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Astrid Fischer
Zwischen bestimmten und unbestimmten Zahlen -Zahl- und Variablenauffassungen
von FfinftkUisslern
Zusammenfassung
In einer Unterrichtsreihe in Klasse 5 werden Schtilerinnen und Schtiler mit Moglichkeiten geometrischer Darstellung von arithmetischen Aufgaben bekannt gemacht. In diesem Kontext entwickelt sich bei der Beschafiigung mit strukturell gleichen arithmetischen Aufgaben bei vielen der Kinder ein Blick fUr die Gemeinsarnkeiten der Aufgaben. Bei Versuchen, diese zu erfassen und zu kommunizieren, verwenden sie eine Reihe von verbal en, geometrischen und symbolischen Darstellungsmitteln, die auf Variablenkonzepte verweisen. In diesem Aufsatz werden solche Darstellungen klassifiziert. Zudem wird erortert, wie sie von den Kindem eingesetzt werden, urn arithmetische Abhangigkeiten zu reprasentieren.
Abstract
In grade 5 students who have not yet been introduced to the algebraic sign system were shown geometric ways of representing arithmetic problems. When these fifth graders deal with arithmetic problems of equal patterns, many realize common structures. In trying to grasp and communicate these they can use means of representations of different kinds: verbal, geometric, and symbolic. With some of their expressions they refer to ideas of variables. This article classifies such representations and considers ways in which the children use these representations in order do describe arithmetic relations.
1 Das Verhaltnis von Arithmetik und Algebra
1.1 Grundsatzliches
In den vergangenen zwanzig Jahren wurde eine Reihe von wissenschaftlichen Aufsatzen und Buchem zur elementaren Algebra publiziert. Dazu gehOren zunachst empirische Untersuchungen, die Verstandnisdefizite von Schiilerinnen und Schiilem nachweisen. Ein klassisches Beispiel hierfUr ist Malle (1993), der aufzeigt, dass viele Akademiker mit einer langjlihrigen algebraischen Schulung grundlegende Konzepte und Regeln im Umgang mit der algebraischen Sprache nicht verstehen und nicht anwenden konnen. Solche Feststellungen regten eine Vielzahl von Sachanalysen an, die Unterschiede zwischen der Arithmetik, wie sie von Lemenden erlebt wird, und der Algebra suchen. Viele dieser Analysen zeigen auf, dass fUr einen sinnvollen Gebrauch der algebraischen Sprache ge-
(JMD 30 (2009) H. 1, S. 3-29)
4 Astrid Fischer
geniiber arithmetisehen Kontexten zahlreiehe neue Konzepte und Siehtweehsel notwendig sind, welche hohe kognitive Anforderungen an Lernende stellen.!
Arithmetik und Algebra unterseheiden sieh zunaehst in ihrem Anliegen: wahrend Kinder im Arithmetikunterrieht zumeist eine numerische Losung einer Reehenaufgabe geben sollen, interessiert man sieh in der Algebra fUr gemeinsame Strukturen versehiedener Terme und sueht Besehreibungen oder Losungsstrategien, die eine Vielzahl von Situationen zugleieh erfassen. Diese untersehiedliehe Zielriehtung wirkt sieh in untersehiedliehen Umgangsformen mit dem formalen Zeiehensystem aus, das Arithmetik und Algebra an sieh gemeinsam ist - in dem Sinne, dass unser arithmetisehes Darstellungssystem ein Teil des algebraisehen ist.
1.2 Gemeinsame Zeichen in Arithmetik und Algebra
Ein Beispiel fUr solche gemeinsamen Zeiehen, deren untersehiedliehe Verwendungsweisen vielfaeh in der Literatur angesproehen werden, ist das Gleiehheitszeiehen:2 In der Praxis des Arithmetikunterriehts wird das Gleiehheitszeiehen hliufig als Aufforderungszeiehen gelesen, eine Reehenaufgabe auszureehnen, und so verstanden, dass reehts des Gleiehheitszeiehens ein Zahlzeiehen als Ergebnis stehen muss. In der didaktisehen Literatur zum Arithmetikunterrieht wird diese Betonung seit langem als nieht sinnvoll bezeiehnet und aueh Sehulbiieher fUr Mathematik in der Grundsehule betonen nieht mehr einseitig die genannte Siehtweise.3 Aber dies seheint sieh noeh nieht in groBem Umfang in der Praxis niederzusehlagen. Weitere, an das Gleiehheitszeiehen ansehlieBende Zeichen werden hliufig nieht auf das Gleiehheitszeiehen bezogen. Deutungsuntersehiede in Arithmetik und Algebra gehen aber noeh sehr viel weiter.
Eine Sehwierigkeit in der elementaren Algebra liegt darin, dass hier die Deutung von symbolisehen Darstellungen wesentlieh vielseitiger ist als in der Arithmetik. So zeigen eine Reihe von Aufsatzen4 die Notwendigkeit auf, dass Lernende Terme nieht mehr nur als Besehreibung oder Aufforderung zu einer Reehenhandlung ansehen, sondern sie aueh als Zeiehen fUr ein Objekt lesen, auf das aueh ohne eine gesehlossene Darstellung weitere Transformationen angewendet werden konnen. Solche Siehtweehsel werden von Sfard (1991) als Verdingliehung (engl. reifieation) bezeiehnet. Sie betreffen den Dbergang von einer Prozess- hin zu einer Objektsieht einer Darstellung. Dabei wird das hypothetisehe, nieht notwendig dureh Ausfiihrung des Prozesses tatsaehlieh gewonnene, Ergebnis als (neues) mathematisehes Objekt aufgefasst. Sfard zeigt auf, dass eine solche Konstruktion eine hahe kognitive Anforderung beinhaltet. Gray und Tall (1994) verwenden fUr diese zwei versehiedenen Siehtweisen, die beide auf dieselben mathematisehen Terme angewendet werden konnen, den Ausdruek "proeept". Er ist ein Kunstwort aus dem engli-
2
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Z.B. Specht (2005), Lee (1996), Bednarz & Janvier (1996), Janvier (1996), Hershcocivs & Linchevski (1994) weisen solche Schwierigkeiten mit der Algebra nacho Vgl. Kieran (1990) und Hershcovics und Linchevski (1994). Muller & Wittmann (2000, S. 21) erHiutem im Lehrerband zu ,,Das Zahlenbuch" die Betonung einer strukturierten Zahlvorstellung. Das Gleichheitszeichen wird hier als Beziehungszeichen verwendet. Z. B. Kieran (1990), Linchevski und Sfard (1994), Kieran, Boileau und Groncon (1996).
Zahl- und Variablenauffassungen 5
schen "process" und "concept". Sie berichten von einer empirischen Studie, in der bereits im Umgang mit arithmetischen Aufgaben Leistungsgruppen sich darin unterscheiden, ob sie eine rein prozedurale Sichtweise einnehmen, oder in der Lage sind, zu einer Objektsichtweise zu wechseln. Da beide Sichtweisen nicht nur fur algebraische, sondem auch fur arithmetische Terme moglich sind, konnte dieses Problem vermutlich durch einen veranderten Umgang mit der Arithmetik entsch1irft werden.
Allerdings bleibt die Problematik bestehen, dass algebraische Objekte im Gegensatz zu den arithmetischen keine kanonischen Darstellungen besitzen, die als Namensgeber mit der Identitat der Objekte eng verkntipft werden konnen. Das hat unter anderem zur Folge, dass die Zielrichtung von Transformationen in der Algebra keineswegs selbsterklarend ist. Bei der Transformation von algebraischen Termen oder Gleichungen ist nun wesentlich zwischen lediglich korrekten Umformungen, die den Wert eines Terms oder die Losungen einer Gleichung nicht verandem, und sinnvollen Transformationen, die einem gesetzten Ziel naher bringen, zu differenzieren. Drouhard und Teppo (2004) betonen die Unterscheidung zwischen der Bedeutung eines algebraischen Terms, d.h. dem mathematischen Objekt, auf das der Term verweist, und dem Sinn dieses Terms, welcher durch eine bestimmte Sichtweise auf dieses Objekt gegeben ist: So bezeichnen 2(x+3) und 2x+6 dasselbe Objekt, betonen jedoch zwei verschiedene Strukturierungen: der erste Term zeigt das Objekt als ein Produkt, der zweite als eine Summe.
1.3 Neue Zeichen in der Algebra: Variablen
Das Operieren mit Unbekannten stellt nach Hershkovics und Linchevski (1994) eine entscheidende Kluft zwischen der Arithmetik und der Algebra dar. Sie erHiutem, dass der Unterschied nicht darin besteht, dass in der Arithmetik keine Unbekannten auftreten, sondem darin, dass in der Algebra Operationen auf die Unbekannten anzuwenden sind, wiihrend sie in der Arithmetik erst als das Ergebnis eines Rechenprozesses ins Spiel kommen. Dieser Unterschied scheint mir deshalb wesentlich, weil bei einem Operieren mit Unbekannten diese wie mathematische Objekte behandelt werden miissen. Nach Sfard (2000) ist eine solche Vorgehensweise eng mit der gedanklichen Konstruktion von Referenzobjekten fur diese Unbekannten verbunden. Obwohl Sfard grundsiitzlich eine solche Konstruktion auf dem Weg eines entsprechenden Umgangs mit den Zeichen fur moglich hiilt, betont sie zugleich, dass zur gedanklichen Erfassung solcher neuen Objekte bereits vage Ideen dieser Konzepte vorhanden sein miissen: beides bedingt und fOrdert sich gegenseitig.
Auch Filoy et al. (2008) beschiiftigen sich mit dem Zusammenspiel von Semantik und Syntax beim Lemen der algebraischen Sprache. Sie schlagen vor5
, dass Lemende zu einem Wechsel zwischen verbalen Bedeutungsbeschreibungen und Wahrnehmungen, die durch die Zeichen angeregt werden, herausgefordert werden. Filoy et al. stellen eine qualitative Interviewstudie vor, in der Schiilerinnen und SchUler zwei Kontexte an die Hand bekommen, in denen eine Unbekannte jeweils eine konkrete Bedeutung erhiilt, und in denen sie Gleichungen lOsen konnen. Untersucht werden ihre Losungsstrategien im
s. 89 -119.
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Spannungsfeld zwischen Semantik und Syntax, die bei einigen Lemenden zu einer ErschlieBung von Operationsregeln mit Unbekannten fiihren.
Die auffalligste Besonderheit der algebraischen gegentiber der arithmetischen Sprache ist der Gebrauch von Variablen. In der Literatur werden verschiedentlich Kategorisierungen von Variablenaspekten angegeben. Bei Malle (1993) etwa ist das der Gegenstands-, der Einsetzungs- und der Kalktilaspekt, die jeweils noch weiter aufgeschltisselt werden, bei Drijvers (2003) ist es der Platzhalter, die sich andemde GroBe, der Generalisierer, die gesuchte Unbekannte und das Symbol. Diese Beschreibungen gehen aufVerwendungsweisen von Variablen in der Mathematik ein und zeigen eine Vielfalt von unterschiedlichen Sichtweisen auf, in der Lemende sich zurechtfinden mtissen. Die genannten Kategorien haben keine hierarchische Ordnung und es werden auch keine Zwischenschritte aufgezeigt, wie SchUlerinnen und SchUler die einzelnen Variablenaspekte gedanklich konstruieren konnen.
Bednarz et al. (1996) ordnen Einstiege in die Algebra in vier Kategorien ein, die unterschiedlichen Variablenaspekten nahestehen. Ein Einstieg konzentriert sich auf das Losen von Gleichungen; hier tritt die Variable als gesuchte Unbekannte auf. Ihm sind die oben beschriebenen empirischen Untersuchungen zuzuordnen. Ein anderer Zugang geschieht tiber die Beschreibung von Mustem und Strukturen, der die Variable als unbestimmte, allgemeine Zahl betont. Und schlieBlich werden noch Zugange tiber funktionales Denken und tiber Modellieren betrachtet, welche die Idee der Variable als Veranderliche in den Vordergrund stellen. Radford (1996) zeigt auf, dass die Konzepte der Variablen als unbekannte Zahl und der Variablen als allgemeine, nicht naher bestimmte Zahl komplementar sind: Das erste Konzept wird verwendet, wenn eine bestimmte, aber noch unbekannte Zahl, die durch gegebene Eigenschaften beschrieben ist, zu ermitteln ist. Das zweite hingegen wird eingesetzt, urn die GUltigkeit einer Aussage fUr Zahlen allgemein zu beweisen. Hierzu dUrfen keine spezifischen Eigenschaften einer bestimmten Zahl herangezogen werden, sondem nur solche Eigenschaften, welche allen Zahlen, auf die sich die behauptete Aussage bezieht, gemeinsam ist. Sowohl die logische Struktur, in der sie in der Mathematik Verwendung finden, als auch der Charakter dieser beiden Variablenkonzepte sind grundsatzlich verschieden. So ist es nicht verwunderlich, dass einzelne Artikel zu Problemen mit Variablen in der elementaren Algebra sich meist auf einen einzigen Variablenaspekt konzentrieren.
Es wurde mittlerweile eine Reihe von Unterrichtskonzepten6 entwickelt, in denen Lemende in einer praalgebraischen Phase mit den Darstellungsmitteln, die ihnen aus der Arithmetik vertraut sind, an algebraische Denkweisen herangefiihrt wurden, bevor sie mit den Konventionen der formalen algebraischen Symbolsprache bekannt gemacht werden. Ein Beispiel hierzu ist ein Unterrichtsprojekt von Van Amerom (2002), in dem sich SchUlerinnen und SchUler mit dem Losen von Systemen von zwei linearen Gleichungen beschaftigen. Hier steht der Variablenaspekt der Unbekannten im Vordergrund.
6 Das mathbu.ch (Affolter et al. 2003) ist ein Beispiel fUr ein Unterrichtswerk, das solche Konzepte umsetzt. Im Sammelband von Bednarz et al. (1996) und in Filoy et al. (2008) sind zudem Unterrichtsbeispiele vorgestellt, zu denen Schiilerverhalten empirisch evaluiert wurde. Weitere Unterrichtsbeispiele sind auch bei Van Amerom (2002) und Drijvers (2003) zu [mden. Auch Mason (2005) gibt viele Anregungen zu einer Auseinandersetzung mit dem Variablenbegriff auf einem vorformalen Niveau.
Zahl- und Variablenauffassungen 7
Van Amerom zeigt anhand einer begleitenden empirischen Studie Zwischenstadien zwischen Arithmetik und Algebra auf, in denen Schiiler zum Teil in ihren Argumentationen bereits eine strukturell algebraische Sichtweise einnehmen, zum Teil in ihren Darstellungen algebraische Zeichen verwenden, wahrend sie in der jeweils anderen Hinsicht noch ein arithmetisches Vorgehen zeigen.
In diesem Aufsatz wird eine Studie vorgestellt, in der die Idee einer unbestimmten Zahl im Vordergrund steht. Sie erwachst aus der Beschiiftigung mit und Beschreibung von arithmetischen Strukturen. Diese Studie beschaftigt sich ebenfalls mit Ubergangen von arithmetischen zu algebraischen Darstellungen bei den Lemenden, namlich Ubergangen in Darstellungen von bestimmten Zahlen, wie sie in der Arithmetik im Vordergrund stehen, zu Variablen als unbestimmten Zahlen.
2 Das Design der vorliegenden Stu die
2.1 Das Forschungsanliegen
Urn Probleme mit der Algebra besser zu verstehen und Konzepte zu entwickeln, die diese Probleme iiberwinden helfen, ist mein Anliegen in diesem Forschungsprojekt, Kinder zu beobachten, bevor sie im Algebraunterricht angeleitet werden, die algebraische Formelsprache zu gebrauchen. Ziel ist, in Erfahrung zu bringen, welche Kenntnisse und Fahigkeiten, die fUr einen verstiindigen Umgang mit der Algebra hilfreich zu sein scheinen, bei ihnen bereits vorhanden sind. Denn Kinder sind auch ohne unser algebraisches Zeichensystem in der Lage, sich mit geometrischen oder arithmetischen Strukturen aus einander zu setzen und auf diese mit ihren eigenen Darstellungsmitteln zu verweisen.
Urn solche Tatigkeiten wahrnehmen und analysieren zu konnen, wurde zunachst eine Unterrichtsreihe entwickelt, die Kindem im fiinften Schuljahr geometrische Mittel zur Darstellung von arithmetischen Aufgaben zur Verfiigung stellt und sie anregt, arithmetische Strukturen zu untersuchen. Damit wird ein Zugang zur Algebra iiber Muster und Strukturen gewahlt, der den Variablenaspekt der generalisierenden Zahl anspricht. Wie in Bednarz et al. (1996) ausfiihrlich dargestelIt, gibt es auch andere Moglichkeiten einer ersten Auseinandersetzung mit algebraischen Fragestellungen. Insbesondere zum Losen von Aufgaben, in denen eine unbekannte Zahl mit Hilfe von ein oder zwei Gleichungen beschrieben wird, sind empirische Studien zu Strategien von Anfangem bekannt.7 Der hier gewahlte Einstieg der geometrischen Darstellung von arithmetischen Strukturen solI den Schiilerinnen und Schiilem quasi gegenstandliche Konkretisierungen von abstrakten Strukturen anbieten, urn ihnen eine gedankliche Konstruktion abstrakter mathematischer Objekte wie unbestimmte Zahlen oder Terme mit unbestimmten Zahlen zu erleichtem. Dies wird in Abschnitt 2.2 naher erlautert.
Die unterrichtenden Lehrkrafte waren es gewohnt, Algebra recht unvermittelt durch eine direkte Einfiihrung von Variablen zu beginnen und dann formale Routinen vorzustellen, nach denen Variablenterme transformiert werden. Dieses Verhaltensmuster sollte
7 s. Van Amerom (2002), Hershcovics & Linchevski (1994), Filoy et al. (2008).
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in der hier vorzustellenden Lemumgebung vermieden werden. Urn zu gewlihrleisten, dass die SchUlerinnen und SchUler viel Zeit bekommen, strukturelle Zusammenhange zu entdecken und ihre Beobachtungen inhaltlich-anschaulich mitzuteilen, wurde daher gegen eine direkte Einfiihrung von Variablen in dieser ersten Unterrichtseinheit entschieden.
Die Unterrichtsreihe wurde in vier Klassen eines Gymnasiums durchgefiihrt und die Tatigkeiten der Kinder in dieser Umgebung beobachtet: Dies geschah mit schriftlichen Au13erungen der Kinder und durch Videoaufnahmen von Unterrichtsgeschehen und anschlieBenden Einzelinterviews, die jeweils eine Woche nach Beendigung der Unterrichtsreihe mit insgesamt 13 Kindem durchgefiihrt wurden.
Die Forschungsfrage, der in diesem Artikel nachgegangen werden soll, konzentriert sich aufVariablenauffassungen der Kinder. Sie gliedert sich in zwei Teile:
1. Welche (Vor)formen von Variablen zeigen sich in ihren Darstellungen? 2. Inwiefem gelingt es Kindem, arithmetische Abhangigkeiten, die durch eine
geometrische Darstellung gegeben sind, mit Hilfe von Variablentermen zu beschreiben?
Der nachste Abschnitt erlautert didaktische Entscheidungen zur Anregung algebraischen Handelns der Kinder aus einem arithmetischen Kontext heraus.
2.2 Geometrische Darstellungen arithmetischer Terme
Ais ein zentrales Problem mit der elementaren Algebra wird die Erfassung algebraischer Terme als Objekte angesehen. Diese Sichtweise kann bereits in einem arithmetischen Kontext gewonnen werden.
Wenn unbestimmte Zahlen aus einer Verallgemeinerung rein arithmetischer Beobachtungen erwachsen, in denen Zahlen ohne konkrete BezUge aufireten, dann beinhaltet der Ubergang zur Variablen einen schwierigen Abstraktionsschritt: Ais Kardinalzahl wird eine Zahl selbst im Anfangsunterricht als Verdinglichung des Zlihlprozesses etwa als eine bestimmte Anzahl von Objekten gewonnen, die verschiedenen Objektmengen gemeinsam ist. Hier wird ein betrachtlicher Abstraktionsschritt vollzogen. Das einzige, was von einer Vielzahl von Eigenschaften Ubrig behalten wird, ist eine bestimmte Anzahl. Beim Ubergang von bestimmten Zahlen zu einer unbestimmten Zahl wird nun auf diese letzte Eigenschaft auch noch verzichtet. Was dann noch als definierende Eigenschaft dieses neuartigen "Gegenstands" bleibt, sind nur die Regeln, welche die Konventionen des Umgangs mit diesem Objekt festlegen, aber keine Eigenschaften, mit denen diese Objekte an sich beschrieben werden.
DemgegenUber kann ein Anschauungskontext, in welchem Zahlen als Anzahlen oder GroBen konkreter Objekte aufireten, die Vorstellung einer unbekannten oder unbestimmten Zahl als etwas Gegenstandlichem untersrutzen: zwar hat jede Strecke oder Flache eine bestimmte GroBe, aber es ist moglich, sie sich auch ohne Kenntnis dieser GroBe vorzustellen. 1m Hinblick auf die in der Fachliteratur8 haufig benannte Schwierigkeit, dass arithmetische Terme und aus ihnen durch Verallgemeinerung gewonnene algebraische
Vgl. die Darstellung zu Schwierigkeiten der Objektifizierung von Rechenhandlungen in Kapitel l.
Zahl- und Variablenauffassungen 9
Terme nicht als mathematische Objekte angesehen werden, scheint eine solche gegenstandliche Anschauung Lemenden ein sinnvolles Ubergangskonzept zu bieten. Eine solche Anschauung muss nicht im Gegensatz zu einem Ansatz stehen, in dem die neuen Objekte "unbestimmte Zahlen" in eine Syntax eingebunden werden, die der algebraischen Sprache entspricht, sondem kann bei geeigneter Wahl der Veranschaulichung auch diese untersrutzen. Die Lemumgebung bietet einen solchen Anschauungskontext mit Punktmustem, die die meisten Kinder in Deutschland heute im Arithmetikunterricht der Grundschule kennenlemen. Der arithmetische Term 2·3+4 etwa kann so dargestellt werden:
••• ••• •••• Nicht aIle Kinder sehen in dieser Darstellung den Rechenterm 2·3+4 reprasentiert. Man kann in ihr auch andere Strukturierungen sehen, z.B. eine vertikale Einteilung, die 3+3+3+ 1 veranschaulicht. Es ist aber auch moglich, uberhaupt keine Strukturierung zu beriicksichtigen und in dem Muster lediglich 10 Punkte abzuzahlen. Will man Terme mit groBen Zahlen darsteIlen, zwingt dies starker auf Strukturierungen zu achten, da das Abzahlen der einzelnen Punkte praktisch nicht durchfiihrbar ist. Die Kinder werden in der Lemumgebung aufgefordert, nach Moglichkeiten der Darstellung von Rechenaufgaben mit groBen Zahlen zu suchen. Eine Moglichkeit ist z.B. die Reprasentationsweise anzupassen, indem die rechteckige Anordnung der Punkte durch einen Kasten, und die jeweiligen Anzahlen durch Beschriftung angedeutet werden. So kann der Term 35·3+4 geometrisch erfasst werden mit:
35
b j3 1
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Darstellungen dieser Art konnen aile arithmetischen Terme aus nattirlichen Zahlen reprasentieren - wenn sie unter einem entsprechenden Fokus angesehen werden. Dass geometrische Darstellungen keineswegs selbsterklarend und eindeutig sind, zeigt Sobbeke (2005) in einer umfangreichen Untersuchung zu Deutungen, die Kinder strukturierten geometrischen Darstellungen geben: Der Akt des Wahmehmens oder Hineinlesens von Strukturen in solche Abbildungen ist bereits fUr sich eine anspruchsvolle mathematische Tlitigkeit, die "visueller Strukturierungsfahigkeiten" bedarf.
1m vorliegenden Beispiel etwa muss die Beschriftung ,,35" gedeutet werden. Sie kann z.B. als Anzahl von gedachten, neben einander liegenden Punkten, oder als Lange der Rechteckseite verstanden werden. Wenn im ersten Fall entsprechend die 3 als die Anzahl gedachter, untereinander liegender Punkte und das groBe Rechteck als Hinweis auf eine rechteckige Anordnung dieser 3 mal 35 Punkte aufgefasst wird, so kann dieses Rechteck als Darstellung des Produktes 3·35 gedeutet werden. Liest man keine Punkte in die Darstellung hinein, sondem fasst die Beschriftungen als Langenangaben auf, so passt hierzu eine Interpretation des Rechtecks als Flache mit dem Inhalt von 3·35 Einheitsquadraten. Das ist jedoch eine sehr anspruchsvolle Deutung, die vielen Funftklasslem
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nicht vertraut sein wird. Eine weitere Herausforderung der vorgeschlagenen Darstellung besteht in der Tatsache, dass die tatsachlichen Langenverhaltnisse nicht den Zahlverhaltnissen in der Beschriftung entsprechen. Von dieser speziellen Struktureigenschaft der Zeichnung ist hier abzusehen: sie ist nicht maBstabsgerecht.
Eine Schlussfolgerung, die Sobbeke aus ihrer Analyse zieht, ist, dass Anschauungsmittel in einer Weise zum Unterrichtsgegenstand gemacht werden mussen, in der eine Sicht auf dargestellte Strukturen explizit gemacht wird. In der hier vorzustellenden Lemumgebung geschieht dies, indem die Kinder selbst Vorschlage zur Erweiterung der Punktmusterdarstellung erarbeiten und ihre Losungsideen gemeinsam diskutiert werden.
Bei der vorgeschlagenen Reprasentationsforrn konnen durch HinzufUgen bzw. wiederholtes HinzufUgen Addition und Multiplikation so dargestellt werden, dass die Rechengesetze in der geometrischen Anschauung gultig bleiben. Dies errnoglicht, dass viele Beobachtungen auf den Darstellungsebenen der Zeichnung und der forrnalarithmetischen Notation wechselseitig ubertragbar sind (wenn man mit einem entsprechenden Fokus auf die Zeichnungen schaut). Mit diesen geometrischen Darstellungen werden somit nicht nur den Zahlobjekten, sondem auch den Transforrnationen Bedeutungen zugeordnet. Hier konnen Regeln fUr die Operationen entdeckt, hinterfragt, begriindet werden. Durch die Moglichkeit mit diesen geometrischen Darstellungen zu operieren, ohne die reprasentierte Gesamtanzahl zu veriindem, bietet dieser Kontext Anlasse zur Transformation und zum Vergleich von Darstellungen, die unterschiedlich aussehen, aber fUr dieselbe Zahl stehen. Wie bei algebraischen Terrnen wird keine dieser Reprasentationen auf eine Weise mit dem reprasentierten mathematischen Objekt identifiziert, die die Darstellung unter anderen hervorhebt.
Die geometrischen Darstellungen fUr arithmetische Terme mit groBen Zahlen konnen in einem weiteren SChritt auch fUr Terrne mit unbestimmten Zahlen verwendet werden, indem die Beschriftung einer Seite unbestimmt bleibt: indem die Beschriftung ganz weggelassen wird oder durch ein Zeichen ersetzt wird, welches keine Fesdegung auf eine bestimmte Zahl bedeutet:
x+l0
b Ix 1
4
Dieselben Uberlegungen, die mit Zeichnungen mit Zahlbeschriftungen angestellt wurden, konnen auch auf diese Variablen angewendet werden. In Fischer (2008) wird an einem Beispiel aufgezeigt, wie Kinder selbst die anfanglichen Darstellungen fortentwickeln konnen.
Der zweite zentrale Zahlaspekt im Anfangsunterricht ist durch die Ordinalzahl gegeben: Eine Zahl tritt in einer bestimmten Position in der Zahlenreihe auf, veranschaulicht als Punkt auf der Zahlengeraden. Die Idee des Weiterzahlens endang dieser Zahlenreihe wird zu den Rechenoperationen des Addierens und Multiplizierens (und ihrer Umkehrungen) erweitert. Eine unbestimmte Zahl wird in diesem Kontext einer der Punkte auf der Zahlengeraden sein, dessen Position nicht naher festgelegt ist. Tritt sie (zusammen mit einem Operationszeichen) als Operator auf, so ist die Operation nur qualitativ, je-
Zahl- und Variablenauffassungen 11
doch noch nicht quantitativ festgelegt. Das oben beschriebene Problem der doppelten Abstraktion besteht hier nicht.
In der Lernurngebung wird ebenfalls ein Anschauungskontext eingefiihrt bzw. reaktiviert, der dem Ordinalzahlaspekt Rechnung trligt: Er beruht auf Pfeilsequenzen am Zahlenstrahl, die die Idee des Fortschreitens anstelle des Anzahlkonzepts aufgreift. Diese Darstellungsform kann in lihnlicher Weise wie die Punktmuster fur groBe Zahlen und dann fur Variable fortentwickelt werden. Auf sie solI hier nicht nliher eingegangen werden, da die fur diesen Aufsatz ausgewlihlten empirischen Beispiele keine Pfeilsequenzen nutzen. Zur besseren Vergleichbarkeit sind alle Daten zu demse1ben Darstellungsformat gewlihlt worden.
2.3 Uberblick fiber die Unterrichtsreihe
In der Einfiihrungssequenz der Unterrichtsreihe erhielten die Kinder eine Einfuhrung in die geometrischen Darstellungsweisen von Rechenaufgaben mit Punktmustern und mit Pfeilsequenzen. Diese wurden in spie1erische Kontexte eingebunden, in denen es urn das Ordnen von Nilssen und urn Klingurusprlinge ging. Die Einfiihrung war mit kleinen Ubungen verbunden. In der nlichsten Teilsequenz, die mit "Timos Trick" bezeichnet wurde, beschliftigten sie sich mit der Frage, woran es liegt, dass ein Produkt, dessen Faktoren sich urn zwei unterscheiden, immer eins kleiner ist als das Produkt der mittleren Zahl mit sich selbst. 1m Rahmen dieser Untersuchung wurden die eingefuhrten Darstellungsweisen so fortentwicke1t, dass sie auch fur groBe Faktoren verwendet werden konnten. Die dritte Teilsequenz, die die Bezeichnung "Immer das Gleiche?" erhielt, thematisierte das Distributivgesetz fur Division. Die Schiilerinnen und Schiller bekamen ein Plickchen von Rechenaufgaben, die sich nur in einer Zahl unterschieden, und die mit Hilfe des Distributivgesetzes alle in der gleichen Weise vereinfacht werden konnen. Aus diesem Themenbereich sind die Beispiele, die in den nlichsten Abschnitten erortert werden.
3 Vorformen von Variablen bei Laura
In der Unterrichtsreihe spielt vielfach die Idee einer Variablen als unbestimmte Zahl eine Rolle. 1m ersten Beispiel werden Verweise der Schillerin Laura9 auf eine solche Variable in zweierlei Hinsicht analysiert. Zunlichst betreffen sie den Darstellungsmodus, in welchern sie auftreten. Hier wird zwischen einer geometrischen Darstellung in Form einer Zeichnung, einer symbolischen Darstellung in Form einer formalen arithmetischen oder algebraischen Notation und einer verbalen Darstellung in mlindlicher oder schriftlicher Form, welche alltagsilbliche Sprache verwendet, unterschieden. Sodann werden Zahldarstellungen in einem Spektrum zwischen einer konkreten und einer unbestimmten Zahl aufgezeigt.
9 Die Namen der Kinder sind geandert worden.
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3.1 Lauras Losung
Mit dem ersten Arbeitsauftrag zur Sequenz "Immer das Gleiche?" werden die SchUlerinnen und SchUler aufgefordert: "Rechnet. Was fallt euch auf? Findet heraus, woran das liegt!" und erhalten dazu folgende sechs Rechenaufgaben:
(5'2+4):2 (11'2+4):2 (36'2+4):2 (19'2+4):2 (28'2+4):2 (849·2+4):2
Darunter befinden sich noch die Hinweise: "Das flillt uns auf' und "Zeichnungen dazu" und jeweils freier Platz fur Notizen.
Laura bearbeitet diese Aufgabe zunachst in einer kleinen Gesprachsgruppe im Unterricht. Der letzte Teil, die Zeichnungen, ist zuhause zu bearbeiten. In der folgenden Mathematikstunde stellt Laura ihre Darstellung in der Klasse vor, indem sie ihre Losung zunachst an die Tafel abzeichnet und anschlieBend kommentiert. FUr eine Analyse stehen ihre Darstellungen auf ihrem Arbeitsblatt und ihre miindlichen A.uBerungen, die aufgenommen und transkribiert wurden, zur VerfUgung.
3.1.1 Lauras Arbeitsblatt
Hinter den sechs Rechenaufgaben stehen auf Lauras Arbeitsblatt Gleichheitszeichen und dann jeweils die Ergebniszahl. Es sind keine Zwischenrechnungen notiert. Es ist denkbar, dass sie die Aufgaben im Kopf berechnet hat, oder dass sie Nebenrechnungen auf einem anderen Blatt angefertigt hat. Es ist aber auch moglich, dass sie das Distributivgesetz fur die Division angewendet hat. Dieses ist SchUlerinnen und Schiilern der 5. Klasse meist fur bestimmte Zerlegungen, welche man hliufig beim Kopfrechnen anwendet, gelaufig, und es ist moglich, dass sie dieses Gesetz auch fur die hier besonders geeigneten Zerlegungen angewendet hat.
Neben def Aufforderung: "Das flillt uns auf:" ist folgendes zu sehen:
Abb.l
Laura fasst mit einem kurzen Satz zusammen, was die Ergebnisse der sechs Aufgaben gemeinsam haben. Der Ausdruck "die erste Zahl" ist eine verbale Beschreibung fur eine Variable, die fur eine von sechs Zahlen steht. Wesentlich an dieser Zahl ist nicht ihre spezifische GroBe, sondern ihre Position im Aufgabenterm. Laura bindet diesen Ausdruck in einen Term ein, ganz in derselben Weise, wie das in der algebraischen Notation mit einer Buchstabenvariablen geschieht. Laura verbindet hier eine verbale mit einer formal-symbolischen Darstellung.
Zahl- und Variablenauffassungen 13
Es fallt zudem auf, dass Laura den Term "Die erste Zahl + 2" als Ergebnis bezeichnet, nicht als Rechenweg, auf dem man das Ergebnis erhlilt. Dies weist auf eine Objektsicht hin. 1m Rinblick auf die in der Fachliteratur dargelegten Schwierigkeiten, im Ubergang von der Arithmetik zur Algebra einen Sichtwechsel von einer reinen Prozessauffassung von Termen hin zu einer Objektauffassung vomehmen zu mfissen, ist diese Pointierung bemerkenswert.
Die Aufforderung, Zeichnungen anzufertigen, beantwortet Laura mit einer einzigen Zeichnung:
Abb.2
Diese eine Zeichnung ist geeignet, alle sechs Aufgaben zu illustrieren. Laura verwendet im linken Teil der Zeichnung eine nicht nliher gekennzeichnete Lange. Zwar kann man hier neun Klistchen abzlihlen, aber diese werden im Gegensatz zur Rohe des Rechtecks nicht durch Beschriftung expliziert. Die Zahl Neun tritt auch in keiner der Rechenaufgaben in Erscheinung. Rier ist eine unbestimmte Zahl geometrisch dargestellt. Diese Idee wird durch den Ausdruck "z. B. 849" gestiitzt, welcher ebenfalls hervorhebt, dass die Zahl beliebig gewlihlt werden kann. Wie oben die verbale Variable, werden hier sowohl die geometrische Variable als auch die "Variable" in Zahlform in die Operation ,,+2" eingebunden dargestellt. Diese Verknfipfung des neuartigen mathematischen Objekts "Variable" mit einer Operation ist ein Indiz flir eine Konsolidierung des gedanklichen Konzepts als eigensmndiges Objekt. Sfard (1991) bezeichnet den Schritt des Operierens mit neuen, abstrakten Objekten als wesentlichen Bestandteil ihrer Verdinglichung.
3.1.2 Lauras ErHiuterung
Laura kommentiert ihre Zeichnung vor der Klasse:
Laura: Also, das ist eigentlich egal wie lang man das macht. Es ist auf jeden Fall nur wichtig, dass man zwei in der Rohe hat. Da kann man irgendeine Zahl nehmen. Das ist auch ganz egal. Das kaon jetzt in dem Falle 849 sein, das kann aber auch eine von den anderen Zahlen sein. Wichtig ist, dass man das ja plus vier rechnen musste und das sind ganz rechts dieses, diesen kleinen Abschnitt, den ich da abgetrennt hab. Das sind vier Klistchen da. Vnd dann diese Linie, die lange. Das ist geteilt durch zwei.
Lehrer: Vnd das Schraffierte? Laura: Das ist dann der Rest, der fiber bleibt. Das was fiber bleibt Das Ergebnis, was
fiber bleibt.
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Laura beschreibt hier mit Worten die Idee: Ein Zeichen (hier ein geometrisches, n1imlich die horizontale Seite des Rechtecks) steht stellvertretend fUr eine nicht nwer bestimmte Zahl aus einer Grundmenge ("eine von den anderen Zahlen"). Den Fall 849 fiihrt Laura als Spezifizierung an, die die allgemeine Idee verdeutlichen soli: Man kann hier irgendeine Zahl in der Weise einsetzen, wie Laura es am Beispiel von 849 vorfiihrt. Die Zahl 849 steht hier also nicht flir sich selbst, sondem flir eine beliebige Zahl aus der Grundmenge der sechs Anfangszahlen.
Die Zahl Zwei spielt in diesem Szenario eine grundsatzlich andere Rolle als die Zahl 849. Wie schon an der Zeichnung zu vermuten, so wird hier in der Erlauterung deutlich, dass die Zwei eine Zahl ist, die in ihrer spezifischen GroBe wichtig ist. Ihre geometrische Reprasentation ist nicht nur durch eine bestimmte Kastchenanzahl, sondem zusatzlich durch die Beschriftung gekennzeichnet, und diese GroBe hebt Laura auch verbal hervor. Die Zwei ist eine Zahl, die nicht variiert wird: eine Konstante. Gleiches gilt hier auch fUr die Zahl Vier.
Das Schraffierte - bestehend aus zwei schraffierten Teilen - erklart Laura als das Ergebnis. Es ist ebenso wie "die erste Zahl" eine unbestimmte Zahl. 1m Unterschied zu der erstenjedoch ist sie keine unabhangige, sondem eine abhangige Variable: Es ist diejenige Zahl, die man - in Abhangigkeit von der ersten Unbestimmten - erhalt, wenn man die letzte Operation (die Division) ausgeflihrt hat (Es ist das, was dann noch ubrig bleibt). Dieses Ergebnis ist durch die Beschriftung als "z. B. 849 + 2" beschrieben.
3.2 Zahlauffassungen
Laura verwendet zahlreiche Reprasentationen flir Zahlen. Eine Analyse der Art der Verwendung dieser Darstellungen und des Zusammenhangs, in dem sie eingesetzt werden, zeigt zudem, dass ein und derselben Form unterschiedliche Auffassungen zugrunde liegenkonnen.
In diesem Abschnitt soli auf Zahlauffassungen eingegangen werden, die in einem Spektrum zwischen einer bestimmten, in ihrer spezifischen GroBe relevanten Zahl und einer unbestimmten Zahl liegen, und somit in unterschiedlichem Grad eine konkrete Zahl im Blick haben.
Eine bestimmte Zahl, deren individuelle Eigenschaften betont oder genutzt werden, wie etwa ihre absolute GroBe, ihre Nachbarschaft zu einer bestimmten anderen Zahl, ihre Teilbarkeitseigenschaften, usw. steht am einen Ende des zu betrachtenden Spektrums. Bei Lauras Prasentation spielen die Konstanten eine solche Rolle. Aber auch die Rechenergebnisse, die sie hinter den sechs Aufgaben notiert, sind moglicherweise durch Berechnung der jeweiligen Aufgaben ohne Ausnutzung einer Struktur zustande gekommen, also z. B. folgendermaBen:
(849·2+4):2 = (1698+4):2 = 1702:2 = 851. In dem Fall haben sie den Charakter von bestimmten Zahlen, die in ihren jeweiligen individuellen Eigenschaften auftreten. Eine andere Sichtweise, etwa die Zerlegung in eine Summe, ist bei Laura denkbar, aber es gibt keine Hinweise darauf.
Falls man die einzelnen Ergebnisse als Summe aus der ersten Zahl und Zwei konstruiert, also etwa im Ergebnis der letzten Rechnung die Summe 849 + 2 sieht, so spielt
Zahl- und Variablenauffassungen 15
die Zahl 849 eine etwas andere Rolle: Sie ist zwar als bestimmte Zahl benannt, aber wird als Baustein verwendet, ohne dass individuelle Eigenschaften dieser Zahl beriicksichtigt werden. Ein solcher Umgang mit der Zahl als Baustein kommt z. B. zum Tragen, wenn man das Distributivgesetz anwendet:
(849·2+4):2 = 849·2:2+4:2 = 849+2 Laura verwendet 849 noch in einer anderen, weitergehenden Weise als Zahl, die
nicht in ihren spezifischen Eigenschaften beriicksichtigt wird: Laura gebraucht sie als Stellvertreter, an dem sie ein allgemeines Vorgehen mit allen moglichen (oder allen hier auftretenden) Anfangszahlen demonstriert. In ihrer deutlich zum Ausdruck gebrachten Absicht, hier aile sechs Aufgaben zugleich darzustellen, nutzt sie das Zahlzeichen ,,849", oder genauer "z. B. 849", urn zu zeigen, wie mit einer beliebigen Zahl verfahren wird. Dieses Zahlzeichen steht fur die Zahl 849, die als Baustein verwendet wird, und zugleich fur jede andere Zahl, indem sie exemplarisch demonstriert, wie jede andere Zahl als Baustein eingesetzt werden kann. Durch die Kombination des schriftlich-verbalen Ausdrucks "z. B." mit dem formal-arithmetischen Zeichen ,,849 + 2" Hisst sich diese Reprasentation nicht eindeutig einem Darstellungsmodus zuordnen.
Eine von einer bestimmten Zahl ganzlich gelOste Zahldarstellung bietet die Darstellung einer unbestimmten Zahl, die keine Zahl unter anderen heraushebt. Laura verwendet verbale ("die erste Zahl") und geometrische (unbestimmte Lange) Reprasentationen fur diesen Begriff. Die Einbindung der verbalen Darstellung in eine formale Summe ("die erste Zahl + 2") nutzt wiederum zwei Darstellungsmodi.
Die Tabelle 1 gibt eine Ubersicht von Lauras Losungen. Beispiele, die bei Laura nicht auftreten, sind grau unterlegt:
I Zahlauffassung I Beispiel formal I Beispiel verbal I Beispiel geom.
Bestimmte Zahl 2 Wichtig ist, dass (GroBe relevant) 851 man in der Rohe 28
(Rechenergebnis zwei hat. der 6. Aufgabe)
Bestimmte Zahl als
Bestimmte Zahl als z.B. 849 + 2 I I I I Stellvertreter fur be- (Ergebnis der Rechenaufgaben) z.B. 849 + 2 liebige Zahl (GroBe nicht relevantl
Unbestimmte Zahl
Tab. 1
16 Astrid Fischer
Die vier Zahlauffassungen, die in der Tabelle vorgestellt sind, stehen in einer hierarchischen Ordnung: Eine bestimmte Zahl, deren spezifische Eigenschaften eine Rolle spielen, ist einer konkreten Zahlauffassung am nachsten. In den weiteren Schritten wird zunehmend von Eigenschaften einer bestimmten Zahl abstrahiert: Bei der Bausteinauffassung werden individuelle Eigenschaften der Zahl zwar nicht mehr beriicksichtigt, aber sie wird weiterhin als eine individuelle Zahl angesehen, die mit ihrem Zahlnamen identifiziert wird. Bei der Stellvertreterauffassung wird der Zahlname einer einzelnen Zahl nicht benannt, urn eine Aussage tiber diese Zahl zu treffen, sondem urn auf eine beliebig auswahlbare Zahl Bezug nehmen zu konnen. Die Stellvertreterrolle einer bestirnmten Zahl ermoglicht die kognitive Anbindung an die Idee, dass es sich urn eine echte Zahl handelt, auch wenn nicht naher in Betracht gezogen wird, welche es ist. Die vierte Stufe schlieBlich spricht eine unbestirnmte Zahl an, die so dargestellt wird, dass kein Bezug zu einer bestirnmten Zahl erkennbar bleibt.
Die hierarchische Ordnung dieser vier Zahlauffassungen bedeutet nicht, dass Lernende jeweils Darstellungen auf der hOchsten Stufe wahlen, die sie gedanklich fassen konnen. Das Beispiel von Laura zeigt, dass sie verschiedene Stufen der Darstellung verwendet. Aber die beiden Zwischenstufen scheinen wertvolle Sichtweisen auf Zahlen zu beinhalten, die die kognitive Erfassung des Variablenbegriffs erleichtem, da sie eine Loslosung von den bekannten Eigenschaften einer bestimmten Zahl untersmtzen und zugleich die Zahl als Objekt irn Blick behalten.
4 Deutung von Variablen
Ein wesentliches Merkmal des Darstellungswerkzeugs "Variable" ist die Moglichkeit, mit ihr Abhangigkeiten von Zahlen zu beschreiben. 1m Themenbereich "Immer das Gleiche?" der Unterrichtsreihe treten Zahlabhangigkeiten in unterschiedlichen Abhangigkeitsstufen auf. Wir betrachten als Beispiel Terme der Form (x·4+8):4. Hier treten zum einen Konstante auf, die jede fUr sich als absolute GroBen stehen. Das ist die Vier und die Acht. Zurn Zweiten erscheint hier eine Unbestimmte, x. Sie ist unabhangig, steht fur eine nicht naher definierte Zahl. SchlieBlich spielen hier noch weitere unbestimmte Zahlen eine Rolle, die von der ersten, x, abhangig sind, namlich die Zahl (x·4+8):4, aber auch x·4 und x·4+8, und Ausdriicke, die bei Anwendung des Distributivgesetzes als Zwischenergebnisse aufireten, wie x·4:4 und x+2. Dieser letztgenannte Term entsteht durch Ausnutzung einer weiteren Abhangigkeit, namlich eine Beziehung 8:4=2 zwischen den Konstanten 8 und 4.
In diesem Kapitel soIl betrachtet werden, wie Kinder Abhangigkeiten zwischen Zahlen, die als Unbestirnmte aufireten, beschreiben. Inwiefem gelingt es Kindem, arithmetische Abhangigkeiten, die durch eine geometrische Darstellung gegeben sind, mit Hilfe von Variablentermen zu beschreiben? Es werden Darstellungen von vier Kindem in Einzelinterviews vorgestellt. Die Interviews wurden eine W oche nach Beendigung der Unterrichtsreihe durchgefuhrt. Die vier Kinder sind aus zwei verschiedenen Klassen.
Zahl- und Variablenauffassungen 17
4.1 Aufgabe in Einzelinterviews
Die Interviews be standen aus zwei Teilen. 1m ersten erhielten die Kinder eine Aufgabe aus dem Themenbereich "Timos Trick". Sie wird hier nicht naher vorgestellt. Der zweite Teil bezog sich auf die Teilsequenz "Immer das Gleiche?". Leitfaden des Gesprachs war hier:
l. 2.
Berechnen der Aufgabe (117·4+8):4 mit moglichst wenig Rechenaufwand. Skizzieren der Rechenaufgabe. (Falls in der Rechnung das Distributivgesetz angewendet wurde, sollte die Skizze den Rechenweg begrtinden, falls es nicht angewendet wurde, sollte sie als Mittel eingesetzt werden, urn einen abkiirzenden Rechenweg zu fmden.)
3. Deuten einer vorgegebenen Zeichnung. (In der Zeichnung konnte z. B. die Aufgabe (117·4+8):4 gesehen werden.)
Die folgenden Daten beziehen sich auf die dritte Frage. Die Schiilerinnen und SchUler bekamen dieses Arbeitsblatt vorgelegt:
Dieser Streifen nicht, welche.
steht flir eine Zahl. Du weiBt
FUr welche Rechenaufgabe steht diese Skizze?
III (Bemerkung: Das Arbeitsblatt enthlilt einen Schreibfehler, der im Laufe der Inter
views korrigiert wurde: der rechte Abschnitt des letzten Teilmusters muss in der Mitte unterteilt werden.)
1m Unterricht waren die Vokabeln "Zeichnung" und "Skizze" unterschieden worden, urn zwischen geometrischen Darstellungen, die exakt, maBstabsgerecht sind, und solchen, die nicht maBstabsgerecht sind, zu unterscheiden. Letztere wurden verwendet, urn Zahlen sehr unterschiedlicher GroBe in einer Darstellung reprasentieren zu konnen. 1m Unterricht wurden von einigen Schiilerinnen und Schiilem als Weiterentwicklung des Punktmusterformats zur Darstellung groBer Zahlen Rechtecke verwendet, in die an den Anfang und das Ende einer Zeile je ein oder mehrere Kringel und dazwischen Piinktchen eingezeichnet wurden, urn zu signalisieren, dass dort noch weitere Punkte liegen; von anderen Schiilem wurden leere Rechtecke bevorzugt. FUr das Aufgabenblatt wurde die zweite Form gewahlt. FUr Schiiler, die in ihren eigenen Skizzen im ersten Teil des Interviews die erste Form verwendeten, wurden dann in dem ersten Streifen auf dem Arbeitsblatt zur Erlauterung der Darstellung die Kringel und Punktchen erganzt.
18 Astrid Fischer
Die Ubertragung dieser geometrischen Darstellung in eine formal-symbolische Darstellung ist keineswegs eindeutig, sondern bedarf der Interpretation der Skizze. Hier gibt es zahlreiche Alternativen in unterschiedlichen Hinsichten.
Die Aufgabenstellung kann so verstanden werden, dass es sich urn eine einzige Rechenaufgabe handelt. Sie kann damit beantwortet werden, dass eine bestimmte, zur Skizze passende Rechenaufgabe gewlihlt wird, oder damit, dass alle passenden Rechenaufgaben beschrieben werden.
Die Skizze kann als Darstellung des Bauplans von Zwischenergebnissen gelesen werden, wobei der erste Teil das Vierfache der Zahl darstellt, welche durch den langen Streifen reprlisentiert wird, der zweite Teil die Surnme des Vierfachen und Acht, und der dritte Teil ein Viertel dieser Summe bzw. die Surnme aus der Zahl des Streifens und Zwei. Man kann die Skizze aber auch als Darstellung von Rechenoperationen lesen: Der Ubergang von dem Streifen zum ersten Teil der Skizze ist eine Multiplikation mit Vier, der Ubergang vom ersten zum zweiten Teil zeigt die Addition von Acht und der dritte Ubergang zeigt eine Division durch Vier. Abkiirzend kann dieser Vorgang durch den Ubergang von dem ursprUnglichen Streifen zum letzten Teilmuster als Addition von Zwei beschrieben werden.
Ob man nun die Skizze als Darstellung eines Bauplans oder eines Rechenvorgangs wahrnimmt, konnen verschiedene Terme als Deutung der einzelnen Teilmuster verwendet werden. Wlihlt man fUr den anfanglichen Streifen die Darstellung x, so kann das zweite Teilmuster z. B. gelesen werden als x+x+x+x+8, als 4·x+8, als x·4+2·4, als (x+2)·4. Entscheidet man zudem, dass die Breite der kleinen Rechtecke auch unbestimmt ist, so wird aus dem zuletzt vorgeschlagenen Term (x+2·y)·4. Wird - wie von der Interviewerin intendiert - die gesamte Skizze als Entwicklung eines Bauplans oder eines Rechenvorgangs verstanden, so schrankt dies die Moglichkeiten der Deutung der Teilmuster ein, da die Darstellung des vorangegangenen Teilmusters jeweils einflieBt.
Der Fokus, unter dem die folgenden Beispiele betrachtet werden sollen, gilt der Art und Weise, wie die Kinder die Abhangigkeiten, welche durch die Skizze zum Ausdruck gebracht werden, formal oder verbal beschreiben. Besonderes Augenmerk gilt den Darstellungen der Unbestimmten, welche im Laufe des Gesamtprozesses aus der ursprUnglichen Unbestimmten gewonnen werden (wie x·4 oder x·4+8).
4.1.1 Henrike
Die Schiilerin Henrike deutet die Skizze folgendermaBen:
I Henrike: Der Streifen steht fUr eine Zahl. Das konnte ja z.B. zehn sein. Oder zwolf, oder was weiB ich was. Dann konnte das zwolf mal vier sein. (zeigt auf das erste Teilmuster.)
2 Interviewerin: Schreib mal auf. 3 H: (notiert: ,,·4 ") SolI ich jetzt auch zwolf schreiben? Ich schreib mal n x. (ergiinzt
zu "x·4")
Henrike erfasst die allgemeine Idee einer unbestimmten Zahldarstellung zunachst, indem sie zwei Beispiele anfiihrt. Sie entscheidet sich dann, in ihrer schriftlichen Darstellung
Zahl- und Variablenauffassungen 19
des ersten Teilmusters anstelle einer Spezifizierung den Rechenterrn mit Hilfe eines Buchstabens zu reprasentieren, der davon absieht, eine bestimmte Zahl auszuzeichnen.
4 H: Und dann plus (2 Sek) vier mal, kommt drauf an. (5 Sek) 5 I: Das kannst du so oder so schreiben, glaub ich, was du jetzt meintest. 6 H: Ja dann wieder (zeigt auf das zweite Muster) durch vier, weil es dann ja einen
(zeigt im dritten Muster auf den linken Streifen) ergibt, also x geteilt durch vier (notiert "x:4" neben dem zweiten Muster), dann
[Die Interviewerin schlagt vor, zunachst beim zweiten Teil zu bleiben und den dritten erst spater zu beriicksichtigen.]
7 H: O.k. (streicht "x:4" durch) Das geteilt, das durch vier, also mal vier, geteilt. Plus, z.B. jetzt acht? Also x mal vier (zeigt auf den Term x'4, notiert "x") plus, z.B., (notiert ,,0" hinter dem x) oh (gesprochen wie der Buchstabe 0) ist das jetzt.
8 I: O.k. Jetzt diese Zahl (zeigt auf den hinteren Teil des zweiten Musters) meinst du? 9H: Ja. 10 I: Die habe ich tatsachlich als Acht gemeint, weil man die so erkennen kann.
Hemike beginnt in diesem Abschnitt (Beitrag 4) mit einer Beschreibung des zweiten Teilmusters: hier wird etwas zum Vorherigen addiert. Sie wiederholt entweder den ersten Surnmanden, "vier mal" und unterbricht sich, oder sie meint mit dem "vier mal" das Vierfache von zwei kleinen Quadraten. Sie ist sich aber nicht schlussig, was sie addieren muss. Sie wird durch die Interviewerin auf etwas anderes abgelenkt. Vie 1-leicht entscheidet sie auch nur, zunachst das zu beschreiben, was ihr klar erscheint. Jedenfalls wendet sie sich im Beitrag 6 zunachst der Entwicklung vom zweiten zum dritten Teilmuster zu. Diese beschreibt sie als Division durch vier und notiert:
x:4 Sie verwendet x hier nicht mehr als diejenige Zahl, die der einfache schmale Strei
fen reprasentiert. Stattdessen steht x nun fiir das, was das zweite Teilmuster reprasentiert, auf das die Division anzuwenden ist. Hemike ist mit der Beschreibung des zweiten Teils der Skizze noch nicht fertig, ist sich also noch nicht im Klaren, was es reprasentiert. Aber was immer das ist, hierauf ist im letzten Schritt die Operation ,,:4" anzuwenden. Die unbestimmte Zahl stellt Hemike wiederum mit "x" dar, ohne zu erwagen, ob es sich urn dieselbe unbestimmte Zahl handelt wie zuvor. Eine solche Frage mag fiir sie auch irrelevant sein, da sie ihr Fokus auf jeweils einem einzelnen Ubergang von einem Teilmuster zum nachsten liegt.
1m Beitrag 7 fahrt sie mit der Ubedegung fort, was sie im zweiten Muster addieren muss: Sie schlagt als Beispiel acht vor, was der Anzahl der kleinen Quadrate im zweiten Teilmuster entspricht. Dann fasst sie zusammen, was sie flir den ersten Surnmanden bereits beschreiben hat, namlich x mal vier, und erglinzt ein neues Zeichen, namlich den Buchstaben O. Offenbar sieht Hemike hier eine zweite Unbestimmte. Da nicht vorher deklariert wurde, dass die acht Quadrate die Konstante Acht reprasentieren sollen, bzw. dass ein kleines Quadrat eine Einheit darstellen solI, ist diese Deutung sinnvoll. Hemike verfcihrt genauso wie beim ersten Teilmuster: Zunachst wlihlt sie ein Beispiel, dann aber flir ihre Notation ein allgemeines Zeichen. Hier lasst sie jedoch die zu-
20 Astrid Fischer
vor gesprochenen Zeichen fUr die beiden Operationen mal und plus weg und notiert nur "x" und mit einem kleinen Abstand ,,0":
x 0
1m ersten Fall kann der Grund derselbe sein wie beim Ubergang zum dritten Teilmuster, dass sie namlich das erste Zwischenergebnis, auf das die nachste Operation angewendet wird, nun mit ihrem Zeichen fUr eine Unbestimmte, x, versieht. Die zweite Unbestimmte, 0, wird notig, weil die beiden Summanden verschieden sind. Ais Grund fUr das Weglassen des Additionszeichens ware eine Sichtweise moglich, die der geometrischen Darstellung entspricht: Die geometrische Addition wird durch ein neben einander Zeichnen der beiden Summanden reprasentiert.
Nachdem die Interviewerin das Problem mit der zweiten Variable dadurch vereinfacht hat, dass sie ihr die Zahl Acht zuordnet, wendet sich Henrike nun nochmals dem Ubergang zurn dritten Muster zu:
11 H: Dann durch, hier, also (2 Sek) (zeigt aufihren Term "x·4" neben dem ersten Muster) ich schreib we iter (notiert fiber dem ersten Tei! des dritten Musters "x:4" und fiber dem zweiten Tei! ,,8:4" spricht dabei:) x durch vier und acht durch vier.
Dieses Mal stellt Henrike die Division des zweiten Teilmusters als zwei getrennte Divisionen seiner beiden Teile dar. FUr den ersten Summanden, der unbestimmte GroBe hat, wahlt sie das Zeichen x. Es tritt hier in der Bedeutung auf wie beim Term fUr das zweite Muster, wo x fUr den vierfachen Streifen steht.
Die Interviewerin spricht nun die Problematik der Bedeutungszuweisung fUr x an:
12 I: 1st das denn hier das x durch vier, (zeigt auf den langen Streifen im dritten Mus-ter) das vordere?
13 H: Ja. 14 I: x ist ja das hier (zeigt auf den oberen Streifen). 15 H: Ja. Kann ich schon mal hier schreiben (notiert "x" am oberen Streifen) und
das hier die acht (notiert ,,8" links neben dem zweiten Muster). 16 I: Und warum ist das (zeigt auf den ersten Tei! des dritten Musters) hier x durch
vier, dieses StUck? 17 H: Weil das hier (zeigt auf den vorderen Tei! des zweiten Musters) eins zwei drei
vier Streifen waren und jetzt (zeigt auf den ersten Tei! des dritten Musters) ist es ein Streifen.
18 I: Ah, aber x ist ja nicht das Ganze (zeigt auf den vorderen Tei! des zweiten Musters) hier, sondern x ist ja nur ein Streifen. Soviel ist ja x.
19 H: Ahja, x mal vier, das x mal vier durch vier ist es dann. (notiert fiber den ersten Teil des dritten Musters "x·4:4 ").
Henrike ist durch die Nachfrage der Interviewerin nicht irritiert, sondern ist sich ihrer Sache sicher, auch als die Interviewerin erinnert, dass x fUr den urspriinglichen Streifen steht. Henrike stimmt dem zu und beschriftet ihn sogar mit x. Dennoch erlautert sie im Beitrag 17, dass der linke Teil des dritten Teilmusters "x:4" ist, da er ein Viertel des linken Teils des zweiten Teilmusters ausmacht. Erst als die Interviewerin (Beitrag 18)
Zahl- und Variablenauffassungen 21
die urspriingliche Bedeutungszuordnung des x im zweiten Teilmuster als einen der vier Streifen deutet, wechselt Henrike ihre Sichtweise. Nun da sie die anfangliche Bedeutungszuordnung des langen Streifens auf jeden langen Streifen des dreiteiligen Musters bezieht, sieht sie den Widerspruch und korrigiert ihren Term.
Bei Hemikes Sichtweise treten verschiedene unbestimmte Zahlen in der gegebenen geometrischen Darstellung auf: Zunachst ist da der anfangliche Streifen, fUr den sie die Beschreibung "x" verwendet. Dann gibt es das Rechteck aus acht kleinen Quadraten, das sie mit einem anderen Zeichen, ,,0", darstellt. Dieses Rechteck reprasentiert in ihren Augen offenbar eine weitere unbestimmte, von der ersten Unbestimmten unabhangige Zahl. Au13erdem treten noch unbestimmte Zahlen auf, die aus der ersten Unbestimmten, genannt x, gewonnen werden: das Vierfache von x und die Summe aus dem Vierfachen von x und Acht. Diese von x abhangigen unbestimmten Zahlen, auf die jeweils eine neue Operation angewendet wird, bezeichnet Hemike ebenfalls mit dem Zeichen "x". Es bleibt offen, welcher der gegebenen Zusammenhange Hemikes Vorstellung eigentlich bestimmt: Verwendet sie das Zeichen "x" jeweils fUr die unbestimmte Zahl, auf die ihre aktuelle Operation angewendet wird? Oder betrachtet sie "x" als Zeichen rur alle unbestimmten Zahlen, die aus dem urspriinglichen x entstehen? Oder handelt es sich hier nicht um eine bestimmte Sichtweise auf die Bedeutung und Verwendungsweise einer Variablen, sondem urn eine bestimmte Interpretation des gegebenen geometrischen Musters? Nach der Intervention der Interviewerin nimmt Hemike den Gesamtzusammenhang der drei Teilmuster in den Blick und stellt die spezifische Abhangigkeit des linken Teils des dritten Teilmusters yom ursprunglich mit "x" bezeichneten Streifen durch einen Term dar.
4.1.2 Rico
Rico hat zu der Rechenaufgabe (117·4+8):4 keine eigene Skizze angefertigt. Er erhalt daher die Skizze der Interviewerin mit dem Kommentar, dass zunachst angenommen wird, dass in dem ersten Streifen 117 Niisse liegen. Zudem erganzt die Interviewerin in dem ersten Streifen vome und hinten je zwei Kringel und dazwischen Piinktchen. Diese Darstellungsweise hat Rico namlich im ersten Teil des Interviews zu "Timos Trick" fUr groBe Zahlen verwendet. Es ist eine Form, die noch an die einzelnen Punkte erinnert, ohne dass ihre Anzahl in einer Weise dargestellt wird, dass sie einzeln abgezahlt werden konnen. Rico wird dann gebeten, die Skizze zu deuten.
Er schreibt neben das erste Teilmuster 117·4
und beschreibt damit richtig den vierfachen 117er Streifen. Neben das zweite Teilmuster schreibt er:
117+8. Zu dieser Beschreibung passt nicht mehr die urspriingliche Bedeutung, dass in ei
nem langen Streifen 117 Nusse sind. Rico verwendet hier ,,117" in der gleichen Weise, wie Hemike mit dem Zeichen "x" urngeht: ,,117" reprasentiert das, worauf die jeweilig betrachtete Operation angewendet wird, oder das, worin die urspriingliche 117 verwandelt wurde. Er verbindet 117 nicht mit dem langen Streifen als Anzahl der Nusse, die in jedem dieser Streifen liegen, sondem verwendet das Zahlzeichen 117 variabel als Be-
22 Astrid Fischer
zeichnung fUr Objekte, deren spezifische GroBe nicht abgezlihlt werden kann oder nicht relevant erscheint.
Ohne Ricos Antwort weiter zu kommentieren, fragt die Interviewerin nach, ob er sich mit dieser Antwort sicher ist. Er zogert einen Moment, lachelt, und korrigiert seinen schriftlichen Term zu 117·4+8. Damit sieht er das zweite Teilmuster im Zusammenhang mit dem urspriinglichen Streifen - nicht nur mit dem ersten Teilmuster - und kehrt er zu der ersten Deutung fUr 117 zuruck. SchlieBlich beschriftet er noch das dritte Teilmuster mit 117·4+8:4. Dieser Term ist nicht ganz korrekt, denn es fehlen Klammern, aber es sieht so aus, dass Rico nun bei der Bedeutungszuordnung fUr 117 bleibt.
4.1.3 Tom
Als Tom das Arbeitsblatt mit der vorbereiteten Skizze erhalt, werden fUr ihn wie fUr Rico entsprechend seiner eigenen Darstellung Kringel und Ptinktchen in den ersten Steifen gezeichnet, die andeuten, dass Ntisse darin liegen. Tom wird dann gefragt, welche Aufgabe das dreiteilige Muster darstellen konnte.
Tom deutet den ersten Teil verbal als "vier mal zehn" und schreibt diesen Ausdruck neben das Muster:
4·10 Zum zweiten Teil erklart er: "Das (dabei zeigt er auf den vorderen Teil des zweiten
Teilmusters) sind dann halt hier wieder die vier mal zehn, und dann plus acht.". Er notiert neben dieses Teilmuster:
+8 AnschlieBend zeigt er auf das dritte Teilmuster und erklart: "und dann durch vier".
Er notiert neben diesem Teil: :4
In dieser Episode zeigt Tom durch seinen gesprochenen Kommentar zum zweiten Teil, dass er das ganze Muster im Blick hat. Er notiert schriftlich jedoch nur das, was neu hinzukommt gegeniiber dem vorhergehenden Teil der Skizze. So stellt seine schriftliche Beschreibung die zuletzt ausgefUhrte Operation dar. Zum dritten Teilmuster erwahnt er auch miindlich iiberhaupt nur die Operation, die vom zweiten zum dritten Teil fUhrt. In beiden Fallen notiert er die Operation, ohne anzugeben, auf was sie angewendet wird. Liest man allerdings die schriftliche Darstellung aller drei Teile zusammen, so ergibt sich eine vollstandige Darstellung der Rechenaufgabe, die durch die dreiteilige Skizze beschrieben ist:
4·10 +8 :4
Die Interviewerin fragt nun, wie die gesamte Aufgabe, die er beschrieben hat, lauten wfude, und Tom antwortet: "In Klammern vier mal zehn plus acht Klammer zu durch vier." Er notiert dazu:
4·10+8:4 lasst hier die Klammern also weg. Das mag ein Fltichtigkeitsfehler sein, denn seine mtindliche Beschreibung berucksichtigt die Klammern. Es mag aber auch an der Ubertragung der oben in drei Zeilen notierten Beschreibung liegen, in der keine Klammern gebraucht werden, da die Reihenfolge der Operationen durch die drei Zeilen - bzw. die
Zahl- und Variablenauffassungen 23
drei Teilmuster - gegeben ist. Deutlich wird, dass Tom hier die gesamte Aufgabe im Blick hat, auch wenn er zu den Einzelteilen jeweils nur die aktuelle Operation aufschreibt.
Die Interviewerin fragt nun, wie man die Aufgabe notieren konnte, wenn man nicht weiB, wie viele Niisse in dem Streifen sind. Tom erkHi.rt "Indem man einfach son Strich und dannjetzt z.B. plus acht durch vier" und notiert dazu:
-+8:4 Er fahrt fort: "Hatte man hier noch, da (er zeigt auf den Strich, den er etwas verliingert) kann dannjede Zahl drin sein."
Mit dieser Notation gelangt Tom zu einer allgemeinen Darstellung, die eine unbestimmte Zahl verwendet, hier reprasentiert durch den "Strich". Er wendet auf seine Variable nur die beiden letzten Operationen, plus Acht und geteilt durch Vier, an, nicht die Multiplikation mit Vier. Das erinnert an das bei Henrike und Rico beschriebene Verhalten, auch wenn Tom hier noch zwei Operationen, nicht nur die letzte, berucksichtigt. Der Grund, warum er die erste Operation weglasst, liegt bei Tom moglicherweise darin, dass sie vor der unbestimmten Zahl - fUr die er zunachst zehn gewlihlt hatte - steht, und daher nicht als sukzessives Anhangen der jeweils nachsten Handlung notiert wurde. Der Grund konnte aber auch sein, dass er das erste Teilmuster in der Skizze als Ausgangsbasis ansieht, und nicht den ursprunglichen, durch die schriftlichen Erlauterungen optisch abgesetzten Streifen.
4.1.4 Marja
Marja erhalt ebenfalls ein Arbeitsblatt, auf dem Kringel und Punkte im ersten Streifen erganzt werden, dazu den Kommentar, dass man nicht weiB, wie viele Niisse dargestellt sind, und die Frage, welche Rechenaufgabe durch die Skizze reprasentiert sein konnte.
Marja beschriftet die drei Teilmuster wie folgt: 4·0
4·0+8 0+2
Marja verwendet ein Zeichen fUr eine unbestimmte Zahl, mit dessen Hilfe sie drei Terme notiert, die jeweils ein Teilmuster der Skizze vollstandig und allgemein beschreiben. Sie erganzt nicht nur, was bei jedem neuen Teil der Skizze hinzukommt, sondem beschreibt jedes Teilmuster vollstandig. Das dritte Muster stellt sie in dem dar, was es fUr sich genommen zeigt, nicht in seiner Entstehung aus dem zweiten Muster. Auf diese Weise ist der dritte Term bei Marja einfacher als bei den zuvor vorgestellten Kindem, denn sie kommt mit einem einzigen Operationszeichen aus. Marja deutet jedes der drei Teilmuster in Beziehung zu dem urspriinglichen Streifen. Entsprechend zeigt sie eine Variablenverwendung, bei der die Variable injedem Term dieselbe Zahl, namlich die ihr nicht naher bekannte Anzahl der Niisse in einem Streifen, reprasentiert.
4.2 Variablenverwendungen bei den vier Kindern
In den demonstrierten formalen Darstellungen der interviewten Kinder geht es jedes Mal urn Rechenaufgaben mit unbestimmten Zahlen, in denen die Unbestimmte und weitere, von ihr abhlingige Unbestimmte auftreten. Einige dieser Darstellungen, namlich Ricos
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und auch Toms erste, verwenden Beispielzahlen zur Darstellung der Zeichnung. Beide verrechnen diese Beispielzahlen jedoch nicht in Zwischenergebnisse, sondern gebrauchen ihre jeweilige Anfangszahl als Baustein, den man weiterverfolgen kann, und mit dessen Hilfe die allgemeine Termstruktur sichtbar gemacht wird. Hemike und Marja verwenden Variablenzeichen, die keine bestimmte Zahl auszeichnen. Alle diese Darstellungsmittel sind im Folgenden eingeschossen, wenn von "Variablen" die Rede ist.
In ihrem Versuch, die gegebene geometrische Zeichnung in formale Darstellungen zu tibersetzen, nehmen die Kinder unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bei ihrer Deutung der Zeichnung ein. Diese wiederum stehen in engem Zusammenhang zu ihrer Verwendung von Variablen. Wir sehen uns zunachst ihre anfanglichen Deutungen an, bevor die Interviewerin interveniert.
Ein Madchen, Marja, interpretiert die dreiteilige geometrische Darstellung als eine Beschreibung von drei Objekten, deren Bauplane jeweils auf den urspriinglichen Streifen bezogen sind. Sie geht nicht auf Zusammenhange zwischen den drei Teilmustern ein. Diese Sichtweise spiegelt sich in ihrer Termdarstellung wider: Fiir den Ausgangsstreifen verwendet sie ein Variablensymbol, welches injeder ihrer drei formalen Beschreibungen als Baustein aufiritt, mit des sen Hilfe sie die spezifische Beziehung des jeweiligen Teilmusters zum Ausgangsstreifen darstellt: Unbestimmte, die von der urspriinglichen Unbestimmten abhangig sind, werden in ihrer Beziehung zu dieser exakt beschrieben.
Die anderen drei Kinder, namlich Hemike, Rico und Tom, interpretieren die dreiteilige geometrische Darstellung als eine Beschreibung von drei Operationen, die an den Veranderungen vom Ausgangsstreifen zum ersten Teilmuster bzw. von jeweils einem Teilmuster zum nachsten erkannt werden. Hemike und Rico nehmen dabei jede dieser Operationen einzeln in den Blick, ohne das gesamte Muster als eine Einheit anzusehen. Sie finden formale Beschreibungen dieser Operationen, indem sie fur das jeweilige Ausgangsmuster ihre Variable verwenden und auf diese die Operation anwenden, mit der sie den Ubergang zum nachsten Teilmuster deuten. Auf diese Weise beschreiben sie die einzelnen Abhangigkeiten zwischen den auf einander folgenden Teilmustern. Mit dieser Vorgehensweise ist verbunden, dass sie ihrer Variablen in den drei Termen unterschiedliche Bedeutungen zuordnen. Die Abhangigkeit dieser Variablen von einander wird nicht quantitativ exakt angegeben. Moglicherweise ist aber der gemeinsame Name als qualitative Kennzeichnung der Existenz einer Abhangigkeit zu verstehen.
Tom beriicksichtigt in seiner Interpretation der gegebenen Zeichnung ebenfalls die Ubergange zwischen den Teilmustern, dariiber hinaus zeigt er aber auch, dass er eine Veranderung tiber mehrere Teilmuster im Blick hat. In seiner verbalen Reprasentation des zweiten Terms beschreibt er diese Entstehung des zweiten Teilmusters aus dem urspriinglichen Streifen mit Hilfe einer Variablenvorform. In seiner schriftlichen Darstellung hingegen notiert er ausschlieBlich die einzelnen Operationen, die von einem zum nachsten Teilmuster fuhren, ohne dabei eine Variable zu gebrauchen.
Bei Henrike, Rico und Tom gibt die Interviewerin mehr oder weniger deutliche Anregungen, die die Kinder veranlassen, ein Teilmuster in einem groBeren Zusammenhang, nicht nur in Bezug zum vorangehenden Teilmuster, zu sehen. Alle drei wechseln daraufhin zu einer anderen Variablenverwendung, in der die Variable immer fur den urspriinglichen Streifen steht und die Teilmuster durch Terme beschrieben werden, welche ihre spezifische Abhangigkeit von diesem Streifen zum Ausdruck bringen.
Zahl- und Variablenauffassungen 25
4.3 Kritische Reflexion des U ntersuchungsdesigns
Die Kinder zeigen verschiedene Einsatzmoglichkeiten des Werkzeugs "Variable" zur Darstellung von arithmetischen Beziehungen, die durch das geometrische Muster gegebenen werden. Ein Variablengebrauch, bei dem die Variable ihre Bedeutung von Term zu Term wechselt, wie Henrike und Rico ibn anfangs zeigen, entspricht nicht den Konventionen der algebraischen Sprache. Nun stellt sich die Frage, ob dieser Gebrauch auf eine Fehlvorstellung zuriickgeht, welche grundsatzliche Probleme im Variablenverstandnis impliziert, oder ob er lediglich durch die besondere Art der vorgegebenen geometrischen Darstellung angeregt wird. Auch wenn diese nicht notwendig einen solchen Wechsel von der Variablenbedeutung hervorrufi, wird doch deutlich, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem eingenommenen Fokus auf die Zeichnung und der Variablenverwendung besteht.
Moglicherweise ware fUr die empirische Untersuchung eine einzelne, geschlossene geometrische Darstellung des Terms (4·x+8):4 eine geeignetere Vorgabe gewesen, urn Variablenverwendungen der Kinder zu untersuchen. Eine Darstellung der Art, wie Laura sie verwendet, erhielten Kinder einer der anderen beiden Testklassen in einer Obungsaufgabe. Es zeigte sich, dass hier bei mehreren Operationen die Reihenfolge nicht klar war und dass von einigen iiberhaupt nur eine einzige Operation beriicksichtigt wurde. Insbesondere sahen viele Kinder die Schraffierung eines Teils der Zeichnung nicht als Markierung des Ergebnisses an. Bei einer weiteren Versuchsreihe ware es vielleicht lohnend, zwar ein einziges, geschlossenes Muster zu verwenden, dieses aber im Beisein des interviewten Kindes erst aufzuzeichnen, sodass die Reihenfolge der Entstehung eindeutig vorgegeben wird.
Ein Problem, das diese Art der Untersuchung von Variablenauffassungen grundsatzlich beinhaltet, ist die Vieldeutigkeit von geometrischen Darstellungen arithmetischer oder algebraischer Strukturen: Da solche Strukturen nicht explizit gegeben werden, miissen sie in die Darstellung hineingelesen werden. Bei diesem Deutungsvorgang k6nnen unterschiedliche Teilstrukturen hervorgehoben oder entdeckt werden. Diese Offnung fUr vieWiltige Interpretationen erschwert die Analyse der gewonnenen empirischen Daten und ihre Einordnung in allgemeine Kategorien der Variablenverwendung: den einzelnen Kindem kann nicht jeweils eine Form des Variablengebrauchs zugeordnet werden, sondem er ist abhangig von dem Fokus, den sie auf die geometrische Darstellung einnehmen. 1m Hinblick auf die Komplexitat der gestellten Aufgabe (bestehend aus der Interpretation einer geometrischen Darstellung einer mehrgliedrigen arithmetischen Struktur und der Beschreibung der wahrgenommenen Beziehungen mit Hilfe von formalen, aber noch nicht konventionalisierten Darstellungsmitteln) ist dies nicht verwunderlich. Letztlich handelt es sich urn ein sachimmanentes Problem, das zwar durch eine gute Wahl der Darstellung gemildert, aber wohl nicht ganz ausgeraumt werden kann.
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5 Riickblick und Ausblick
Der Aufsatz stellt ein Unterrichtskonzept vor, das Schiilerinnen und Schiilem der Klassenstufe 5 Anregungen gibt, nach Mustem und Strukturen in Rechenaufgaben zu suchen und diese geometrisch zu reprasentieren. Innerhalb des arithmetischen Kontextes werden mit Hilfe der geometrischen Darstellungen Sichtweisen auf Rechenterme und Umgangsformen angeregt, die nach empirischen Untersuchungen zur Praxis des Mathematikunterrichts als ungewohnlich fUr das Lemen in arithmetischen Kontexten bezeichnet werden. Es sind zugleich Auffassungen von Termen und Operationen, die fUr einen verstandigen Gebrauch der algebraischen Sprache als notwendig angesehen werden.
1m Kontext dieser Lemumgebung werden Schtilerinnen und Schiiler unter der Fragestellung beobachtet, welche Vorformen des Variablenbegriffs sie gebrauchen, und in welcher Weise sie diese einsetzen, urn arithmetische Abhangigkeiten darzustellen.
Als Vorformen von Variablen kann eine Skala von zunehmend abstrakten Zahlauffassungen bezeichnet werden. Dabei besteht die Abstraktion in einem Absehen von spezifischen Eigenschaften bestimrnter Zahlen. Auf der ersten Stufe treten sie als Zahlen auf, deren absolute GroBe genutzt wird, urn z. B. Rechenhandlungen explizit auszuflihren und mit einem Ergebnis zu versehen, das durch einen Zahlnamen reprasentiert wird. Auf der nachsten Stufe wird auf diese Moglichkeit des Ausrechnens verzichtet. Zwar wird weiterhin durch einen Zahlnamen auf eine bestimrnte Zahl verwiesen, aber sie wird im Sinne eines Bausteins eingesetzt und kann bis zurn Endergebnis hin verfolgt werden. Auf der dritten Stufe wird ein Baustein weiterhin mit einem Zahlnamen reprasentiert, aber dieser Name steht nicht ausschlieBlich fUr die benannte Zahl, sondem dient als Stellvertreter, an dem gezeigt wird, wie mit einer beliebigen Zahl verfahren wird. Auf der vierten Stufe wird auf die Benennung und damit Hervorhebung einer bestimrnten Zahl verzichtet. Stattdessen erhalt der Baustein ein neutrales Zeichen wie einen Buchstaben oder ein "Platzhalterzeichen".
Der Stellvertretergedanke scheint flir einige Lemende ein Konzept zu sein, mit dem sie selbststandig den Aspekt der Unbestimrnten erfassen und komrnunizieren konnen. Auch das Prinzip, dass eine Zahl nicht imrner in ihrer absoluten GroBe relevant ist, sondem als ein Baustein auftreten kann, der unverandert beibehalten werden kann und im Endergebnis erscheint, wird von vie len der an der Unterrichtsreihe beteiligten Schiilerinnen und SchUler genutzt. Hier erweisen sich diese beiden Auffassungen als hilfreiche Zwischenstufen zwischen arithmetischen und algebraischen Objekten. Es kann lohnend sein, Schiilerinnen und Schiilem innerhalb eines arithmetischen, voralgebraischen Rahmens Zeit zu geben, Zahlen als Bausteine und als Stellvertreter flir andere Einsetzungen zu gebrauchen. Es konnen viele Anlasse flir eine solche Bausteinverwendung geschaffen werden: etwa Rechenaufgaben wie die in diesem Aufsatz vorgestellten, in denen aufgrund von Rechengesetzen oder Urnkehroperationen die Endergebnisse in einer einfachen Beziehung zu einer Ausgangszahl stehen. Hier lohnt es sich, dieser Beziehung auf die Spur zu kommen. Anregungen zur Bausteinsichtweise geben aber auch schon Aufgabenstellungen, in denen Terme als Zahlen benannt werden, und in denen es ntitzlich ist, mit ihren Bestandteilen zu argumentieren, statt Ergebnisse "auszurechnen". In neueren Grundschulbtichem finden sich viele Beispiele dieser Art.
Zahl- und Variablenauffassungen 27
Die Stufenabfolge von zunehmend abstrakten Zahlauffassungen von bestimmten hin zu unbestimmten Zahlen zeigte sich in einer Aufgabenumgebung, die den Variablenaspekt der generalisierenden Zahl betont. Fili den Variablenaspekt der gesuchten Unbekannten, in der eine Zahl gesucht wird, welche eine gegebene Bedingung erfUllt, ist diese Stufenabfolge wenig sinnvoll: Die gesuchte Zahl ist eine bestimmte Zahl, deren spezifische Eigenschaften - ihre genaue GroBe - gesucht werden. Gibt es fUr diesen Variablenaspekt ebenfalls hilfreiehe Zwischenstufen, die Lemenden erleichtem, die Idee einer bestimmten, ihnen aber noch nicht dem Namen nach bekannten Zahl und den Umgang mit einer solchen Zahl erleiehtem? Hier ist eine eigene empirische Untersuchung wiinschenswert. Gleiehes gilt fUr weitere Variablenaspekte, etwa den der funktionalen Veranderung. Weitergehend stellt sich dann auch die Frage, wie die verschiedenen Variablenaspekte von Lemenden zu einem vielseitigen Variablenkonzept verbunden werden, bzw. welche didaktischen MaBnahmen dies unterstiitzen konnen.
Die Kinder in der vorgestellten Interviewuntersuchung gebrauchen Zeichen mit Variablenfunktion in unterschiedlicher Weise, urn Abhangigkeiten von Unbestimmten auszudriicken. Eine Analyse ihres Verhaltens bei der Beschreibung einer strukturierten geometrischen Darstellung zeigt, dass hier keine einfache Klassifizierung der Kinder nach ihrer Variablenverwendung moglich ist, denn die Art und Weise, wie sie Variablen als Darstellungsmittel einsetzen, hlingt unmittelbar mit ihrem individuellen Fokus auf die gegebene geometrische Darstellung ab: ein Wechsel dieses Fokus ilihrt auch zu einem veranderten Variablengebrauch.
Fili die Unterrichtspraxis zeigt diese differenzierte Antwort einmal mehr, dass Schlussfolgerungen von SchUlerverhalten auf leitende Vorstellungen und Uberzeugungen nieht zu oberflachlich erfolgen dfufen. Insbesondere ist die Beriicksichtigung von individuellen Auffassungen einer Aufgabe oder Darstellung und jeweiligen Intentionen der Lemenden wiehtig fUr ein Verstehen ihres Verhaltens. Es scheint mir wichtig, Griinde fUr eine bestimmte Variablenverwendung im Unterricht zu thematisieren. Das gilt sowohl rur Griinde, die hinter den Konventionen der Algebra stehen, als auch fUr Griinde, die SchUlerinnen und SchUler fUr ihre Entscheidungen haben, wenn sie die Werte wechseln, fUr die ihre Variablenzeichen stehen. Auf einem solchen Weg der Erorterung von Bedeutungen und praktischen Erwagungen konnen Vorstellungen von Lemenden geformt und Fehlinterpretationen ausgeraumt werden.
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Adresse der Autorin
Astrid Fischer Universitat Duisburg-Essen Fachbereich Mathematik Universitatsstr.2 45117 Essen
Manuskripteingang: 19. Apri12008 Typoskripteingang: 10. November 2008