als verschrifteter Selbstwiderspruch deduzieren. Die Frage nach der politischen Einheit gerade des Verfassungsstaats macht, nimmt man sie genau, hinter der Einheit eine Begründungsparadoxie oder vorsichtiger formuliert, mindestens ein Begründungsdefizit sichtbar: die Verfassung schwebt im leeren Raum und muß sich - mit irgendeinem Kniff möchte man vermuten - selbst begründen. 673 "Das Problem der verfassunggebenden Gewalt ist mit den Prinzipien und Begriffen bloßer Rechtstaatlichkeit weder theoretisch noch praktisch zu lösen. Es wird daher meistens einfach ignoriert oder in einer Mischung von liberalen und demokratischen Vorstellungen und in Abstraktionen, wie `Souveränität der Gerechtigkeit' oder `Souveränität der Verfassung', verdunkelt."674 Die Funktion der Repräsentation kann nicht in der Vertretung eines ja bis dahin politisch konturlosen Volkes im Ganzen liegen, sondern dient zuallererst der Darstellung der Einheit dieses Ganzen, ja bewirkt erst diese Einheit.675 Der Staat als Souverän ist oberster Gesetzgeber, aber gleichzeitig als Rechtsstaat durch sein eigenes Recht gebunden. Er ist Souverän und Rechtsperson in einem und muß als fiktiver Körper ein fiktives Doppelleben führen; seine Konstitution entspricht einem performativen Widerspruch; er gründet in einem Paradox: ist logisch unmöglich, oder im Sinne der Theorie des double bind: schizophren. 676 Seine Existenz und Sichtbarkeit beruht auf einer "operation bootstrap", um eine Formulierung Parsons zu zitieren, die dem Dezisionismus Schmitts sehr nahekommt.677 Dieser Gründungsakt muß feierlich verschleiert, kann aber nicht auf seinen eigenen Grund hin weiter untersucht werden. Statt die logische Konsistenz der Selbstbegründung zu prüfen - und

672 Schmitt, Carl, Verfassungslehre, Berlin 1989, S. 209f.

673 Vgl. Benjamin, Walter, Zur Kritik der Gewalt, in: ders., Zur Kritik der Gewalt, Frankfurt/M. 1965; Derrida, Jacques, Gesetzeskraft, Frankfurt/M. 1992; Hofstadter, Douglas R., Nomic: A Self-Modifying Game based on Reflexivity in Law, in: ders., Metamagical Games: Questing for the Essence of Mind and Pattern, New York 1985, S. 70-86. Carl Schmitt versucht bekanntlich in der Konfrontation mit diesem Problem die Notwendigkeit einer politischen Theologie zu begründen.

674 Schmitt, Carl, Verfasssungslehre, Berlin 1989, S. 204. Ganz in diesem Sinne spricht bekanntlich auch Niklas Luhmann von einem pragmatischen Zwang, Begründungsparadoxien zu invisibilisieren: Irgendwie muß man ja weitermachen. Luhmann ist hier im Unterschied zu Schmitt jedoch erfreulich unkonstruktiv.

675 Schmitt, Carl, Verfassungslehre, a.a.O., S. 214.

676 Vgl. dazu: Watzlawick, Paul / Janet H. Beavin / Don D. Jackson, Pragmatics of Human Communication, New York 1967, S. 211ff.

677 Parsons, Talcott, Some Reflections on the Place of Force in Social Process, in: ders., Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, S. 264-296, S. 275.

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warum sollte man das? - , gibt sich der politische Alltag - im Sinne Piagets: präoperativ678 - mit der räumlichen Nähe von Repräsentation und vermeintlich Repräsentiertem zufrieden. 679 Repräsentation wird nicht unmöglich aufgrund ihrer logischen Problematik, sondern gelingt aufgrund ihrer räumlichen Konkretion, und genau deshalb sind seit der französischen Revolution demokratische und nationalistische Bestrebungen fast immer ineinander verstrickt.680 Politik ist legitim, solange sie aus der Mitte des Volkes - von unten und nicht von oben - kommt und nicht von außen oktroyiert, sondern von innen entschieden wird.681 Viel schärfer darf man die Frage nach der Legitimität nicht stellen, ohne diese sogleich zu hinterfragen. Auch die von Carl Schmitt selbst favorisierte Verdunkelungsstrategie lautet: nationale Identität. Schmitt empfiehlt, die Einheit des Politischen über die Homogenität der politischen Subjekte zu begründen. Homogenität ist Produkt der Geschichte.682 Wie aber läßt sich ein Volk, eine Nation identifizieren, wie ortet man das angeblich Homogene und scheidet es vom Heterogenen, Fremden? Dies scheint ein ästhetisches oder informationstheoretisches Problem. 683 Schmitt schließt an Rousseaus Begriff des volonté général an: "Die Fassade ist

678 Vgl. Hallpike, Christopher Robert, Die Grundlagen des primitiven Denkens, Stuttgart 1984, S. 213.

679 Hier wiederholt sich auf der Ebene von Politik und Gesellschaft eine spezifisch strukturierte Ereignissequenz, wie sie für Kommunikation überhaupt konstitutiv zu sein scheint: Handelnde - also bestimmte Menschen - werden als Handelnde immer erst über Kommunikation identifizierbar, gleichzeitig aber kann Kommunikation selbst nur Struktur gewinnen, wenn solche Reduktionen gelingen. Dieser Zirkel muß durchbrochen werden, wenn überhaupt etwas geschehen soll. Der Umstand nun, daß die Sprecher gut sichtbar und greifbar sind, erlaubt es, alles kommunikative Geschehen gerade so zu vereinfachen und zuzurechnen, daß ein Begründungszirkel vermieden wird und deshalb auch weiterhin verantwortungsvoll gehandelt werden kann.

680 Nur wer wie die Avantgarde des Proletriats radikal auf Zukunft setzt, vermag sich wenigstens kurzfristig einer räumlichen Verortung zu entziehen. Im Namen der UdSSR wird deshalb auch zukunftsoffen auf eine räumliche Referenz verzichtet. Überhaupt scheint die Zeitdimension eher das Terrain der politischen Philosophie, während das Volk oder wenigstens der aufgebrachte Mob sich eher am Raum zu orientieren scheint. (Mertons Unterscheidung von locals und cosmopolitans könnte diese unterschiedlichen Präferenzen vielleicht erklären helfen.) Als konservativ verbuchte Autoren wie Tenbruck und Lübbe setzten auf Kultur und Herkommen, sich als progressiv begreifende Autoren wie Habermas optieren für Öffentlichkeit und Diskurs. Aber auch hier geht es in beiden Fällen um eine Invisibilisierung des Problems: das eine Mal durch Vergangenheit und die sich dort verlierenden Spuren, das andere Mal mit Bezug auf die Zukunft und deren Offenheit.

681 Da es kein allen Betroffenen gerechtwerdendes Verfahren gibt, individuelle Präferenzen in kollektivbindende Entscheidungen zu übersetzen (Arrow-Theorem), können die Wahlen selbst nicht der entscheidende Legitimationsgrund sein. Dies wird spätestens dann sichtbar, wenn sich einzelne Provinzen oder Länder für politisch selbständig erklären wollen, aber dazu der Zustimmung aller anderen bedürfen, oder, wenn den Wählern die Option gegeben wird, zwischen Demokratie und Diktatur zu wählen, wie zuletzt in Chile.

682 Oder: Konstrukt der Geschichtsschreibung.

683 Vgl. Giesen, Bernhard / Junge, Kay, Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der "Deutschen Kulturnation", in: Giesen, Bernhard (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität, Frankfurt/M. 1991, S. 255-303, S. 286ff.; Gellner, Ernest, Nations and Nationalism, Oxford 1983, S. 64ff.

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liberal, (...) aber (...) bei der Entwicklung des Begriffes, der volonté général, zeigt sich, daß der wahre Staat nach Rousseau nur existiert, wo das Volk so homogen ist, daß im wesentlichen Einstimmigkeit herrscht."684 Die "Homogenität des Volkes"685 also durchaus eine imaginäre Größe und unter dem Label `Nation' von Schmitt auch durchaus als Mythos begriffen, soll es erlauben, die Einheit des Politischen zu legitimieren, die mit legalen Mitteln alleine unbegründet bleiben muß. Geschichtlichkeit und Territorialität, Zeit und Raum gehören zwar nicht zum Begriff des Staates `als solchem', aber zu seiner Wirklichkeit als diesem oder jenem. 686 Mit Luhmann könnte man sagen, die Paradoxie politischer Selbstbegründung wird in der Zeit- und in der Sachdimension entfaltet; mit Piaget müßte man sagen: dies geschieht präoperativ und niemand bemerkt deshalb den Widerspruch. 687 Die Legalität gründet immer in einem Paradox und Schmitt fragt sich deshalb schließlich: warum dann überhaupt noch demokratische Wahlen, wenn es doch dadurch auch nicht verschwindet. Ein "salut public", ein öffentlicher Zuruf, die öffentliche Meinung könnte es doch auch tun. 688 Diesem Abenteuer wird man als Soziologe zwar nicht folgen können, da sich für die Selbstbindung der politischen Öffentlichkeit im rechtlich durchstrukturierten demokratischen Wahlverfahren - also für ihre tendenzielle Ruhigstellung bis zu den jeweils nächsten Wahlen - kaum ein funktionales Äquivalent finden läßt689, aber die von Schmitt aufgezeigte Möglichkeit ist deshalb - und nicht nur im Abseits demokratischer Wahlen und

684 Schmitt, Carl, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1985, S. 19.

685 Schmitt, Carl, Verfassungslehre, a.a.O., S. 215.

686 Willms, Bernhard, Die Deutsche Nation - Theorie, Lage, Zukunft, Hohenheim 1982, S. 49.

687 Das trifft heute so nicht mehr ohne weiteres zu. Heute sind sich alle Debattanden in Sachen Nationalismus - von Jürgen Habermas bis Bernhard Willms - darin einig, daß die Nation nicht mehr als Ethnos begriffen werden kann, sondern als Demos begriffen werden muß. Umstritten ist lediglich, ob Schuldbewußtsein oder ob Selbstbewußtsein besser zur Konstitution dieses Demos geeignet ist. Niemand kann sich heute mehr öffentlich für eine präoperative Behandlung dieses Problems erwärmen oder gar Gefühl fordern; die klassischen Paradoxien der Bewußtseinsphilosophie geraten damit unweigerlich, wo konsequent gedacht wird, erneut ins Feld der Sichtbarkeit.

688 Schmitt orientiert sich dabei am Ideal der katholischen Kirche, der es in historisch einzigartiger Weise gelungen sei, als complexio oppositorum Autorität zu behaupten und in einem sichtbaren Symbol zu repräsentieren. Vgl. ders., Römischer Katholizismus und politische Form, Stuttgart 1984. Jürgen Habermas wirft Schmitt mit gutem Recht vor, daß dieser sich am Modell der repräsentativen Öffentlichkeit orientiere, nicht am Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit. Ders., Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1971, S. 17ff., plus Fußnoten. Aber Habermas' Alternative wirkt leider auch nicht ganz überzeugend: sie zerfällt, noch bevor sie sich so recht zu behaupten vermag. Zu Schmitts Figur der Akklamation vgl. auch: Adam, Armin, Rekonstruktion des Politischen - Carl Schmitt und die Krise der Staatlichkeit, Weinheim 1992, S. 77-84.

689 Vgl. Luhmann, Niklas, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt/M. 1983; und mit deutlich positiverer Emphase: Habermas, Jürgen, Volkssouveränität als Verfahren, in: ders., Faktizität und Geltung - Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992, S. 600-631.

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öffentlicher Diskussionen - als alltägliche Selbstvergewisserung der eigenen Identität um nichts weniger wirklichkeitsmächtig. Im Nationalismus als einer bestimmten Form des öffentlichen Zurufs adressiert sich die Nation als imaginäre Gemeinschaft, als fiktiver Körper selbst. Aber dazu bedarf es eines Namens. Nationale Identität kondensiert im öffentlichen Diskurs zuallererst durch einfache Benennung. Ein Name muß her, um ansprechbar oder salutierbar zu sein; ohne Name keine Identität. Aron Bodenheimer hat dies auf eine sinnige Formel gebracht: Name schafft Existenz. 690 Der Name und was er nur zu markieren vorgibt, scheinen sich dem Diskurs tendenziell zu entziehen691; er bleibt immun gegenüber aller Relativierung, Kontextuierung und Negation. Im Benennen scheinen der Akt des Zeigens und das Zeichen selber zu koinzidieren. 692 Die Logik des Benennens vermag sich vom Raum nicht zu lösen; eine Ordnung zu benennen, heißt, sie zu orten. Dieses Benennen bleibt präoperativ. Intension und Extension des so Klassifizierten lassen sich nicht scheiden und fallen gewissermaßen zusammen, denn das so Benannte kommt als Phänomen "fix und fertig `verpackt'" zu uns.693 Wenn man versucht, es durch Prädikation näher zu bestimmen, wird man feststellen, daß es auch dadurch keine schärferen Konturen gewinnt. Man erhält bestenfalls eine Liste von Eigenschaften, die nicht nur offen ist, sondern gewissermaßen unabhängig von allen einzelnen Eigenschaften existiert. Alle Eigenschaften lassen sich im einzelnen revidieren, aber der Titel der Liste, der Identität stiftende Name, bleibt bestehen. 694 Der durch Namensgebung herausgehobenen Identität einer Gemeinschaft ist die räumlich-

690 "Was einen Namen trägt, was also überhaupt wörtlich benannt werden kann - sagend oder fragend gleicherweise -, von dem ist bereits mit Bestimmtheit festgelegt, daß es existiert. Name schafft Existenz - gleich wessen. Name bestätigt nicht, Name bedingt nicht, noch fordert der Name Existenz. Vielmehr: Name bewirkt Existenz". Und weiter: "Rein logischer, vielleicht auch nur grammatikalischer Widersinn liegt a priori darin, daß man von dem, was sich vermittels Beredetwerdens beständig auf- und vordrängt, zu deklarieren versuchen wollte, daß es nicht existiert. Die Negation zwingt dann noch genauer auf die Stelle, von der aus man nicht umhin kann, Existenz zuzugestehen - zugestehen zu müssen: die Existenz, geschaffen durch das Bereden, welches das Nämliche bleibt, ob es sich mit positiven oder negativen Vorzeichen zuträgt." Bodenheimer, Aron: Warum? Von der Obszönität des Fragens, Stuttgart, 1984, S. 142f.

691 Vielleicht wirkt das Benannte, aber sich immer wieder einem klaren Begriff entziehende, gerade deshalb verführerisch. Vielleicht sitzt, wer nach der nationalen Identität fragt, einer fatalen Strategie im Sinne Jean Baudrillards auf. Vgl. ders., Die fatalen Strategien, München 1991.

692 Vgl. aber: Derrida, Jacques, Grammatologie, Frankfurt/M. 1988, S. 162, S. 191f (Fußnote 6).

693 Hallpike, Christopher R., a.a.O., S. 210.

694 Vgl. dazu Moerman, Michael, Accomplishing Ethnicity, in: Turner, Roy (Hrsg.), Ethnomethodology, Harmondsworth 1974, S. 54-68; Jayyusi, Lena, Categorization and the Moral Order, London 1984. Es geht hier vermutlich gar nicht um eine mehr oder weniger logisch angelegte, kommunikativ widerspruchslos durchhaltbare Klassifikation, sondern um die Identifikation eines Prototyps (Rosch) oder einer Familienähnlichkeit (Wittgenstein) auf der Wahrnehmungsebene. Vgl. dazu neben Hallpike, Robert Christopher, a.a.O., 1984, auch Lakoff, Georg, Women, Fire, and Dangerous Things - What Categories Reveal about the Mind, Chicago 1987.

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konkrete Relationierung inhärent. Die Identität wird deiktisch und ostentativ erzeugt; die Paradoxie der Selbstbegründung verschwindet angesichts sinnlicher Präsenz. Name und Gegenstand, Zeichen und Zeigen, Intension und Extension, Ordnung und Ortung lassen sich kaum voneinander differenzieren und im Übergang zwischen diesen Instanzen legitimiert sich Recht und Politik deshalb bis dato so erfolgreich. Während die Frage nach der Gerechtigkeit des Rechts das Recht zwingt, sich von sich selbst zu unterscheiden, kommt die Identitätsbehauptung einer Nation scheinbar ohne Metaebenen, ohne reflexives Sich-von-sich-selbst-unterscheiden-müssen aus, ja: sie läßt sich nicht einmal richtig auf ihre Identität befragen, denn man kann die Frage schlecht an jemanden stellen, den es nicht gibt. "Wir sind wir und wir sind hier" - mehr braucht es nicht. Legitimitätsdefizite lassen sich deshalb am einfachsten über eine Differenz der Orte begründen; die Separatisten bedienen sich der gleichen Argumentation wie die Vertreter des Mutterlands, nur der Ortsbezug ist anders gewählt.695 Wenn Carl Schmitt erfolgreiche, also legitime Repräsentation von ihrer öffentlichen Sichtbarkeit abhängig macht und sich ein Volk erst über diese öffentlich sichtbare Repräsentation als politische Einheit konstituiert, dann kann unter demokratischem Vorzeichen die Einheit des Politischen nur noch als Einheit von Regierung und Regierten, also als nationale Einheit begriffen werden. Im öffentlichen Diskurs artikuliert sich die Nation und reklamiert ein bestimmtes Territorium und in dessen Zentrum - in der Hauptstadt - steht die Politik, die es behaupten und kontrollieren soll. Im folgenden interessiert uns der durch die Beobachtungen dieses Zentrums konstituierte Raum, und nicht mehr vorrangig, wie im letzten Absatz, das, was dessen Subjekte in der Gegenrichtung, im Spiegel dessen, was ihnen als "body politic" präsentiert wird696, als Nation zu orten glauben. Als "immagined community"697 oder "invented tradition"698 ist die Nation ein fiktiver

695 Einem Land oder einer Nation lassen sich in fast beliebiger Weise irgendwelche Charaktereigenschaften nachsagen, und Stephen Potter empfiehlt deshalb seinem Leser (gedacht ist hier vorrangig an ratlose Konversationsdebütanden, nicht an hilflose Möchte-Gern-Separatisten) eine solche Charakterisierung mit: "Yes, but not in the South" zu parieren. Diese Strategie "with slight adjustments, will do for any argument about any place, if not about any person. It is an impossible comment to answer. And for maximum irritation remember, the tone of voice must be 'plonking'." Ders., The Complete Upmanship, New York 1970, S.103. Auch Daniel Bell verweist auf diesen locus classicus: "you can puncture any generalization about a foreign country by saying, 'Yes, but what about the South?' And to a remarkable degree the demurrer seems to hold." Lediglich im Fall von Polen und Israel macht diese Strategie, wie Bell bemerkt, keinen Sinn. Bells Begründung dafür lautet: "Poland may be the only country with a true national character because Poland is eternally a question, while Israeli character is summed up, typically, in a joke - for example, where there are two Jews there are three political parties." Ders., National Character Revisited, in: ders., The Winding Passage. Essays and Sociological Journeys 1960-1980, New York 1980, S. 167-183, S. 176 (Fußnote 12).

696 Vgl. dazu aber Quaritsch, Helmut, Probleme der Selbstdarstellung des Staates, Tübingen 1977.

697 Im Sinne von Benedict Anderson, Immagined Communities, London 1991.

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Körper, ein Konstrukt, eine Erfindung, eine Legitimationsfigur, ein Phantasieprodukt. Herder sprach in diesem Zusammenhang bereits von Wahn und Vorurteil.699 Das hat mit Willkür nichts zu tun, sondern läßt sich sozialstrukturell und evolutionstheoretisch, funktional und kompensationstheoretisch begründen. 700 Wir haben hier lediglich anhand eines politik-spezifischen Sonderproblems zu zeigen versucht, inwiefern legitime Repräsentation auf solch eine Fiktion angewiesen ist. Aber der Staat muß auch noch in einem anderen Sinn als fiktiver Körper begriffen werden.

698 Im Sinne von Eric Hobsbawm und Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983.

699 Z.B. Herder, Johann Gottfried, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, in: Werke in zwei Bänden, Bd. 2, (hrsg. von K.-G. Gerold) München 1953, S. 9-97, S. 13 und S. 33; ders., Über Wahn und Wahnsinn der Menschen und Völker (46. Brief der Briefe zur Beförderung der Humanität), in: ders., a.a.O., S. 474-480.

700 Vgl. dazu im Blick auf Deutschland: Giesen, Bernhard, Die Intellektuellen und die Nation - Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt/M. 1993.

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3. Staat als Rechtsstaat Der Staat ist nicht nur eine imaginierte Gemeinschaft, sondern immer auch ein Machtbehälter, ein power-container im Sinne Giddens'. Auch hier handelt es sich natürlich um ein Beobachterkonstrukt, aber hier fällt es weit schwerer zu sagen, die Leute täuschten sich bloß. Die innerhalb des staatlichen Territoriums rechtlich stabilisierten Durchhaltemöglichkeiten normativen Erwartens und der spezifische Sanktionsmechanismus des Mediums Macht machen den Staat zu einem fiktiven Körper. Die Funktion des Rechts besteht in der Stabilisierung von Verhaltenserwartungen, also von Normen. Wer sich im Recht weiß, wird auch dann an seinen Erwartungen festhalten können, wenn sie im Einzelfall enttäuscht werden, denn er weiß, daß er vor Gericht Bestätigung suchen kann. Politische Macht besteht in der Möglichkeit, kollektiv bindende Entscheidungen treffen zu können und zwar unter modernen Verhältnissen zuallererst auf dem Rechtsweg. Um die Spezifik des Mediums Macht herauszuheben, wollen wir auf Parsons' "paradigm of sanctions" zurückgreifen und den für Macht charakteristischen Sanktionsmechanismus kurz mit denjenigen der drei anderen, von Parsons identifizierten Medien, nämlich Geld, Einfluß und Wertbindung, vergleichen. In einem zweiten Schritt wollen wir im Anschluß an Heinrich Popitz fragen: Warum werden Gesellschaften in der Hauptsache nicht durch positive, sondern durch negative Sanktionen, nicht durch Versprechungen, sondern durch Drohungen zusammengehalten? Abschließend soll im Anschluß an Niklas Luhmanns modaltheoretisch pointiertem Begriff der Macht der totalisierende oder raumfüllende Charakter dieses Mediums bestimmt werden. Sobald Gesellschaften eine Größenordnung erreichen, bei der es unmöglich wird, daß noch jeder jeden kennt, und das Problem der sozialen Ordnung im tête-a-tête geregelt wird, entsteht ein Desiderat für andere als bloß sprachliche Kommunikationsmedien und Integrationstechniken. In den meisten interaktionsnah organisierten Gesellschaften gibt es kaum die Möglichkeit einer exit-Option im Sinne Albert Hirschmans, und dementsprechend kann auch via voice nur wenig bewegt werden. 701 Die Handlungsmöglichkeiten und die Freiheitgrade der Individuen sind vergleichsweise gering; interaktionsnah organisierte Gesellschaften sind zumeist hoch integriert.702 Mit der wachsenden Differenzierung von

701 Hirschman, Albert O., Exit, Voice and Loyalty - Responses to Declines in Firms, Organizations, and States, Cambridge, Mass. 1970.

702 Der Vorschlag, Integration als eine Einschränkung von Freiheitsgraden zu begreifen, geht auf Robert Anderson zurück. Ders., Reduction of Variants as a Measure of Cultural Integration, in: Dole, Gertrude E. / Robert L. Carneiro (Hrsg.), Essays in the Science of Culture in Honor of Leslie A. White, New York 1960, S. 50-62.

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Interaktion und Gesellschaft bekommen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (Luhmann) bzw. Austauschmedien (Parsons) ihre evolutionäre Chance, um, wenn erfolgreich, diese beiden Systemebenen um so deutlicher voneinander abzuheben. Solche Medien haben die Funktion, in Situationen doppelter Kontingenz, also in Situa tionen, in denen jeder der Beteiligten auch anders könnte, auch dann den kommunikativen Anschluß in bestimmter Weise sicherzustellen, wenn die Bordmittel der Interaktion selbst dazu nicht mehr in ausreichendem Maß motivieren können. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien erhöhen die Wahrscheinlichkeit, daß eine bestimmte Sinnselektion des einen Kommunikationsteilnehmers - soweit er sein Verhalten am Code eines dieser Medien orientiert - vom anderen als Prämisse zukünftigen eigenen Verhaltens angenommen wird. Alle generalisierten Kommunikationsmedien "have in common the imperative mood, i.e. they are ways of `getting results' rather than only of conveying information. They face the object with a decision, calling for a response such as the acceptance or rejection of a monetary offer."703 Nur mit Hilfe symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien lassen sich lange Handlungsketten aufbauen, läßt sich von der konkreten Situation abstrahieren und läßt sich das soziale Geschehen auch über größere räumliche Distanzen hinweg integrieren. Parsons unterscheidet vier medienspezifische Mechanismen, um "zu Resultaten zu kommen". In allen vier Fällen geht es darum, die Sinn-Selektion und kommunikative Offerte Egos in ein Annahmemotiv Alters zu verwandeln. Ego muß dazu über Sanktionsmöglichkeiten verfügen, die Alter nicht in gleicher Weise verfügbar sind und die Sanktionsmöglichkeiten müssen generalisierbar, d. h. vom einzelnen Anwendungsfall unabhängig sein. Mit Geld lassen sich viele Produkte und Leistungen kaufen (inducement); durch eine Androhung von Gewalt lassen sich viele Handlungen motivieren und mögliche Handlungen unterbinden (deterrence); durch Berufung auf Reputation läßt sich in ganz unterschiedlichen Sinnhorizonten Einfluß überzeugend zur Geltung bringen (persuasion); durch einen Appell an allgemeinverbindliche Werte lassen sich ganz unterschiedliche Handlungen motivieren (activation of commitments). Parsons unterscheidet die Sanktionsmechanismen von Geld, Macht, Einfluß und Wertebindung mit Hilfe von zwei Kriterien, über die sich diese vier Medien schließlich kreuztabellieren lassen. Das erste Kriterium bezieht sich auf den Kanal oder Bezug der Sanktion: Eine Sanktion kann sich entweder auf die Situation Alters richten oder auf sein Innenleben, seine Intentionen beziehen. Das zweite Kriterium bezieht sich auf den Modus der Sanktion: Eine Sanktion kann entweder positv sein oder negativ. 704 Das ergibt folgende Kreuztabelle:

703 Parsons, Talcott, On the Concept of Influence, in: ders., Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, S. 355-382, S. 361.

704 Parsons, Talcott, Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, S. 310ff., S. 361ff.

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Intentionsbezogen: Situationsbezogen: Positiv: Art der Sanktion Persuasion Inducement Medium der Sanktion Influence (I) Money (A) Negativ: Art der Sanktion Activation of commitments Deterrence Medium der Sanktion Generalization of Power (G) commitments (L) Jedes Medium hat einen ganz spezifischen Problembezug und forciert deshalb die soziale Differenzierung. Jedes Medium erleichtert den Aufbau separater Handlungsketten. Parsons' Medientheorie nimmt ihren Ausgangspunkt beim Medium Geld. Das Medium Geld hat für Parsons' Medientheorie einen paradigmatischen Status.705 Dementsprechend behandelt Parsons Medien immer als Austauschmedien und fordert, daß Medien zirkulierbar sein müssen. 706 Dies scheint mir aber eine für viele Fälle unsinnige, nämlich in eine theoretische Sackgasse führende Generalisierung. 707 Schon in bezug auf das Medium Macht fällt es schwer zu erkennen, was hier, in Analogie zu einer Münze oder einem Schuldschein zirkulieren und gegen anderes eingetauscht werden soll. Obwohl Parsons betont, daß alle Medien vorrangig auf symbolischer Ebene operieren und beispielsweise Macht deshalb nicht mit physischem Zwang gleichgesetzt werden darf, fällt es schwer, innerhalb seines Theorierahmens zwischen einer aktuellen Sanktion und der bloßen Möglichkeit einer Sanktion deutlich zu unterscheiden. 708 Niklas Luhmann optiert hier anders. Auch er faßt Macht als einen relationalen Begriff, aber er begreift Macht-Kommunikation zuallererst als

705 "For me, the primary model was money." Parsons, Talcott, Social Structure and the Symbolic Media of Interchange, in: ders., Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 204-228, S. 204.

706 Dabei konnte Parsons sich gerade hier nicht auf seine vielleicht wichtigste Referenz bei der Ausarbeitung seiner Geldtheorie und damit seiner Medientheorie im Ganzen, nämlich Joseph A. Schumpeters stützen. Schumpeter hat wiederholt das Konzept der Geldmenge und die Idee, daß Geld zirkulieren würde, kritisiert. Vgl. z. B. ders., Kreditkontrolle, in: ders., Aufsätze zur ökonomischen Theorie, Tübingen 1952, S. 118-157, S. 145 (Fußnote 18).

707 Vgl. auch Giddens, Anthony, The Consequences of Modernity, Stanford, Cal. 1990, S. 25.

708 Der Grund ist einfach: Parsons macht diese Unterscheidung nicht! Er unterscheidet Macht und Zwang mit Hilfe der Frage: ist die Sanktion legitim oder nicht? Nur wer Autorität hat, kann nach Parsons auch Macht ausüben. Diese Begriffsdisposition ist wiederholt kritisiert worden und auch wir werden hier nicht folgen, sondern den Machtbegriff in der von Popitz und Luhmann vorgeschlagenen Weise gebrauchen.

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einen über das beiderseitige Abwägen von zukünftiger Möglichkeiten konditionierten Prozeß.709 Macht funktioniert über modale Relationierungen. Wenn Sanktionen immer wahrgemacht werden müßten, wie dies die Konzepte Austausch und Zirkulation zu fordern scheinen, würde das Medium Macht schnell zwischen den Parteien aufgerieben. Natürlich sieht auch Parsons dieses Problem, aber er behandelt es auf einer anderen Ebene, nämlich mit dem Hinweis, daß Sanktionen graduiert werden können und beispielsweise im Fall von Macht Gewaltanwendung nur eine "ultimate resource when others fail" ist.710 Er sieht also durchaus das Risiko einer Regression und unterscheidet deshalb später und im Anschluß daran inflationäre und deflationäre Prozesse des Medieneinsatzes.711 Parsons interessiert sich für den Möglichkeitshorizont der Betroffenen also vorrangig unter dem Gesichtspunkt, ob sie auch in Rechnung stellen, daß es schiefgehen könnte; bei Luhmann hingegen erhält das wechselseitige, also doppelt doppelt kontingente712 Verrechnen und Verschachteln von Möglichkeiten einen positiven, Macht erst ermöglichenden Wert. Parsons geht es um Austauschprozesse, also immer um wirkliche Sanktionen; Luhmann hingegen faßt das medienspezifische Kommunikationsproblem viel abstrakter, ihm geht es um Selektionsübertragung, und die wird vorrangig über mögliche Sanktionen konditioniert. Die bei Luhmann im Vordergrund stehende Strukturierung sozialer Systeme auf der Ebene bloßer Möglichkeiten soll uns nun dazu verhelfen, die hohe Plausibilität der Beobachtung von Recht und Politik im Sinne eines fiktiven Körpers neu zu begründen. Parsons verweist auf eine Eigentümlichkeit von Macht, die häufig übersehen zu werden scheint: "while there are critical limits on the effectiveness of force or the threat of force in motivation of positive action, in the prevention of feared or disapproved action, force is the ultimate sanction."713 Um bestimmte Handlungen zu motivieren, scheinen sich Medien mit positiven Sanktionsmöglichkeiten eher zu empfehlen. Im Anschluß an Parsons' Klassifikation der Sanktionsmechanismen, scheint die These einigermaßen plausibel, daß negative Sanktionen sich eher dazu eignen, Unterlassungen zu motivieren, während positive Sanktionen sich eher dazu eignen, zwei oder mehrere konkrete Handlungen positiv

709 Vgl. z. B. Luhmann, Niklas, Gesellschaftliche Grundlagen der Macht: Steigerung und Verteilung, in: ders., Soziologische Aufklärung 4, Opladen 1987, S. 117-125.

710 Parsons, Talcott, The Principal Structures of Community, a.a.O., S. 260.

711 Vgl. insbesondere Parsons, Talcott / Gerald M. Platt, The American University, Cambridge, Mass. 1973, S. 310ff.

712 Luhmann, Niklas, Gesellschaftliche Grundlagen der Macht: Steigerung und Verteilung, a.a.O., S. 117.

713 Parsons, Talcott, The Principal Structures of Community, a.a.O., S. 260.

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miteinander zu verknüpfen. 714 An einen unterbliebenen, von niemandem in seiner Vorbereitung bemerkten oder vielleicht auch gar nicht vorbereiteten Diebstahl kann man beispielsweise nicht positiv anschließen. 715 An ein wirkliches Ereignis hingegen - z.B. eine Firmengründung, eine gerade scheiternde Ehe, eine Schmeichelei - kann man natürlich sinnvoll, also selektiv anschließen, hier z. B. Subventionen fordern, alte Freunde einladen, verschämt tun. 716 Parsons' Unterscheidung von positiven und negativen Sanktionen und die damit einhergehende Spezifikation zukünftiger Handlungen einerseits, oder deren intendierte Unterbindung andererseits, ist nicht nur äußerst hilfreich, um verschiedene symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien miteinander zu vergleichen, sondern erlaubt auch eine weit darüber hinausgehende, ganz allgemeine Analyse von Normensystemen. Normen strukturieren nicht nur, was zu tun ist, sondern ebenso immer auch, was zu unterlassen ist, ohne dies im einzelnen jeweils explizit zu machen. "Soziale Ordnungen sind ein Arrangement von Unterlassungen," heißt es treffend bei Heinrich Popitz. 717 Solche Unterlassungen müssen nicht immer zurechenbar sein, sie können völlig unbewußt geschehen. Tradition, Routine und nur dürftige und schlechte Erfahrung mit, oder gar Unkenntnis von Alternativen garantieren, daß die meisten Unterlassungen unbemerkt bleiben. Sobald für alle Kommunikationsteilnehmer aber jeweils mehrere Handlungsalternativen in Betracht kommen und miteinander arrangiert werden müssen, geraten diese Möglichkeiten deutlicher ins Feld der Sichtbarkeit, und die möglichen Unterlassungen erhalten dadurch einen ganz anderen Wert. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es um die Setzung neuer Rechtsnormen geht, also an der Schnittstelle von Politik und Recht. Popitz unterscheidet zwei soziale Mechanismen, über die sich die diversen individuellen Möglichkeiten zweier oder mehrerer Menschen miteinander arrangieren la ssen,

714 Diese Formulierung ist ein wenig vage, wenn man - wie viele Juristen und Systemtheoretiker dies bevorzugen - Handlungen konsequent über Zurechnungsprozesse definieren will, und deshalb auch Unterlassungen als Handlungen begreift, nämlich als Unterlassungshandlungen. Wer so optiert, hat es mit ausschließlich positiv definierten Sachverhalten zu tun, selbst wenn nichts stattfindet, findet etwas nicht statt und dieses nicht-stattfindende Etwas läßt sich positiv charakterisieren und gehört gewissermaßen zum Sein. Wir werden etwas anders optieren, hoffen aber, unsere Überlegungen werden auch so verständlich. Vgl. im übrigen Gardner, Martin, Nothing; ders., More Ado about Nothing, beides in: ders., Mathematical Magic Show, Harmondsworth 1985, S. 15-28, S. 29-34.

715 Es sei denn, man kann z. B. als Polizeisprecher erfolgreich versichern, daß es dem eigenen unermüdlichen Einsatz zu verdanken ist, daß nichts passiert ist, um daraufhin Lob einzufordern. Man muß also überzeugend darstellen können, daß sich der Umstand, daß nichts passierte, nicht sich selbst verdankt, sondern durch anderes, wiederum positiv greifbares und keineswegs naturwüchsiges Verhalten begründet war.

716 Auch hier lassen sich leicht Gegenbeispiele anführen: an trotziges Verhalten, peinliche Witze, Magengluckern etc. läßt sich häufig kaum anders anschließen als durch Themenwechsel oder Überhören.

717 Popitz, Heinrich, Phänomene der Macht, Tübingen 1992, S. 88.

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nämlich Drohungen und Versprechungen. Diese Unterscheidung hat eine deutliche Affinität zu Parsons' Unterscheidung von positiven und negativen Sanktionen. Aber, und das ist hier entscheidend, sie bezieht sich nicht auf mögliche Arrangements von Handlungen, sondern auf mögliche Arrangements von Möglichkeiten - und dies war, wie wir oben gezeigt hatten, auch das Bezugsproblem der Luhmannschen Medientheorie. Individuelle Möglichkeiten lassen sich sozial über Drohungen miteinander arrangieren oder über Versprechungen. Wer droht, muß im Fall nicht-konformen Verhaltens bestrafen können; wer verspricht, muß im Fall konformen Verhaltens belohnen können. Beides ist möglich, beides läßt sich empirisch beobachten. Aber warum, so fragt Popitz, werden Normen durch Drohungen und nicht durch Versprechungen gesichert?718 Um eine Antwort zu finden, vergleicht er den jeweiligen Aufwand, die Kosten von Drohungen und Versprechungen. Zwar kann es sowohl im Fall von Versprechungen wie auch im Fall von Drohungen viel oder wenig kosten, sie glaubhaft zu machen, und ebenso kann der Vollzug einer Strafe wie die Vergabe einer Belohnung viel oder wenig kosten, aber die Kosten beginnen deutlich zu divergieren, wenn wir die Wahrscheinlichkeit konformen und nicht-konformen Verhaltens mit in unseren Vergleich einbeziehen. Drohungen sind billig, wenn sie wirken; Versprechen dagegen werden im Erfolgsfall teuer. "Im Falle von Konformität sind Drohungen billig, Versprechungen teuer. Im Fall von Nicht-Konformität sind Drohungen teuer, Versprechungen billig."719 Wir möchten nun im Anschluß an Parsons' Unterscheidung von positiven und negativen Sanktionen bzw. Popitz' Unterscheidung von Versprechungen und Belohnungen im folgenden die These entwickeln: positive Sanktionen produzieren soziale Räume mit einer Netzwerkstruktur, sie motivieren Handeln; negative Sanktionen produzieren kompakte Räume im Sinne des Behälter-Paradigmas, sie motivieren Unterlassungen. Das Medium Geld verkörpert eine positive Sanktion, eine Versprechung. Man läßt viele Angebote liegen und bringt sein Geld nur hier und da zum Einsatz; nur ganz bestimmte Personen werden von dem, der Geld bietet, in eine Entscheidungslage gebracht. Nur ganz bestimmte Gegenstände und Leistungen sind mit einem Preis versehen und können gegen eine entsprechende Zahlung den Besitzer wechseln. Geld macht Eigentum mobil. Geld erlaubt die Ausdifferenzierung eines Wirtschaftssystems, in dem die individuellen Zahlungsentscheidungen hoch selektiv miteinander verknüpft sind. Die Geldwirtschaft schafft keinen homogenen Raum, in dem alle mit allen verknüpft sind, sondern sie lebt gerade von den Differenzen der Positionen und erst die Löcher in diesem Beziehungsgeflecht

718 Ders., Phänomene der Macht, a.a.O., S. 93.

719 Ders., a.a.O., S. 91.

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erlauben eine vorübergehende Stabilität.720 Das Medium Macht arbeitet mit negativen Sanktionen, mit Drohungen. Macht ist besonders dann effizient, wenn es um die Unterbindung bestimmter Handlungen geht.721 Uns interessiert hier ausschließlich staatliche Macht und auch hier nicht die adressatenspezifische Machtausübung in politischen Fraktionen, Verwaltungsapparaten etc., sondern die Funktion von Politik und Recht für die Gesellschaft. Politische Macht dient der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen; Politik setzt ihre Anliegen im wesentlichen durch Gesetzgebung um; Recht dient der Stabilisierung von Verhaltenserwartungen. Der moderne Staat ist Rechtsstaat. Im modernen Staat ist alle Machtausübung immer auch rechtlich codiert. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von einer Zweit-Codierung. Während aber im Bereich der Wirtschaft die Zweit-Codierung des Eigentums durch Geld zu einer ungeheuerlichen Steigerung der wirtschaftlichen Mobilität führt, hat im Bereich der Politik die Zweit-Codierung der Macht durch Recht gewissermaßen einen umgekehrten Effekt. Recht macht Politik bodenständig. Ein Rechtsstaat ist immer auch ein Territorialstaat. Macht und Recht definieren dabei durch das, was sie ausschließen, einen einheitlichen Raum für die gesamte Bevölkerung innerhalb ihres Geltungsbereichs: vor dem Gesetz sind alle gleich. 722 Um ein mögliches Übertreten der Gesetze kontrollieren und verfolgen zu können, muß der moderne Staat sein gesamtes Territorium tendenziell in einen Wahrnehmungsraum verwandeln.723 Der Geltungsbereich des Gesetzes darf nicht von der Anwesenheit oder Abwesenheit bestimmter Personen abhängen; Nähe und Ferne sind keine Rechtsbegriffe.724 Geltendes Recht muß sich in gleicher Weise über das gesamte Staatsgebiet erstrecken; der Staat muß auch noch die Grenzen so kontrollieren, daß alle räumlichen

720 Vgl. Burt, Ronald, S., Structural Holes. The Social Structure of Competition, Cambridge, Mass. 1992.

721 Der Machtgebrauch in formalen Organisationen scheint auf den ersten Blick das Gegenteil nahezulegen. Man muß dabei jedoch berücksichtigen, daß in solchen Organisationen über Mitgliedschaft - also gegen Bezahlung - schon eine mehr oder weniger deutlich generalisierte Motivation sichergestellt ist. Diffizil wird die Analyse erst, wenn Verschlechterungen in der Bezahlung - also eine Verringerung der positiven Sanktionen - als negative Sanktionen in der Organisation eingesetzt werden können.

722 Wir beschränken uns hier auf das, was ausgeschlossen, also verboten ist. Für subjektive Rechte wie das Wahlrecht, das Vertragsrecht, das Recht auf Bildung (Schulpflicht) etc. gelten natürlich häufig ganz andere Inklusionskriterien.

723 Auch Foucault schreibt in diesem Zusammenhang, daß es der Polizei darum ginge, "alles sichtbar zu machen, sich selber aber unsichtbar." Der zweiten Hälfte des Satzes können wir hier jedoch nur eingeschränkt folgen, denn nur das beobachtete Beobachtet-werden sichert Konformität. Schließlich aber geht es Foucault darum - und da folgen wir ihm -, daß der Blick der Macht "den Gesellschaftskörper zu seinem Wahrnehmungsfeld macht." Ders., Überwachen und Strafen, a.a.O., S. 275.

724 Zur Umstellung der Orientierung von nah und fern auf gültig und ungültig vgl. Luhmann, Niklas, Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5, S. 95-130, S. 105.

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Ausweichmöglichkeiten versperrt sind. Um Loyalität zu garantieren, müssen die Individuen zur Verantwortung herangezogen werden können, und dazu müssen die exit-Möglichkeiten kontrolliert werden. Andernfalls kann Recht nicht wirklich der Erwartungsstabilisierung dienen. Der Rechtsstaat muß, um glaubwürdig zu sein, sicherzustellen suchen, daß Gesetzesübertretungen, also nur negativ bestimmte Ereignisse, unterbleiben. Das Auge des Gesetzes muß fast allgegenwärtig sein;725 und wo dies nicht gelingt, darf es wenigstens niemand bemerken. 726 Ohne eine hochkomplexe und effiziente "monitoring economy", 727 ohne eine "infinitisimale" Kontrolle728 könnte das Rechtssystem nicht Ruhe und Ordnung garantieren. Das Recht konzentriert sich auf den Rechtsbruch, die Abweichung, den Ausnahmefall. Es arbeitet mit negativen Sanktionen, die konditional auf Vorgaben durch andere angewiesen. Die Bevölkerung ist der potentielle Delinquent und muß deshalb im Blick sein. Das Recht ist, um vorbereitet zu sein, strukturell dazu gezwungen, immer auch Möglichkeiten zu projizieren, die von der Wirklichkeit schließlich später gar nicht gedeckt werden. Es muß Räume oder Personen observieren, in Erwägung, daß etwas geschehen könnte, aber dann vielleicht doch nicht passiert. Es muß immer weit mehr Möglichkeiten in Rechnung stellen, als durch die Wirklichkeit dann auch bedient werden können. Daß sich rückblickend, neben den geahndeten, keine weiteren besonderen Vorfälle haben feststellen lassen, muß sich vom gesamten Geltungsbereich des Rechts sagen lassen können. Man muß mit dem Schlimmsten rechnen, denn es soll nichts passieren und zwar flächendeckend und lückenlos. Die Projektion des Möglichen wirkt raumfüllend, sie generalisiert die wirklich beobachteten, fragmentarischen Wirklichkeitsausschnitte zu einem kompakten Ganzen. Nelson Goodman spricht hier von einem "filling in of gaps in actual experience with a fabric of possibles."729 Soziale Ordnung, insbesondere aber die Rechtsordnung beruhen, um noch einmal

725 Vgl. Popitz, Heinrich, Phänomene der Macht, a.a.O., S. 259.

726 Popitz, Heinrich, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens - Dunkelziffer, Norm und Strafe, Tübingen 1968.

727 Vgl. zu diesem Begriff Hechter, Michael, Principles of Group Solidarity, Berkeley 1987, insbesondere S. 150ff.

728 Foucault, a.a.O., S. 274, S. 277.

729 Goodmann argumentiert allerdings nicht aus der Perspektive der Polizei, sondern aus der eines Phänomenalisten im Raum. Ders., Fact, Fiction and Forcast, a.a.O., S. 50. Auch Niklas Luhmann verweist in einem ähnlichen, aber doch deutlich anders akzentuierten Zusammenhang auf diese Stelle bei Goodmann. Ders., Macht, Stuttgart 1975, S. 25. Luhmann geht es nicht um die Wahrnehmung von Raumstellen und die Erwägung, daß sie auch anders besetzt sein könnten, sondern ihm geht es abstrakt um Horizonte des Modalisierbaren.

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Popitz' Formulierung aufzugreifen, auf einem "Arrangement von Unterlassungen". Das Recht macht explizit, was zu unterlassen ist. Nur vor dem Profil einer bestimmten Erwartungsstruktur kann eine Unterlassung identifiziert werden und Kontur gewinnen. Unterlassungen sind ein Beobachterkonstrukt und als solches beliebig multiplizierbar: was als Unterlassen bestimmt werden kann, hängt ab von dem, was man überhaupt für möglich hält. Das Faktum der Unterlassung läßt sich erst über das Fiktum der Möglichkeit bestimmen. Mit ein wenig Phantasie oder ausreichend schlechter Erfahrung läßt sich ein Territorium, ein Raum voller Unterlassungen beobachten. 730 Wer so beobachtet - und für Thomas Hobbes lag dies nach den Erfahrungen des Bürgerkriegs nur nahe - kann im Staat ohne weiteres einen fiktiven Körper ausmachen, der sicherstellt, daß innerhalb seiner Grenzen die projektierten Unterlassungen immer und überall ausreichend motiviert werden. Negative Sanktionen oder Drohungen sind das Medium, über das ein fiktiver Körper Form gewinnt.731 Was Foucault als den Körper der Disziplin faßt, oder Giddens als Machtbehälter, läßt sich präzisieren, wenn man, anders als diese es tun, das Objekt von Disziplin und Macht nicht als "alles, was passiert"732 zu begreifen sucht, sondern als "alles, was möglich scheint". Handlungen sind immer diskrete Ereignisse, sie können keinen Raum füllen, Möglichkeiten aber lassen sich schon eher in dieser Weise abstecken. Der Rechtsstaat ist ein fiktiver Körper, insofern er innerhalb eines bestimmten Gebietes die Möglichkeitshorizonte einer Bevölkerung konditioniert.733

730 Ein Mangel an Möglichkeitssinn kann deshalb ebenso zur Selbstgefährdung des Rechtsstaats führen wie unkontrollierte, paranoide Phantasie. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Parsons, Talcott, "'McCarthyism' and American Social Tension: A Sociologist's View", Yale Review, Winter 1955, S. 226-245.

731 Mit der Ausdifferenzierung einer Privatssphäre und dem dann auch öffentlich vorgetragenen Anspruch, ganz Mensch und nicht mehr Untertan sein zu wollen, verliert dieses Medium allerdings seit dem 18. Jahrhundert an Tragfähigkeit und wird, ohne ersetzbar zu sein, zunehmend löchrig. Vgl. dazu Koselleck, Reinhart, Kritik und Krise, Frankfurt/M. 1973. Die dann einsetzende Differenzierung von Staat und Gesellschaft und die Ausdifferenzierung verschiedener gesellschaftlicher Subsysteme schränken seinen Relevanzbereich weiter ein.

732 Foucault, Michel, a.a.O., S. 274.

733 Wir haben mit dem Abschnitts -Titel 'Rechtsstaat' die Unterschiede zwischen dem Rechtssystem und politischer Macht als einem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium hier in den Hintergrund gestellt, deshalb sei wenigstens eine entscheidende Differenz hier noch einmal kurz erörtert. Wollte man die Rechtsordnung als eine positiv-selektive Ordnung im Sinne einer über ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium laufenden Systembildung definieren, hätte dies einigermaßen verrückte Konsequenzen: man müßte dann die autopoietische Produktion von Rechtsbrüchen im Medium der Rechtssprechung und darüber katalysierte Rechtsänderungen als die Elemente dieses Systems behandeln. Die Selektionsübertragung, die ein solches Medium sicherstellt, wäre die vom potentiellen Rechtsbrecher auf den Richter, also gewissermaßen das Recht, nach einer entsprechend gewählten Straftat auch verurteilt zu werden. Solche Fälle gibt es zwar, sie bilden bekanntlich aber nicht den Normalfall. Deshalb wollen wir das Rechtssystem auch nicht in dieser - also einer Geld, Macht oder Wahrheit vergleichbaren - Weise behandeln. Das Recht dient nicht der autopoietischen Reproduktion von Ereignissen, sondern der Verhinderung von Ereignissen. Das schließt jedoch nicht aus, daß die Ausdifferenzierung des Rechtssystems im Sinne

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Zwei Probleme sollen zum Abschluß dieses Abschnitts noch kurz angesprochen werden: zum einen der Wohlfahrtsstaat und zum anderen die im Jenseits normativer und politischer Integration evolvierende Weltgesellschaft. Aufgrund der vermuteten Ineffizienz des Mediums Macht zur Herbeiführung bestimmter Ereignisse war der Liberalismus immer bestrebt, die Staatstätigkeit - wenigstens was die Innenpolitik angeht - nicht zu sehr auf positive Regulation ausgreifen zu lassen, sondern auf die Garantie von Ruhe und Ordnung und die Erzwingbarkeit von Verträgen zu beschränken. "While the system of external organs must be rigorously subordinated to a great governing centre which positively regulates it, the system of internal organs needs no such positive regulation."734 Das Innenleben des sozialen Organismus bedarf keiner gezielten zentralen Steuerung. Es organisiert sich selbst, solange nur die Einhaltung der inneren Ordnung garantiert werden kann. Die Evolution des Wohlfahrtsstaates verdankt sich nicht zuletzt der vergeblich erwarteten Bewahrheitung dieser Vorstellung. Die durch den sogenannten Nachtwächterstaat nur negativ, aber flächendeckend definierte Freiheit wurde durch eine immer breiter, differenzierter und intransparenter werdende Palette positiver Sanktionen ergänzt.735 Durch positive Sanktionierungen werden besondere Gruppen von Betroffenen und noch Übergangenen, aber schon Interessierten geschaffen. Daneben wächst das Heer der Uninformierten und Lobbylosen. An das Verteilungsnetz des Wohlfahrtsstaats ist nur noch eine spezifische Klientel angeschlossen, es ist nicht mit dem für alle in gleicher Weise, nämlich negativ definierten Rechtsraum deckungsgleich. Ruhe und Ordnung suggerieren einen fiktiven Körper; Brot und Spiele ein

autopoietischer Systembildung verstanden werden kann, denn dies meint schließlich etwas ganz anderes: Recht ist nur durch Recht änderbar. Es läßt sich zwar kaum bestreiten, daß komplementär dazu auch das illegale Verhalten nur über Recht reproduzierbar ist, aber diese Reproduktion generiert kaum eine Eigenselektivität und wirkt deshalb im Normalfall nicht systembildend. Aber über das Rechtssystem ist auch eine nur wenig analysierte, im Sinne Michel Serres': parasitäre Systembildung möglich. Rechtsbrecher sind erpreßbar und dadurch entstehen neue Möglichkeiten der Machtausübung im Medium der Illegalität, also auf seiten der Rechtsbrecher. Man könnte Erpreßbarkeit durchaus als ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zu begreifen suchen. Wer bei entsprechender Meldung als schuldig überführt werden kann, auf den hat die Androhung dieser Meldung einen motivierenden und hoch generalisierbaren, also einen diverse Selektionsübertragungen erheblich erleichternden Wert. Das Rechtssystem stellt den noch nicht überführten Rechtsbrechern also ein Medium zur eigenständigen Systembildung zur Verfügung. Das Recht strukturiert notgedrungen immer auch Motivationslagen mit, die die Bildung von Banden und Syndikaten überzeugend macht. Vgl. Luhmann, Niklas, Inklusion und Exklusion, MS. 1992.

734 Spencer, Herbert, Specialized Administration, in: ders., The Man versus the State, a.a.O., S. 435-486, S. 461.

735 Das läßt sich alles leicht unter Rubriken wie Anspruchsspirale oder Bevormundung kritisieren; und natürlich lassen sich nicht alle sozialen Probleme auf administrativem Wege lösen und müssen alle Reformen irgendwie finanzierbar sein. Trotzdem lassen sich auch gute soziologische Gründe für den Wohlfahrtsstaat finden: vgl. z. B. Vobura, Georg, Jenseits der sozialen Frage, Frankfurt/M. 1991. Auch von philosophischer Seite aus ist das Modell einer bloß negativ definierten Freiheit häufig kritisiert worden. Vgl. z. B. unter Rückgriff auf einige Überlegungen Isahia Berlins: Taylor, Charles, What's wrong with negative liberty, in: ders., Philosophy and the Human Sciences (Philosophical Papers 2), Cambridge 1985, S. 211-229.

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soziales Netz. Vor dem Hintergrund der bis hierhin vorgetragenen Überlegungen läßt sich die Frage, warum die Weltgesellschaft nicht als fiktiver Körper beobachtet wird, relativ kurz beantworten: Sie ist kein normativ-rechtlich und politisch integriertes System, und aus diesem Grund stellt sich auch die im ersten Abschnitt erörterte Problematik der Legitimation nicht oder allenfalls in kontraproduktiver, also Segmentierung katalysierender Weise. Auf der Ebene der Weltgesellschaft - so scheint es - haben Normen kaum einen bleibenden Orientierungswert, denn sie werden zu oft enttäuscht. Hätte das kulturelle und politische Geschehen genügend Struktur und ließe seine Dynamik genügend Zeit, um Lernen zu ermöglichen, könnte man darauf setzen, daß sich über immer wieder neue kleine Enttäuschungen langsam eine kognitive Erwartungsstruktur kultivieren läßt. Ist die Weltgesellschaft aber zu komplex, um Lernen zu ermöglichen, wird man an den noch nicht ganz aufgeriebenen normativen Erwartungen festhalten wollen. Niklas Luhmann pointiert das so: "Lernen oder Nichtlernen - das ist der Unterschied"736, und erkennt hier eine Chance der Soziologie: sie könnte das Begriffsinstrumentarium bereitstellen, um eine Gesellschaft verständlich zu machen, die nicht mehr vorrangig auf normativer oder politischer Integration beruht. Die Soziologie kann heute ihren Gegenstand nicht mehr angemessen als einen fiktiven Körper zu begreifen suchen, aber die Kritik an diesem Paradigma und der Versuch die Entdinglichung des Sozialen theoriefähig zu machen und in eine Alternative zu formulieren, bleibt wenigstens heute noch, und vermutlich nicht zuletzt aus Gründen der Veranschaulichung, diesem Paradigma selbst in der Kritik noch unweigerlich verhaftet.737

4. Staat als Lärmschutz Normative Ordnungen wie staatliches Recht oder gemeinschaftliche Moral sind immer lokal gebunden und bodenständig, weil sie das Nicht-Eintreten von bestimmten Ereignissen sicherstellen sollen und eine möglicherweise über diese Ereignisse katalysierte Systembildung zu verhindern suchen. Sie garantieren gewissermaßen den dann für bestimmte drit te Systeme relevanten, aber selbst nicht erfaßbaren empty space im Sinne Spencer Browns. Sie garantieren Ruhe und Ordnung als Voraussetzung für alles Weitere. Dritte

736 Luhmann, Niklas, Die Weltgesellschaft, a.a.O., S. 55.

737 Vgl. dazu insbesondere Giesen , Bernhard, Die Entdinglichung des Sozialen, Frankfurt/M. 1991.; vgl. auch Bude, Heinz, "Auflösung des Sozialen? - Die Verflüssigung des soziologischen 'Gegenstandes' im Fortgang der soziologischen Theorie", Soziale Welt XXXIX, Heft 1 (1988), S. 4-17.

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Systeme können hier nun ihre Unterscheidungen plazieren, an die immer auch in spezifischer Weise angeschlossen werden kann, da es sich um Ereignisse und nicht nur um Nicht-Ereignisse (e.g. Nicht-Zahlungen) handelt.738 Landnahme und innere Ordnung scheinen - wie Carl Schmitt zu zeigen versucht hatte - Voraussetzung für alles Weitere. Auch bei Michel Serres findet sich eine analoge Überlegung, auch bei ihm findet sich eine der Schmittschen Trias von Nehmen/Teilen/Weiden entsprechende Differenzierung von drei Funktionen. Allerdings setzt Serres abstrakter an, ihm geht es nicht um Zäune und Mauern; für ihn ist die Einfriedung eines Raumes gleichbedeutend mit der Vertreibung der Parasiten, mit der Überdeckung von Lärm. Bei ihm heißt es deshalb nicht mehr Nehmen/Teilen/Weiden sondern: "Ausschneiden, zentrieren, reinigen."739 Er unterscheidet eine militärische, eine juristische und sakrale, und eine ökonomische Funktion. "Die Tätigkeit, die den drei Arbeiten gemein ist, liegt darin, eine endliche räumliche Lokalität von Parasiten zu säubern. (...) Der Herr der militärischen Funktion bewacht die Ränder, verteidigt Tore und Grenzen mit seinem Flammenschwert. (...) Der Träger der juristischen und sakralen Funktion reinigt den Raum". Er behauptet einen Binnenraum. "Der Binnenraum ist äußerst homogen, isotrop, parasitenfrei." Der Binnenraum ist also ein Behälter. "Die Träger der Produktionsfunktion organisieren Arbeit und Ökonomie in der gleichen Weise". 740 Uns soll die "Reinigung" des Binnenraums, also das Innenleben des power-containers hier abschließend noch einmal unter einer eingeschränkteren Perspektive interessieren. Hier soll es nicht noch einmal um die historische Überholtheit eines politik-zentrierten Gesellschaftsmodells mit klaren territorialen Grenzen gehen, um den historisch vermutlich irreversiblen Verlust einer substantiellen Ordnung. Michel Serres wie Carl Schmitt sind sich darüber einig, daß solche Ordnungsvorstellungen zur Welt von gestern gehören. Schmitt verweist auf die moderne Wirtschaft und die Figur des Partisanen; Serres auf IBM, auf den Anachronismus aller Machtzentren und auf die historische Überholtheit des Fußvolks.741 "Der Substantialismus, das war noch stets die Ablehnung der Stimmen und des Windes."742

738 Gilles Deleuze und Felix Guattari stellen aufgrund dieser empirisch gar nicht anders vorfindbaren hohen Interdependenz von Staatlichkeit und anderen innerhalb des so okkupierten Raumes operierenden Systemen die Territorialität des Staates selbst wieder in Frage: "Der Staatsapparat wird (...) zu unrecht als territorial bezeichnet: er bewirkt zwar eine Deterritorialisierung, die aber unmittelbar von Reterritorialisierungen auf Eigentum, Arbeit und Geld verdeckt wird". Dies., Tausend Plateaus, a.a.O., S. 703.

739 Serres, Michel, Der Parasit, Frankfurt/M. 1981, S. 144ff., S. 147.

740 Ders., a.a.O., S. 146f.

741 Serres verpackt seine Überlegungen in Fabeln: hier geht es um Grille und Ameise. Die Ameise "hastet langsam. Die Grille nimmt mit einem Schlag, blitzartig, die gesamte Umgebung ein." a.a.O., S. 147.

742 Serres, Michel, a.a.O., S. 148. Für Schmitt besteht dieser Substantialismus in der Einheit von Ordnung und Ortung.

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Modernisierungstheoretiker würden bei dem, was Serres hier "Stimmen und Wind" nennt, natürlich zuerst an die globale, politische Grenzen soweit wie möglich ignorierende Ausbreitung der modernen Funktionssysteme denken. Und natürlich handelt es sich auch hier um die Ausbreitung von Parasiten im Sinne Serres'. Die Codes dieser Systeme operieren im Rahmen des Rechts und zapfen die Ordnungsgefälle in dem so umfriedeten Raum an, um sich selbst dort breit zu machen und den Raum mit eigenen Geräuschen zu füllen. Um ungestört zu nassauern - so müßte man mit Serres sagen -, sind sie auf Ruhe und Ordnung verwiesen. Ruhe und Ordnung sind aber selbst hoch voraussetzungsvoll. Schmitt kann dies nur noch nostalgisch pointieren; Ruhe und Ordnung sind dahin. Serres' parasitologische Kontextuierung der Trias Ausschneiden/Zentrieren/Reinigen ist abstrakter angelegt und macht es deshalb leichter, ein allgemeines Gespür dafür zu entwickeln, in welch unterschiedlicher Weise ein Raum ausgeschnitten und wieder besetzt werden kann. Im Folgenden soll es deshalb nicht um die global operierenden Funktionssysteme gehen, sondern um Parasiten anderer Art: um den Lärm der Lebenswelt und seine bis vor kurzem noch einigermaßen erfolgreiche Unterdrückung und Kanalisierung in den am höchsten entwickelten Regionen. Es soll um die Wiederkehr des Verdrängten gehen. Uns scheint, als würden die Möglichkeiten im Inneren zu säubern und Ordnung zu schaffen, zuweilen überschätzt. Der Geräuschpegel der Lebenswelt läßt sich nur schwer und schon gar nicht auf Null reduzieren. Nachdem das Ordnungsmodell Sozialismus von Parasiten überwuchert und zusammengebrochen ist, hat die sich pragmatischer gebende Utopie der Zivilgesellschaft, insbesondere in den Weltregionen, in denen es etwas zu verteidigen gibt, und hier insbesondere in den besseren Wohnvierteln,743 erneut an Attraktivität gewonnen. Die Liste der in der antiken Utopie der Zivilgesellschaft kanonisierten Tugenden scheint aber nicht unbedingt für jedermann von gleichem Wert. Mit moralischem Unterton von anderen zu fordern, was zuallererst dem eigenen Interesse dient, scheint manchmal deshalb ein wenig zu viel verlangt oder wenigstens zynisch. Vielleicht sollte man - soweit eher das Resultat und weniger das Gewissen interessiert - besser fragen: was ist polizeilich noch möglich, statt: was ist moralisch wünschenswert. Die Tugend, auf die wir hier unsere Aufmerksamkeit beschränken wollen, wurde für die Soziologie von Erving Goffman entdeckt. Er hat sie `civil inattention' genannt.744 Ein ziviles Zusammenleben,

743 Vgl. dazu noch einmal Reich, Robert B., The Work of Nations, New York 1992, S. 268ff.

744 Goffman, Erving, Relations in Public, New York 1971 (das Register verweist auf die entsprechenden Stellen). In der deutschen Übersetzuung (Das Individuum im öffentlichen Austausch, Frankfurt/M. 1982) wird "civil inattention" mit "höflicher Gleichgültigkeit" wiedergegeben. Das klingt zwar gut, die herkunftsbedingte Konnotation von "höflich" scheint uns das spezifisch Moderne an diesem Phänomen jedoch nicht angemessen zu erfassen: es geht nicht um ein Arrangement zwischen Ehrenmänneren. Auch "Gleichgültigkeit" trifft leider nicht genau die paradoxe Konstellation, um die es Goffman geht: nämlich ein aufmerksames Darüberhinwegsehen, ein wissendes Ignorieren. Wir haben jedoch keinen besseren Vorschlag und halten uns

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insbesondere in der Öffentlichkeit, setzt voraus, daß man einander aus dem Weg zu gehen weiß, vieles, persönlich vielleicht als störend Empfundenes beim anderen bewußt übersieht, und jene Chancen, die mit ein wenig Aufdringlichkeit leicht auszuschlachten wären, verstreichen läßt. Die Integrität und Unnahbarkeit des anderen wird akzeptiert, der Blickkontakt bleibt bewußt ganz flüchtig und man passiert einander ohne irgendein Aufsehen. Civil inattention ist eine elementare Voraussetzung dafür, seinen eigenen Geschäften nachgehen zu können, und ungehindert, den eigenen Prämissen folgend, Kontakte aufzusuchen zu können. Civil inattention erlaubt es, daß man sich von einer Situation in die nächste stehlen kann, sie garantiert, daß man nicht festgenagelt wird. Civil inattention ist der Integrationsmodus des modernen Lebens: man läßt die anderen in Ruhe und nur deshalb wird es möglich, daß sie spezifischen Tätigkeiten nachgehen und die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft bedienen können. Civil inattention ist das gerade Gegenteil diffuser, alles mit allem behindernder Integration. Civil inattention bildet den empty space, in den sich funktionale Differenzierung einschreiben kann; sie ist das Kollektivgut, auf das gestützt langfristige Planung erst möglich wird. Aber, so warnen einige: der so charakterisierte Raum droht löchrig zu werden; die so definierte Ressource droht sich aufzulösen, droht zu verknappen, wird nicht nachsozialisiert, ja kann unter den heute herrschenden Strukturzwängen gar nicht mehr nachsozialisiert werden. Ganze Institutionen werden zu "rechtsfreien Räumen", in denen man mit allem Möglichen zu rechnen hat und in denen deshalb kaum noch etwas möglich ist; ganze Stadtteile werden zu "no go areas" erklärt, in die sich die Ordnungshüter nicht mehr vorwagen und in denen man sich deshalb nur noch durch Selbstverteidigung über Wasser halten kann. 745 Die Zukunft erscheint auf einmal wieder als bedrohlich; Szenarien werden entworfen, in denen alle soziale Differenzen, alle Sicherheiten wieder verloren scheinen, die Menschen sich als Gleiche begegnen und das Leben wieder in Hobbesschen Termini charakterisierbar wird, als "solitary, nasty, brutish, and short". 746 Um

deshalb ans Original.

745 Vgl. z. B. Dahrendorf, Ralf, Der moderne soziale Konflikt, Stuttgart 1992, S. 240ff. Ein weit pessimistischeres Szenario und bereits eine "Barbarisierung und zunehmende Verwilderung des Kontinents", also "amerikanische Verhältnisse" vor Augen, präsentieren: Eisenberg, Götz / Reimer Gronemeyer, "Jugend und Gewalt". Der Neue Generationenkonflikt oder Der Zerfall der zivilen Gesellschaft, Reinbek 1993. Im Tenor ähnlich äußert sich auch Hans Magnus Enzensberger. Ders., Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt/M. 1993.

746 Uns wird es im folgenden nicht um den - natürlich immer nur fiktiven - Naturzustand selbst gehen, sondern um die soziale, wenn auch aus hiesiger Sicht vielfach noch ferne Gegenwart. Da aber auch Hobbes' Betrachtungen nicht auf Fiktion beruhen, sondern den traurigen Erfahrungen des Bürgerkriegs entsprechen, die zwar nicht überholt, aber doch vergessen scheinen, sei die entscheidende Stelle ausführlicher zitiert: "In such condition, there is no place for Industry; because the fruit thereof is uncertain: and consequently no Culture of Earth; no Navigation, nor use of the commodities that may be imported by the Sea; no commodious Building; no Knowledge of the face of the Earth; no account of Time; no Arts; no Letters; no Society; and which is worst of all, continuall fear, and danger of violent death; And the life of man, solitary, poor, nasty, brutish, and short."

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ein genaueres Bild über das zu erhalten, mit dem zu rechnen ist, wenn die durch civil inattention verdeckten und separierten Nöte, Bedürfnisse, Interessen und Gefühle offen an den Tag treten und ineinander greifen, empfiehlt Goffman: "We must look to urban civilization and to any such time when danger or deprivation becomes acute." Für manche Stadtteile könnte man, wie sich mittlerweile in den USA gezeigt hat, auch noch hinzufügen: wenn der Strom für ein paar Stunden ausfällt. Goffman berichtet aber anschließend nicht aus der Heimat, sondern beendet seinen Artikel mit einem sich über mehrere Passagen erstreckenden Levi-Strauss-Zitat. Was dort zu lesen ist, wirkt mittlerweile fast schon wieder harmlos angesichts der täglich durch die Nachrichten gehenden "inner-city" Probleme. Im Unterschied zu den hiesigen Meldungen geht es aber nicht um Hinter- und Schulhöfe, um Ghettos und U-Bahnstationen, um Rand- und Kleingruppenproblem, sondern um das Leben auf dem indischen Subkontinent. Das Zitat zeigt die Schattenseite der Moderne, die Situation der Ausgeschlossenen im Dickicht der Lebenswelt, einen so dicht gefüllten Raum, daß jede Initiative schon im Ansatz zu ersticken droht. Mit leichten Veränderungen ist dieses Zitat mittlerweile auch in den `Traurigen Tropen' wieder aufgetaucht. Wir wollen hier Goffman folgen und übernehmen seine Einleitung gleich mit: "At point is one of the lesser disorderings that can occure, a breakdown in civil inattention, a general cause for mild alarm, especially for those who are new to this state and at the same time well endowed with resources and feelings. I cannot improve on what Levi-Strauss says, and close therefore by exerpting him:"747 "Die großen Städte Indiens sind ein einziges Elendsviertel; aber das, dessen wir uns wie eines Schandflecks schämen, das wir als Aussatz betrachten, bildet hier die bis auf ihren letzten Ausdruck reduzierte Urbanität: Zusammenballung von Individuen, deren Daseinsgrund einzig darin besteht, sich millionenfach zusammenzuballen, unter welchen äußeren Bedingungen auch immer. Schmutz, Unordnung, Promiskuität, enge Berührung; Ruinen, Baracken, Schlamm, Unrat; Kot, Urin, Ausdünstungen, Schweiß: dies alles, gegen das uns das urbane Leben die organisierte Verteidigung zu sein scheint, alles, was wir hassen und wovor wir uns zu so hohem Preis schützen, alle diese Nebenprodukte des Zusammenlebens sind hier niemals seine Grenze. Sie bilden vielmehr das natürliche Milieu, das die Stadt braucht, um zu gedeihen. Jedem Individuum bietet die Straße, ob Pfad oder Gasse, ein Zuhause, wo er sich hinsetzt, schläft, seine Nahrung aus klebrigem Unrat klaubt. Dieser stößt ihn nicht ab, sondern erwirbt vielmehr eine Art häuslichen Status allein dadurch,

Ders., Leviathan, Cambridge, 1991, S.89 (13. Kapitel).

747 Goffman, Erving, Relations in Public, New York 1971, S. 332. Wir werden nicht im einzelnen dem Exerpt und den Auslassungen von Goffman folgen.

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daß so viele Menschen ihn ausgeschwitzt, ausgeschieden, mit Füßen getreten und in Händen gehabt haben. Jedesmal, wenn ich mein Hotel in Kalkutta verlasse, das von Kühen umlagert wird und dessen Fenster den Aasgeiern als Sitzstange dienen, werde ich zum Mittelpunkt eines Ballets, das ich sicher sehr komisch finden würde, wenn es nicht so viel Mitleid erregte. Es lassen sich mehrere Auftritte erkennen, jeweils von einem Star verkörpert: der Schuhputzer, der sich mir zu Füßen wirft; der kleine näselnde Junge, der auf mich zu stürzt: one anna, papa, one anna! der Krüppel, der fast nackt ist, damit man seinen Stummel besser sehen kann; der Kuppler: British Girls, very nice...; der Klarinettenhändler; der Hausierer von New-Market, der mich anfleht, ihm alles abzukaufen, nicht weil er unmittelbar daran interessiert wäre, sondern weil die Annas, die er verdient, indem er mir folgt, es ihm ermöglichen werden zu essen. Er betet den Katalog mit einer Begehrlichkeit her, als wären alle diese Güter für ihn bestimmt: Suit-cases? Shirts? Hose?... Und schließlich die ganze Truppe der kleinen Rollen: Anwerber für Rikschas; Gharries, Taxis. Zwar stehen drei Meter weiter am Trottoir entlang so viele Taxis, wie man nur will. Aber wer weiß? Vielleicht bin ich ja eine so hochgestellte Persönlichkeit, daß es unter meiner Würde ist, sie zu bemerken... Ganz abgesehen von der Kohorte der Straßenhändler, Verkäufer, Ladenbesitzer, denen mein Kommen das Paradies verspricht: ich könnte ihnen vielleicht etwas abkaufen. Möge derjenige, der darüber lachen oder sich ärgern möchte, sich davor hüten, wie vor einem Sakrileg. Es wäre sinnlos, diese grotesken Gesten, diese fratzenhaften Verhaltensweisen zu zensieren, und kriminell, sie zu verspotten, statt in ihnen die klinischen Symptome eines Todeskampfes zu sehen. Eine einzige Zwangsvorstellung, der Hunger, diktiert diese verzweifelten Schritte; jener Hunger, der die Menschen in Scharen aus den Dörfern treibt und Kalkutta inerhalb weniger Jahre von zwei auf fünf Millionen Einwohner hat anwachsen lassen; der die Flüchtlinge in die Sackgasse der Bahnhöfe schwemmt, wo man sie vom Zug aus nachts auf den Bahnsteigen schlafen sieht, eingehüllt in das weiße Baumwolltuch, das heute ihre Kleidung bildet und morgen ihr Totenhemd sein wird; und der dem Blick des Bettlers seine tragische Intensität verleiht, wenn er durch das Metallgitter des Erste-Klasse-Abteils dem meinen begegnet, ein Gitter, das mich - wie auch der auf dem Trittbrett hockende bewaffnete Soldat - vor der stummen Forderung eines Einzelnen schützen soll, der sich in eine brüllende Meute verwandeln könnte, wenn das Mitgefühl des Reisenden über die Vorsicht siegen und in diesen Verdammten die Hoffnung auf ein Almosen schüren würde. (...) Das tägliche Leben erscheint als permanente Zurückweisung des Begriffs der menschlichen Beziehungen. Man bietet dir alles an, verpflichtet sich zu allem und jedem, hält sich in allen Dingen für kompetent, während man doch überhaupt nichts weiß. Damit zwingt man dich, dem anderen von vorneherein sein Menschsein abzusprechen, das auf Ehrlichkeit,

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Vertragstreue und der Fähigkeit beruht, Verpflichtungen einzugehen. Rikschakulis machen sich anheischig, dich überall hin zu fahren, obwohl sie den Weg noch viel schlechter kennen als du selbst. Wie soll man da nicht wütend werden und - auch wenn man einen Skrupel hat in ihren Wagen zu steigen und sich von ihnen ziehen zu lassen - sie nicht wie Tiere behandeln, da sie dich durch ihre Unvernunft nötigen, sie als solche zu betrachten? Noch verwirrender ist die allgemeine Bettelei. Man wagt nicht mehr, jemandem offen in die Augen zu sehen, einzig um des Vergnügens willen, mit einem anderen Menschen in Kontakt zu treten, denn das geringste Anhalten wird als Schwäche ausgelegt, als Genehmigung zum Betteln. Der Ton des Bettlers, der `Sa-HIB!' ruft, ähnelt in bestürzender Weise demjenigen, den wir anschlagen, wenn wir ein Kind rügen - `Vo-YONS!' nicht doch!, und dabei die Stimme erheben und die letzte Silbe betonen-, so als würden sie sagen: `Aber das ist doch sonnenklar, es springt in die Augen, stehe ich nicht hier, um dich anzubetteln, und habe ich nicht schon deswegen einen Anspruch auf dich? Woran denkst du bloß? Wo hast du deinen Kopf?' Das Hinnehmen einer Situation ist so total, daß es das Element des Flehens aufzulösen vermag. Es bleibt nur die Feststellung eines objektiven Zustands, einer natürlichen Beziehung zwischen ihm und mir, aus der sich das Almosen mit derselben Notwendigkeit ergeben müßte, die in der physikalischen Welt Ursache und Wirkung verbindet. Auch hier wird man von seinem Gegenüber gezwungen, ihm das Menschsein abzusprechen, das man ihm doch so gerne zuerkennen möchte. Alle Ausgangssituationen, welche die Beziehungen zwischen Personen definieren, sind verfälscht, die Regeln des sozialen Spiels verdorben, es ist unmöglich, anzufangen. (...)im Rahmen des Systems ist die Situation irreversibel geworden, es sei denn, man würde damit beginnen, es zu zerschlagen."748

748 Levi-Strauss, Claude, Traurige Tropen, Frankfurt/M. 1978, S. 124ff.

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VI. Raum und Logik

"Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:

denn was innen, das ist außen."749

"Such are the perversities of social logic." 750

1. Innen und Außen "Am Raum lernt man Logik", heißt es bei Niklas Luhmann. 751 Die Vorstellung, daß zwei verschiedene Dinge nicht dieselbe Raumstelle einnehmen können, erlaubt es, bestimmte Widersprüche zu identifizieren, und die Transitivität des räumlichen Enthaltenseins scheint die statische, synchrone Denkform des Syllogismus nahezulegen:752 Wenn der Regenschirm im Auto liegt, und das Auto in der Garage steht und sich die Garage auf Grundstück xy befindet, so befindet sich auch der Schirm auf diesem Grundstück. Behauptet man hingegen, er befinde sich nicht auf diesem Grundstück, so darf er sich auch nicht in besagter Garage oder im Auto, das in der Garage geparkt ist, finden lassen. In bezug auf Objekte, deren soziale Funktion nicht in ihrem intrinsischen Nutzen oder Gebrauchswert aufgeht, also auf fast alles, was die Soziologie interessiert, scheint aber eine am Raum geschulte Logik nicht immer angemessen. Ein solches Objekt läßt sich nicht in einem Behälter dingfest machen, ohne daß es seine Funktion verliert. Versucht man, es durch wiederholtes Ein- und Ausschließen in einen immer kleineren Raum zu fixieren, verschwindet es schließlich. Solange man sich am Behälterparadigma des Raumes orientiert und in diesem Rahmen das Objekt zu lokalisieren und zu begreifen bestrebt ist, entpuppt es sich zwangsläufig als ein Paradox.

749 Goethe, Johann Wolfgang, Epirrhema, in: ders., Gedichte, Stuttgart 1967, S. 194.

750 Merton, Robert K., The Self-Fullfilling Prophecy, in: ders., Social Structure and Social Theory, 2. erweiterte Auflage, New York 1968, S. 475-490, S. 477.

751 Luhmann, Niklas, Soziale Systeme, a.a.O., S. 523, Fußnote 54. Luhmann verweist darauf, wie man Logik lernt, nicht mehr. Abstrakte logische Beziehungen müssen nämlich - rein theoretisch - nicht notwendig mit räumlich-anschaulichen Nachbarschaften identisch sein. Vgl. Hallpike, Christopher Robert, Die Grundlagen des primitiven Denkens, Stuttgart 1984, S. 213.

752 Galtung, Johann, Methodologie und Ideologie, Frankfurt 1978, S. 273.

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Die Unterscheidung von Gebrauchs- und Tauschwert bzw. die von intrinsischem und extrinsischem Nutzen verdankt die Soziologie insbesondere Marx' Kritik der politischen Ökonomie und Parsons' Medientheorie. Aber auch ein Objekt mit intrinsischem Wert gibt es nicht "an sich". Die Unterscheidung ist immer abhängig von einer spezifischen Systemreferenz. Das klassische Beispiel, an dem diese Unterscheidung entwickelt wurde, ist bekanntlich Geld.753 Aber sie gilt ganz allgemein für alle kontextsensitiven, für alle geistigen Dinge. Heute hat sich hierfür die Metapher des Textes eingebürgert. Ein Text erhält seinen Sinn vor allem durch das, was ihn von seinem Kontext unterscheidet, und das gleiche gilt auch für alle kleineren oder größeren Einheiten. Losgelöst vom Kontext verlieren die Dinge (= Texte) nicht nur ihren Sinn, sondern lassen sich nicht einmal mehr identifizieren, denn dazu muß man sie von etwas anderem, von ihrem Kontext, unterscheiden. Die Bedeutung einer Mitteilung, die Vertrauenswürdigkeit eines Versprechens oder ganz allgemein der Sinn von Zeichen und Symbolen läßt sich nicht durch räumlichen Einschluß fixieren. Unangemessen ist eine am räumlichen Enthaltensein geschulte Betrachtungsweise aber vielleicht nicht nur in der Soziologie, sondern weit darüber hinaus, nämlich überall dort, wo die Beobachtungsschemata von Substanz auf Funktion, oder noch abstrakter, von Einheit auf Differenz umgestellt wurden. 754 Die erkenntnistheoretisch irritierenden Folgen einer solchen Betrachtungsweise insbesondere im Hinblick auf den Status der Logik scheinen aber erst gegenwärtig konsequent entfaltet zu werden. 755 Wenn man beispielsweise Identität tautologisch zu begreifen versucht, dann läßt sich dieses Vorhaben bereits als paradox charakterisieren. Die Behauptung, A sei gleich A, unterscheidet das zuerst erwähnte A vom zweiten, um festzustellen, daß dieser Unterschied keinen Unterschied macht, keinen Sinn hat. Der Satz kann als performativer Widerspruch begriffen werden. Wenn man statt dessen direkt

753 Der Münzensammler z. B. schätzt es in ganz anderer Weise als die Wirtschaft; für den Münzensammler mögen die Münzen in seiner Vitrine einen eigenen und relativ stabilen Wert haben. In der Wirtschaft hat Geld aber keinen intrinsischen Wert in diesem Sinne. Das macht es möglich, daß sich der Wert beispielsweise einer Münze erheblich ändert, obwohl sie sich materiell durchaus gleichgeblieben sein mag.

754 Es geht hier nicht, oder wenigstens nicht vorrangig, um Funktionalismus im soziologischen Sinne, sondern um ein viel allgemeineres Phänomen. Mit etwas Anmaßung könnte man behaupten, es gehe um "die" wissenschaftliche Betrachtungsweise überhaupt. Ernst Cassirer hat die Umstellung von Substanz auf Funktion bekanntlich als den entscheidenen Schritt in der Entwicklung des modernen, wissenschaftlichen Denkens herauszustellen versucht. Ders., Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Darmstadt 1980.

755 Vgl. Löfgren, Lars, Unfoldment of Self-Reference in Logic and in Computer Science, in: Jensen, Finn V. et al. (Hrsg.), Proceedings from the 5th Scandinavian Logic Symposium Aalborg, 17-19 January 1979, Aalborg 1979, S. 205-229; Spencer Brown, George, Laws of Form, New York 1979; Derrida, Jacques, Differance, in: ders., Margins of Philosophy, Chicago 1982, S. 1-27; Glanville, Ranulph, Objekte, Berlin 1988, und die Beiträge in Baecker, Dirk (Hrsg.), Kalkül der Form, Frankfurt/M. 1993. Daß viele dieser Überlegungen schon eine lange Geschichte haben, zeigt Heinrich Rombach. Ders., Substanz System Struktur, 2 Bände, Freiburg 1981; vgl. auch Bateson, Gregory, Mind and Nature, Glasgow 1980, S. 72f.

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mit einer Unterscheidung beginnt und ein Ereignis, ein Ding oder auch das Nichts zu bestimmen versucht, indem man es von anderem unterscheidet, beginnt man natürlich auch paradox, denn das Ding oder Ereignis wird dann als das begriffen, was es nicht ist. Aber wer mit einem Unterscheidungsakt beginnt, handelt in eigener Verantwortung und kann sich nicht mehr durch Verweis auf den angeblich mit sich selbst identischen Gegenstand entschuldigen. Die hier angesprochene Paradoxie läßt sich nicht verbieten, sie läßt sich allenfalls entfalten. Um ein Oszillieren zwischen nur zwei einander widersprechenden Optionen zu vermeiden, müssen andere Unterscheidungen folgen. Nur dann läßt sich dem direkten Selbstwiderspruch aus dem Weg gehen, nur dann kann eine einigermaßen stabile Welt entstehen. Aus diesem Grund bestimmt Spencer Brown seine erste Unterscheidung, die Unterscheidung, mit der er sein Kalkül startet, bereits - auch wenn der Leser dies erst am Ende des Buches erfährt - als re-entry, und aus demselben Grund bestimmt Derrida jeden Ursprung als Wiederholung. Jede Unterscheidung, jeder Ursprung setzt sich selbst voraus. Die Unterscheidung ist nur dann eine Unterscheidung, wenn sie etwas unterscheidet; der Ursprung ist nur dann Ursprung, wenn ihm etwas folgt. Das mag alles ein wenig sophistisch klingen, ist aber vermutlich trivial. Wir möchten diese Überlegungen zum leichteren Verständnis der folgenden in Form einer These generalisieren. Ein System, insofern man es als eine sich-selbst-reproduzierende Einheit begreift, startet immer an mehreren, räumlich nicht identischen Raumstellen gleichzeitig. Talcott Parsons Formel von der "operation bootstrap" scheint uns diesen Umstand trefflich zu benennen. 756 Die Distribution über mehrere Raumstellen ist konstitutiv für sein Operieren. In Anlehnung an die in Kapitel IV vorgestellte Medientheorie Fritz Heiders könnte man auch sagen, es koppelt immer mehrere Elemente seines Mediums gleichzeitig. Wir möchten uns im folgenden schrittweise zu der logischen Merkwürdigkeit vorantasten, die sich aufdrängt, wenn man meint, es mit Dingen zu tun zu haben, die unmittelbar mit sich selbst identisch seien und sich deshalb ohne weiteres lokal fixieren und von ihrem Kontext abschneiden lassen. Beginnen wollen wir mit einer Art Gedankenexperiment, dann soll noch einmal das Verhältnis von Wahrnehmungsraum und Kommunikation Thema werden, um abschließend am Beispiel Geld wenigstens im groben plausibel zu machen, warum diesem Medium häufig paradoxe Eigenschaften zugeschrieben und perverse Effekte zugetraut werden. 757 Der von Francis aufgezeigte und hier im ersten Kapitel diskutierte "planimetrische

756 Parsons, Talcott, Some Reflections on the Place of Force in Social Process, in: ders., Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, S. 264-296, S. 275.

757 Zum Konzept der perversen Effekte vgl. allgemein: Boudon, Raymond, Widersprüche sozialen Handelns, Neuwied 1979.

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Irrtum" verdankt sich letztlich dem Umstand, daß wir auf einer Fläche leben. Unangemessen wird die planimetrische Betrachtung erst, wenn wir die Objekte in der Ebene ausschließlich aufgrund ihrer planimetrischen Nachbarschaften zu definieren versuchen. Francis fordert deshalb statt eines planimetrischen einen multidimensionalen Theorieansatz. Ein solcher Ansatz kann aber durchaus in der Fläche, auf der wir ja nun einmal leben, realisiert werden. Entscheidend dafür ist, daß man die Nachbarschaften der einzelnen Punkte in spezifischer Weise definiert. Ein Vergleich mit einem Brettspiel, beispielsweise Schach, mag dies verdeutlichen. Zwar finden alle Züge dieses Spiels in der Ebene - auf einem Brett - statt, aber sie beschränken sich in einem ganz spezifischen Sinn eben nicht auf dieses Koordinatensystem. Verschiedene Figuren haben unterschiedliche Zugmöglichkeiten, operieren gewissermaßen also in einem jeweils spezifischen Raum, der nicht mit dem gesamten Spielfeld identisch ist. Lediglich die Spieler überblicken das ganze Feld, für sie ist es kompakt und lückenlos; die Zugmöglichkeiten der einzelnen Figuren aber beschränken sich immer nur auf Ausschnitte dieses Feldes. Diese Ausschnitte unterscheiden sich bekanntlich nicht nur in bezug auf ihre Ausdehnung, in dem Sinne, daß Distanzen, die eine bestimmte Figur mit einem einzigen Zug überwinden kann, von einer anderen Figur nur mit mehreren Schritten zu meistern sind. Auch der Richtungssinn ist z. B. vom Typ der Figur abhängig. Beides wird wiederum durch die umstehenden Figuren modifiziert: Bauern z. B. dürfen nur parallel zum Feld ziehen, aber, wenn die Möglichkeit gegeben ist, in der Diagonale schlagen. Dennoch sind Situationen denkbar, die sich selbst dem regelunkundigen Beobachter fast ohne weiteres erschließen, denn ihre Logik entspricht mehr oder weniger schon der physischen Positionierung der Figuren auf dem Spielfeld. Eine Reihe von Bauern kann beispielsweise als Hindernis, als Mauer wahrgenommen werden. Man kann in bestimmter Weise Grenzen ziehen, die undurchlässig für die meisten Figuren sind oder die sie nur in Verbindung und mit Deckung durch andere überwinden können. Aber die Regeln des Spiels lassen sich bekanntlich nicht auf eine einfache Logik räumlicher Hindernisse reduzieren. Die Freiheitsgrade einer Schachfigur im Schachspiel sind andere als die einer Billardkugel auf dem Billardtisch. 758 Ein Springer kann z. B. - gewissermaßen durch Nutzung einer weiteren Dimension - über eine Mauer von Bauern springen. Er ist, wie sein Name schon sagt, weniger bodenständig als die anderen Figuren. Wir möchten die Überlegungen zum Schachspiel noch etwas weitertreiben, denn hier lassen sich quasi in Miniatur Denkmöglichkeiten entwickeln, die nicht unbedingt sofort

758 In genau diesem Sinne hat sich auch Talcott Parsons dagegen gewandt, z. B. Personen oder Handlungssysteme als physische Kategorien zu behandeln, obwohl sie im Organismus und in der physischen Umwelt verwurzelt sind ("rooted in"). Vgl. ders., The Principal Structures of Community, in: ders., Structure and Process in Modern Societies, Free Press 1960, S. 250-279, S. 276.

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offensichtlich sind und die helfen könnten, einen zu simpel konzipierten und zu kompakten Raumbegriff zu hinterfragen. Um das Spiel zu automatisieren, ist es sinnvoll, die Bedingungen, unter denen eine Figur ziehen sollte, festzuschreiben. In Analogie zu den Zugmöglichkeiten der einzelnen Figuren könnte man auch entsprechende Wahrnehmungsräume definieren, z. B. so, daß eine Bedrohung nur von den Feldern, die man auch selbst im nächsten Zug besetzen könnte, wahrgenommen würden (das ist sicherlich keine empfehlenswerte Strategie zur Programmierung eines Schachcomputers, aber darauf kommt es hier auch nicht an). Dies hätte zur Folge, daß nun selbst in bestimmten Konstellationen direkt nebeneinanderstehende Figuren füreinander unsichtbar wären und in verschieden Räumen operieren würden. Trotzdem können solche Räume indirekt, also über dritte und vierte Figuren, miteinander gekoppelt sein. Bestimmte Figuren können bekanntlich bestimmte Felder nie besetzen, z. B. ein auf einem weißen Feld plazierter Läufer kann nie eine Figur auf einem schwarzen Feld schlagen, aber er könnte eine weitere Figur decken, die zu einem solchen Schlag bereitstehen mag. Lediglich für die Spieler is t der Raum im Ganzen erschließbar und kompakt. Das erlaubt ihnen, die jeweiligen Beschränkungen und Löcher in den Wahrnehmungsräumen der unterschiedlichen Figuren zu beobachten. Ein Springer kann z. B. von einem Bauern geschlagen werden, den er bis dahin in seinem `Lebensraum' gar nicht verorten konnte, da er nur ein Feld entfernt war. Mit einer letzten Überlegung anhand des Schachspiels wollen wir das schon im ersten Kapitel diskutierte Problem der Erreichbarkeit noch einmal aus einer anderen Perspektive angehen. Erreichbarkeit wird über die Zugmöglichkeiten und die Spielbrettbegrenzung bestimmt. Die Begrenzung durch das Brett ist dabei trivial. Mit ihr kann für unsere Zwecke keine passende Analogie zur räumlichen Begrenzung sozialer Kommunikation konstruiert werden, wenigstens nicht in dem einfachen Sinne, daß man das Schachbrett mit der Erde identifiziert. Soll das dennoch geschehen, ohne damit zu implizieren, daß die Erde dabei dann als Scheibe gedacht werden müsse, muß man sich die beiden jeweils gegenüberliegenden Seiten des Schachbretts als verbunden denken. Das Schachspiel findet dann auf einem Torus statt, und das Spielfeld hat keine äußeren Begrenzungen im Sinne eines Randes mehr. Grenzen der Erreichbarkeit ergeben sich nun nur noch aus den Zugmöglichkeiten der einzelnen Figuren. Aber selbst wenn keine jener Figuren mehr im Spiel sind, die den Torus mit einem Zug ganz umkreisen könnten (also Läufer, Türme und Damen), macht es noch Sinn, den Terminus der Erreichbarkeit auf das gesamte Spielfeld zu beziehen. Selbst wenn die aktuellen Zugmöglichkeiten der einzelnen Figuren nur einige wenige Felder umfassen, kann ein bestimmter Zug doch weit darüber hinausgehende Effekte zeigen (z. B. indem einer Figur die Deckung genommen wird).759 Solche Effekte können das ganze Spielfeld betreffen,

759 Deutlicher ist dies sicherlich noch beim Damespiel, da hier lokale Veränderungen u. U.

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sie haben nicht nur lokale Relevanz. Mit jedem einzelnen Zug ändert sich - wenn auch in ganz unterschiedlichem Maße - die gesamte Spielkonfiguration und zwar dadurch, daß jeder Folgezug nun unter andere Constraints gestellt ist, der Mitspieler (bzw. seine Figuren, wenn man sie mit ähnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten ausstatten würde) also in einem durch den Zug modifizierten Erwartungshorizont operiert. Obwohl nicht alles mit allem zusammenhängt, können durch lokale Veränderungen globale Effekte produziert werden. Anders als bei Brettspielen ist im sozialen Leben der Übergang vom Lokalen zum Globalen aber wesentlich deutlicher und in eigenwilligerer Weise gestuft. Eine entscheidende Schwelle scheidet Interaktion und Gesellschaft als zwei Bereiche von ganz unterschiedlicher Relevanz. Der Erwartungshorizont der Interaktion ist durch wechselseitige sinnliche Präsenz, durch die Frage, wer anwesend ist, bestimmt, während die Zugehörigkeit zur Gesellschaft z. B., wie von Niklas Luhmann vorgeschlagen, durch das Kriterium der kommunikativen Erreichbarkeit definiert werden kann. Solange Kommunikationsprozesse durch die direkte Wahrnehmung des Gegenübers kontrolliert werden können, macht die Behauptung, die Kommunikation fände im Raum statt, in gewisser Weise Sinn. Mit Raum ist dann mehr oder weniger ein dreidimensionaler Raum mit Euklidischer Metrik gemeint. Dieser Raum wird vorrangig über die visuelle Wahrnehmung kontrolliert. Die Sprecher sind immer greifbar und können jederzeit von Sanktionen getroffen werden. Die Beschränkung der Kommunikation auf die unmittelbare Kopräsenz der an ihr Partizipierenden, garantiert darüber hinaus, daß tendenziell immer nur eine Person zur selben Zeit spricht, andernfalls ist keine Verständigung möglich. Die Beschränkung auf jeweils einen Sprecher garantiert gewissermaßen die Homogenität oder gleichmäßige akustische Füllung des Wahrnehmungsraums. Flüstern mit dem Nachbarn gilt als subversiv. Solange man es mit einem einfachen Interaktionssystem im Sinne einer face-to-face Begegnung zu tun hat, scheint es, als würde die Kommunikation innerhalb dieses Wahrnehmungsraumes stattfinden. Lokal macht das Behälterparadigma des Raumes durchaus Sinn. Die typische Naherfahrung der Interaktion bestimmt unsere Vorstellungen von Raum. Der Raum hat keine Löcher. Diese Erfahrung läßt sich aber nicht ohne weiteres auf die Gesellschaft im Ganzen übertragen, wenigstens dann nicht, wenn die gesellschaftliche Kommunikation nicht ausschließlich an das Medium der Mündlichkeit gebunden und dementsprechend auf face-to-face-Kommunikation beschränkt ist. Solange eine Gesellschaft interaktionsnah strukturiert ist und der Einzelne existentiell auf die Gemeinschaft angewiesen ist, darf man annehmen, daß das Behälterparadigma uneingeschränkte Gültigkeit hat. Einfache, interaktionsnahe Gesellschaften sind hoch integriert, eine abgesonderte Privatsphäre im modernen Sinne ist undenkbar, ihr bleibt kein

Sprungmöglichkeiten über das gesamte Feld eröffnen können.

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Raum. Solche Gesellschaften haben deshalb eine gewisse Ähnlichkeit mit totalen Institutionen. 760 Ein entscheidender Unterschied besteht allerdings in dem Umstand, daß hier alle Gesellschaftsmitglieder als `Anstalts-Insassen' gelten müssen und deshalb der Anstaltscharakter gar nicht - oder nur für den zermürbten Anthropologen - sichtbar wird. Mit der Differenzierung von Interaktion und Gesellschaft wird er sichtbar und erodiert. Das soziale Geschehen läßt sich nun nicht mehr ausschließlich mit den "Bordmittel" der Interaktion kontrollieren. 761 Eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Räume differenzieren sich aus, die sich nicht mehr mit einem, allen Gesellschaftsmitgliedern zugänglichen Wahrnehmungsraum zur Deckung bringen lassen. Das läßt sich differenzierungstheoretisch näher begründen, aber auch anhand der räumlichen, z. B. architektonischen Abschottung bestimmter Kommunikationsprozesse aufzeigen. Solcher differenzierungsnotwendigen räumlichen Abschottung dienen Kabinettssäle, Bankhäuser, Theater und Museen, Krankenhäuser, Kindergärten, Gerichtsräume, Feriendörfer, Wohnzimmer, Empfangszimmer, Kinderzimmer, Arbeitszimmer, Privaträume762 etc. Die räumliche Abschottung spezifischer Kommunikationen geht dabei aber häufig einher mit der Eröffnung neuer Kommunikationskanäle. Neue Medien, wie Brief und Telefon, erlauben es, die durch Wände und Lücken763 getrennten Räume in einer ganz spezifischen Weise wieder zu verbinden. Private Briefe und Telefonate, öffentliche Erklärungen und Rundschreiben, Aushänge und Regierungserlasse, Fachzeitschriften und Banküberweisungen etc. stellen aber nicht den kompakten Raum der Wahrnehmung wieder her, sondern etablieren ein vertraktes Netz, eine Vielzahl von heterogenen Kontexten. Schriftliche, und heute verstärkt auch über andere Medien geleitete Kommunikation ermöglicht eine Entfaltung sozialer Strukturen, die viel weniger kompakt als der Erfahrungsraum der Interaktion sind. In einem kleinen Zimmer kann immer nur eine Person

760 Vgl. Goffman, Erving, On the Characteristics of Total Institutions, in ders., Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and other Inmates, Harmondsworth 1984, S. 13-115. Alle Kommunikation wird hier visuell kontrolliert. Die visuelle Überwachung füllt den Raum kompakt, so daß subversive Kommunikation unterbunden werden kann. Vgl. dazu auch Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969; ders., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1976.

761 Luhmann, Niklas, Soziale Systeme, Frankfurt/M. 1984, S. 455. Bei "Bordmitteln" mag man an eine recht breite Palette von Mechanismen denken: von In-die -Pflichtnahme via herrschaftsfreiem Diskurs, über Achtungsentzug, Bloßstellungen und Lächerlichmachen bis hin zur Drohung mit physischer Gewalt.

762 Vgl. dazu auch Watt, Ian, The Rise of the Novel, Harmondsworth 1983, S. 212ff., und als ein Beispiel: Brodsky, Joseph, In a Room and a Half, in: Less Than One, Harmondsworth 1987, S. 447-501.

763 Geschickt beobachtet lassen sich Hindernisse als Lücken im eigenen Raum identifizieren und umgekehrt. Ob z. B. eine Autobahnzufahrt noch nicht fertiggestellt ist (= Lücke) oder gesperrt ist (= Hindernis), macht häufig keinen Unterschied. "Each Object is a hole in actual-space" so Ron Atkin. Ders., Mathematical Structures in Human Affairs, London 1974, S. 86.

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zur selben Zeit sprechen. Briefe beispielsweise aber interferieren nicht miteinander. Sie eignen sich im wörtlichen Sinne für Subversion: Sie erlauben Kommunikation als Überbrückung oder Unterwanderung eines Zwischenraumes, ohne in diesem Zwischenraum als Kommunikation notwendig bemerkt werden zu müssen. In diesem Raum tauchen sie bestenfalls als Material auf, als Kommunikabilie, aber eben nicht als Kommunikation.764 Im selben geographischen Raum können sich gleichzeitig ganz unterschiedliche Kommunikationssysteme überlappen und Kommunikabilien bewegen, ohne direkt miteinander zu interferieren. Wenn ein Geldtransporter oder ein Liebesbrief ein Dorf passieren, kann das für das soziale Leben in diesem Dorf ohne jede Folge bleiben. So wie die Einnahme einer Droge nur dann Wirkungen zeigt und vom Körper oder Bewußtsein registriert wird, wenn der fragliche Stoff nicht zuvor schon z. B. zwecks Schmuggel in bestimmter Weise chemisch gebunden oder auf mechanische Weise magensaftfest isoliert ist, so wird auch hier die Kommunikabilie nicht interpretiert. Die auf den ersten Blick eindeutige Unterscheidung von Innen und Außen verliert in diesen Beispielen ihren Sinn. Im ersten Fall muß "auf der Dorfstraße" nicht identisch sein mit "im Dorf," und auch im zweiten Fall muß "im Magen" nicht dasselbe bedeuten wie "im Körper". Die Inklusionslogik oder Transitivität des logischen Enthaltenseins scheint hier unterwandert. Soziale und biologische Gebilde gehorchen nicht ohne weiteres der an den Gegenständen des Alltags, der an Dingen erprobten und bewährten Unterscheidung von Innen und Außen. Sie sind für manches passierbar; sie sind nicht kompakt, sondern löchrig. Aber wenn man die Beispiele geschickt wählt, läßt sich diese Behauptung vermutlich verallgemeinern. Alle Dinge können dann nurmehr als kompakt in bezug auf ein bestimmtes Meßinstrument, in bezug auf einen bestimmten Zweck, oder allgemein: in bezug auf einen bestimmten Beobachter bestimmt werden. Aus der Physik erfährt man sogar, daß selbst die Erde von sogenannten Neutrinos mühe- und bislang spurlos durchflogen wird. Wenn man mit Leibniz den Raum als über die Beziehungen zwischen Objekten konstituiert denkt, verliert er seine Kompaktheit. "Space is full of holes" - so spitzt Ron H. Atkin die radikale Konsequenz dieser Betrachtungsweise zu. 765 Eine Reihe von Nachteilen, die häufig dem logischen, auf Zweiwertigkeit fixierten Denken selbst zugeschrieben werden, lassen sich vielleicht vermeiden, wenn man erstens - und das ist eine schon bei Aristoteles angezeigte Einschränkung - den Zeitpunkt der

764 Kommunikabilien enthalten keine Information "an sich". Hier wäre deshalb eine Kritik an der Übertragungsmetapher der Kommunikation am Platz. Wir wollen uns mit einem Literaturhinweis begnügen: Reddy, Michael, The Conduit Metaphor, in: Ortony, Andrew, Metaphor and Thought, Cambridge 1979, S. 284-324.

765 Atkin, Ron, Mathematical Structure in Human Affairs, London 1976, S. 82ff.

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referierten Ereignisse mit in Rechnung stellt und wenn man zweitens - und das ist neu - einen anderen Raumbegriff zugrunde legt. Denn was vielleicht auch anders möglich ist, was vielleicht eintritt oder auch nicht, verknüpft nicht nur ein Jetzt mit einem zukünftigen Zeitpunkt oder Zeitabschnitt, einem zukünftigen Dann, sondern bezieht sich immer auch auf ein Hier und ein spezifisches, räumlich mehr oder weniger ausgedehntes zukünftiges Dort. Die hier vorgeschlagene Strategie zur Vermeidung logischer Widersprüche empfiehlt sich vermutlich nicht für alle sozialen Paradoxien, aber vielleicht zahlt es sich dennoch aus, wenn man einmal versucht, an der Konzeption "des" Raumes etwas zu ändern, statt an "der" Logik.

2. `Operation bootstrap' Wir möchten nun am Beispiel des Mediums Geld wenigstens im Ansatz zeigen, warum erstens einem Beobachter die Funktionsweise dieses Mediums als "Geld heckendes Geld" dann als paradox erscheinen muß, wenn er sie, orientiert am Behälterparadigma des Raumes, zu lokalisieren versucht und warum zweitens das Medium aufhört, Medium zu sein, wenn sein Operationsbereich auf den Wahrnehmungsraum der Interaktion schrumpft. Es handelt sich um zwei Perspektiven auf dasselbe Geschehen, was das eine Mal als Paradoxon fixiert wird, erscheint das andere Mal als Kollaps. Talcott Parsons hat seine Medientheorie in Opposition zum Nullsummen-Modell des sozialen Geschehens entwickelt.766 Dieses Modell geht - grob gesagt - davon aus, daß bestimmte "Dinge" wie Macht, Einfluß oder Reichtum sich nur anders verteilen lassen, es aber unmöglich ist, daß alle gleichzeitig reicher, einflußreicher oder mächtiger würden. Die Nullsummen-Annahme entspricht in gewisser Weise dem Konzept der Objektkonstanz, das für die Beobachtung von Dingen konstitutiv ist. Sie entspricht dem Umgang mit den meisten Dingen des Alltags. Parsons ersetzt diese Annahme durch eine systemkonstitutive "operation bootstrap"767. Systembildung bedeutet Erwartungsformierung. Und da sich Erwartungen auf

766 Vgl. z. B. Parsons, Talcott, On the Concept of Influence, in: ders., Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, S. 355-382, S. 378ff.

767 Parsons, Talcott, Some Reflections on the Place of Force in Social Process, a.a.O., S. 275. Lediglich die paradoxe Überspitzung dieser Operation, wie sie heute üblich geworden ist, war nicht seine Sache. Dies lag vermutlich nicht zuletzt daran, daß Parsons gar nicht - wie immer wieder unterstellt - statisch dachte, sondern immer schon den zeitlichen Verlauf allen sozialen Geschehens explizit in Rechnung zu stellen versucht, während Paradoxien nur auftauchen, wenn man gerade davon abstrahiert und etwas als augenblicklich paradox darstellt, was im Nacheinander durchaus niemanden verwunden würde.

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mögliche zukünftige Ereignisse richten, und sich dabei an anderen Erwartungen orientieren, ist Vertrauen eine entscheidende Komponente aller Systembildung. Systembildung besteht in einer modalen Verschränkung von Erwartungen, in die man vertrauen kann. Vertrauen und Erwartungen können natürlich enttäuscht werden, aber es scheint wenig Sinn zu machen, diese Phänomene unter einem Wahrheits- oder Richtigkeitskriterium zu betrachten, da sich darüber hier und jetzt gar nicht entscheiden läßt. Vertrauen ermöglicht eine Systemevolution, die aufgrund von Kontrolle undenkbar wäre. Versprechen lassen sich durch Versprechen sichern und Ansprüche können auf Ansprüche bauen. Auf diese Weise entwickelt sich ein fiktiver Komplex, dessen Evolution mehr und mehr Köpfe erfaßt und sich eben deshalb mehr und mehr der individuellen Wahrnehmung und der situativen Kontrolle entzieht. Die Welt der Fiktionen beginnt einer anderen Logik zu gehorchen als die Dinge des Alltags. Wenn Systembildung einem bootstrap-Prinzip folgt, dann scheint es ratsam, noch einmal genauer zu spezifizieren, auf welches Bezugsproblem die Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien reagiert. Im Fall von Kommunikationsprozessen, die von solchen Medien getragen werden, bezieht sich die Vertrauensfrage nicht mehr auf das elementare Bedürfnis der Erwartungsstabilisierung. Das medial katalysierte Vertrauen dient, wenn es denn zustande kommt, nicht einfach der status-quo-Garantie und der Überbrückung von Zeit, es richtet sich nicht auf das Durchhalten einer bestimmten Situationsdefinition. Fast das Gegenteil, könnte man sagen, trifft zu: Gerade weil beispielsweise die einzelnen Wirtschaftsteilnehmer in unterschiedlichen, nicht miteinander deckungsgleichen Situationen leben, braucht es ein Medium, das den Erfolg bestimmter Anliegen auch noch über die Grenzen der jeweils eigenen konkreten Situation hinweg wahrscheinlich macht, ein Medium, das diese Situationen miteinander zu koppeln erlaubt. Diese Kopplung wird zu einem Desiderat nicht nur obwohl, sondern auch weil es sich um verschiedene Situationen handelt. Wären alle Wirtschaftsteilnehmer in derselben Situation, stünden ihnen die gleichen Informationen zu Verfügung und hätten sie alle die gleichen Kontaktmöglichkeiten, dann bestünde überhaupt kein Grund dazu, daß jemand Vertrauen gewähren müßte und einen Kredit vergibt, er könnte die mit dem Kredit geplante Investition gleich selbst tätigen. Wären die Informationen wirklich gleich verteilt, würde sich keine Investition lohnen, denn alle würden dann in gleicher Weise und in die gleichen Projekte investieren und damit würde der Profit nach blitzschnellem Preiskampf sogleich auf Null zurückgehen. 768 Die Heterogenität der Situationen, und damit jeweils bestimmte Informationsvorteile, sind die Bedingung dafür, daß sich Wirtschaften lohnen kann. Wenn die Definition der Situation von allen geteilt wird und sich die individuellen

768 Vgl. Burt, Ronald S., Structural Holes. The Social Structure of Competition, Cambridge, Mass. 1992.

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Handlungsmöglichkeiten in nichts unterscheiden, kommt es gar nicht erst zur Evolution symbolisch generalisierter Medien. Warum braucht ein Unternehmer einen Kredit? Um jetzt, d. h. in seiner aktuellen Situation, eine Investition zu machen, die sich später vielleicht auszahlt. Er braucht den Kredit, um diese Zeitspanne zu überbrücken. Warum vergibt eine Bank einen Kredit? Sie vergibt einen Kredit, um später Zinsen einzustreichen, um einen Mehrwert zu erhaschen, dessen Quelle ihr nur indirekt erschließbar ist. Da der Kreditnehmer in einer anderen Situation steckt als der Kreditgeber, sind ihm Optionen möglich, die für den Kreditgeber direkt nicht sichtbar oder wenigstens nicht realisierbar sind. Kredite werden vergeben, weil nicht alle in der gleichen Situation stecken. Geld ist immer oder doch vorrangig Kreditgeld.769 Geld muß also irgendwie in der Lage sein, unterschiedliche Situationen über Raum und Zeit hinweg zu koppeln. Damit dies gelingen kann, wird der Vertrauensvorschuß schriftlich fixiert. "In fact a bank note is quite literally a letter" heißt es treffend bei Parsons.770 Eine Banknote ist ein Schuldbrief. Wer eine Banknote besitzt, besitzt ein Zertifikat, das verbürgt, daß eine bestimmte Bank bei ihm Schulden hat. Damit haben wir die vielleicht wichtigste Voraussetzung benannt, um das Wirtschaftsleben als Nicht-Nullsummenspiel begreifen zu können. Paul C. Martin hat den schon bei Parsons angedeuteten Gedanken auf den Punkt gebracht: Der Kapitalismus ist ein Kettenbriefsystem. 771 Die Wirtschaft produziert Zahlungen mit Hilfe von Zahlungen, sie ist ein autopoietisches System. 772 Die Schuldscheine wechseln die Besitzer, sie werden teilweise eingelöst, während gleichzeitig neue in den Verkehr gehen. Wirtschaften heißt, um noch einmal Paul C. Martin zu zitieren, "daß die Schuldner Folgeschuldner finden". 773 Wenn dies nicht mehr gelingt, kommt es zum Kollaps. Erst das Dazwischentreten von Geld erlaubt es, heute schon in Beschlag zu nehmen, was erst später bezahlt wird. Da alle so verfahren, entstehen immer mehr offene Forderungen,

769 Zu unterschiedlichen Varianten dieser Bestimmung vgl. Schumpeter, Joseph A., Die goldene Bremse an der Kreditmaschine (Die Goldwährung und der Bankkredit), in: ders., Aufsätze zur ökonomischen Theorie, Tübingen 1952, S. 158-184; Eintragung "Das Geld und seine Aufgabe - Geldfunktionen, Geld menge, Geldwert", in: Kloten, Norbert / Johann Heinrich von Stein (Hrsg.), Geld-, Bank- und Börsenwesen. Ein Handbuch, Stuttgart 1989, 32. Aufl. S. 3-44, insbesondere S. 7, S. 18; Hicks, John, A Market Theory of Money, Oxford 1989, S. 47ff, S. 102ff; Martin, Paul C., Der Kapitalismus. Ein System, das funktioniert, München 1986; Baecker, Dirk, Womit handeln Banken? Eine Untersuchung zur Risikoverarbeitung in der Wirtschaft, Frankfurt/M. 1991.

770 Parsons, Talcott, Structure and Process in Modern Societies, Glencoe 1960, S. 273.

771 Martin, Paul C., Der Kapitalismus. Ein System, das funktioniert, München 1986, S. 42ff.

772 Luhmann, Niklas, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988.

773 Martin, Paul C., Der Kapitalismus, a.a.O., S. 355.

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also immer mehr Geld.774 Die Aktiv- und die Passivseite der wirtschaftlichen Gesamtbilanz driften auseinander. Investitionen müssen nicht mehr mit Konsumverzicht bezahlt werden. Die Banken betreiben ein ambivalentes Geschäft: Sie fordern sowohl zum Sparen wie auch zum Schuldenmachen auf.775 Sie leben von der Intransparenz des Wirtschaftssystems. Aber die beiden Posten müssen sich nicht auf Null verrechnen lassen. Banken schöpfen Geld, indem sie zusätzliche, ungedeckte Schuldscheine in Umlauf bringen. Sie ermöglichen eine "Kaufkraftschöpfung ad hoc". 776 Geld läßt sich deshalb nicht sinnvoll als eine Ware unter anderen begreifen. 777 Warentausch ist immer nur "Kompensationstausch" und unterliegt deshalb der Summenkonstanz. Nur das "wertlose Geld" selbst, ein Medium ohne "intrinsischen Nutzen", 778 ein an sich "wertloser" Schuldschein, macht es möglich, ein Spiel zu eröffnen, das kein Nullsummenspiel mehr ist. Das hat nichts mit Zauberei zu tun, sondern erklärt sich über das Dazwischentreten von Zeit, während der die Vertragspartner verschiedene Wege gehen. Solange man Geld als Ware oder Wert oder als Zertifikat für einen Wert, d. h. als dessen Repräsentation betrachtet, muß einem das moderne Bankgeschäft, das sich von der "goldenen Bankregel" in der Praxis längst verabschiedet hat, als Betrug erscheinen. Der Begriff der Geldmenge ist deshalb durchaus irreführend: "Geld gehört nicht in die Welt der Sachen. Geld ist immer eine Forderung."779 Es bestimmt sich immer relational und verzeitlicht; Geld ist keine fixe Menge, hat keinen intrinsischen Wert, ist keine Substanz.780 Geld, wie alle symbolischen Medien, dient, wenn man es nur abstrakt genug zu definieren versucht, vor allem einer flexibleren Erwartungsstrukturierung. Auf dieser Ebene herrscht aber eine andere Logik als die der Summenkonstanz.

774 Vgl. Martin, Paul C., Aufwärts ohne Ende, München 1988, S. 57ff. (Kapitel: Schuld und Unschuld).

775 Weick, Karl, The Social Psychology of Organizing, 2. Auflage, New York 1979, S. 222, und im Anschluß daran Baecker, Dirk, "Für eine Soziologie der Banken", Sociologia Internationalis, 30. Bd. Heft 1 (1992), S. 101-116, S. 104f.

776 Schumpeter, Joseph A., Die goldene Bremse an der Kreditmaschine (Die Goldwährung und der Bankkredit), in: ders., Aufsätze zur ökonomischen Theorie, Tübingen 1952, S. 158-184, S. 143.

777 So begreift es beispielsweise Friederich Hayek. Ders., Denationalisation of Money, London 1976.

778 Parsons, Talcott, Theorie der Interaktionsmedien, Opladen 1984, S. 69, S. 140.

779 Martin, Paul C., Der Kapitalismus, a.a.O., S. 63.

780 Was wir hier, insbeondere im Anschluß an Talcott Parsons und den vielleicht ein wenig zu salopp formulierenden Paul C. Martin in bezug auf Geld referieren, findet eine deutliche konzeptuelle Entsprechung in der gegenwärtigen philosophisch pointierten Literaturtheorie (insbesondere bei Jacques Derrida). Aber auch hier scheint Geld das heimliche, an der Metaphorik aber gelegentlich sichtbar werdende Paradigma. Schon de Saussure hatte das Konzept der differentiellen Bestimmung des Wertes eines Zeichens schließlich der ökonomischen Gleichgewichtstheorie entnommen.

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Um die räumlich kaum zu begreifende Logik der Geldschöpfung deutlich zu machen, möchten wir ein Gedankenexperiment Joseph Schumpeters zitieren, das sich explizit auf deren paradoxe Eigentümlichkeit oder besser Unmöglichkeit bezieht, die sich dann aufdrängt, wenn man unterstellt, daß es sich hierbei um ein Problem der Verteilung von Dingen in Räumen handelt.781 Schumpeter wählt, um die paradoxe Logik einer solchen Betrachtung zu verdeutlichen, folgenden Vergleich: "Suppose it occurs to the check-room attendant of a restaurant to rent out the coats deposited with him while their owners are having their meal. This may upon occasion, cause a difficult situation for the attendant, but there is no logical difficulty about it. But suppose he is a wizard, and performs the feat of making it possible for two people - the owner and the hirer - to wear the same coat at the same time. Surely this would stand in need of explanation - and this is exactly what happens in the case of banking."782 Die von Schumpeter als Antwort auf dieses Paradox vorgeschlagene Erklärung verweist auf die spezifische Eigentümlichkeit der von Banken verliehenen Dinge. "There is no other case in which a claim to a thing can, within limits to be sure, serve the same purpose as the thing itself: you cannot ride on a claim to a horse, but you can pay with a claim to money."783 Und dementsprechend schreibt auch Parsons: "This means that the same dollars are functioning double as circulating media, so that the bank loans outstanding constitute a net addition to the quantity of the circulating medium."784 Diese Verdoppelung oder Vervielfachung ist die nur von Vertrauen gedeckte "operation bootstrap". Die Gleichzeitigkeit und räumliche Separierung verschiedener zum selben System gehörender Kommunikationsprozesse ist konstitutiv für die Ausdifferenzierung des Bankensystems. Sie garantiert Intransparenz und ermöglicht das profitable Anzapfen von Informationsasymmetrien. Nur wenn der Zeithorizont auf einen Augenblick schrumpft und sich alles Geschehen an einem Raumpunkt, also in einer einzigen Situation zusammenzuschnüren droht, wird diese Konstitutionsbedingung zur Paradoxie. Spätestens im

781 Diese Annahme scheint auch von Niklas Luhmann geteilt zu werden, wenn er schreibt, daß Banken "dafür ausdifferenziert sind, nur geliehenes Geld ausleihen zu können" (ders., Die Wirtschaft der Gesellschaft, a.a.O., S. 144). Treffender scheint uns die nach John Law insbesondere von Schumpeter vertretene und auch von Parsons geteilte These, daß Banken eine produktive Kreditinflationierung (Geldschöpfung) betreiben in der Erwartung, daß sich die so finanzierten Projekte behaupten und sich mit deren Erfolg schließlich eine Autodeflation einstellt. Seit der Einrichtung des modernen Bankensystems handelt es sich dabei aber um einen Prozeß ohne absehbares Ende, und die Asymmetrie von Einlagen und Auslagen wächst. In einer Stabilisierung dieser Asymmetrie könnte man vielleicht die Funktion der Banken sehen, aber auch das scheint vermutlich noch zu optimistisch.

782 Schumpeter, Joseph A., History of Economic Analysis, London 1982, S. 320 (Fußnote 3).

783 Ders., History of Economic Analysis, a.a.O., S. 320f.

784 Parsons, Talcott, On the Concept of Influence, in: ders., Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, S. 355-382, S. 379.

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Run wird die Paradoxie sichtbar und führt zum Kollaps des Systems. Der dem Run folgende Bankrott verdankt sich ebenso wie die vormalige Prosperität des Unternehmens einer "self-fullfilling prophecy", wie Robert Merton gezeigt hat.785 Zu einem Run kommt es, wenn das Vertrauen sich auflöst. Im Run werden alle Zahlungsversprechen gleichzeitig geltend gemacht. Die Frage, ob der Run sich einer korrekten Information über die Lage der Bank verdankt oder nicht, ist für den einzelnen Gläubiger irrelevant, solange er davon ausgehen muß, daß andere es glauben. Entscheidend ist hier, daß das Verhalten der anderen Kunden sich nicht kontrollieren läßt, so daß der einzelne aufgrund bloßer Verdachtsmomente handeln muß. Ein "transfer of control", wie es bei James Coleman heißt, der bei anderen Formen kollektiven Verhaltens eine Panik vermeiden helfen kann, ist gerade während der Anfangsphase eines potentiellen Bankzusammenbruchs, also während einer Zeitspanne, in der sich das Blatt vielleicht noch wenden ließe, so gut wie unmöglich, da die Anleger räumlich separiert voneinander und unsichtbar füreinander ihre Entscheidungen treffen. 786 Drängen sich die Anleger aber erst einmal vor der Schalterhalle, ist es bereits zu spät, denn der Zusammenbruch hat mittlerweile seinen Lauf genommen. Die Schwierigkeiten wechselseitiger Kontrolle und eine pay-off-Matrix, die es in Anbetracht der hohen Kontrollkosten für jeden einzelnen attraktiver machen, seine Einlagen zurückzufordern, solange dies noch geht, machen das Bankgeschäft für fast beliebig geringe Verdachtsmomente sensibel. Ein Run bedeutet für die Bank, daß "the time left open to alter (und das ist hier die Bank, K.J.) to make a decision" und "ego's `tolerance' of his position and hence willingness to hear his case ... be `foreshortened'". 787 Der Bank fehlt auf einmal die Zeit, andere zu beleihen und zu Einlagen zu ermuntern, um es damit von neuem zu versuchen, der Vertrauensvorschuß ist aufgebraucht. Sie isoliert sich, wird zunehmend illiquide, dann insolvent und geht schließlich bankrott. Es braucht kein besonderes Einfühlungsvermögen, um sich in etwa auszumalen, wie sich jemand fühlen mag, der wenige Tage vor einem Bankzusammenbruch, oder vielleicht sogar nur wenige Minuten oder Sekunden vor der Schließung des Schalters sein Vermögen in dieser Bank angelegt hat. Man zahlt sein Geld ein, der Kassierer sagt "Danke" und schließt den Schalter mit dem Hinweis, der Bank sei soeben von der Staatsanwaltschaft alle Tätigkeit untersagt worden und ein Konkursverfahren würde eingeleitet. Einer wird immer zum "lender

785 Merton, Robert K., The Self-Fullfilling Prophecy, in: ders., a.a.O., New York 1968, S. 475-490. Zur vertrackten Logik selbstreferentieller, modal verschachtelter Erwartungsstrukturen vgl. insbesondere Smullyan, Raymond, Forever Undecided. A Puzzle Guide to Gödel, Oxford 1988.

786 Vgl. Coleman, James, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass. 1990, S. 215ff.

787 Parsons, Talcott, Some Reflections on the Place of Force in Social Process, a.a.O., S. 270.

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of last resort" und wird sich zweifellos enttäuscht, wenn nicht gar hintergangen fühlen. Es handelt sich hier aber nicht um einen performativen Widerspruch seitens der Bank oder gar des Schalterangestellten. Was hier als widersprüchlich erscheint, verdankt sich der durch einen Kurzschluß unterbrochenen und bis dahin profitablen Kopplung verschiedener, räumlich separierter Situationen. Was hier als Schuld zurechenbar und wer hier schuldig ist, scheint gar nicht ohne weiteres klar. Die relevanten Spuren verlaufen sich in einem Geflecht von Kommunikationen und Erwartungen. Ein isolierter Täter ist nicht greifbar, aber je nachdem wie gründlich man der Sache nachgeht, beliebig viele Mittäter. Die Operationen des Systems sind über eine große Zahl von Akteuren und Beobachtern in unterschiedlichen Situationen distribuiert und im Nachhinein werden immer eine ganze Reihe von Möglichkeiten identifizierbar, die, wenn sie ergriffen worden wären, zu einer ganz anderen Entwicklung geführt hätten. Mit einem Stützungskredit oder der Einhaltung von Zahlungsversprechen seitens Dritter und Vierter, einer weniger abrupten Entwicklung der Wechselkurse oder einem diskreteren Eingreifen der Bankenaufsicht etc. hätte vielleicht alles ganz anders kommen können. Die hier angedeutete Struktur des Systems ist jedoch kein pathologischer Zustand, sondern eine allgemeine Funktionsbedingung seines Operierens. Nicht nur die Täter lassen sich nicht eindeutig verorten, die von Parsons sogenannte "operation bootstrap" verdankt sich selbst einer von außen nicht kontrollierbaren Verteilung des Geschehens über mehrere "Prozessoren" und den dadurch bedingten jeweils perspektivischen Intransparenzen und positionsgebundenen Informationsasymmetrien im System. Die `operation bootstrap', mit der wir hier den Prozeß der Geldschöpfung identifiziert haben, verdankt sich der Entkopplung des sozialen Geschehens vom jeweils individuellen Wahrnehmungsraum und der Unmöglichkeit, dieses Geschehen in logisch eindeutiger Weise räumlich zu fixieren und dingfest machen zu können.

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Schlußbemerkung "Umwege erhöhen die Ortskenntnis."788

Den Ausgangspunkt unserer Untersuchung bildete eine Beobachtung Emerich Francis' aus den 50er Jahren. Francis hatte darauf aufmerksam gemacht, daß sich die Grenzen der modernen Gesellschaft nicht mehr ohne weiteres auf einer zweidimensionalen Karte abstecken lassen, wie dies die Idee des Nationalstaats uns lange hat glauben lassen. Wer die moderne Gesellschaft in dieser Weise zu orten versucht, begeht - so Francis - einen "planimetrischen Irrtum". Wir haben versucht, die Gründe dieses Irrtums freizulegen und nach theoretischen Alternativen gesucht, die helfen könnten, das Verhältnis von sozialer Ordnung und räumlich-geographischer Ortung in angemessenerer Weise zu begreifen. Das größere Hindernis auf diesem Weg war dann jedoch nicht die fatale Faszination durch Landkarten, sondern eine viel allgemeinere, fast unsichtbare Vorannahme oder Zwangsvorstellung. Wir haben sie das Behälterparadigma des Raumes genannt. Dieses Paradigma ist bereits mehrfach, insbesondere von Seiten der Phänomenologie, identifiziert und kritisiert worden. Es ist jedoch nicht einfach falsch oder unbrauchbar. Es beherrscht unsere Vorstellungswelt, weil es in durchaus stimmiger Weise ein breites Spektrum von Erfahrungen integrieren hilft. Nicht nur unser Wahrnehmungsraum gehorcht grob - spätestens nach einigen Jahren Schulgeometrie - diesem Paradigma. Auch die Interaktion unter Anwesenden scheint sich ihm zu fügen. Schließlich läßt sich sogar der moderne Territorialstaat als ein fiktiver Behälter - ganz im Sinne dieses Paradigmas - vorstellen. Aber das Behälterparadigma gilt nicht absolut. Jede Beobachtung findet in einem bestimmten Medium statt. Unterschiedliche Medien erschließen unterschiedliche Räume. Wir haben deshalb versucht, unter Zuhilfenahme wahrnehmungstheoretischer und systemtheoretischer Medienkonzepte, eine Alternative zum Behälterparadigma zu formulieren. Das Behälterparadigma verliert an Plausibilität, sobald ein Beobachter seine Umgebung nicht mehr mit Hilfe der Augen, sondern beispielsweise durch blindes Tasten in Erfahrung zu bringen versucht. Die Kommunikation wirkt nicht mehr raumfüllend, sobald man statt mündlich und von Angesicht zu Angesicht, schriftlich miteinander verkehrt. Soziale Systeme haben nur dann den Charakter eines fiktiven Körpers, wenn sie sich vorrangig durch Verbote behaupten müssen. Jede Beobachtung ist auf ein Medium angewiesen. Das Medium erst schafft einen

788 Der Satz stammt vielleicht von Johannes Gross.

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jeweils beobachterspezifischen Raum. Die moderne Gesellschaft operiert aber in einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Medien. Die diversen Wahrnehmungs- und Kommunikationsmedien bilden ein deutlich fragmentiertes, sich vielfach überschneidendes, aber auf ganz heterogene Datentypen geeichtes, inhomogenes Geflecht. Im krassen Unterschied zum Raum der unmittelbaren Wahrnehmung ist dieses Geflecht aber nicht kompakt, sondern in einem hohen Maße löchrig. Nur dadurch ist es möglich, daß moderne Kommunikation sich nicht mehr allein auf Kontakte mit den mehr oder weniger nahen Nachbarn beschränken muß. Geographische Grenzen lassen sich relativ problemlos hintergehen und unterwandern. Die Unterscheidung von Nah und Fern hat deshalb für eine ganze Reihe kommunikativer Beziehungen heute deutlich an Relevanz verloren. Die moderne Gesellschaft als Ganze entzieht sich nicht nur der unmittelbaren Wahrnehmung, sie läßt sich schlicht nicht mehr mit unseren im Nahbereich bewährten Kategorien begreifen. Eben aus diesem Grund erweist sich die durch das Kartenbild ermöglichte Vogelperspektive als manchmal so irreführend. Jenseits des jeweils individuellen Wahrnehmungsraums gehorcht das soziale Geschehen einer anderen Topologie. Der "Informationsfluß" und die diversen Kommunikationsmöglichkeiten verengen sich jenseits des durch Wände zugestellten Sichtbarkeitshorizontes und jenseits des durch unser biologisches Sensorium noch unmittelbar erschlossenen Lebensbereichs. Die Naherfahrungen und das diese Erfahrungen integrierende Raumparadigma lassen sich nicht ohne weiteres über ihren spezifischen Erfahrungsraum hinaus generalisieren. Sie liefern kein angemessenes Bild der globalen Situation, denn die diversen künstlichen Kommunikations- und Wahrnehmungsmedien operieren nicht flächendeckend, sondern hoch selektiv. Gerade diese Selektivität wird aber durch Konzepte wie `space-time-distanciation' oder `globalization' so gut wie gar nicht erfaßt, denn es geht hier eben nicht nur um ein Größer oder Kleiner und ein Schneller oder Langsamer, sondern auch um einen Wandel der Topologie kommunikativer Beziehungen. Die Frage, wer heute für wen kommunikativ erreichbar ist, zielt auf die Topologie sozialer Systeme. Damit kommen wir zu einem wichtigen Problem der Gesellschaftstheorie: Nur wenn es gelingt, die Selektivität und Topologie kommunikativer Beziehungen genauer zu begreifen, läßt sich das unglückliche splitting soziologischer Theorieproduktion in einen Mikro- und einen Makrobereich und deren methodisches Pendant von qualitativen und quantitativen Verfahren in eine produktive Arbeitsteilung verwandeln. Die medientheoretischen Überlegungen verlangen deshalb nach einer Ergänzung durch Netzwerkkonzepte, um den Mesobereich sichtbar zu machen, über den die Mikro- und die Makroebene miteinander gekoppelt sind.

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