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Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 40 Christine Laudahn Zwischen Postdramatik und Dramatik Roland Schimmelpfennigs Raumentwürfe

Zwischen Postdramatik und Dramatik · und Dramatik Roland Schimmelpfennigs Raumentwürfe. Zwischen Postdramatik und Dramatik. Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 40 begründet

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ForumModernes TheaterSchriftenreihe l Band 40

Christine Laudahn

Zwischen Postdramatikund DramatikRoland Schimmelpfennigs Raumentwürfe

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Zwischen Postdramatik und Dramatik

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ForumModernes TheaterSchriftenreihe l Band 40

begründet von Günter Ahrends (Bochum)herausgegeben von Christopher Balme (München)

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Christine Laudahn

Zwischen Postdramatikund DramatikRoland Schimmelpfennigs Raumentwürfe

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio-nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.

Titelfoto © Jean-Paul Raabe / picturesberlin

Dissertation der Ludwig-Maximilians-Universität München

Gedruckt mit Unterstützung des Oskar-Karl-Forster-Stipendiums der Ludwig-Maximilians-Universität München.

© 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

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Internet: http://www.narr.deE-Mail: [email protected]

Printed in Germany

ISSN 0935-0012ISBN 978-3-8233-6730-7

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In liebevoller Erinnerung meiner Großmutter Frau Dr. Maria Keimer

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung – Zwischen Postdramatik und Dramatik .......... 11

1. Methodische Vorüberlegungen ................................................. 17

1.1. Zum Forschungsgegenstand ......................................................... 17 1.2. Zur Forschungsrelevanz ................................................................. 19 1.3. Zur Verwandtschaft von Postmoderne

und Postdramatik .............................................................................. 23 1.4. Zur Forschungslage .......................................................................... 27

1.4.1. Kritische Stimmen und Forschungsansätze in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts ............................ 27

1.4.2. Der Forschungsstand zu Beginn des 21. Jahrhunderts .......... 34 1.4.3. Zum Stand der Schimmelpfennig-Forschung ......................... 47

1.5. Bachtins Chronotopostheorie und ihre Bedeutung für die Dramenanalyse .................................................................... 53

1.6. Zur Methode ........................................................................................ 56 1.7. Exkurs: Der spatial turn – Die Wende zum Raum

Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts ...................... 61

2. Struktur und Präsentation des Raumes ................................ 68

2.1. Raumkonzeption ................................................................................ 69 2.2. Raumkonstituierende Funktionen von Haupt- und

Nebentext .............................................................................................. 70 2.3. Offene und geschlossene Raumstruktur .................................. 79 2.4. Semantisierung des Raumes .......................................................... 82

2.4.1. Opposition von oben und unten ............................................... 84 2.4.2. Opposition von innen und außen ............................................. 92 2.4.3. Opposition von nah und fern .................................................. 100

2.5. Schauplatztypen und ihre Sinnfunktion ................................. 104 2.5.1. Der private Wohnraum ............................................................ 105

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2.5.2. Das Hotel.................................................................................... 113 2.5.3. Der Arbeitsplatz ........................................................................ 115 2.5.4. Die Straße ................................................................................... 120 2.5.5. Der Naturraum .......................................................................... 124

2.6. Fazit der räumlichen Strukturanalyse ..................................... 130

3. Struktur und Präsentation der Zeit ........................................ 135

3.1. Zeitkonzeption .................................................................................. 135 3.2. Zeitliche Sukzession ....................................................................... 141 3.3. Verfahren zur Aufhebung der zeitlichen Sukzession ........ 151

3.3.1. Zeitliche Simultaneität ............................................................. 151 3.3.2. Dekonstruktion der zeitlichen Chronologie .......................... 156 3.3.3. Epische Erzählmittel und das Spiel im Spiel ......................... 162

3.4. Semantisierung der Zeit ................................................................ 182 3.4.1. Semantischer Gehalt zyklischer Zeitstrukturen .................... 182 3.4.2. Semantisierung von Vergangenheit und Zukunft................ 187

3.5. Fazit der zeitlichen Strukturanalyse ......................................... 195

4. Chronotopische Strukturen ........................................................ 199

4.1. Handlungsbedingte Sinnkonstitutionen von Raum und Zeit ............................................................................................... 199

4.2. Chronotopos der Begegnung ...................................................... 202 4.3. Chronotopos der Liebesidylle ..................................................... 213 4.4. Chronotopos der Krise und des Wendepunkts ................... 226 4.5. Chronotopos der ländlichen Welt ............................................. 236 4.6. Fazit der Chronotoposanalyse .................................................... 243

5. Schimmelpfennigs Raumentwürfe in der szenischen Realisierung ............................................................... 247

5.1. Zum Zusammenspiel von modalem und medialem Raum ............................................................................... 247

5.2. Der goldene Drache ........................................................................ 250

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5.3. Hier und Jetzt .................................................................................... 257 5.4. Das Reich der Tiere ......................................................................... 263 5.5. Ende und Anfang ............................................................................. 271 5.6. Besuch bei dem Vater ..................................................................... 283 5.7. Auf der Greifswalder Straße ....................................................... 290 5.8. Die Frau von früher ........................................................................ 296 5.9. Vorher/Nachher .............................................................................. 305 5.10. Die arabische Nacht ........................................................................ 314 5.11. Push Up 1-3 ........................................................................................ 324 5.12. Vor langer Zeit im Mai .................................................................. 332 5.13. Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern

in die Städte........................................................................................ 339 5.14. Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid ............ 347 5.15. Fazit der Inszenierungsanalysen ............................................... 352

6. Schlussbetrachtung .......................................................................... 356

Literaturverzeichnis ............................................................................... 367

Primär- und Sekundärliteratur .............................................................. 367 Literaturangaben zu den Stücken des Textkorpus ......................... 376 Interviews ....................................................................................................... 377 Gedächtnisprotokolle ................................................................................. 378 Internetseiten ................................................................................................. 378

Anhang .......................................................................................................... 381

Abkürzungsverzeichnis der Stücke ...................................................... 381 Uraufführungsdaten der Stücke ............................................................ 382 Weiterführende Literatur zu den Stücken des Untersuchungszeitraums 1996-2010 .................................................... 386 Danksagung ................................................................................................... 395

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Einleitung – Zwischen Postdramatik und Dramatik

Aber Theater ist nie abstrakt, das Thema des Theaters ist der Mensch, das Individuum.

Roland Schimmelpfennig1

Ein flüchtiger Blick in zeitgenössische Theaterzeitschriften wie „Theater heute“, „Theater der Zeit“ oder „Die deutsche Bühne“ genügt, um eine Trendwende in der deutschen Gegenwartsdramatik auszumachen. In den Beschreibungen der neuen Stücke von Autoren wie Roland Schimmelpfen-nig, Moritz Rinke, Dea Loher, Lutz Hübner, Martin Heckmanns, Anja Hil-ling, Händl Klaus, Marius von Mayenburg und Andreas Marber liest man von Helden, Handlungen, Geschichten, Katastrophen und Konflikten.

Zeitgenössische Theatertexte, so scheint es, lassen die strukturellen Merkmale der traditionellen, mimetisch-fiktionalen Dramenform wieder auferstehen, zu denen neben Figuren und Handlung auch der Dialog und eine eindeutige, konventionelle Raum- und Zeitgestaltung gehören.2 Im Gegensatz zu jenen Autoren, die mit der mimetischen Tradition brechen und eine Erneuerung des Theaters anstreben, spricht eine bedeutende An-zahl zeitgenössischer Dramatiker mit ihren Stücken ein neuerliches Be-kenntnis zur repräsentationalen Ästhetik aus. Folglich können diese Thea-tertexte nicht mit dem von Andrzej Wirth 1987 eingeführten und von Hans-Thies Lehmann Ende der 90er Jahre ästhetisch untermauerten Begriff der Postdramatik beschrieben werden.3 Denn trotz postdramatischer Fär-

1 „Theater ist immer Eskalation“. Roland Schimmelpfennig im Gespräch mit Uwe B.

Carstensen und Friederike Emmerling. In: Roland Schimmelpfennig: Trilogie der Tie-re. Stücke. Hg. von Uwe B. Carstensen und Stefanie von Lieven. Frankfurt/M. 2007, S. 229-243, 231.

2 Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich lässt sich seit den neunziger Jahren eine Rückbesinnung auf die traditionellen Dramenelemente Figur, Handlung und Dialog beobachten. Vgl.: Patrice Pavis: Vorzeitiger Überblick oder vorläufige Schließung wegen Inventur zum Ende des Jahrhunderts. In: Joachim Fiebach (Hg.): Theater der Welt – Theater der Zeit. Arbeitsbuch Theater der Zeit. Berlin 1999, S. 29-35. Pavis zieht anlässlich des Festivals „Theater der Welt“ 1999 in Berlin Bilanz und konstatiert in Bezug auf das französische Theater die Rückkehr von Dialog und Fi-gur.

3 In seinem Aufsatz „Realität auf dem Theater als ästhetische Utopie oder: Wandlun-gen des Theaters im Umfeld der Medien“ aus dem Jahr 1987 beschreibt Andrzej Wirth die formale Verwandlung des Theaters im Zuge der globalen Medialisierung.

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bungen und Einschläge vertrauen sie dem dramatischen4 Bauprinzip. In Abgrenzung zu Hans-Thies Lehmann, der in seinem viel rezipierten Buch „Postdramatisches Theater“ die Abkehr von der Tradition des Sprechthea-ters nachweist, untersucht die vorliegende Arbeit die sich vollziehende Rückbesinnung auf diese Tradition. Während Ende der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein Großteil der Theaterproduktion als postdrama-tisch beschrieben werden konnte und die Theorie des postdramatischen Theaters in dieser Zeit zum ästhetischen Maßstab avancierte, ist die Situa-tion heute, zehn Jahre nach dem Erscheinen von Lehmanns Buch, eine andere. Es muss daher vielmehr von einem bedeutenden Sektor des „post-postdramatischen“ oder auch „neodramatischen“ Theaters gesprochen werden. Dies belegen die dramatischen Entwürfe junger zeitgenössischer Autoren wie Roland Schimmelpfennig.

Die konstatierte Rückbesinnung auf die dramatische Form und die da-mit verbundene „Wiederkehr des Textes“ bedeuten jedoch nicht die Rück-kehr von geschlossenen Fabeln und linear erzählten Geschichten,5 die sich durch die Alleinherrschaft des Dialogs auszeichnen. Vielmehr finden nar-rative Elemente Einzug in die Werke zeitgenössischer Dramatiker, eine Entwicklung, die Peter Szondi schon 1956 in seiner „Theorie des modernen Dramas“6 festhält. Da es sich bei den neuen Theatertexten folglich nicht um Dramen im engeren traditionellen Sinne handelt, lässt sich ihr Wesen nicht mit einem der normierten Dramenbegriffe erfassen, die den Dialog als die

Die als Reaktion auf die elektronischen Entwicklungen entstandenen neuen theatra-len Formen der Soundcollage, der Sprechoper und des Tanztheaters, die sich von der Dominanz des Sprechtheaters befreiten, bezeichnet er als postdramatisch (In: Gieße-ner Universitätsblätter 2. Gießen 1987, S. 83-91). Hans-Thies Lehmann griff Wirths Begrifflichkeit 1999 in seiner einflussreichen Ästhetik zum postdramatischen Theater auf und lieferte der Theaterwissenschaft damit ein neues theoretisches Standard-werk. Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt/M. 1999.

4 Das Adjektiv „dramatisch“ wird im Folgenden als Gegenbegriff zu Lehmanns Begriff des Postdramatischen verwendet. Es bezeichnet ein mimetisch-fiktionales, repräsen-tationales Theater, das den Text als bedeutenden Bestandteil des Theaterprozesses betrachtet und die von Lehmann abgesetzten Kategorien Drama, Handlung und Nachahmung retabliert. Es ist folglich nicht im Sinne einer normativen Gattungstheo-rie zu verstehen.

5 Franziska Schößler: Albert Ostermaier – Medienkriege und der Kampf um Deu-tungshoheit. In: Heinz Ludwig Arnold, Christian Davidowski (Hgg.): Theater fürs 21. Jahrhundert. Text+Kritik Sonderband. München 2004, S. 81-100, 81. Vgl. Sabine Sör-gel: Realismus-Variationen. Themen und Tendenzen des Gegenwartstheaters zwi-schen Glamour, neuer Bürgerlichkeit und Dokumentarismus. In: Friedemann Kreu-der, Sabine Sörgel (Hgg.): Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext. Tübingen 2008, S. 111-124, 121.

6 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt/M. 1959.

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Grundform des Dramas betrachten.7 Den folgenden Ausführungen wird daher der Poschmannsche Dramenbegriff zugrunde gelegt. Poschmann definiert Drama als „die Darstellung einer sich in Raum und Zeit erstre-ckenden Geschichte von Figuren, und damit als repräsentational-fiktionale Gattung.“8 Die Begriffe der Figuration und der Narration stellen für sie die wesentlichen Strukturmerkmale des Dramas dar.9 Der Rückgriff auf diesen offeneren Dramenbegriff täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass es an präzisen Beschreibungskategorien fehlt, um die neue, häufig anekdotische, situative Art des Geschichtenerzählens junger Autoren zu charakterisieren.

Die Distanzierung der jungen Theaterautoren von den postdramati-schen Errungenschaften kann parallel gesetzt werden mit einer in den Geisteswissenschaften in den letzten Jahren stärker werdenden Tendenz, von der Postmoderne Abstand zu nehmen und über einen Paradigmen-wechsel nachzudenken.10 Vor diesem Hintergrund ließe sich die Rückbe-sinnung auf die Strukturmerkmale des Dramas als Antwort auf die von den Gegnern der Postmoderne empfundene Verflachung der postmoder-nen Kultur verstehen und als Beweis für den Beginn eines neuen geistesge-schichtlichen Zeitalters. Dem Abrutschen der postmodernen Kunst in Sinn-losigkeit und Beliebigkeit wird mit dem Entwurf Sinn setzender Dramen begegnet, die eine Fabel aufweisen und den Parametern Individuum, Spra-che und Interaktion neues Vertrauen schenken.11

7 Vgl.: Szondi 1959, S. 12-16. Vgl. Georg Wilhelm Friederich Hegel: Ästhetik. Hg. von

Friedrich Bassenge, Bd. 2. Frankfurt/M. 1965, S. 527. Vgl. August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe, Bd. 1. Sprache und Poetik. Hg. von Edgar Lohner. Stuttgart 1962, S. 107-122.

8 Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen 1997, S. 47-48.

9 Ebd., S. 48. 10 Birgit Haas weist in ihrer Arbeit „Plädoyer für ein dramatisches Drama“ darauf hin,

dass selbst einstige Vordenker der Postmoderne wie Ihab Hassan der Postmoderne neuerdings kritisch begegnen, indem sie die „Verflachung“ der postmodernen Kultur „durch die Kulturindustrie“ verurteilen und sich von der postmodernen Idee der Dissoziation von Kommunikation und Subjekt distanzieren. Vgl. Birgit Haas: Plädo-yer für ein dramatisches Drama. Wien 2007, S. 114. In seinem im Jahr 2003 erschiene-nen Aufsatz „Beyond Postmodernism: Toward an Aesthetic of Trust“ plädiert Ihab Hassan für die Erneuerung der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie für die Einführung einer Ästhetik des Vertrauens. Siehe: Ihab Hassan: Beyond Postmodern-ism: Toward an Aesthetic of Trust. In: Klaus Stierstorfer (Hg.): Beyond Postmodern-ism. Reassessments in Literature, Theory, and Culture. Berlin, New York 2003, S. 199-212, 203, 211, 212. Vgl. Hans-Peter Müller: Das stille Ende der Postmoderne. Ein Nachruf. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 9/10, 52. Jahrgang. Stuttgart 1998.

11 Vgl. Jan Knopf: Brecht im 21. Jahrhundert. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 23-24/2006. Hg. von der Bundeszentrale für Politische Bildung. Bonn 2006, S. 6-12, 7: „Dass Stücke mit Fabeln für die Spielbarkeit, aber auch für das Schauvergnügen der

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Von einer solchen Aufwertung des Inhalts über die Form zeugt das Werk von Roland Schimmelpfennig. Den Sinn des Schreibens sieht Deutschlands derzeit erfolgreichster Dramatiker12 in der „Herstellung eines schlüssigen, verdichteten Textes“13, womit er sich von Postdramatik und Postmoderne distanziert. Im Zentrum seines Werks stehen individuelle Figuren und ihre Geschichten.14 Seine Stücke charakterisiert der Autor selbst als erfundene Wirklichkeitsentwürfe, mit denen er den Zuschauer zur Selbstreflexion führen will:

SCHIMMELPFENNIG Ich erfinde einen Ausschnitt von Realität, den stell ich auf die Bühne […] überhöhe, verdichte, und so kommt man im Idealfall dazu, daß der Zuschauer, der Mensch, sich selber auf den Kopf gucken und das sinn-lich erfahren kann. Das ist ein Gewinn, ein Privileg. Das ist vielleicht die ganze Existenzberechtigung von Theater.15

Wie das Zitat verdeutlicht, knüpft Schimmelpfennig mit seinen Stücken an die traditionelle Auffassung vom Drama als szenische Repräsentation von Lebenswelt an. Er hält es für den Auftrag des Theaters, sich mit gesell-schaftlichen Themen auseinanderzusetzen:

Betrachter mehr hergeben, zeigt der Vergleich mit Samuel Beckett oder Eugène Ionesco, die weitgehend von den Bühnen verschwunden sind: Die Zeit für Leere und Sinnlosigkeit (die hat die Spaßkultur übernommen) ist erst einmal vorbei.“

12 Vom Erfolg des Autors zeugen die Verleihung des Else-Lasker-Schüler-Preises 2010 sowie des Mülheimer Dramatikerpreises 2010 für das Stück „Der goldene Drache“. Auch die internationale Presse würdigt Schimmelpfennig als einen der bedeutends-ten Vertreter der deutschen Gegenwartsdramatik. Vgl.: Camilla Hildtbrandt: Theater-Projekte schon während der Schulzeit. Roland Schimmelpfennig im Porträt. In: Deutschlandradio Kultur. Radiofeuilleton Profil 06.12.2007. In: www.dradio.de/dkultur/sendungen/profil/706964/ Christopher Schmidt: Ein Blick in den Rückspiegel: Das German Theatre Abroad tourte mit einem umgebauten Schulbus durch die USA. In: Süddeutsche Zeitung, 07.12.2007. Vgl.: Peter Michalzik: Reich der Tiere. Für den gehobenen Geschmack. In: Frankfurter Rundschau, 03.09.2007. Vgl. Marina Monsisvais: Start Up. German thea-tre at the Ramblin Gallery. In: What’s Up Weekly (El Paso, Texas), 14.11.2007. Vgl. Christopher Blank: Locals to play role in German act. In: The Commercial Appeal (Memphis, Tennessee), 01.11.2007.

13 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 239: „Das ist für mich der Sinn des Schreibens. Die Herstellung eines schlüssigen, verdichteten Textes.“

14 Vgl. Detlev Baur: Die Dramatik der Situation. In: Die deutsche Bühne 03/2005, S. 22-24. Baur bezeichnet Schimmelpfennigs Theater als „Erzähltheater“ (S. 24). Über Schimmelpfennig selbst schreibt er: „Er will im Theater Geschichten erzählen.“ (S. 22).

15 „Sich selber auf den Kopf gucken“. Roland Schimmelpfennig im Gespräch mit Sebas-tian Huber. In: Programmheft des Staatstheaters Stuttgart, „Die arabische Nacht“, Uraufführung 03.02.2001.

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SCHIMMELPFENNIG Theater zielt auf die Stadt, auf die Gemeinschaft. Es spiegelt gesellschaftliche Vergangenheit, Gegenwart oder, auch, so etwas wie Zukunftserwartungen, Hoffnungen, Ängste.16

Um einen Ausschnitt der Wirklichkeit zu entwerfen, bedarf es neben Figu-ren, die die Gesellschaft repräsentieren, vor allem eines konkreten Raumes, der ihr Handeln konstituiert. Schimmelpfennigs Theatertexte sind in ihren Raumentwürfen daher äußerst konkret. Oftmals ist es der Raum, der die Synthesis der in etliche Kurzszenen zersplitterten Handlung ermöglicht. Die detaillierten Nebentextangaben, mit denen Schimmelpfennig Schau-plätze konkretisiert, sind als Entwurf, als Angebot an den Regisseur zu verstehen. Sie müssen ernst genommen, aber nicht eins zu eins umgesetzt werden, wie die starke Reduktion der Zeichen des Raumes in Inszenierun-gen von Jürgen Gosch oder auch in Schimmelpfennigs eigenen Regiearbei-ten belegen.17

Auf die funktionale Bedeutung von Raum- und Zeitstruktur für die Genese einer Geschichte verweist bereits Anfang der siebziger Jahre Micha-il M. Bachtin in seinen Ausführungen zur Bedeutung des Chronotopos im Roman.18 Diese bislang von der Theaterforschung negierte „Form-Inhalt-Kategorie“ bestimmt jedoch nicht nur die Erzählweise der Romanliteratur, sondern lässt sich auch auf die plurimediale Darstellungsform des Dramas anwenden:

Raum und Zeit stellen zusammen mit der Figur und ihren sprachlichen und außersprachlichen Aktivitäten die konkreten Grundkategorien des dramati-schen Textes dar.19

Um die Grundkategorien von Schimmelpfennigs Theatertexten benennen zu können, scheint es daher erforderlich, sich mit ihrer Raum-Zeitgestal-tung auseinanderzusetzen. Die Zeit wird dabei immer als eine Komponen-

16 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 230. 17 Gleichgültig ist Schimmelpfennig die Berücksichtigung seiner Raumentwürfe jedoch

nicht. Dies lässt sich aus einem Kommentar ablesen, den er auf einer Diskussionsver-anstaltung der Bayerischen Theaterakademie am 3. März 2008 gab. Darin hielt er fest: Wenn in der Regieanweisung eines seiner Texte stünde, dass die Figuren sich du-schen, dann wolle er auf der Bühne auch Duschen sehen. Mit dieser Aussage spielt der Autor auf eine Regieanweisung in seinem Stück „Das Reich der Tiere“ an. Wie konkret die Duschen auszusehen haben, sagte er nicht. Dennoch kann die Forderung des Autors als Bekenntnis zu einem mimetisch-fiktionalen Theater verstanden wer-den. Zitiert nach: Gedächtnisprotokoll zur Diskussionsveranstaltung an der Theater-akademie August Everding München, 03.03.2008.

18 Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt/M. 2008 [Ber-lin 1986].

19 Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Aufl. München 2001, S. 327.

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te des Raumes betrachtet.20 Als Bedingungsrahmen für die Figurenhand-lung lässt der Raum darüber hinaus Rückschlüsse auf den Charakter der Figuren zu.

Indem Schimmelpfennig begehbare21 Zwischenräume, wie Fahrstühle, Treppenhäuser und Flure, zum bevorzugten Schauplatz seiner Stücke macht, verarbeitet er das Phänomen der globalen Enträumlichung und Entortung, das zur Expansion von „Nicht-Orten“22 führt, die außerstande sind, Identität zu stiften. Er problematisiert die gegenwärtige Entwicklung von Translokalität und Heimatlosigkeit und sucht nach Möglichkeiten einer Wiederkehr des Raumes.23 Dies kann durch Bewusstseinsvorgänge wie Träume, Erinnerungen und Phantasie geschehen. Neben den oben beschriebenen begehbaren Transitionsräumen, die lokal zwischen zwei anderen Räumen verortet sind, kommt es in seinen Theatertexten somit zur Entstehung mentaler Transitionsräume.

Ziel dieser Arbeit ist es daher, aufzuzeigen, inwieweit die Rückbesin-nung auf eine vordergründig traditionell erscheinende fiktionale Raum- und Zeitgestaltung die Öffnung von neuen dramatischen Räumen ermög-licht, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formalästhetisch als Tran-sitionsräume zwischen Postdramatik und Dramatik artikulieren. Es sollen Beschreibungskategorien gefunden werden, mithilfe derer der Standort der Dramatik im 21. Jahrhundert näher bestimmt werden kann. In Anlehnung an Bachtin wird die fiktive Raum-Zeitstruktur der ausgewählten Schim-melpfennig-Stücke analysiert und in ihrem Zusammenspiel mit der realen raum-zeitlichen Deixis der Inszenierungen betrachtet, denn die Plurime-dialität des Dramas erfordert ein Vorgehen auf zwei Ebenen. Die fiktionale Raumanalyse muss daher um die Analyse der szenischen Realisierung der im Text entworfenen Transitionsräume erweitert werden.

20 Vgl. Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung. Göttingen

1970, S. 23. Zur Vernetzung von Zeit und Raum vgl. auch Hartmut Böhme: Einlei-tung: Raum – Bewegung – Topographie. In: Ders. (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart, Weimar 2005, S. IX-XXIII, XXI.

21 Die Unterscheidung zwischen begehbaren und mentalen Räumen ist Elisabeth Bron-fens Arbeit zum literarischen Raum entlehnt: Elisabeth Bronfen: Der literarische Raum. Eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus Pilgrimage. Tübingen 1986.

22 Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsam-keit. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt/M. 1994 [Paris 1992].

23 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwis-senschaften. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 284-328.

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1. Methodische Vorüberlegungen

1.1. Zum Forschungsgegenstand

Schimmelpfennigs Werk eignet sich in besonderer Weise als Gegenstand einer Arbeit, die die Entwicklung von einem postdramatischen Theater hin zu einem an dramatische Traditionen anknüpfenden narrativ-situativen Theater beschreibt. Denn einige der früheren Stücke des Autors weisen noch deutlich postdramatische Tendenzen auf, während die späteren Stü-cke von einer Rückkehr zu einer eher traditionellen Raum-, Zeit- und Figu-rengestaltung zeugen. Das Aufgreifen traditionell dramatischer Konzepte wird in seinen Stücken jedoch nicht ohne postdramatische Einschläge voll-zogen. Schimmelpfennig gelingt es folglich, das Erbe der Postdramatik produktiv zu nutzen. Um eine solche Entwicklungslinie in Schimmelpfen-nigs Werk sichtbar zu machen, enthält das dieser Arbeit zugrunde liegende Textkorpus Stücke aus den unterschiedlichen Schaffensphasen des Autors. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Jahre 1996 bis 2010. Das Jahr 1996 stellt den Anfangspunkt des gewählten Zeitraums dar, weil es das Jahr von Schimmelpfennigs Bühnendebüt „Die ewige Maria“ (EM)24 am Theater Oberhausen ist. Als Endpunkt der zu untersuchenden Entwicklung wird das Jahr 2010 gewählt, in dem Schimmelpfennig die zwei bedeutendsten deutschen Theaterpreise, den Else-Lasker-Schüler-Preis und den Mühl-heimer Dramatikerpreis, verliehen bekommt und damit am Höhepunkt seiner Karriere als Dramenautor angekommen ist.

Aus dem derzeit vierunddreißig Stücke umfassenden Werk wurden vierzehn ausgewählt.25 Neben der Berücksichtigung der verschiedenen Schaffensphasen des Autors war das Kriterium der innerdeutschen und ausländischen Rezeption für die Wahl der zu untersuchenden Stücke ent-scheidend. Die getroffene Auswahl wird im Folgenden kurz erläutert.

Die Vielseitigkeit von Schimmelpfennigs Werk widerstrebt einer Klassi-fizierung. Dennoch lässt sich sein Stückwerk grob in drei Schaffensphasen untergliedern, die thematische und formelle Schwerpunkte erkennen las-sen. Eine erste Phase umfasst die Jahre 1994-1998. Die in dieser Zeit ent-standenen Theatertexte weisen überwiegend traditionelle und volkstümli-che Elemente auf. Inhaltlich beschäftigen sie sich mit dem „Spannungsfeld

24 Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die Stücktitel im Fußnotentext abgekürzt.

Das Abkürzungsverzeichnis sowie Literaturangaben zu den ausgewählten Stücken finden sich im bibliografischen Anhang der Arbeit auf S. 381, 376.

25 Titel und Uraufführungsdaten sämtlicher Schimmelpfennig-Stücke (des Zeitraums 1996-09/2012) sind im Anhang dieser Arbeit auf den S. 382-385 aufgelistet.

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von Stadt und Land“26. Aus dieser ersten Schaffensphase wurden die fol-genden drei Stücke ausgewählt: „Die ewige Maria“, das ein klares Be-kenntnis zur dramatischen Form erkennen lässt, „Keine Arbeit für die jun-ge Frau im Frühlingskleid“ (KA), das eine eigene rätselhafte, poetische Welt der Träume entwirft und in seinem Raumentwurf stellenweise post-dramatisch anmutet,27 was es für die Untersuchung besonders interessant macht. Das dritte Stück dieser frühen Schaffensphase „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ (ASW), das die Bedeutung der Raumthematik bereits im Titel andeutet, stellt dem geordneten Stadtraum die unheimliche Chaoswelt der Natur gegenüber.

Die zweite Phase lässt sich als postdramatische beschreiben. Sie umfasst nur wenige Stücke, die um die Jahrtausendwende entstanden sind. Sie unterscheiden sich vom Rest der Stücke durch ihre stark postdramatischen Züge und werden deshalb als Werke einer gesonderten Schaffensphase betrachtet. Aus dieser zweiten Phase wird das aus einundachtzig bruch-stückhaften, stark repetitiven Szenen bestehende Stück „Vor langer Zeit im Mai“ (VLZM) gewählt, in dem Schimmelpfennig auf einen konkreten Raumentwurf verzichtet und den Raum in postdramatischer Manier durch repetitive Bewegungsabläufe energetisch entstehen lässt.

Der Schwerpunkt der Untersuchung, die nach Tendenzen des Gegen-wartstheaters fragt, liegt auf den Stücken der dritten Phase. Sie beginnt mit dem neuen Jahrtausend. Aus den Jahren 2000-2009 wurden deshalb deut-lich mehr Stücke ausgewählt als aus den anderen beiden Phasen. Es han-delt sich um die folgenden zehn Theatertexte: „Die arabische Nacht“ (AN), „Push Up 1-3“ (PU), „Vorher/Nachher“ (VN), „Die Frau von früher“ (FF), „Auf der Greifswalder Straße“ (GS), „Ende und Anfang“ (EA), „Besuch bei dem Vater“ (BV), „Das Reich der Tiere“ (RT), „Hier und jetzt“ (HUJ) und „Der goldene Drache“ (GD). Diese jüngeren Arbeiten des Autors lassen eine produktive Verknüpfung von postdramatischer und dramatischer Ästhetik erkennen. Narrative Strukturen gewinnen an Bedeutung. Die Schauspieler werden zu Erzählern. Schimmelpfennig nutzt das ästhetische Formenangebot wie einen Baukasten und fügt zusammen, was nach tradi-tionellem Verständnis nicht zusammenpasst. Prinzipien der Dekonstruk-

26 Tom Mustroph: Der Vielseitige. In: Harald Müller, Christel Weiler (Hgg.): Neue

deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch. Portraits. Beschreibungen. Gespräche. Berlin 2001, S. 133-137, 137.

27 Aufgrund seines enigmatischen Charakters ließe sich KA durchaus auch der post-dramatischen Schaffensphase zuordnen. Da es sich inhaltlich jedoch mit der Gegen-überstellung von Stadt- und Landleben auseinandersetzt, stellt es ein Übergangs-stück dar, das zwischen der ersten und der zweiten Phase zu verorten ist. Das Beispiel verdeutlicht die Schwierigkeit einer genauen Zuordnung.

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tion und der Synthesis werden kombiniert.28 Bei allen Formexperimenten bleibt die Fabel das zentrale Anliegen des Autors, weshalb man die in die-ser Phase entstandenen Theatertexte nicht als postdramatisch charakteri-sieren kann. Inhaltlich variieren die Stücke Themen von überzeitlicher Bedeutung wie Liebe und Tod, beschäftigen sich aber auch mit aktuellen, gesellschaftlichen Problemfeldern wie Entwurzelung, Identitätssuche und Verlustängsten. Die Auseinandersetzung mit den Missständen heutiger Arbeitswelten wird gerade in den letzten Jahren zu einem zentralen The-ma, wie die Stücke „Push Up 1-3“, „Ende und Anfang“, „Das Reich der Tiere“ und „Der goldene Drache“ verdeutlichen.29

1.2. Zur Forschungsrelevanz

Das Fehlen einschlägiger Arbeiten zum Theater der Gegenwart und die in der Einleitung zu dieser Arbeit skizzierte veraltete Begrifflichkeit lassen eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theatertexten dringend erforderlich erscheinen. Ein Blick auf Schimmelpfennigs jüngere Stücke „Start Up“ (2007), „Calypso“ (2008), „Hier und jetzt“ (2008) und „Der gol-dene Drache“ (2009) genügt, um Nikolaus Freis These von einer „Rückkehr der Helden“ und einem Ende der Postdramatik zu untermauern.30 Die folgende kurze Charakterisierung von Schimmelpfennigs Dramatik soll nahelegen, warum eine Auseinandersetzung mit seinem Werk in Hinblick auf eine Charakterisierung des zeitgenössischen Theaters ein Forschungs-desiderat darstellt.

Schon die Anlage der Figuren in Schimmelpfennigs Theatertexten spricht gegen eine Beschreibung der Stücke als postdramatisch, denn

28 Besonders deutlich zeigt sich die Verknüpfung von synthetisierenden Verfahren und

dekonstruktivistischen Ansätzen in BV, dessen traditionelle Raumstruktur durch Anweisungen im einleitenden Nebentext gebrochen wird. Und auch FF, das sich als ein Mosaik aus Rückblenden und Vorgriffen präsentiert, zeugt von der formellen Ex-perimentierfreude des Autors. Zeitangaben im Nebentext ermöglichen die Rekons-truktion der dekonstruierten zeitlichen Chronologie. Mit der innovativen Zeitstruk-tur des Stückes knüpft der Autor an filmische Verfahren an. Inhaltlich stellt das Stück eine Auseinandersetzung mit dem Medea-Motiv dar und steht somit in der dramati-schen Tradition.

29 Mit dieser Hinwendung zu gesellschaftlichen Themen ist Schimmelpfennig nicht allein, auch andere Autoren widmen sich wieder stärker Themen aus Gesellschaft und Politik. Vgl.: Frauke Meyer-Gosau: Arbeit! Liebe! Verzweiflung. Das Politische kehrt zurück – es weiß nur noch nicht genau, wie. Kleiner Rundflug über zeitgenössi-sche dramatische Versuche, gesellschaftliches Unglück zu beschreiben. In: Theater heute 10/2001, S. 40-52.

30 Nikolaus Frei: Die Rückkehr der Helden. Deutsches Drama der Jahrhundertwende (1994-2001). Tübingen 2006.

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Schimmelpfennigs Helden sind mehr als bloße Funktionsträger. Sie sind keine „optischen Chiffren“31, sondern Charaktere mit unverwechselbaren Identitäten. Man kann somit weder von einer „Entpsychologisierung“32 der Figuren noch von einer „Entthronung der Sprachzeichen“33 sprechen. Schimmelpfennigs Sprache definiert die Figuren und die Orte subtil, aber klar. Seine Texte weisen dramatische Konzepte von Individualität, Charak-ter und Fabel auf. Daraus ergibt sich eine klare Bevorzugung des Inhalts vor der Form. In einem Gespräch über die 2007 veröffentlichte „Trilogie der Tiere“ äußert sich der Autor wie folgt:

SCHIMMELPFENNIG Die Form […] spielt für mich nicht mehr als eine untergeordnete Rolle. Der Stoff findet die Form. Er braucht keine äußerliche Zu-ordnung. Die Form folgt dem Inhalt. Nicht andersherum. Alles andere wäre sinnlos oder verspielt, falsch.34

Das Zitat, das an Schiller denken lässt, bedeutet eine klare Absage an den postdramatischen Formalismus.35 Wie die obigen Ausführungen zeigen, lässt sich Schimmelpfennigs Stückwerk nicht mit dem von Lehmann einge-führten Begriff der Postdramatik beschreiben.

Auch der Raum in seinen Stücken ist kein rein energetischer, in der Re-zeption entstehender, sondern ein konkreter, konventioneller Raum, der sowohl auf der Ebene des inneren als auch auf der Ebene des äußeren Kommunikationssystems Orientierung bietet, sei es als Bezugspunkt für die entwurzelten Figuren, sei es als ordnender, Kohärenz schaffender Rahmen für den Zuschauer, der oftmals mit einer Vielzahl an zusammen-hanglos wirkenden Szenen konfrontiert wird. In der Perspektive des „spa-tial turn“36 erscheint es daher dringend notwendig, sich den theatralen Praktiken der Raumkonstitution und Raumerschließung zu widmen und zu untersuchen, wie zeitgenössische Theatertexte das in den Kulturwissen-schaften hochaktuelle Thema der Verortung reflektieren.37 Denn in der modernen, entpersonalisierten Welt, bleibt der Raum der letzte Bezugs-

31 Lehmann 1999, S. 120. 32 Ebd., S. 161. 33 Ebd. 34 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 236. Ähnlich äußert sich

der Autor in einem von Oliver Reese geführten Interview anlässlich der Premiere des Stückes „Auf der Greifswalder Straße“ im Deutschen Theater Berlin: „Der Stoff sucht sich seine Form, diese Suche muss man zulassen, aushalten.“ In: „Kein Tag wie jeder andere“. Roland Schimmelpfennig im Gespräch mit Oliver Reese. In: Programmheft des Deutschen Theaters Berlin, „Auf der Greifswalder Straße“, Premiere 27.01.2006.

35 Zum postdramatischen Formalismus siehe: Lehmann 1999, S. 161. 36 Der Begriff bezeichnet die Wende zum Raum Ende der achtziger Jahre des 20. Jahr-

hunderts. Der Bedeutung des „spatial turn“ für die Kultur- und Geisteswissenschaf-ten ist der Exkurs in Kapitel 1.7 gewidmet.

37 Vgl. Bachmann-Medick 2006, S. 284-328.

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punkt des Menschen, durch den er die Frage des Sartresken38 „Für-Sich-Seins“ beantworten kann. Der Raum übernimmt die Rolle des „Für-Andere-Seins“, er definiert den Menschen und verhilft ihm zu einer Vor-stellung von sich selbst. Denkt man jedoch an die Raumtheorie Marc Au-gés, in der er die Expansion von Nicht-Orten nachweist, so stellt sich die Frage, inwieweit der Raum in unserer heutigen Welt der Translokalität eine solche identitätsstiftende Rolle überhaupt noch übernehmen kann. Augé definiert die „Nicht-Orte“ wie folgt:

Wie man leicht erkennt, bezeichnen wir mit dem Ausdruck „Nicht-Ort“ zwei verschiedene, jedoch einander ergänzende Realitäten: Räume, die in Bezug auf bestimmte Zwecke (Verkehr, Transit, Handel, Freizeit) konstituiert sind, und die Beziehung, die das Individuum zu diesen Räumen unterhält.39

Für Augé stellen die „Nicht-Orte“ „das Maß unserer Zeit“40 dar. Unsere Welt charakterisiert er folglich als:

[…] eine Welt, in der die Anzahl der Transiträume und provisorischen Beschäf-tigungen unter luxuriösen oder widerwärtigen Bedingungen unablässig wächst (die Hotelketten und Durchgangswohnheime, die Feriendörfer, die Flüchtlings-lager, die Slums, die zum Abbruch oder zum Verfall bestimmt sind), eine Welt, in der sich ein enges Netz von Verkehrsmitteln entwickelt, die gleichfalls be-wegliche Behausungen sind, wo der mit weiten Strecken, automatischen Vertei-lern und Kreditkarten Vertraute an die Gesten des stummen Verkehrs anknüpft, eine Welt, die solcherart der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Pro-visorischen und Ephemeren überantwortet ist […].41

Auch Schimmelpfennigs Theatertexte befassen sich mit der von Augé auf-geworfenen, im Zuge des „cultural turn“ viel diskutierten Frage „Was bedeutet Örtlichkeit als gelebte Erfahrung innerhalb einer globalisierten, enträumlichten Welt?“42. Die Analyse der vom Dramatiker entworfenen dramatischen Räume lässt somit Rückschlüsse auf unsere Wirklichkeit zu. Sie sucht Aufschluss zu geben, über die Funktion von Räumen in unserer heutigen Welt.

Ein weiterer Grund für die Wahl des Autors stellt die nationale Rele-vanz seiner Dramatik dar, von der die Einladung zu den Berliner Theater-tagen 2010, der Erhalt des Mühlheimer Dramatikerpreises 2010 für sein

38 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Onto-

logie. Hamburg 1966. 39 Augé 1994, S. 110. 40 Ebd., S. 94. 41 Ebd., S. 93. 42 Arjun Appadurai: Globale ethnische Räume. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der

Weltgesellschaft. Frankfurt/M. 1998, S. 11-40, 19.

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Stück „Der goldene Drache“43 und die Auszeichnung seines Gesamtwerkes mit dem Else-Lasker-Schüler-Preis 2010 zeugen. In seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Else-Lasker-Schüler-Preises hebt Oliver Reese, Intendant am Schauspiel Frankfurt, die Band-breite von Schimmelpfennigs dramatischem Schaffen hervor:

OLIVER REESE Und er [Schimmelpfennig] schreibt, bislang zumindest, ja ausschließlich für das Theater, in allen seinen Genres: knappe, fast tagesaktuelle Zeitstücke, großformatige Ensemblepanoramen, Monologe, Bearbeitungen, Übersetzungen, Kammerspiele und sogar Komödien!44

Johannes Reitmeier, Intendant des Pfalztheaters Kaiserslautern und Mit-glied der Jury des Else-Lasker-Schüler-Preises, betont die Eigenständigkeit des Autors, die ausschlaggebend für die Entscheidung der Juroren gewe-sen sei:

JOHANNES REITMEIER Er ist ein sehr, sehr eigenständiger Autor und gera-de dieses Schillernde, dieses Unbestimmte, der Wechsel zwischen den Ebenen, macht doch eben gerade diese Inszenierungen so spannend.45

Und nicht nur auf nationaler Ebene, auch auf den internationalen Bühnen spielt Schimmelpfennigs Dramatik eine bedeutende Rolle. So sind seine Stücke nicht nur an allen bedeutenden deutschsprachigen Theatern zu-hause – darunter das Wiener Burgtheater, das Schauspielhaus Zürich, das Deutsche Theater Berlin und die Schaubühne, das Hamburger Schauspiel-haus, das Schauspiel Frankfurt, das Staatstheater Stuttgart und das Münchner Residenztheater –, sondern werden auch am Royal Court Thea-tre in London gespielt. Den internationalen Erfolg seiner Stücke belegen darüber hinaus die Weltpremiere seines Stückes „Start Up“ am 7. Oktober 2007 in New York und das dadurch eingeleitete Road Theatre Projekt des German Theatre Abroad sowie die seines jüngsten Stückes „Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes“ am 20.06.2010 im Volcano Theatre in Toronto. Die Beliebtheit seiner Dramatik im In- und Ausland drückt sich auch in den 43 Kritiker von GD lobten zum einen die gesellschaftliche Relevanz von Schimmelpfen-

nigs Globalisierungsdrama und zum anderen die besondere Form des Stückes, in dem fünfzehn Figuren, die von fünf Schauspielern gespielt werden, in 48 Szenen von den Folgen der Globalisierung erzählen. Vgl. „Eine aufregende Zeit, um für das Theater zu schreiben“. Ein Gespräch mit dem Dramatiker Roland Schimmelpfennig über „Der goldene Drache“, Techniken des Erzählens und seine Erfahrungen als Re-gisseur. In: Theater heute Jahrbuch 2010, S. 112-121.

44 Oliver Reese: Laudatio auf Roland Schimmelpfennig anlässlich der Verleihung des Else-Lasker-Schüler Dramatikerpreises 2010. Frankfurter Hof, Mainz, 28.04.2010. Die schriftliche Fassung der Rede wurde zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt.

45 Eigene Transkription eines Videobeitrags des SWR Rheinland-Pfalz. Das Video ist abzurufen unter: www.swr.de/rp-aktuell/-/id=233240/did=6314970/pr=video/nid=233240/e3upa4/ index.html

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Übersetzungen seiner Stücke in mehr als zwanzig Sprachen aus. Auffüh-rungsstatistiken von Stücken wie „Die arabische Nacht“, „Die Frau von früher“ oder „Push Up 1-3“ belegen den internationalen Erfolg des Autors: Mit Aufführungen in über fünfzig Ländern zählt Schimmelpfennig zu den produktivsten und erfolgreichsten deutschen Gegenwartsdramatikern.46 Zudem verhilft ihm sein thematischer Universalismus zu globaler Rele-vanz. „[…] das Thema des Theaters“, so sagt er selbst, „ist der Mensch, das Individuum“47 und verdeutlicht damit, dass das Theater des 21. Jahrhun-derts sich wieder auf seine alte Funktion als „Diskurs über den Men-schen“ besinnt.

1.3. Zur Verwandtschaft von Postmoderne und Postdramatik

Wie oben bereits angemerkt, reiht sich der Rückzug der Postdramatik in ein allgemeines Abstandnehmen von den Ideen der Postmoderne ein. Wis-senschaftler aller Disziplinen denken über einen Paradigmenwechsel nach.48 Es scheint, als löse ein Wertekanon von Vertrauen und Wahrheit die postmoderne Identitätskrise ab. So tritt beispielsweise Ihab Hassan, einer der früheren Hauptverfechter der Postmoderne, neuerdings für eine „Aesthetic of Trust“ ein:

We in our literary professions, must turn to truth, truth spoken not only to pow-er but, more anguished, truth spoken to ourselves. […] Trust, I have claimed, is a spiritual value […] A postmodern aesthetic of trust, I have argued, brings us to a fiduciary realism, a realism, that redefines the relation between subject and ob-ject, self and other, in terms of profound trust.49

46 Vgl. Schmidt: Ein Blick in den Rückspiegel. In: Süddeutsche Zeitung, 07.12.2007. Vgl.

Michalzik: „Reich der Tiere“. In: Frankfurter Rundschau, 03.09.2007. Vgl. Sven Hil-lenkamp: Das kommt auf uns zu. In: DIE ZEIT, 22/2001. Vgl. Anne Midgette: ‘Slipped Disc’ Offers Another Slice of Surviving the Office. New York Times, 10.05.2006.

47 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 231. Das Zitat ruft Satres Plädoyer für ein Theater, das den freien Menschen ins Zentrum stellt, in Erin-nerung: „Der freie Mensch in den Grenzen seiner eigenen Situation, der Mensch, der, ob er will oder nicht, für alle anderen wählt, wenn er für sich wählt, – das ist das Thema unserer Stücke.“ In: Jean-Paul Sartre: Mythen schaffen. In: ders.: Mythos und Realität des Theaters. Schriften zu Theater und Film 1931-1970. Übersetzt von Klaus Völker. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 31-39, 33.

48 Vgl.: Klaus Stierstorfer (Hg.): Return to Postmodernism. Theory. Travel Writing. Autobiography. Heidelberg 2005. Ders. 2003. Karl Heinz Bohrer, Kurt Scheel (Hgg.): Postmoderne. Eine Bilanz. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 9/10, 52. Jahrgang. Stuttgart 1998.

49 Hassan: Beyond Postmodernism. In: Stierstorfer (Hg.) 2003, S. 211.

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Mit dem Vertrauen kehrt auch der Glaube an die Wirkungsmacht narrati-ver Strukturen zurück. Die Krise der Repräsentation scheint überwunden.50 Mit der Postmoderne verabschiedet sich, so die dieser Arbeit zugrunde liegende These, auch das postdramatische Theater, was kaum verwundert, wenn man, wie Bernd Stegemann, im postdramatischen Diskurs ein „ech-tes Kind der Postmoderne“51 sieht.

Worin besteht nun aber die proklamierte Verwandtschaft von Postmo-derne und Postdramatik? Wie die Postmoderne so zeichnet sich auch die Postdramatik durch ihren selbstreferentiellen Charakter aus. Beiden Theo-rien gemein ist die Betonung des referenzlosen Eigenwerts von Zeichen. Der Eigenwert von Zeichen – nicht ihr Referenzcharakter – wird folglich zum ästhetischen Leitbegriff erhoben. Im postdramatischen Theater zeigt sich dies in der radikalen Ablehnung der mimetischen Darstellung von Welt. Wie in der postmodernen Theorie, so wird auch im postdramatischen Theater die Möglichkeit einer Referenz auf die Wirklichkeit negiert. Thea-ter wird zu einem „Moment der mitgelebten Energien statt der übermittel-ten Zeichen.“52 In Äquivalenz zur postmodernen Literatur vollzieht sich somit in der Postdramatik die Trennung der Zeichen von ihrem Bezeichne-ten. Andrzej Wirth spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Semiotik des Theaters, die den Signifikanten dem „freien Spiel“ aussetzt und auf diese Weise die „Entliterarisierung des Theaters“ vorantreibt.53 Ihren stärksten Ausdruck findet diese Dekonstruktion der Zeichen in der Unterwanderung der dramatischen Form, der Ablehnung der dramati-schen Situation. Das ursprüngliche Erkenntnismittel des Dramas, mithilfe dessen man Jahrhunderte lang versuchte, menschliches Handeln und Erle-ben in seinen Grundwidersprüchen darzustellen, wird von der Postdrama-tik für überholt erklärt und abgekanzelt. Der Versuch, Welt in erzählbare Strukturen zu übersetzen, wird damit zum Scheitern verurteilt. Die Welt ist nicht beschreibbar. Man fordert Bedeutungsungewissheiten statt Gewiss-heiten und feiert die Befreiung vom Absolutheitsdruck des einen großen Sinns. So erklärt Roland Barthes:

Heute wissen wir, dass ein Drama nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die ‚Bot-schaft’ des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in

50 Vgl.: Hassan: Beyond Postmodernism. In: Stierstorfer 2003, S. 199-212. Vgl. Nünning:

Beyond Indifference. In: Stierstorfer 2003, S. 235-254. Vgl. Christophe Den Tandt: Pragmatic Commitments. In: Stierstorfer 2003, S. 121-142. Vgl. ders.: Return to Mime-sis. In: Stierstorfer 2005, S. 61-78.

51 Bernd Stegemann: Nach der Postdramatik. In: www.hfmt-hamburg.de/theaterakademie/texte/

52 Lehmann 1999, S. 286. 53 Wirth: Realität auf dem Theater als ästhetische Utopie. In: Gießener Universitätsblät-

ter 1987, S. 86.

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dem sich verschiedene Schreibweisen, von denen keine einzige originell ist, ver-einigen und bekämpfen.54

Selbstreflexion und Selbstreferenz treten an die Stelle des einen großen Sinns. Sie werden zum ästhetischen Prinzip erhoben, wie auch Hans-Thies Lehmann betont:

Denn mit den anderen Künsten der (Post-)Moderne teilt das Theater den Hang zu Selbstreflexion und Selbstthematisierung.55

Damit stellt der Begründer der ästhetischen Theorie des postdramatischen Theaters selbst einen Bezug zur Postmoderne her. Es scheint somit umso gerechtfertigter, von einem Verwandtschaftsverhältnis der beiden Theorien auszugehen und eine Abhängigkeit der Postdramatik von der Postmoder-ne zu suggerieren. Ist das postdramatische Theater nun aber tatsächlich ein Kind der Postmoderne, so scheint sein Fortbestand in einer Zeit, in der man vom Ende der Postmoderne spricht,56 mehr als zweifelhaft. Neben Philoso-phie, Geschichtsschreibung und Literaturtheorie sind auch die deutschen Bühnen und ihre Autoren bemüht, sich aus dem postmodernen Korsett der Selbstreflexion zu befreien. Mit der Postmoderne verabschiedet sich somit auch die Postdramatik.

Junge Dramatiker wie Roland Schimmelpfennig unternehmen den Ver-such, Theater wieder zur Mimesis von Welt zu machen. Die von Postdra-matik und Postmoderne postulierte Referenz- und Bedeutungslosigkeit der Zeichen wird revidiert, wodurch die Möglichkeit einer Referenz auf die Wirklichkeit wieder gegeben ist. Die Welt ist scheinbar doch beschreibbar. Diese Einsicht führt zu einer Reaktivierung narrativer Prinzipien. In den Theatertexten von Gegenwartsautoren wie Dea Loher, Anja Hilling, Lutz Hübner, Moritz Rinke und Roland Schimmelpfennig sind die darstelleri-schen Zeichen auf eine Welt jenseits der Darstellung bezogen. Sie verwei-sen nicht nur auf sich selbst, sondern sind somit referentiell. So lässt sich der heutige Zeitgeist wohl nicht mehr mit dem Slogan „Simulation statt Narration“ beschreiben, er kehrt sich vielmehr in sein Gegenteil um und müsste folglich lauten: „Narration statt Simulation“. So konstatiert auch Lehmann:

Das Erzählen, das in der Medienwelt verloren geht, findet eine neue Stätte im Theater. […] Der Moment der Narration kehrt auf die Bühne zurück und be-hauptet sich gegen das Faszinationspotential der Körper und der Medien.57

54 Zitiert nach: Michael Börgerding: Texte antworten auf Texte oder Was ist ein Drama-

tiker? In: www.hfmt-hamburg.de/theaterakademie/texte/ 55 Lehmann 1999, S. 13. 56 Vgl. Hans-Peter Müller: Das stille Ende der Postmoderne. In: Bohrer, Scheel (Hgg.)

1998, S. 975-981. 57 Lehmann 1999, S. 197-198.

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Zwar meint er ein postdramatisches und damit persönlicheres Erzählen, als man es aus dem epischen Theater kennt, ein Erzählen, das sich von der Episierung fiktionalen Theaters deutlich absetzt und sich mehr als Diskurs versteht.58 Doch ändert diese Einschränkung nichts an dem allgemeinen Befund, dass das Theater mehr und mehr zum Ort eines Erzählakts wird. Diese Tendenz konstatiert auch Hans-Peter Bayerdörfer. Er weist darauf-hin, dass sich die Wiedereinführung literarischer Dramatik auf dem Thea-ter vor allem durch den vermehrten Einsatz epischer Verfahren vollzieht. Mehr und mehr experimentiere man auf dem Theater mit neuen Erzähler-rollen.59 So hält auch der Direktor der Theaterakademie Hamburg Michael Börgerding am Erzählen fest und betont seine Bedeutung. Er sieht die Auf-gabe des Theaters darin, die alten Geschichten neu zu erzählen:

Dass es nichts mehr zu erzählen gäbe und alles schon durchgespielt sei, ist Un-sinn oder Denkfaulheit. Entscheidend ist doch, wie man Geschichten erzählt. Ein anderes Problem ist viel schöner und spannender: dass es viel zu viel zu er-zählen gibt. Genug für uns alle.60

Die Dramengeschichtsschreibung und ihr Gegenstand, das Drama, haben Lyotards Postulat vom Ende der großen Erzählungen somit überlebt. Es scheint, als müsse Peter Schneider recht gegeben werden, der in seinem Ende der Achtziger erschienenen Aufsatz „Das Licht am Ende des Erzäh-lens“ zu dem Schluss kommt, dass die Rede vom Ende des Erzählens der Suche nach neuen Formen des Erzählens, nicht aber seiner Absetzung dient:

Die Rede von ›der Krise‹ oder ›dem Ende des Erzählens‹ erweist sich, historisch betrachtet, als ein womöglich notwendiger Umgang, um neue Arten des Erzäh-lens zu erschließen. Tatsächlich drückt sich in solchen theoretischen Wutausbrü-

58 Vgl. Andrzej Wirth: Vom Dialog zum Diskurs. Versuch einer Synthese der nach-

brechtschen Theaterkonzepte. In: Theater heute 01/1980, S. 16-19. 59 Hans-Peter Bayerdörfer, Malgorzata Leyko, Evelyn Deutsch-Schreiner (Hgg.): Vom

Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas. Tü-bingen 2007, S. 4-5: „[…] so experimentiert man mit neuen Erzählerrollen unter-schiedlichsten Zuschnitts, mit Rollenbrechung zwischen Impersonation und kom-mentierenden, ironisierenden, entpersönlichten Distanzhaltungen, mit chorischen Sprechpartien oder musikalisch gehaltenen Individual- und Kollektivstimmen.“ Wie die Analyse der epischen Erzählmittel unter 3.3.3 zeigt, greift auch Schimmelpfennig vermehrt zu epischen Verfahren. Der Nebentext erfährt eine Aufwertung und dient als Reflexionsmedium. Dies veranschaulichen auch die Inszenierungsanalysen.

60 Michael Börgerding: Überlegungen zu einer Theaterakademie in Hamburg. In: www.hfmt-hamburg.de/theaterakademie/texte/

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chen, so launisch oder grotesk sie zuweilen anmuten, ein innerer Zwang der Li-teratur aus: der Zwang zur Innovation.61

1.4. Zur Forschungslage

1.4.1. Kritische Stimmen und Forschungsansätze in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts

Bereits Mitte der neunziger Jahre kritisierte Gerda Poschmann die „stief-mütterliche Behandlung der Dramatik bei der Beschäftigung mit Gegen-wartsliteratur“62. Folglich machte sie die Analyse und semiotische Untersu-chung gerade zeitgenössischer Theatertexte zum Schwerpunkt ihrer 1997 publizierten Arbeit „Der nicht mehr dramatische Theatertext“. Während Gerda Poschmann noch von einem Trend hin zu einem nachdramatischen Theatertext spricht, der das dramatische Drama ablöse, zeigt sich heute, zehn Jahre später, ein anderes Bild. In den Theatertexten junger deutscher Gegenwartsautoren gewinnen die Bausteine des mimetischen Kunstwerks Raum, Zeit, Handlung, Figuren und Realitätsbezug wieder zunehmend an Bedeutung. „Eine Reliterarisierung hat eingesetzt, der Text ist zurück-kehrt“, wie Marion Bönnighausen in ihren 2005 in der Zeitschrift Forum Modernes Theater erschienen Betrachtungen zu einer Poetik zeitgenössi-scher Theatertexte konstatiert.63 Diese Ansicht teilt Joachim Fiebach, der in seiner 2003 erschienen Anthologie „Manifeste des europäischen Thea-ters“ auf ein Wiedererstarken dramatischer Lieratur hinweist und ihr eine zentrale Bedeutung im zeitgenössischen europäischen Theater attestiert.64 Die Entwicklung vom Drama zum Theatertext wird folglich mehr und mehr in Frage gestellt, wie auch das Fragezeichen im Titel des 2007 er-schienenen Aufsatzbandes „Vom Drama zum Theatertext?“ nahelegt.65 Poschmanns These von einem zunehmenden „Verzicht auf Figuration und

61 Peter Schneider: Das Licht am Ende des Erzählens. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.):

Bestandsaufnahme Gegenwartsliteratur. Bundesrepublik Deutschland. Deutsche Demokratische Republik. Österreich. Schweiz. München 1988, S. 54-60, 54.

62 Poschmann 1997, S. 13. 63 Marion Bönnighausen: Theatertext – Texttheater. Betrachtungen zu einer Poetik

zeitgenössischer Dramen von Gesine Danckwart und Roland Schimmelpfennig. In: Forum Modernes Theater, Bd. 20/1. Tübingen 2005, S. 65-76, 65. Vgl. Peter Simhandl: Theatergeschichte in einem Band. Mit Beiträgen von Franz Wille und Grit van Dyk. 2. Aufl. Berlin 2001, S. 494: „Text ist wieder zu einem wichtigen Bestandteil des Welt-Theaters der neunziger Jahre geworden.“ Vgl. Bayerdörfer, Leyko, Deutsch-Schreiner (Hgg.) 2007, S. 10-14.

64 Joachim Fiebach: Manifeste des europäischen Theaters. Grotowski bis Schleef. Thea-ter der Zeit. Recherchen Bd. 13. Berlin 2003, S. 352-355.

65 Bayerdörfer, Leyko, Deutsch-Schreiner (Hgg.) 2007.

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Narration“ 66 scheint somit überholt zu sein. Das von Hans-Thies Lehmann 1999 mit seinem Buch „Postdramatisches Theater“ ausgerufene Zeitalter der Postdramatik,67 dessen Höhepunkt in den achtziger Jahren lag, neigt sich offenbar dem Ende zu. Die derzeitige Entwicklung ruft eine Zukunfts-vision Heiner Müllers aus dem Jahr 1989 in Erinnerung. In einem Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Robert Weimann äußert Müller die Ver-mutung, „daß die Zeit des Textes im Theater erst kommen wird.“

Ich weiß nicht, vielleicht ist das eine archaische Position, aber mir scheint […], daß wir im Theater noch gar nicht wirklich mit Texten gearbeitet haben, dass Texte da noch immer nicht als Material, noch immer nicht als Körper gebraucht worden sind. […] ich meine, daß die Zeit des Textes im Theater erst kommen wird.68

Ob der Revolutionär Heiner Müller dabei an eine Wiederkehr des Textes im dramatischen Gewand gedacht hat, ist jedoch fraglich.

In Theater- und Wissenschaftskreisen mehren sich seit Ende des 20. Jahrhunderts die Stimmen, die eine „Rückbesinnung des Theaters auf seine ureigensten Darstellungsmittel“69 fordern und Reliteralisierungstendenzen sowie eine Rehabilitierung des Autors begrüßen.70 Von der Aufwertung des Autorbegriffs zeugt auch eine 1997 von der Deutschen Forschungsge-meinschaft einberufene Tagung, die sich der Frage „Rückkehr des Au-

66 Poschmann 1997, S. 260. 67 Vom Kenner des Lehmannschen Werkes mag an dieser Stelle der Einwand laut

werden, Lehmann habe mit seinen Ausführungen zum postdramatischen Theater keinen Normierungsversuch angestrebt. Er selbst betont dies ausdrücklich (Lehmann 1999, S. 27). Gegner der Lehmannschen Thesen verkennen dies jedoch oft. Auch Pa-trick Primavesi ist es daher ein Anliegen darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem von Lehmann eingeführten Begriff um eine „Arbeitsformel zur Beschreibung ver-schiedener neuer, performance-naher Theaterformen“ handelt. Der Begriff dürfe nicht dogmatisch als „endgültige Abkehr vom dramatischen Text“ verstanden wer-den. Siehe: Patrick Primavesi: Orte und Strategien postdramatischer Theaterformen. In: Arnold, Dawidowski (Hgg.) 2004, S. 9. Der Einwand erscheint berechtigt, doch kann ihm entgegengehalten werden, dass Lehmann das postdramatische Theater in seinem Buch zum „Paradigma der Gegenwart“ (Lehmann 1999, S. 25) erhebt und es somit gewissermaßen institutionalisiert. Darüber hinaus macht er das „Erlöschen ge-nau dieses Dreigestirns von Drama, Handlung und Nachahmung“ zur Grundlage des von ihm beschriebenen neuen Theaters (Lehmann 1999, S. 55).

68 „Gleichzeitigkeit und Repräsentation“. Robert Weimann im Gespräch mit Heiner Müller. In: Robert Weimann, Hans Ulrich Gumbrecht (Hgg.): Postmoderne – Globale Differenz. Frankfurt/M. 1991, S. 182-207, 195.

69 Michael Schneider: Simulation und Inzucht. Das Theater als durchgedrehtes Novitä-tenkarussell. In: Lothar Schöne (Hg.): Mephisto ist müde. Welche Zukunft hat das Theater? Darmstadt 1996, S. 31-54, 54.

70 Vgl.: Lothar Schöne: Theater und ähnliche Perversitäten. Eine Polemik. In: ders. (Hg) 1996, S. 55-64. Vgl. Pavis: Vorzeitiger Überblick oder vorläufige Schließung wegen Inventur zum Ende des Jahrhunderts. In: Fiebach (Hg.) 1999, S. 29-35.

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tors?“ widmete. Die dort vertretenen Wissenschaftler kamen zu dem Er-gebnis, dass man das Fragezeichen im Titel streichen könne. Zwei Jahre später wurden die Tagungsbeiträge somit unter dem Titel „Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs“ veröffentlicht.71 Nach Meinung der Herausgeber sei es an der Zeit, das Dogma vom intentionalis-tischen Fehlschluss zu revidieren. In der Einleitung zu ihrem Sammelband verteidigen sie den im Zuge der poststrukturalistischen Kritik so sehr desavouierten Autorbegriff72 als legitime wissenschaftliche Analysekatego-rie:

Der Verdacht drängt sich auf, daß die theoretische Reflexion über den Autor zentralen Formen des wissenschaftlichen Umgangs mit literarischen Texten nicht gerecht wird. Die Praxis der Interpretation(en) literarischer Texte demons-triert vielmehr legitime, ja notwendige Verwendungsweisen des Autorbegriffs, die von der Theoriediskussion nicht angemessen wahrgenommen werden.73

Am Ende der Einleitung fassen sie die dem Band zugrunde liegende Posi-tion dann noch einmal zusammen:

Es wird deutlich, daß der Autorbegriff weder unreflektiert verwendet werden kann, wie oft in der traditionellen Literaturwissenschaft der Fall, noch pauschal zu verabschieden ist. Der Bezug zwischen Autor und Text ist solange als sinn-volle Analysekategorie anzuerkennen, bis das Gegenteil erwiesen ist und dieser Nachweis nicht mit den kaum konsensfähigen philosophischen Prämissen der autorkritischen Positionen belastet ist.74

Nach Jahren der massiven Autorkritik zeichnet sich im Theoriediskurs somit eine Rückkehr des Autors ab, die Simone Winko wie folgt begründet:

Die literaturwissenschaftliche Praxis zeigt, daß trotz der theoretischen Schwie-rigkeiten und trotz der teilweise vernichtenden Kritik an intentionalistischen Konzepten dennoch – wenn auch oftmals implizit – an ihnen festgehalten wird. Die Funktionen und Leistungen, die sie für den interpretierenden Umgang mit Texten erfüllen, müssen besonders wichtig sein. Bereits dieser Befund lohnt eine erneute Aufnahme der Diskussion. Dazu kommt, daß die Probleme autorinten-tionalistischer Argumentation, wie viele Probleme in der Literaturwissenschaft

71 Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hgg.): Rückkehr des

Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999. 72 Simone Winko macht in ihrer „Autor und Intention“ übertitelten Einführung zum

ersten Themenblock des Sammelbandes darauf aufmerksam, dass die poststruktura-listische Verabschiedung des autorintentionalistischen Konzepts nicht auf Basis einer wissenschaftlichen Untersuchung stattfand, sondern eine Folge der sprach- und sub-jektkritischen Prämissen der damaligen Zeit darstellte. In: Jannidis, Lauer, Martinez, Winko (Hgg.) 1999 S. 39-46, 43.

73 Jannidis, Lauer, Martinez, Winko (Hgg.) 1999, S. 4. 74 Ebd., S. 34.