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Karl-Heinz Paqué Zurück zum Fortschritt! Gedanken über liberale Ordnungspolitik im 21. Jahrhundert

Zurück zum Fortschritt! Gedanken über liberale Ordnungspolitik im 21. Jahrhundert

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Karl-Heinz Paqué plädiert für eine Politik, die auf Fortschritt und Innovation setzt. Er fordert, die Chancen konsequent zu nutzen, die menschliche Kreativität für das Wohl aller eröffnet.„Niemand kennt die Zukunft. Aber aus liberaler Sicht spricht nichts dafür, dass es plötzlich in der Weltgeschichte ein Stoppsignal der Entwicklung geben sollte. Stattdessen deutet alles auf eine neue Herausforderung, die – wie schon in der Vergangenheit – durch die Originalität der Menschen, die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft und eine pragmatisch angepasste Ordnungspolitik des Staates zu bewältigen ist.“

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Karl-Heinz Paqué

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Der Text dieser Broschüre erschien zuerst in dem von Peter Altmiks und Jürgen Morlok herausgegebenen Sammelband: Noch eine Chance für die Soziale Marktwirtschaft?Rückbesinnung auf Ordnungspolitik und Haftung; Olzog Verlag, München 2012.Die Wiederveröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Impressum:

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1. Auflage 2013

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Zurück Zum Fortschritt!Gedanken über liberale ordnungspolitik im 21. Jahrhundert

Karl-Heinz Paqué

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Inhalt

1. Die Frustration der Freiheit 5

2. Der Fortschritt als Leitmotiv 9

Über den Autor 18

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1. Die Frustration der Freiheit

Seit Mitte der 1980er Jahre hat es einen geradezu überwältigenden Siegeszug von Freiheit und Marktwirtschaft in der Welt gegeben. In Mittel- und Osteuropa – einschließlich dem Osten Deutschlands – brach der in jeder Hinsicht freiheits-feindliche Kommunismus zusammen; in Südamerika wurden Militärdiktaturen durch Demokratien ersetzt und hohe Zollmauern abgebaut; in Ostasien gab es einen Aufstieg der Wirtschaftsfreiheit, auch wenn in China demokratische Reformen auf sich warten lassen; und in allerjüngster Zeit lösen sich selbst der Nahe Osten und Afrika, lange Zeit die Horte des Despotismus, Schritt für Schritt aus dem Zangengriff eines totalitären Islamismus bzw. der autoritären Willkürherrschaft von selbsternannten Diktatoren.

Es ist merkwürdig, dass diese globalen Erfolge von Freiheit und Marktwirt-schaft hierzulande keineswegs zu einer breiten Belebung eines freiheitsbe-wussten Lebensgefühls und einer entsprechenden politischen Programmatik geführt haben. Im Gegenteil: Je mehr Freiheit herrscht, umso weniger wird sie gewürdigt. Das scheint fast so etwas wie ein gesellschaftliches Gesetz zu sein, zumindest in Deutschland, aber auch in vielen anderen Industrienationen, die über gefestigte demokratische Traditionen und marktwirtschaftliche Ordnungs-bedingungen verfügen. Der anthropologische Grund dafür ist wohl denkbar einfach: Die Menschen haben ein kurzes Gedächtnis; sie werden völlig in An-spruch genommen von der Bewältigung der alltäglichen Herausforderungen, vor denen sie stehen; sie beschränken das Nachsinnen über die dunkle Zeit der Unfreiheit auf jene wenigen Gedenktage, zu denen in zumeist salbungsvollen Worten die Opfer früherer Zeiten zum Gegenstand einer Art verordneten Er-innerung werden.

Den Alltag beherrschen dagegen die Sorgen und Ängste der Freiheit, und die gibt es natürlich zuhauf. Mehr als das: Eigentlich entstehen viele Sorgen und Ängste erst durch die Freiheit mit ihrer Fülle von unübersichtlichen Optionen – und mit der immer wieder kehrenden Frustration, dass in einer Marktwirt-schaft zwar alles zu haben ist, aber alles auch Geld kostet und erarbeitet wer-den muss. „There is no free lunch“ – das ist keine angenehme Erkenntnis. Und gerade die Freiheit der Wahl macht erst die Begrenztheit der eigenen Macht schmerzlich bewusst; denn es gibt in der Freiheit keine Instanz, der einfach die Schuld dafür zuzuschieben ist, dass nicht alle hochfliegenden Pläne im per-sönlichen Leben Wirklichkeit werden. Joachim Gauck hat dies mit Blick auf die Deutsche Einheit in Freiheit treffend formuliert, als er sagte: „Die Ostdeutschen

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haben vom Paradies geträumt und sind in Nordrhein-Westfalen aufgewacht.“1 Diese Psychologie erklärt die eher bedrückte Stimmungslage, die gerade in den Bevölkerungen jener Länder zu beobachten ist, die sich vor gar nicht langer Zeit ihre Freiheit erkämpft haben. Der Osten Deutschlands ist dafür ein gutes Beispiel, aber die mitteleuropäischen Nachbarn – Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn – durchleben Vergleichbares.

Dabei zeigt sich die Frustration der Freiheit nicht nur im Zuge der großen Systemwechsel der letzten Dekaden. Sie zeigt sich auch bei vielen einzelnen kleineren Schritten der Liberalisierung. Dies gilt selbst dann, wenn diese Schritte im Ergebnis erfolgreich waren und die Lebensbedingungen der Bürger ganz of-fensichtlich verbesserten. Zum Beispiel kann heute in Deutschland eigentlich niemand bezweifeln, dass die Liberalisierung der Märkte für Telekommunikation, wie sie schon in den 1980er Jahren begann, für die Menschen viele positive Früchte brachte. Denn ohne diese politischen Schritte der Marktöffnung wä-ren die enormen neuen Möglichkeiten der Informationsgesellschaft für Konsu-menten und Produzenten ungenutzt geblieben. Der Rückzug des Staates, der seinerzeit politisch vehement bekämpft wurde, erwies sich als eine wichtige und richtige Weichenstellung hin zu einer Komplettierung der Marktwirtschaft in einem Gebiet, in dem zuvor der Staat als Monopolanbieter – und nicht nur, wie heute, als Regulierungs- und Aufsichtsbehörde – tätig war. Es ist bezeich-nend, wie wenig dieser großartige Erfolg heute zur Kenntnis genommen und der liberalen Marktwirtschaft als positive Leistung zugeschrieben wird.

Analoges gilt am Arbeitsmarkt für die Flexibilisierung des Flächentarifvertrags, die sich in einem mühsamen, aber doch erfolgreichen Prozess in den letzten beiden Dekaden in Deutschland vollzog, vor allem auch im Zuge der Deutschen Einheit.2 Diese ebnete – zusammen mit der Hartz-Gesetzgebung und dem Druck der Globalisierung – den langfristigen Weg aus der Massenarbeitslosigkeit. Die erreichte Absorptionskraft des Arbeitsmarkts wird aber keineswegs als Erfolg einer freiheitlich orientierten Wirtschaftspolitik gewürdigt, sondern vielmehr als eine Art bedauerlicher Preis des Wettbewerbs zähneknirschend hingenommen. Lediglich im Ausland staunt man über die gewonnene Flexibilität des deutschen Modells der Sozialen Marktwirtschaft. Mehr als das, man wünscht sich zum Teil Ähnliches für die eigenen Nationen, wo die unveränderte Überregulierung

1 Gauck, Joachim: Zwischen Furcht und Neigung – die Deutschen und die Freiheit, 3. Berliner Rede zur Freiheit, Potsdam: Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, 2009, S. 22.

2 Dazu im Einzelnen Paqué, Karl-Heinz: Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deut-schen Einheit, München 2009, Kapitel 4; derselbe: Wachstum! Die Zukunft des globalen Kapitalismus,München 2010, Abschnitt 4.2.

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des Arbeitsmarktes durchaus dramatische Konsequenzen hat, allen voran eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit.

Gerade die Kombination aus Erfolgen der Liberalisierung und Vergesslichkeit der Menschen, die wir hierzulande beobachten, schafft für die politischen Par-teien in Deutschland ein paradoxes Problem: Mit Freiheit wird es zunehmend schwerer, beim Wähler zu punkten. Es kann deshalb nicht wirklich überraschen, dass die meisten politischen Parteien das Schwergewicht ihrer werbenden Programmatik verschoben haben, und zwar im Trend weg von der Freiheit und hin zum Umgang mit den Ängsten, die das moderne Leben in einer globali-sierten Welt mit sich bringt. Dies wird in der Sprache der Politikwissenschaft in Deutschland als „Linksruck“ der Parteienlandschaft wahrgenommen. Und tatsächlich finden sich in den letzten Jahren zunehmend Wahlversprechen, die Menschen durch den Staat vor der Zugluft der Freiheit zu schützen – ein klassisches „linkes“ politisches Thema.

Dieser „Linksruck“ zeigt sich am deutlichsten auf der konservativen Seite des politischen Spektrums. So erleben CDU und CSU seit einiger Zeit etwas, für das die Beobachter zu Recht den Begriff „Sozialdemokratisierung“ erfunden haben. Ein ähnlicher Trend nach links zeigt sich aber auch bei der SPD selbst, die von eigenen früheren Reformen – Stichwort: Agenda 2010 – zunehmend abrückt. Er zeigt sich daneben bei den Grünen, die gerade eine Renaissance ihres klassischen „linken“ Themas – der Umwelt- und Energiepolitik – erleben, heute ergänzt durch den überaus populären Kampf gegen den vermeintlich anthropogen verursachten Klimawandel. Und er zeigt sich beim sozialistischen Flügel des politischen Spektrums, bei der Partei DIE LINKE, die neuerdings ge-radezu provozierend anti-marktwirtschaftlich auftritt.

Gleichwohl ist es ein wenig irreführend, in diesen Trends ausschließlich einen „Linksruck“ zu diagnostizieren. Denn die Suche nach Schutz vor den globali-sierten Marktkräften hat ein programmatisches Gegenstück im eher„rechten“ Populismus. Auch dieser findet in unterschiedlichen Formen Anklang, vom Rechtsradikalismus einer NPD bis hin zu Wählergemeinschaften und ad hoc gegründeten Parteien, die sich mit einer Mischung von durchdachten Argu-menten und fragwürdigen Stammtischparolen vom politischen Establishment distanzieren. Hinzu kommen ganz neue Parteien wie DIE PIRATEN, bei denen es sogar schwerfällt, sie überhaupt in irgendeiner Form im Rahmen der üblichen politischen Geographie einzuordnen. Sie sind anscheinend betont freiheitlich orientiert – im Sinne eines fast anarchischem Rufs nach völlig sorgloser Nut-zung aller Möglichkeiten der modernen Kommunikationstechnologien; sie ver-

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langen aber gleichzeitig eine weitreichende Grundversorgung der Menschen durch den Staat.

Klar ist bei alledem: Eine klassisch liberale Partei, die wie die FDP von ihrer politischen Grundidee her die Freiheit selbst ins Zentrum ihrer Programmatik rückt, kommt unter diesen Bedingungen in schwieriges Fahrwasser. Historisch ist eine solche Situation für eine liberale Partei allerdings keineswegs so neu, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Tatsächlich bietet die Zeit des Kaiserreiches 1871 bis 1914 eigentlich bestes Anschauungsmaterial für die säkular abnehmende Attraktivität der Freiheit als politisches Leitbild für die Wähler: Nachdem mit der Vereinigung Deutschlands 1871 alles bereitstand, um den liberalen Wirtschaftsraum des Deutschen Reiches in eine zunehmend globalisierte Welt hineinzuführen – mit Freihandel, freiem Kapitalverkehr und einer leistungsfähigen Industrie, begann spätestens mit Bismarcks Hinwen-dung zum (moderaten) Protektionismus ab 1878 ein schleichender Prozess der Abwendung von freiheitlichem Denken. Dadurch geriet der Liberalismus auf breiter Front in die Defensive und verlor im Trend der Ergebnisse der Reichs-tagswahlen kontinuierlich an Gewicht. Und dies gerade zu einer Zeit, als die Früchte der liberalen Weichenstellungen ab Mitte der 1890er Jahre in Form eines Wachstumsschubs auch den breiten Massen zugute kamen. Als dann in der krisengeschüttelten Weimarer Republik auch die wirtschaftliche Situation sehr viel schwieriger wurde, setzte sich der Niedergang des politischen Libe-ralismus beschleunigt fort. Erst als nach dem Zweiten Weltkrieg das Scheitern der totalitären Experimente deutlich zu Tage trat, wurde die Idee der Freiheit wieder für breitere Wählerschichten attraktiv, wovon die FDP als Regierungs-partei und besonders verlässliche Stütze von Ludwig Erhards Konzept der Sozialen Marktwirtschaft profitierte.

Gerade diese historische Erfahrung macht deutlich: Eine Marktwirtschaft, wie fest etabliert sie auch erscheinen mag, sorgt nicht für einen politischen Prozess der liberalen Selbststabilisierung. Man ist versucht zu sagen: ganz im Gegen-teil. Sind wesentliche Eckpunkte der liberalen Ordnung einmal (scheinbar) fest etabliert – der Freihandel (u. a.) in den frühen 1870er Jahren, die Deregulierung (u. a.) in den letzten Dekaden – nehmen die Menschen die Früchte dieser Politik als selbstverständlich hin, verweisen stattdessen auf die Anpassungslast, die mit der Freiheit verbunden ist, und vergessen überhaupt die Grundlagen, auf denen die positive gesellschaftliche Entwicklung beruht. Es stellt sich dann die große politische Herausforderung, wie die Menschen für die Grundlagen wieder zu sensibilisieren sind. Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik misslang dies gründlich, und die Ideen des Liberalismus von 1848 verschwanden schließ-lich von der politischen Tagesordnung, um erst nach bitterster Erfahrung unter

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dem Nationalsozialismus mit der Sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegszeit einen Wiederaufstieg zu erleben. Nun wiederholt sich Geschichte natürlich nicht, aber man kann aus ihr lernen. Vor allem kann man aus dem früheren Scheitern lernen, was heute geboten ist.

Tatsächlich ist der Grund für das Scheitern des deutschen Liberalismus ab dem späten 19. Jahrhundert unter Historikern relativ unstrittig.3 Der Hauptgrund lag in dem Verblassen jenes großen politischen Ziels, der nationalen Einheit, das als überzeugende und attraktive Ergänzung des eigentlichen bürgerlich-liberalen Programms für die nötige Motivation und Emotionalisierung der Men-schen (und Wähler!) sorgte. Der Grund für das Verblassen war einfach genug: Das Ziel der nationalen Einheit war erreicht, und für etwas, das erreicht ist, lassen sich die Menschen auf Dauer nicht bewegen. An seine Stelle trat aber damals kein weiteres Ziel, das die Menschen hätte bewegen können. Es blieb allein die bürgerliche Freiheit, und das wurde zu wenig, sobald in den Augen der Menschen (und nicht im Auge überzeugter liberaler Intellektueller!) andere Sorgen und Ängste in den Vordergrund traten, ob nun begründet oder nicht. Ähnlich könnte die Situation heute sein: Gelingt es dem Liberalismus nicht, neben der Freiheit ein großes gesellschaftliches Ziel zu definieren, das den Ruf nach Freiheit ergänzt – oder besser noch: überhöht –, wird der Liberalismus in einer Krise bleiben.

2. Der Fortschritt als Leitmotiv

Um erfolgreich zu sein, muss ein ordnungspolitisches Leitmotiv in die Zukunft weisen. Genau deshalb genügt es nicht, die Prinzipien der Sozialen Markt-wirtschaft, wie sie von deutschen Ordnungstheoretikern entwickelt wurden, als politische Zielsetzung zu reaktivieren. Der Grund ist einfach: Zu den Zeiten Ludwig Erhards war Deutschland im Grunde erst auf dem Weg zu einer kom-pletten marktwirtschaftlichen Ordnung und nicht längst mittendrin. So gab es in den 1950er Jahren außenwirtschaftlich noch längst keinen weiträumigen Freihandel mit globalisierten Finanzmärkten und allseitig freier Währungskon-vertibilität; binnenwirtschaftlich herrschten noch immer die stark kartellierten Industriestrukturen, die aus Kaiserreich und Weimarer Republik ererbt wur-den; breite wettbewerbliche Ausnahmebereiche – von der Post über die Bahn

3 So etwa – neben vielen Veröffentlichungen – das inzwischen klassische Werk von Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800 -1866 und 1866 -1914, München 1998.

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bis zu den Versorgern – waren noch fest etabliert; harte Preisbindungen (zum Beispiel im Buchhandel) galten noch als unantastbares Gewohnheitsrecht ei-ner patriarchalischen Kulturpolitik; und das Tarifkartell war flächendeckend wirksam, mit weit weniger betrieblicher Flexibilität, als dies heute der Fall ist.4 Kurzum: Es standen noch riesige Aufgaben der Liberalisierung bevor – eine fruchtbare Agenda für freiheitlich gesinnte Politiker, um Programme und Ziele zu formulieren.

Heute ist diese Agenda weitgehend abgearbeitet und der Wettbewerb fest eta-bliert. Er wird als wirtschaftliches Leitprinzip von keiner politischen Kraft – bis auf die äußerste politische Linke – in Frage gestellt. Eine ganz entscheidende Rolle bei seiner praktischen Durchsetzung hat dabei natürlich die unaufhaltsame Globalisierung der Weltwirtschaft gespielt. Sie zwang die Politik zur Anpas-sung; und sie zerstörte von selbst auf Güter-, Arbeits- und Finanzmärkten die Chancen für eine erfolgreiche Kartellierung gleich welcher Art. Dies geschah selbst in jenen Bereichen, in denen die Anzahl der nationalen Wettbewerber stets relativ klein war und sogar noch abnahm. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Automobilbranche, wo es heute gerade mal noch drei große deutsche Produzenten gibt: BMW, Daimler-Benz und VW (einschließlich Audi). Gleich-wohl käme niemand auf den Gedanken, von einer zunehmenden Kartellierung der deutschen Automobilindustrie zu sprechen. Im Gegenteil, der Konkur-renzkampf im offenen Weltmarkt zwischen diesen Dreien (und anderen!) ist von gnadenloser Härte und hat in jüngerer Zeit dazu geführt, dass gerade die deutschen Firmen wirtschaftlich stabil und technologisch innovativ agieren, zum Wohl der Nachfrager. Dies ist natürlich auch genau das, was Liberale von der Globalisierung erwarteten.5

Was an Freiheitlichem erreicht worden ist, muss natürlich gesichert und ver-teidigt werden. Auch dies ist eine ganz wesentliche Aufgabe für den politisch organisierten Liberalismus. Dies gilt umso mehr, als zwar die allgemeine Ak-zeptanz des Wettbewerbs seit den 1950er Jahren eher zugenommen hat, aber gerade in den letzten Jahren ein verstärkter politischer Druck entsteht, in besonderen Fällen die erreichte Liberalisierung wieder systematisch zurück-zudrehen. Das aktuellste Beispiel dafür ist die Diskussion um die Einführung eines branchenspezifischen Mindestlohns. Aus liberaler Sicht gilt es, diesem

4 Dazu Giersch, Herbert/Paqué, Karl-Heinz/Schmieding, Holger: The Fading Miracle. Four Decades of Market Economy in Germany, Cambridge 1994, Kapitel 3.

5 Es ist im Übrigen auch genau das, was die moderne Außenhandelstheorie in ihren Modellen der „monopolistischen Konkurrenz“ und der „heterogenen Firmen“ prognostiziert. Siehe dazu Krugman, Paul/Obstfeld, Maurice/Melitz, Marc: International Economics – Theory & Policy, neunte Auflage, Boston et al 2012, Teil 1.

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„reaktionären“ Trend entgegenzutreten. Allerdings ist der Kampf für den Er-halt des Bestehenden eine eher defensive Zielsetzung, die typischerweise weit weniger intellektuelle, politische und emotionale Phantasie mobilisiert als das Nachdenken über das Neue. Ähnlich wie die solide Verteidigung bei einer Fuß-ballmannschaft mag sie genügen, um ein weiteres Zurückfallen zu verhindern. Sie kann aber auf Dauer nicht wirklich helfen, eine neue liberale Dynamik in das politische Spiel zu bringen.

Um eine solche Dynamik zu erreichen, bedarf es Zukunftsweisendem. Dabei steht der Liberalismus seinem Wesen nach vor einer grundsätzlichen Schwierigkeit: Der Kampf für die Freiheit ist zunächst einmal ein Kampf für eine offene Bür-gergesellschaft, in der nicht der Staat, sondern die Menschen selbst ihre Ziele formulieren und umzusetzen suchen. Die großen liberalen Sozialphilosophen – von Isaiah Berlin über Friedrich August von Hayek bis zu Karl Popper – haben deshalb auch stets zu Recht das Konzept der negativen Freiheit, also der Frei-heit von obrigkeitsstaatlichem Zwang, in den Vordergrund ihrer Überlegungen gerückt und nicht die Freiheit zum konkreten Handeln.6 Was gesellschaftlich dabei konkret heraus kommt, ist grundsätzlich offen. Im Vordergrund steht nicht die Ergebnis-, sondern die Verfahrensgerechtigkeit. Genau dies ist auch die tiefere ethische Begründung der Marktwirtschaft. Es kann deshalb in einem liberalen Weltbild letztlich niemals um mehr gehen als um die positive Vision einer glücklicheren Zukunft der Menschheit, ohne allzu präzise Spezifikation, wie diese im Einzelnen aussieht; denn jedes konkrete Ausmalen dieser Zukunft würde unweigerlich zu einer Form dessen führen, was Karl Popper als die große Schwäche aller historizistischen Geschichtsinterpretationen ansieht, seien sie nun von Plato, Hegel, Marx oder wem auch immer inspiriert.7

Gerade aus diesem Gedanken heraus lässt sich aber doch für den Umgang des Liberalismus mit den großen Herausforderungen unserer Zeit Einiges ableiten. Es geht dabei im Grunde um den Fortschritt selbst als liberales Leitmotiv in einer globalisierten Welt. Tatsächlich ist die Idee des Fortschritts als positives, optimistisches Ziel einer modernen Industriegesellschaft in den aktuellen Pro-grammen der (nicht-liberalen) Parteien in Deutschland kaum noch zu finden, seien sie nun christlich-konservativ, sozialdemokratisch, grün oder sozialistisch. Der Grund: Es herrscht ein pessimistischer Geist der Erhaltung des Bestehen-den und des Schutzes vor Veränderung. Zentrales Anliegen der nicht-liberalen Parteien in Deutschland ist es längst, einen Schutz zu bieten vor den Kräften

6 Dazu noch immer klassisch Berlin, Isaiah: Four Essays on Liberty, Oxford 1969 und Hayek, Friedrich August von: The Constitution of Liberty, Chicago 1960.

7 Karl Popper spricht in diesem Zusammenhang vom „Elend des Historizismus“. Siehe Popper, Karl: The Poverty of Historicism, London 1960.

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des Wandels. Sieht man von der äußersten Linken ab, werden diese Kräfte zwar akzeptiert, aber ihre Folgen werden als bedrohlich eingestuft.

Vor allem werden die Chancen für eine gestalterische Bewältigung der Aufga-ben durchweg pessimistisch beurteilt. Für einen kontinuierlichen Fortschritt der Menschheit als erklärtem Ziel ist da kein Platz mehr, genauso wenig wie für wirtschaftliches Wachstum. Tatsächlich werden die Chancen für ein solches Wachstum inzwischen nicht nur mehr von Grünen, sondern auch von sozialde-mokratischen und konservativen Vordenkern – allen voran Meinhard Miegel8 - extrem pessimistisch beurteilt. Gefordert wird deshalb ein Befreiungsschlag, also eine Art radikale Umkehr der Werte und Lebensgewohnheiten, die vom Staat massiv gelenkt werden muss, und zwar durch Ge- und Verbote, zusätz-liche Besteuerung, gezielte Industriepolitik und moralische Appelle. Diese For-derung bewegt sich derzeit noch weitgehend auf der Ebene des vorpolitischen intellektuellen Diskurses, hat aber mit der Ende 2010 eingesetzten Enquete-kommission des Deutschen Bundestags zum Thema „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ doch schon den politischen Raum erreicht.

Hinter dieser Fortschritts- und Wachstumsskepsis steht eine Vorstellung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, die sich mit etwas Mut zur Vereinfachung als „mechanistisch“ bezeichnen lässt. Danach besteht Wachstum vor allem aus dem Verbrauch von Ressourcen der Erde (einschließlich der Sta-bilität des Klimas) und der (Ab-)Nutzung menschlicher Arbeitskraft und -en-ergie. Die Folge: Eine hochentwickelte und alternde Industriegesellschaft wie die deutsche stößt notwendigerweise an physische Grenzen des Wachstums, die nicht mehr zu verschieben sind – aus technologischen, demographischen und sozialen Gründen. Diese Diagnose ist im Wesentlichen eine intellektuel-le Neuauflage der „limits to growth“, wie sie erstmalig Thomas Malthus Ende des 18. Jahrhunderts mit Blick auf die landwirtschaftliche Nutzfläche anstieß und der „Club of Rome“ Anfang der 1970er Jahre mit Blick auf die globalen Rohstoffvorräte wiederaufleben ließ.9

Die richtige Antwort auf die damalige Wachstumsskepsis lautete im Kern: Nur das Entstehen neuen Wissens in Form von technischem, wirtschaftlichen und sozialem Fortschritt kann helfen, die Grenzen des Wachstums zu vermeiden. Historisch kam es genau dazu: Weder im Verlaufe des 19. Jahrhunderts (nach Malthus), noch im Verlaufe der letzten vier Dekaden (nach dem Club of Rome)

8 Miegel, Meinhard: Exit – Wohlstand ohne Wachstum, Berlin 2010.9 Malthus, Thomas: An Essay on the Principle of Population, London 1798; Meadows, Dennis

et al:The Limits to Growth,New York 1972.

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kam das Wirtschaftswachstum zum Stillstand. Im Gegenteil, gerade die markt-wirtschaftlichen Mechanismen der Anpassung erlaubten eine Weiterentwick-lung, von der kein Wirtschafts- und Sozialhistoriker behaupten würde, dass es sich nicht um einen Fortschritt handelte. Lediglich in Ländern, die sich vom Fortschritt abschotteten und die keine Weichenstellungen in Richtung einer offenen Gesellschaft und Wirtschaft vornahmen, kam es zu Stagnation bzw. Schrumpfung, so zum Beispiel nach Malthus im China des 19. Jahrhunderts und nach dem Club of Rome in den osteuropäischen Planwirtschaften bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989.10

Niemand kennt die Zukunft. Aber aus liberaler Sicht spricht nichts dafür, dass es plötzlich in der Weltgeschichte ein Stoppsignal der Entwicklung geben sollte. Stattdessen deutet alles auf eine neue Herausforderung, die – wie schon in der Vergangenheit – durch die Originalität der Menschen, die Anpassungsfä-higkeit der Wirtschaft und eine pragmatisch angepasste Ordnungspolitik des Staates zu bewältigen ist. Es kann nicht um ein radikales Herumreißen des Steuers oder gar um eine Art zweite industrielle Revolution gehen, wie sie ge-legentlich gefordert wird.11 Stattdessen stehen Weichenstellungen an, die es der Gesellschaft im Sinne eines „piecemeal engineering“ (Karl Popper) erlau-ben, das nötige Wissen zu entwickeln, um tatsächlich auch unter den neuen Bedingungen einen wirklichen Fortschritt zu erreichen, und zwar wirtschaft-lich, sozial und ökologisch.

Wie ein solches liberales Programm als Konkretisierung der Fortschrittsidee im Einzelnen aussehen könnte, muss hier offen bleiben. Beispielhaft seien nur fünf Bereiche genannt, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten von zentraler Bedeutung sein sollten: (1) Technologie- und Industriepolitik, (2) Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, (3) Regulierung der Finanzmärkte, (4) Strategien der Nachhaltigkeit und (5) die internationale Verantwortung. Es sind fünf Gebiete, in denen die Erfahrung der letzten drei Dekaden auch für Liberale jenseits der eigenen Orthodoxie eine Offenheit gegenüber neuen Ideen und Konzepten verlangt:

technologie- und industriepolitik: Die Erfahrung in der Globalisierung hat gezeigt, dass die Vorstellung einer modernen Industriegesellschaft, die sich allein auf Dienstleistungen konzentriert, eine gefährliche Illusion ist. Heute sind gerade jene Länder wirtschaftlich stabil, die wie Deutschland, Österreich

10 Dazu im Einzelnen Paqué, Karl-Heinz: Wachstum! Die Zukunft des globalen Kapitalismus, München 2010, Kapitel 1 und 2.

11 Dazu treffend Weizsäcker, Carl Christian von, „Die große Transformation: ein Luftballon“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.09.2011.

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und die Schweiz über eine wettbewerbsfähige und innovationskräftige Indus-trie verfügen. Diese gilt es zu stärken, und zwar nicht – wie von wachstums-kritischer Seite gefordert – durch eine betont einseitige Industriepolitik zu Gunsten ausgewählter Technologien (z. B. erneuerbare Energien, Windkraft), sondern auf breiterer Front. Sonst besteht die große Gefahr, dass die staatliche Lenkung in Sackgassen der technologischen Entwicklung gerät, die nicht vor-hersehbar sind (wie zum Beispiel die Kernfusion in den letzten Jahrzehnten). Es müssen stets Optionen der Umorientierung von Produkten und Produk-tionsverfahren möglich sein – als Reaktion auf Veränderungen des Wissens über neue Trends des Marktes und der technischen Möglichkeiten. Technolo-gie- und Industriepolitik sind insofern vor allem wissensorientierte Standort-politik, die keine Spezialisierungsmuster auf ewig festklopft. Das heißt nicht, wie es ein ordnungspolitischer Purismus nahelegen könnte, dass es überhaupt keine staatliche Unterstützung der angewandten Forschung geben darf, zumal diese bereits durch Standortentscheidungen über Schwerpunkte technischer Universitäten und Fakultäten ohnehin fast zwangsläufig stattfindet. Es heißt allerdings, dass Deutschland eine breit diversifizierte Innovationslandschaft braucht – und keine forschungsideologisch verengte. Dies muss auch bei der gesetzlichen Regulierung der Forschung berücksichtigt werden, so etwa im Bereich der Biotechnologie.

Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik: Aufgrund der demographischen Entwick-lung wird es in Deutschland in wenigen Jahren eine extreme Knappheit an qualifizierten Arbeitskräften geben, und zwar spätestens dann, wenn die Baby-boomgeneration aus dem Arbeitsleben ausscheidet. Mit Blick darauf müssen die Prioritäten in der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik neu gesetzt werden: Stand bisher zu Recht die Integration von Randgruppen des Arbeitsmarkts im Vordergrund, muss es in der Zukunft eine viel breitere Motivation und Mobili-sierung der Arbeits- und Innovationskraft der Menschen geben. Es gilt, bei al-ternder Bevölkerung nicht nur möglichst alle zu integrieren (wozu die Chancen gerade wegen der Knappheit an Fachkräften besser denn je stehen werden), sondern auch die Fähigkeiten der Menschen bestmöglich auszubilden sowie auf betrieblicher Ebene optimaleinzusetzen. Die Suche nach neuen Lösungen ist dabei natürlich in erster Linie Sache der Unternehmen. Der Staat muss aber die Rahmenbedingungen so setzen, dass alle Möglichkeiten der Verbesserung der betrieblichen Arbeitsteilung genutzt werden, vom lebenslangen Lernen bis zu flexiblen Möglichkeiten der „Spätverrentung“ und völlig neuer Formen der Teamarbeit. Hinzu kommt das Zulassen der Zuwanderung qualifizierter Arbeits-kräfte in weit größerem Maße als bisher, und zwar endlich im Stile eines wirk-lichen Einwanderungslandes mit ökonomisch rationalen Auswahlkriterien.

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regulierung der Finanzmärkte: Die Krisen der letzten Jahre an den globalen Finanzmärkten haben gezeigt, dass die Vorstellung eines harmonischen, frik-tionslosen Ausgleichs der Knappheiten von Kapital zwischen Regionen und Nationen eine Illusion sind. Die weltweite Mobilität des Finanzkapitals bringt nicht nur große Vorteile, sondern auch große Risiken mit sich. Diese wurden in der Globalisierung unterschätzt, auch von liberaler Seite. Vor allem gilt dies für die gewaltigen systemischen Risiken, die sich in besonders heiklen welt-wirtschaftlichen Konstellationen aufbauen können. Diese Risiken sind derart hoch, dass sich Regierungen und Zentralbanken realistischerweise der Rolle als Gläubiger der letzten Instanz nicht entziehen können, auch wenn dies bei selbst verschuldeten privaten Engagements in den Märkten zu einem uner-wünschten „Moral Hazard“-Verhalten führt, da der potentielle Wert der Rettung antizipiert wird – mit der Folge, dass höhere Risiken eingegangen werden, als eigentlich marktwirtschaftlich vertretbar sind. Einziger Weg, den „Moral Ha-zard“ und damit die Risiken für den Staat in Grenzen zu halten, ist die stärkere Regulierung der Finanzmärkte, insbesondere durch höhere Eigenkapitalquoten für risikobehaftete Geschäfte. Nur so kann von vornherein die Wahrscheinlich-keit eines staatlichen Eingriffs (im Nachhinein) minimiert werden. Regulierung bedeutet dabei keineswegs die Rückkehr zu einer Welt der Abschottung vom internationalen Kapitalverkehr, denn zu groß sind die wirtschaftlichen Vorteile, die darin bestehen, dass Ersparnisse sich weltweit – und nicht nur innerhalb einzelner Nationen – einen Investitionszweck suchen können.

strategien der Nachhaltigkeit: Der Begriff der Nachhaltigkeit – vage verstan-den als ein langfristiges Denken, das die Interessen der künftigen Generati-onen angemessen berücksichtigt – ist politisch in aller Munde (und wird es voraussichtlich auch weiter bleiben). Leider wird unter Nachhaltigkeit dabei zumeist nur der Verzicht auf Raubbau im ökologischen Sinne verstanden. Aus liberaler Sicht bedarf es aber eines umfassenden Begriffs der Nachhaltigkeit, der das wirtschaftliche Verhalten der Gesellschaft daraufhin überprüft, ob es geeignet ist, den künftigen Generationen einen intakten und leistungsfähigen Kapitalbestand zu hinterlassen, auf dem diese dann ihren Wohlstand und ihre Lebensqualität weiter entwickeln können. Teil dieses Kapitalbestandnes ist selbstverständlich die Qualität der Umwelt einschließlich des Klimas; dazu gehören aber auch das erreichte Niveau des technologischen, ökonomischen und sozialen Wissens, der Bildungsstand der Bevölkerung, die öffentliche In-frastruktur und vieles mehr. Dazu gehören schließlich auch die Last der Staats-schulden sowie das Niveau der Besteuerung, das die künftigen Generationen durch frühere politische Entscheidungen erben. Aus liberaler Sicht geht es also nicht um eine Art einseitige Maximierung der Umweltqualität um jeden Preis, sondern um eine ökonomisch, sozial undökologisch verantwortungsvolle

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Politik, die vernünftig abwägt und nicht ideologisch dekretiert. Das Wachstum der Wirtschaft steht dabei in angemessenem Verhältnis zur Konservierung des Bestehenden, so dass die Nachhaltigkeit gewährleistet ist.

internationale Verantwortung: Das Ziel des Fortschritts ist nicht nur ein na-tionales, sondern ein europäisches und ein globales. Insofern hat die Politik in Deutschland eine Verantwortung, die weit über das eigene Land hinausreicht. Aus liberaler Sicht bedarf es deshalb der internationalen Koordination und gegenseitiger Hilfe, um jene Ziele gemeinsam zu erreichen, die aus der Sache heraus internationalen Charakter haben. In der Europäischen Union geht es in den kommenden Jahren darum, die aktuelle Schuldenkrise der Eurozone durch massive Anstrengungen und Reformen der betroffenen Länder in den Griff zu bekommen, und zwar mit solidarischer, aber konditionierter Hilfe der Länder im stabilen Kern der Union; langfristig gilt es, die Volkswirtschaften aller Län-der der Eurozone auf einen nachhaltigen Wachstumskurs zurückzuführen, und zwar gleichfalls unterstützt durch eine Kohäsionspolitik der Europäischen Union, die sich strikt auf investive – und nicht konsumtive – Projekte konzentrieren sollte. Auf weltweiter Ebene geht es darum, jene Probleme und Zielkonflikte des nachhaltigen Wachstums anzugehen, die tatsächlich nur global zu lösen sind. Dies gilt vor allem für Fragen der Bremsung des Klimawandels durch Senkung der Emissionen von Treibhausgasen; denn diese ist nur zu erreichen, wenn die großen, schnell wachsenden Entwicklungsländer vertraglich einge-bunden werden können. Dies wird nur langfristig möglich sein, und zwar erst dann, wenn durch Wachstum der Wohlstand in diesen Ländern hinreichend groß ist, um auch die nötige Sensibilität derdortigen Bevölkerung für globale Umweltfragen zu schaffen. Es bedarf deshalb geduldiger, aber hartnäckiger diplomatischer Verhandlungen. Politische Versuche, kurzfristige Lösungen zu erzwingen, sind eher kontraproduktiv.

Aus alledem wird klar: Ein gezielt fortschrittsorientierter Liberalismus muss sich zwangsläufig ein Stück weg bewegen aus der altbekannten Welt der klassischen Ordnungspolitik, wie sie die Väter der Sozialen Marktwirtschaft im Auge hatten. Dies liegt aber nicht an einer intellektuellen Prinzipienlosig-keit, der das freiheitliche Koordinatensystem verloren gegangen ist. Es liegt stattdessen an der Neuartigkeit der großen Herausforderungen, vor denen Deutschland, Europa und die Welt heute stehen. Eine „neue“ Ordnungspolitik muss den Menschen aber Antworten auf die Fragen der Zukunft liefern – und nicht auf die Fragen vergangener Epochen. Einen anderen Weg gibt es nicht, um die Leitidee der Freiheit wieder attraktiv machen, und zwar in der Verbin-dung mit einer neuen Konzeption des Fortschritts. Auf diesem Weg fände die Freiheit wieder ein komplementäres Ziel, und zwar eines, das – wie die natio-

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nale Einheit im 19. Jahrhundert – die Chance hat, die Menschen intellektuell und emotional zu überzeugen.

Tatsächlich könnte die Rückkehr des Fortschritts in die politische Diskussion helfen, jenes Vakuum zu füllen, das die grassierende Wachstumsskepsis für den potenziell liberal gesinnten Teil der Bevölkerung hinterlässt. Immerhin bestäti-gen Meinungsumfragen, dass eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung (77 Prozent) die Freiheit als wichtigste Eigenschaft einer funktionierenden Gesellschaft sieht.12 Demnach sollte bei einer Bundestagswahl die Partei des organisierten Liberalismus, also die FDP, einen gewissen Zuspruch erfahren. Ein nennenswerter Teil der Bevölkerung sucht auf der politischen Speisekarte nicht nach pessimistisch-verzagten Rezepturen, sondern nach einer optimistisch-gestaltenden Weltanschauung. Diese muss allerdings auch ordnungspolitisch mehr bieten als nur das Bekenntnis zur Freiheit und Wettbewerb.

12 Volkmann, Thomas: Deutscher Wertemonitor 2010, Potsdam: Liberales Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, 2010, S. 7.

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Über den Autor

Prof. Dr. karl-heinz Paqué hat den Lehrstuhl für Internationale Wirtschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg inne. Von 2002 bis 2006 war er Finanzminister des Landes Sachsen-Anhalt. Seit 2010 ist er Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft. Er ist Mitglied des Konvents für Deutschland, der Gesellschaft für Deutschlandforschung, der Atlantikbrücke, der Hayek-Gesell-schaft, des Vereins für Socialpolitik, sowie der Enquete-Kommission Wachs-tum, Wohlstand und Lebensqualität des Deutschen Bundestages. Daneben ist er Vorstandsvorsitzender der Herbert-Giersch-Stiftung, Vorsitzender des Beirates „Zivilgesellschaft in Zahlen“ des Stifterverbandes der Wissenschaft, stellvertretender Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle sowie Mitglied des Beirates der Bucerius Law School Hamburg.

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Die Fortschrittsinitiative - Zukunft gestalten!

Deutschland hat sich in der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise gut be-hauptet. Unser Land steht nicht nur wirtschaftlich gut da – es bietet seinen Bürgern auch viele Chancen, ihre eigenen Lebenspläne zu verwirklichen und zum Gemeinwohl beizutragen. Doch Wohlstand und individuelle Chancen müs-sen immer wieder neu erarbeitet werden. Deshalb gilt:

Deutschland braucht Fortschritt

• zur Schaffung von Zukunftschancen und Freiheitsräumen für alle.• zur Wahrung und Mehrung unseres Wohlstandes.• zur Lösung der zahlreichen Aufgaben, die vor unserer Gesellschaft ste-

hen.

Voraussetzung der überwiegend erfolgreichen Entwicklung der letzten Jahr-zehnte war eine grundsätzliche ordnungspolitische Weichenstellung. Sie muss auch für die Zukunft gelten:

Deutschland braucht die soziale marktwirtschaft

Die Soziale Marktwirtschaft ist der politische Gestaltungsrahmen, der die rich-tigen Anreize für wirtschaftliches Wachstum, Innovation und zivilisatorischen Fortschritt setzt. Sie ermöglicht eigenverantwortliches Handeln, Initiative und Risikobereitschaft.

Die Soziale Marktwirtschaft eröffnet dem Menschen große Chancen, fordert ihn aber in gleicher Weise. Sie ermutigt und belohnt individuelle Leistung. Die sich dadurch ergebende höhere volkswirtschaftliche Wertschöpfung ermöglicht erst eine Umverteilung zugunsten sozial Bedürftiger.

Deshalb bezieht die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit ihrer Initi-ative klar und eindeutig Stellung für Fortschritt und Soziale Marktwirtschaft.

www.fortschrittsinitiative.org