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Page 1: 40 Jahre Mutterkindpass ? was nun?

Pädiatrie und Pädologie 2014 · 49:3–5DOI 10.1007/s00608-014-0141-7© Springer-Verlag Wien 2014

R. KerblVorstand der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde am LKH Leoben-Eisenerz, Präsident der

Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde und Herausgeber der „Pädiatrie & Pädologie“

40 Jahre Mutterkindpass – was nun?Der österreichische Mutterkindpass feiert heuer sein 40-jähriges Jubiläum. Wirklich ein Grund zum Feiern ?

Lassen Sie mich ganz vorne beginnen …

Der Mutterkindpass wurde Anfang der 1970er Jahre entwickelt, um die damals in Österreich mit ca. 25 Promille im Europa-vergleich relativ hohe Säuglingssterblich-keit auf das Niveau vergleichbarer Länder zu senken [1].

Von der damaligen Gesundheitsminis-terin Ingrid Leodolter wurde ein Team unter der Leitung des Pädiaters und So-zialmediziners Hans Czermak beauftragt, Vorschläge für ein derartiges Präventiv-tool zu erarbeiten. Im Jahr 1974 wurde schließlich dieser „Mutterkindpass“ ös-terreichweit eingeführt. Sehr rasch zeig-te diese Maßnahme auch Erfolg, und die Säuglingssterblichkeit sank zwischen 1974 und 1992 von 23,5 auf 7,4 Promille.

Die Untersuchungsinhalte standen unter „ärztlicher Kontrolle“, und im Gesundheitsministerium (das in den letz-ten 40 Jahren mehrmals Namen und Zu-ständigkeiten änderte, zum Teil auch nur als Staatssekretariat geführt war) wur-de eine dem Obersten Sanitätsrat (OSR) zugeordnete Mutterkindpasskommissi-on eingerichtet. Diese Kommission hatte den Auftrag, Untersuchungsinhalte und abgeleitete Maßnahmen auf deren Evi-denz und Nutzen zu überprüfen. In den letzten 4 Jahrzehnten wurde diese Kom-mission von folgenden Personen geleitet:

Wie die . Tabelle 1 zeigt, ist die Funk-tionsperiode der jüngsten MKP-Kommis-sion seit Ende 2010 ausgelaufen. Die bis-her letzte Sitzung der MKP-Kommission fand am 14.10.2010 statt, und somit exis-tiert seit über 3 Jahren kein medizinisch-wissenschaftliches Beratergremium.

Stattdessen wurde in den letzten Jah-ren das Ludwig Boltzmann Institut Wien (LBI, Leitung Univ.Prof. Dr. C. Wild) als HTA-Institut (HTA = Health Technology Assessment) beauftragt, eine Evaluation des Mutterkindpasses und dessen Einzel-maßnahmen durchzuführen.

Die Aufgabe eines HTA-Berichtes be-steht v. a. darin, vorhandene Evidenz zu suchen, zu sichten, zu bewerten, darzu-stellen, und in weiterer Folge den Ent-scheidungsträgern zur Entscheidungsfin-dung vorzulegen. Für diesen Prozess ist ein 3-stufiges Verfahren vorgesehen:

F Assessment (Datenerhebung)F Appraisal (Bewertung der Ergebnisse)F Decision (Entscheidung)

Dabei ist es durchaus üblich, in der ersten Phase die eigentlichen „Fachleute“ auszu-blenden, weil sie u.U. in Einzelfällen eine subjektive Sichtweise einbringen könnten.

Das ist soweit auch ok. – Aber was ist in Österreich passiert?

Seit mehreren Jahren wird nun der ös-terreichische Mutterkindpass „evalu-iert“, während gleichzeitig jegliche medi-zinisch-wissenschaftliche Beratung „still-gelegt“ ist.

Das LBI hat in mittlerweile neun Pro-jektberichten [2] und auf insgesamt 1571 Seiten (zu sicher nicht unbeträchtlichen Kosten!) einerseits wahrscheinlich wert-volle Arbeit geleistet, gleichzeitig aber auch ein „Werk“ geschaffen, in welchem man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. So wurden z.B. bzgl. Frühge-burtlichkeit alle möglichen Risikofakto-ren aufgeführt, die uns seit Jahrzehnten wohl bekannt sind und gegen die längst alle möglichen Gegenmaßnahmen einge-leitet wurden.

Tab. 1 Mutterkindpass-Kommission des Obersten Sanitätsrates

Zeitraum Vorsitz / Leitung Ort Sonderfach

1974–1996 Steuerung direkt im Obersten Senatsrat

1996–2003 Univ.Prof. Dr. Ronald KURZ Graz Pädiatrie

2003–2006 Univ.Prof. Dr. Radvan URBANEK Wien Pädiatrie

2006–2010 Univ.Prof. Dr. Dagmar BANCHER-TODESCA Wien Gyn/Gebär

2010–2013 – – –

2014–??? ??? ??? ???

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Editorial

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In vielen Bereichen (dazu zählen z.B. die pädiatrischen Untersuchungen) be-richtet der HTA-Bericht über „fehlen-de Evidenz“. Auch diese Erkenntnis ist nicht neu. In der Tat kann es eine solche Evidenz für bestimmte Untersuchungen gar nicht geben, weil in keinem Land die Vorsorgeuntersuchungen (deren Zahl in verschiedenen Ländern durchaus unter-schiedlich ist) „prospektiv kontrolliert“ eingeführt wurden – also mit einer (von den Untersuchungen ausgeschlossenen) Kontrollgruppe [3].

Nun stehen wir also vor diesem "Mons-terwerk" (das wahrscheinlich kaum je-mand in seinem Gesamtumfang wirklich gelesen hat) und sind „so klug als wie zu-vor“ [4].

Was nun ?

Seitens der Österreichischen Gesellschaft für Kinderheilkunde (ÖGKJ), aber auch seitens der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (ÖGGG) wurde wiederholt die Wiedereinführung eines wissenschaftlichen Beirats im BMG eingefordert – bisher ohne Erfolg !

Dabei besteht seitens der beiden wis-senschaftlichen Gesellschaften durchaus Bereitschaft zur konstruktiven Zusam-menarbeit mit dem LBI. Offensichtlich ist die Angst der politisch Verantwortli-chen aber groß, dass die Ärzteschaft mit standespolitischen Interessen ans Werk gehen könnte. Die Vertretung dieser In-teressen ist aber NICHT Aufgabe der wis-senschaftlichen Gesellschaften, sondern der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK) als Standesvertretung. Dass die Mutter-kindpass-Honorare seit mittlerweile fast 20 Jahren (!!!) nicht valorisiert wurden, ist eine bedauerliche Tatsache, die es auch zu korrigieren gilt – sie kann aber nicht Hauptaufgabe des wissenschaftlichen Bei-rates sein.

UNSERE Aufgabe muss es vielmehr sein, in Zusammenarbeit mit BMG, Fami-lienministerium und anderen „Playern“ den Mutterkindpass weiterhin als wirk-sames Präventivtool zu erhalten und weiter zu verbessern. Dafür braucht es

v.a. auch ein Gremium aus medizinischen Expertinnen und Experten. Die mittler-weile oftmals vernommene Kampfansage „Kindergesundheit hat nichts mit Medizin zu tun“ führt sich wohl spätestens dann ad absurdum, wenn im Rahmen der Mutter-kindpassuntersuchungen behandlungs-bedürftige Erkrankungen diagnostiziert werden, was praktisch täglich der Fall ist ! Genauso wichtig ist aber auch die Verhin-derung von Erkrankungen !

Empfehlung

An die Verantwortlichen (insbeson-dere im BMG) ergeht daher folgende Empfehlung:F Rasche (Wieder-) Errichtung einer

medizinisch-wissenschaftlichen Mutterkindpasskommission bzw. eines „wissenschaftlichen Beirats“

F Zusammenführung aller mit dem MKP befassten Institutionen

F Stärkung des MKP als PräventivtoolF Überarbeitung der MKP-InhalteF Ausdehnung des MPK als durchge-

hendes Präventivtool ins Schul- und Jugendalter („junior“ Untersuchun-gen)

F Systematische (ev. elektronische) Erfassung der Untersuchungsdaten

Dabei darf auch die von der Politik ver-ordnete „immerwährende Kostenneu-tralität“ des MKP kein Thema sein. Im-merhin handelt es sich beim MKP um ein besonders kostengünstiges Präventivpool – die Gesamtkosten der MKP-Honorare eines einzelnen Kindes (einschl. Untersu-chungen in der Schwangerschaft) belau-fen sich bei Inanspruchnahme ALLER Untersuchungen auf 551,86 € [5] – weni-ger als ein EINZIGES Autoservice !

Es ist heute allgemein akzeptiert dass „Prävention“ in allen Bereichen der Pä-diatrie forciert werden muss, nicht nur weil dies letztlich Kosten spart („return of investment“), sondern v.a. weil dies in jedem Individualfall den Kindern und Jugendlichen zugute kommt und oft lebenslange Konsequenzen hat.

Literatur

[1] C. Popow (2009) Wie gut ist der Mutterkindpass ? Pädiatrie & Pädologie, 06/2009, 24 - 26.

[2] http://eprints.hta.lbg.ac.at (Suchbegriff „Eltern Vor-sorge“)

[3] Johanna Pröll (2010) Europäische Präventionspro-gramme in der frühen Kindheit (Diplomarbeit in Betreuung von Univ.Prof. Dr. Dagmar Bancher-Tod-esca, Medizinische Universität Wien)

[4] Zitat aus Goethes „Faust“.[5] Andrea Lipp (2013) Der österreichische Mutter-

kindpass als Präventivtool für Kinder. Beteiligungs-raten, Stichprobenanalysen und Gedanken zu einer möglichen Kosten-Nutzen-Evaluierung (Dip-lomarbeit in Betreuung von Univ.Prof. Dr. Reinhold Kerbl, Medizinische Universität Graz und LKH Leo-ben)

8 Univ.-Prof. Dr. Reinhold Kerbl

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