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Leseprobe

Bartholomaumlus Grill

Afrika Ruumlckblicke in die Zukunft eines Kontinents

raquoBartholomaumlus Grill begegnet den

vorherrschenden Afrika-Diskursen mit gesunder Skepsis In klugen Reportagen

hinterfragt er viele Stereotype uumlber den Kontinentlaquo Suumlddeutsche Zeitung

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Seiten 288

Erscheinungstermin 27 September 2021

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Zum Buch Der erfahrenste deutsche Afrika-Korrespondent blickt zuruumlck auf

vier turbulente Jahrzehnte ndash und entdeckt das Zukunftspotenzial

des angeblich verlorenen Kontinents

Bartholomaumlus Grill legendaumlrer Afrika-Korrespondent der ZEIT und des

SPIEGEL zieht Bilanz Wo steht Afrika heute was wird die Zukunft

bringen Trotz Armut und grassierender Korruption birgt Afrika gewaltige

Potenziale Es ist der rohstoffreichste Kontinent der Erde mit einem

groszligen Reservoir an ungenutztem Agrarland Und es hat eine junge

schnell wachsende Bevoumllkerung Zudem eroumlffnet die digitale Revolution

neue Horizonte Zwar hat China uumlberall seine Finger im Spiel doch es

kann afrikanische Loumlsungen geben fuumlr die afrikanischen Probleme etwa

durch die Ruumlckbesinnung auf umweltschonende Produktionsformen und

wirtschaftliche Alternativen zur westlichen Wachstumsreligion Kann eine

raquozivilisatorische Wendelaquo zur Rettung unseres Planeten von Afrika

ausgehen Aufgrund von Beobachtungen und Begegnungen anhand

packender Reportagen zeichnet Bartholomaumlus Grill das Bild eines

vielschichtigen Kontinents im Aufbruch

Autor

Bartholomaumlus Grill Bartholomaumlus Grill 1954 in Oberaudorf am Inn

geboren studierte Philosophie Soziologie und

Kunstgeschichte Vier Jahrzehnte lang hat er als

Korrespondent der ZEIT und des SPIEGEL aus Afrika

berichtet 2006 wurde er fuumlr eine Reportage uumlber

Bartholomaumlus Gr i l lAFRIKA

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Bartholomaumlus Grill

AFRIKARUumlCKBLICKE IN DIE ZUKUNFT

EINES KONTINENTS

Siedler

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Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

1 Auflage Copyright copy 2021 by Siedler Verlag Muumlnchen

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str 28 81673 Muumlnchen

Umschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt MuumlnchenUmschlagabbildung copy Eric LafforgueArt in All of UsCorbis via

Getty ImagesLektorat und Satz Ditta Ahmadi Berlin

Druck und Bindung GGP Media GmbH PoumlszligneckPrinted in Germany

ISBN 978-3-8275-0145-5wwwsiedler-verlagde

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da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglichauf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

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INHALT

Adieu Afrika Am Ende einer langen Dienstreise 7

Evas Kinder Auf den Spuren unserer Urahnen im Suumlden Afrikas 19

Achtung Bulldozer Der Kampf um die Demokratie in Tansania 30

Krieg und Frieden Aumlthiopien ein neues Modell fuumlr Afrika 41

Ein Obama fuumlr Afrika Von einem Geaumlchteten der auszog Praumlsident Nigerias zu werden 63

Jerusalema Aufstieg und Niedergang des Hoffnungslandes Suumldafrika 82

Wo war Gott Ruumlckkehr nach Ruanda zwanzig Jahre nach dem Genozid 107

Der vergessene Massenmord Nach dem Sturz des Diktators Mugabe holt Simbabwe die Vergangenheit ein 122

Mann ohne Haumlnde Wie ein Opfer des Buumlrgerkriegs in Sierra Leone sein Schicksal bewaumlltigt 134

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Gesang der Flussgeister Siachilaba Oder Die rettende Kraft der Musik 147

Vorprogrammierte Explosion Das schnelle Bevoumllkerungswachstum verschaumlrft die Armut ndash und umgekehrt 158

Endstation Sehnsucht Die Massenflucht aus Afrika ein Hirngespinst rechter Populisten 173

Erst die Tiere dann die Menschen Die Folgen des Klimawandels werden zur groumlszligten Bedrohung fuumlr Afrika 191

In Afrikanistan Warum der islamistische Terror nicht mit militaumlrischen Mitteln besiegt werden kann 204

Fluch des Reichtums Die Pluumlnderung der Ressourcen Zum Beispiel Erdoumll 221

Africa First Wege in die Zukunft 237

Was bleibt Von den Schwierigkeiten uumlber Afrika zu schreiben 259

Anhang Dank 273Literaturempfehlungen 275Bildnachweis 277Namensverzeichnis 279

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ADIEU AFRIKAAm Ende e iner langen D ienst re i se

Eigentlich wollten wir ein kleines Kulturhaus im Dorf Longido bauen eine Begegnungsstaumltte fuumlr die Massai ein Volk von Halb-nomaden das keinen Platz mehr hat im modernen Tansania Wir das waren neun junge Leute aus Deutschland Dritte-Welt- Bewegte wie man damals im Jahr 1980 sagte Wir wollten Afrika retten Unter der gluumlhenden Sonne stellten wir Lehmziegel fuumlr das geplante Gebaumlude her mussten aber bald feststellen dass kein ein-ziger Einheimischer mithalf In ihren Augen waren wir naive Weiszlignasen die sie mit einem sinnlosen Projekt begluumlcken wollten Dabei stammte die Idee von einem ortsansaumlssigen Massai von Esto Mollel der in Australien Soziologie studiert und sich ehrgeizige Entwicklungsplaumlne fuumlr seine ruumlckstaumlndige Region im Norden Tan-sanias ausgedacht hatte Straszligen Kliniken Staudaumlmme Das Kul-turzentrum sollte der Anfang sein Am Ende unserer dreiwoumlchigen Bemuumlhungen war nicht ein Haus der Begegnung entstanden son-dern ein Huumlhnerstall im Garten unseres Gastgebers Esto Mollel wurde zu einem guten Freund und war mein erster Mwalimu ein Lehrer der mir Afrika erklaumlrte Er ist im Januar 2000 im Alter von nur 52 Jahren verstorben aber der Huumlhnerstall steht noch immer unweit von seinem Grab Als ich Ende 2019 das morsche Gemaumluer besichtigte kam es mir vor wie ein Sinnbild fuumlr die Entwicklung Afrikas fuumlr einen Kontinent der nach dem Ende der Kolonialzeit in den fruumlhen 1960er Jahren mit hochfliegenden Erwartungen in die Unabhaumlngigkeit aufgebrochen war ndash und sechs Jahrzehnte spaumlter eher bescheidene Fortschritte erzielt hat

In Tansania betrat ich im August 1980 erstmals afrikanischen Boden hier sollte eine lange Liebesgeschichte beginnen und von

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hier aus blicke ich zuruumlck auf meine Zeit in Afrika Es war ein Wechselbad der Gefuumlhle ein staumlndiges Hin- und Herpendeln zwischen Zuversicht und Enttaumluschung Hoffnung und Pessi-mismus

Longido vor vierzig Jahren ein langweiliges Nest unweit der Grenze zu Kenia zweitausend Einwohner zwei Buschschaumlnken kein Telefon kein Strom keine Trinkwasserversorgung Mittler-weile leben hier siebenmal so viele Menschen und Rose Mollel Estos Witwe schwaumlrmt von den Errungenschaften raquoWir haben jetzt Elektrizitaumlt und flieszligendes Wasser Und sogar eine kleine Klinik mit einem OP-Raum Die Hauptstraszlige ist geteert es gibt zwei Tankstellen und Funktuumlrme fuumlr unsere Mobiltelefonelaquo Dazu ein Dutzend Spelunken jede Menge sozialer Konflikte mehr Wohlstand fuumlr wenige mehr Armut fuumlr viele weil es an Arbeitsplaumltzen mangelt

Seit meinem ersten Besuch der oumlrtlichen Primary School ndash Rose war seinerzeit Schulleiterin ndash hat sich die Zahl der Grund-schuumller auf 1118 nahezu verdoppelt Die Klassenzimmer sind so aumlrmlich ausgestattet wie eh und je primitive Pulte und Holzbaumlnke zersplitterte Schiefertafeln Fenster ohne Scheiben heiszliges Blech-dach raquoWir haben gute Lehrprogramme aber keine Lehrmittellaquo sagt Julieth Godfrey Die 57-jaumlhrige Lehrerin unterrichtet Mathe-matik Sie zeigt auf ein Wandbild im Schulhof ein Computer mit Zubehoumlr beschrieben in Kisuaheli Skrini (Bildschirm) Kibodi (Tastatur) Waya (Kabel) Die Kinder kennen Computer nur als Zeichnung Es gebe nur einen Rechner in der Schule den nutze aber ausschlieszliglich die Verwaltung sagt Godfrey raquoEs heiszligt Bil-dung sei das wichtigste Mittel um die Armut zu uumlberwinden Aber wir sind noch weit von diesem Ziel entferntlaquo

An Longido laumlsst sich ein Paradoxon studieren das exempla-risch ist fuumlr Afrika Der Kontinent ist vorangekommen ndash und gleichzeitig stehen geblieben

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In den vergangenen vier Jahrzehnten bin ich ungefaumlhr zwei Millio-nen Kilometer innerhalb Afrikas geflogen und gefahren um aus uumlber fuumlnfzig Laumlndern zu berichten Nach all den ereignisreichen Jahren werde ich oft gefragt Hat sich die Lage zwischen Khartum und Kapstadt Dakar und Daressalam in dieser Zeitspanne ver-bessert Oder geht es wie haumlufig zu houmlren ist stetig bergab Meine Antwort lautet sowohl als auch

Aber schon die Frage ist falsch gestellt Afrika wird oft als ein einziges Land wahrgenommen als monolithische Krisenmasse nicht als vielfaumlltiger Erdteil mit 54 Nationen die sich houmlchst unter-schiedlich entwickelt haben Es gibt eine Reihe von Failed States durch Buumlrgerkriege ruinierte Staaten wie Suumldsudan oder Somalia Es gibt mit Bodenschaumltzen gesegnete Laumlnder wie Nigeria oder Angola die ihren Reichtum verprassen Laumlnder wie Simbabwe oder Gambia die von Gewaltherrschern zerstoumlrt wurden Laumlnder wie Suumldafrika die sich in einer gefaumlhr lichen Abwaumlrtsspirale befin-den oder wie Kenia die sich irgendwie durchwursteln Politisch stabile Laumlnder wie Namibia Ghana oder Senegal Schlieszliglich Laumlnder die wirtschaftlich erfolgreich sind Botswana Aumlthiopien Ruanda Tansania Doch allerorten schlagen sich Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen mit den immer gleichen Proble-men herum mit Armut Arbeitslosigkeit und Krankheit mit der Unfaumlhigkeit und Gier korrupter Eliten mit Verteilungskaumlmpfen um knappe Ressourcen die durch die schnelle Zunahme der Be-voumllkerung und den Klima wandel verschaumlrft werden Von A wie Alphabetisierungsrate bis Z wie Zahnarztdichte ndash im globalen Vergleich ist Afrika in vielen Bereichen nach wie vor das Schluss-licht Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor moumlgen sich Leser und Leserinnen sagen die mein Buch Ach Afrika kennen denn darin stand schon 2003 der gleiche Befund Seither hat sich an der schwierigen Gesamtlage wenig veraumlndert

Ich habe mit afrikanischen Oumlkonomen Sozialwissenschaft-lern und Historikern uumlber die Ursachen debattiert gelegentlich

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auch gestritten Auffaumlllig waren zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen Da war einmal das groszlige Lamento uumlber den Zustand ihrer Staaten uumlber das Versagen der politischen Klasse ja uumlber deren Verrat an ihren Voumllkern Eine zum Klassiker gewordene Streitschrift der Kamerunerin Axelle Kabou liest sich wie eine Selbstbezichtigung Die Afrikaner und Afrikanerinnen haumltten ihre Misere groumlszligtenteils selbst herbeigefuumlhrt Warum verdammt noch mal schaffen sie es nicht sich aus eigener Kraft zu entwickeln Noch krasser druumlckt es der simbabwische Publizist Kwame Muza-wazi aus raquoDer wahre Feind Afrikas im 21 Jahrhundert ist nicht der Kolonialismus Es ist der schwarze Mann selbst seine eigene Pas-sivitaumlt seine lethargische Herangehensweise an die eigenen Ange-legenheiten hellip wir bewegen uns per Autopilot ins Nirgendwolaquo

Die zweite Erklaumlrung sieht Afrika immer und uumlberall als Opfer stets sind finstere Auszligenmaumlchte fuumlr alle Uumlbel verantwortlich die Ex-Kolonialmaumlchte die Weltbank die multinationalen Konzerne die weiszligen Rassisten und so weiter Der gegenwaumlrtige Zustand des Kontinents koumlnne raquoder niedertraumlchtigen Geschichte des imperialen Westens angelastet werdenlaquo postuliert der kenianische Schriftstel-ler Ngugi wa Thiongrsquoo Ein apodiktisches Urteil das an den Offi-zier in Kafkas Erzaumlhlung In der Strafkolonie erinnert raquoDer Grund-satz nach dem ich entscheide ist Die Schuld ist immer zweifel loslaquo Die herrschenden Eliten Afrikas uumlbernehmen solche Generalankla-gen gerne denn sie lenken vom eigenen Versagen ab wecken im reichen Norden Schuldgefuumlhle und bestaumlrken die internationale Hilfs industrie in ihrem haumlufig sinnlosen Aktivismus Die Ein-waumlnde afrikanischer Kritiker stoszligen hingegen auf taube Ohren Afrikaner und Afrikanerinnen werden viktimisiert sie haben Opfer zu sein

Beide Positionen ndash selbst verschuldet versus fremdverschul-det ndash greifen zu kurz Denn es ist eine Mischung aus internen und externen Faktoren die Afrika so groszlige Probleme bereitet einerseits die Spaumltfolgen des Kolonialismus und das raumluberische

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Weltwirtschaftssystem das der global entfesselte Kapitalismus noch raumluberischer macht andererseits die schlechte Regierungs-fuumlhrung in vielen Laumlndern und drittens die Synergien die sich daraus erge ben die Kollusion der einheimischen Machteliten mit aus laumln di schen Partnern ndash mit Oumllmultis Bergbaumagnaten Waf-fenhaumlndlern Steuerhinterziehern Strategieberatern Anwaumllten Wirtschafts pruumlfern und Bankern ndash die helfen die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlaumlchtig ihre Generalisierungen ndash raquodie Afrikanerlaquo ndash sind aumlrgerlich Doch bei allen Einschraumlnkungen stimme ich ihrem Befund zu Machtmiss-brauch Inkompetenz Planlosigkeit und endemische Korruption sind die groumlszligten Entwicklungshemmnisse Die politischen Eliten regieren seit der Unabhaumlngigkeit souveraumlne Staaten doch in vielen Faumlllen sind sie weder willens noch faumlhig diese in eine bessere Zu-kunft zu fuumlhren Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren sie beruht auf dem Recht des Staumlrkeren Sie pluumlndern ihre Nationen bereichern sich maszliglos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit Die vielleicht groumlszligte Enttaumlu-schung ist dass auch meine Wahlheimat Suumldafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird ndash das reichste Land des Kontinents das nach der Uumlberwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild fuumlr Afrika war Millionen von Suumldafrikanern die in einer friedlichen Revolu-tion fuumlr Freiheit Gleichheit und Versoumlhnung gekaumlmpft haben sind desillusioniert Spaumltestens in der Amtszeit von Praumlsident Jacob Zuma mussten sie feststellen dass sie von einer Diebesbande re-giert werden Die einstigen Befreier haben nichts aus den post-kolonialen Fehlentwicklungen gelernt es ist als wuumlrde sich die Geschichte wiederholen

In den Gruumlnderjahren war der Kontinent noch von den Nach-wehen der Unabhaumlngigkeit gepraumlgt in vielen jungen Staaten herrschten uumlble Militaumlrdiktaturen die sich von ihren ideologischen

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Verbuumlndeten in Moskau Washington oder Paris alimentieren lie-szligen Es kam serienweise zu Staatsstreichen Despoten wurden gestuumlrzt neue Despoten stiegen auf Als ich 1993 nach Suumldafrika uumlbersiedelte schien eine neue Epoche heraufzudaumlmmern In Ber-lin war die Mauer gefallen der Kalte Krieg ging zu Ende Das Rassistenregime der Apartheid die letzte Bastion kolonialer Herr-schaft musste kapitulierten Namibia war unabhaumlngig geworden uumlberall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit National konferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus in zahlreichen Laumlndern wurden Mehrparteiensysteme eingefuumlhrt Doch der raquoWind of Changelaquo war nur ein laues Luumlftchen Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene De-mokratie nur als Fassade hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten Es galt und gilt jene Dialektik die der franzoumlsische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat raquoEin Land ist nicht nur arm weil es schlecht regiert wird es wird auch schlecht regiert weil es arm istlaquo

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Konti-nent abgeschrieben als verlorenen Kontinent der Kriege Krank-heiten und Katastrophen Umgekehrt gehoumlrte ich aber auch nicht zu den blauaumlugigen Chronisten die die Verhaumlltnisse auf diesem Erdteil gern beschoumlnigen und kleine Erfolgsgeschichten zum gro-szligen Aufbruch hochjubeln Ich habe vielmehr versucht zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben Mein Leitspruch Die Lage ist ernst aber keineswegs aussichtslos Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale Es zaumlhlt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde es hat fruchtbares aber groszligflaumlchig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland Und es hat eine junge schnell wachsende Bevoumllkerung Schon im Jahr 2050 wenn geschaumltzte 25 Milliarden Menschen in Afrika leben werden wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbuumlrger behei-maten Europa wird die Umbruumlche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren koumlnnen und seine Festungspolitik durch

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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Inhalte

Buch lesen

Mehr zum Autor

Zum Buch Der erfahrenste deutsche Afrika-Korrespondent blickt zuruumlck auf

vier turbulente Jahrzehnte ndash und entdeckt das Zukunftspotenzial

des angeblich verlorenen Kontinents

Bartholomaumlus Grill legendaumlrer Afrika-Korrespondent der ZEIT und des

SPIEGEL zieht Bilanz Wo steht Afrika heute was wird die Zukunft

bringen Trotz Armut und grassierender Korruption birgt Afrika gewaltige

Potenziale Es ist der rohstoffreichste Kontinent der Erde mit einem

groszligen Reservoir an ungenutztem Agrarland Und es hat eine junge

schnell wachsende Bevoumllkerung Zudem eroumlffnet die digitale Revolution

neue Horizonte Zwar hat China uumlberall seine Finger im Spiel doch es

kann afrikanische Loumlsungen geben fuumlr die afrikanischen Probleme etwa

durch die Ruumlckbesinnung auf umweltschonende Produktionsformen und

wirtschaftliche Alternativen zur westlichen Wachstumsreligion Kann eine

raquozivilisatorische Wendelaquo zur Rettung unseres Planeten von Afrika

ausgehen Aufgrund von Beobachtungen und Begegnungen anhand

packender Reportagen zeichnet Bartholomaumlus Grill das Bild eines

vielschichtigen Kontinents im Aufbruch

Autor

Bartholomaumlus Grill Bartholomaumlus Grill 1954 in Oberaudorf am Inn

geboren studierte Philosophie Soziologie und

Kunstgeschichte Vier Jahrzehnte lang hat er als

Korrespondent der ZEIT und des SPIEGEL aus Afrika

berichtet 2006 wurde er fuumlr eine Reportage uumlber

Bartholomaumlus Gr i l lAFRIKA

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Bartholomaumlus Grill

AFRIKARUumlCKBLICKE IN DIE ZUKUNFT

EINES KONTINENTS

Siedler

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Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

1 Auflage Copyright copy 2021 by Siedler Verlag Muumlnchen

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str 28 81673 Muumlnchen

Umschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt MuumlnchenUmschlagabbildung copy Eric LafforgueArt in All of UsCorbis via

Getty ImagesLektorat und Satz Ditta Ahmadi Berlin

Druck und Bindung GGP Media GmbH PoumlszligneckPrinted in Germany

ISBN 978-3-8275-0145-5wwwsiedler-verlagde

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthaltenso uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung

da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglichauf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

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INHALT

Adieu Afrika Am Ende einer langen Dienstreise 7

Evas Kinder Auf den Spuren unserer Urahnen im Suumlden Afrikas 19

Achtung Bulldozer Der Kampf um die Demokratie in Tansania 30

Krieg und Frieden Aumlthiopien ein neues Modell fuumlr Afrika 41

Ein Obama fuumlr Afrika Von einem Geaumlchteten der auszog Praumlsident Nigerias zu werden 63

Jerusalema Aufstieg und Niedergang des Hoffnungslandes Suumldafrika 82

Wo war Gott Ruumlckkehr nach Ruanda zwanzig Jahre nach dem Genozid 107

Der vergessene Massenmord Nach dem Sturz des Diktators Mugabe holt Simbabwe die Vergangenheit ein 122

Mann ohne Haumlnde Wie ein Opfer des Buumlrgerkriegs in Sierra Leone sein Schicksal bewaumlltigt 134

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Gesang der Flussgeister Siachilaba Oder Die rettende Kraft der Musik 147

Vorprogrammierte Explosion Das schnelle Bevoumllkerungswachstum verschaumlrft die Armut ndash und umgekehrt 158

Endstation Sehnsucht Die Massenflucht aus Afrika ein Hirngespinst rechter Populisten 173

Erst die Tiere dann die Menschen Die Folgen des Klimawandels werden zur groumlszligten Bedrohung fuumlr Afrika 191

In Afrikanistan Warum der islamistische Terror nicht mit militaumlrischen Mitteln besiegt werden kann 204

Fluch des Reichtums Die Pluumlnderung der Ressourcen Zum Beispiel Erdoumll 221

Africa First Wege in die Zukunft 237

Was bleibt Von den Schwierigkeiten uumlber Afrika zu schreiben 259

Anhang Dank 273Literaturempfehlungen 275Bildnachweis 277Namensverzeichnis 279

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ADIEU AFRIKAAm Ende e iner langen D ienst re i se

Eigentlich wollten wir ein kleines Kulturhaus im Dorf Longido bauen eine Begegnungsstaumltte fuumlr die Massai ein Volk von Halb-nomaden das keinen Platz mehr hat im modernen Tansania Wir das waren neun junge Leute aus Deutschland Dritte-Welt- Bewegte wie man damals im Jahr 1980 sagte Wir wollten Afrika retten Unter der gluumlhenden Sonne stellten wir Lehmziegel fuumlr das geplante Gebaumlude her mussten aber bald feststellen dass kein ein-ziger Einheimischer mithalf In ihren Augen waren wir naive Weiszlignasen die sie mit einem sinnlosen Projekt begluumlcken wollten Dabei stammte die Idee von einem ortsansaumlssigen Massai von Esto Mollel der in Australien Soziologie studiert und sich ehrgeizige Entwicklungsplaumlne fuumlr seine ruumlckstaumlndige Region im Norden Tan-sanias ausgedacht hatte Straszligen Kliniken Staudaumlmme Das Kul-turzentrum sollte der Anfang sein Am Ende unserer dreiwoumlchigen Bemuumlhungen war nicht ein Haus der Begegnung entstanden son-dern ein Huumlhnerstall im Garten unseres Gastgebers Esto Mollel wurde zu einem guten Freund und war mein erster Mwalimu ein Lehrer der mir Afrika erklaumlrte Er ist im Januar 2000 im Alter von nur 52 Jahren verstorben aber der Huumlhnerstall steht noch immer unweit von seinem Grab Als ich Ende 2019 das morsche Gemaumluer besichtigte kam es mir vor wie ein Sinnbild fuumlr die Entwicklung Afrikas fuumlr einen Kontinent der nach dem Ende der Kolonialzeit in den fruumlhen 1960er Jahren mit hochfliegenden Erwartungen in die Unabhaumlngigkeit aufgebrochen war ndash und sechs Jahrzehnte spaumlter eher bescheidene Fortschritte erzielt hat

In Tansania betrat ich im August 1980 erstmals afrikanischen Boden hier sollte eine lange Liebesgeschichte beginnen und von

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hier aus blicke ich zuruumlck auf meine Zeit in Afrika Es war ein Wechselbad der Gefuumlhle ein staumlndiges Hin- und Herpendeln zwischen Zuversicht und Enttaumluschung Hoffnung und Pessi-mismus

Longido vor vierzig Jahren ein langweiliges Nest unweit der Grenze zu Kenia zweitausend Einwohner zwei Buschschaumlnken kein Telefon kein Strom keine Trinkwasserversorgung Mittler-weile leben hier siebenmal so viele Menschen und Rose Mollel Estos Witwe schwaumlrmt von den Errungenschaften raquoWir haben jetzt Elektrizitaumlt und flieszligendes Wasser Und sogar eine kleine Klinik mit einem OP-Raum Die Hauptstraszlige ist geteert es gibt zwei Tankstellen und Funktuumlrme fuumlr unsere Mobiltelefonelaquo Dazu ein Dutzend Spelunken jede Menge sozialer Konflikte mehr Wohlstand fuumlr wenige mehr Armut fuumlr viele weil es an Arbeitsplaumltzen mangelt

Seit meinem ersten Besuch der oumlrtlichen Primary School ndash Rose war seinerzeit Schulleiterin ndash hat sich die Zahl der Grund-schuumller auf 1118 nahezu verdoppelt Die Klassenzimmer sind so aumlrmlich ausgestattet wie eh und je primitive Pulte und Holzbaumlnke zersplitterte Schiefertafeln Fenster ohne Scheiben heiszliges Blech-dach raquoWir haben gute Lehrprogramme aber keine Lehrmittellaquo sagt Julieth Godfrey Die 57-jaumlhrige Lehrerin unterrichtet Mathe-matik Sie zeigt auf ein Wandbild im Schulhof ein Computer mit Zubehoumlr beschrieben in Kisuaheli Skrini (Bildschirm) Kibodi (Tastatur) Waya (Kabel) Die Kinder kennen Computer nur als Zeichnung Es gebe nur einen Rechner in der Schule den nutze aber ausschlieszliglich die Verwaltung sagt Godfrey raquoEs heiszligt Bil-dung sei das wichtigste Mittel um die Armut zu uumlberwinden Aber wir sind noch weit von diesem Ziel entferntlaquo

An Longido laumlsst sich ein Paradoxon studieren das exempla-risch ist fuumlr Afrika Der Kontinent ist vorangekommen ndash und gleichzeitig stehen geblieben

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In den vergangenen vier Jahrzehnten bin ich ungefaumlhr zwei Millio-nen Kilometer innerhalb Afrikas geflogen und gefahren um aus uumlber fuumlnfzig Laumlndern zu berichten Nach all den ereignisreichen Jahren werde ich oft gefragt Hat sich die Lage zwischen Khartum und Kapstadt Dakar und Daressalam in dieser Zeitspanne ver-bessert Oder geht es wie haumlufig zu houmlren ist stetig bergab Meine Antwort lautet sowohl als auch

Aber schon die Frage ist falsch gestellt Afrika wird oft als ein einziges Land wahrgenommen als monolithische Krisenmasse nicht als vielfaumlltiger Erdteil mit 54 Nationen die sich houmlchst unter-schiedlich entwickelt haben Es gibt eine Reihe von Failed States durch Buumlrgerkriege ruinierte Staaten wie Suumldsudan oder Somalia Es gibt mit Bodenschaumltzen gesegnete Laumlnder wie Nigeria oder Angola die ihren Reichtum verprassen Laumlnder wie Simbabwe oder Gambia die von Gewaltherrschern zerstoumlrt wurden Laumlnder wie Suumldafrika die sich in einer gefaumlhr lichen Abwaumlrtsspirale befin-den oder wie Kenia die sich irgendwie durchwursteln Politisch stabile Laumlnder wie Namibia Ghana oder Senegal Schlieszliglich Laumlnder die wirtschaftlich erfolgreich sind Botswana Aumlthiopien Ruanda Tansania Doch allerorten schlagen sich Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen mit den immer gleichen Proble-men herum mit Armut Arbeitslosigkeit und Krankheit mit der Unfaumlhigkeit und Gier korrupter Eliten mit Verteilungskaumlmpfen um knappe Ressourcen die durch die schnelle Zunahme der Be-voumllkerung und den Klima wandel verschaumlrft werden Von A wie Alphabetisierungsrate bis Z wie Zahnarztdichte ndash im globalen Vergleich ist Afrika in vielen Bereichen nach wie vor das Schluss-licht Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor moumlgen sich Leser und Leserinnen sagen die mein Buch Ach Afrika kennen denn darin stand schon 2003 der gleiche Befund Seither hat sich an der schwierigen Gesamtlage wenig veraumlndert

Ich habe mit afrikanischen Oumlkonomen Sozialwissenschaft-lern und Historikern uumlber die Ursachen debattiert gelegentlich

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auch gestritten Auffaumlllig waren zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen Da war einmal das groszlige Lamento uumlber den Zustand ihrer Staaten uumlber das Versagen der politischen Klasse ja uumlber deren Verrat an ihren Voumllkern Eine zum Klassiker gewordene Streitschrift der Kamerunerin Axelle Kabou liest sich wie eine Selbstbezichtigung Die Afrikaner und Afrikanerinnen haumltten ihre Misere groumlszligtenteils selbst herbeigefuumlhrt Warum verdammt noch mal schaffen sie es nicht sich aus eigener Kraft zu entwickeln Noch krasser druumlckt es der simbabwische Publizist Kwame Muza-wazi aus raquoDer wahre Feind Afrikas im 21 Jahrhundert ist nicht der Kolonialismus Es ist der schwarze Mann selbst seine eigene Pas-sivitaumlt seine lethargische Herangehensweise an die eigenen Ange-legenheiten hellip wir bewegen uns per Autopilot ins Nirgendwolaquo

Die zweite Erklaumlrung sieht Afrika immer und uumlberall als Opfer stets sind finstere Auszligenmaumlchte fuumlr alle Uumlbel verantwortlich die Ex-Kolonialmaumlchte die Weltbank die multinationalen Konzerne die weiszligen Rassisten und so weiter Der gegenwaumlrtige Zustand des Kontinents koumlnne raquoder niedertraumlchtigen Geschichte des imperialen Westens angelastet werdenlaquo postuliert der kenianische Schriftstel-ler Ngugi wa Thiongrsquoo Ein apodiktisches Urteil das an den Offi-zier in Kafkas Erzaumlhlung In der Strafkolonie erinnert raquoDer Grund-satz nach dem ich entscheide ist Die Schuld ist immer zweifel loslaquo Die herrschenden Eliten Afrikas uumlbernehmen solche Generalankla-gen gerne denn sie lenken vom eigenen Versagen ab wecken im reichen Norden Schuldgefuumlhle und bestaumlrken die internationale Hilfs industrie in ihrem haumlufig sinnlosen Aktivismus Die Ein-waumlnde afrikanischer Kritiker stoszligen hingegen auf taube Ohren Afrikaner und Afrikanerinnen werden viktimisiert sie haben Opfer zu sein

Beide Positionen ndash selbst verschuldet versus fremdverschul-det ndash greifen zu kurz Denn es ist eine Mischung aus internen und externen Faktoren die Afrika so groszlige Probleme bereitet einerseits die Spaumltfolgen des Kolonialismus und das raumluberische

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Weltwirtschaftssystem das der global entfesselte Kapitalismus noch raumluberischer macht andererseits die schlechte Regierungs-fuumlhrung in vielen Laumlndern und drittens die Synergien die sich daraus erge ben die Kollusion der einheimischen Machteliten mit aus laumln di schen Partnern ndash mit Oumllmultis Bergbaumagnaten Waf-fenhaumlndlern Steuerhinterziehern Strategieberatern Anwaumllten Wirtschafts pruumlfern und Bankern ndash die helfen die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlaumlchtig ihre Generalisierungen ndash raquodie Afrikanerlaquo ndash sind aumlrgerlich Doch bei allen Einschraumlnkungen stimme ich ihrem Befund zu Machtmiss-brauch Inkompetenz Planlosigkeit und endemische Korruption sind die groumlszligten Entwicklungshemmnisse Die politischen Eliten regieren seit der Unabhaumlngigkeit souveraumlne Staaten doch in vielen Faumlllen sind sie weder willens noch faumlhig diese in eine bessere Zu-kunft zu fuumlhren Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren sie beruht auf dem Recht des Staumlrkeren Sie pluumlndern ihre Nationen bereichern sich maszliglos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit Die vielleicht groumlszligte Enttaumlu-schung ist dass auch meine Wahlheimat Suumldafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird ndash das reichste Land des Kontinents das nach der Uumlberwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild fuumlr Afrika war Millionen von Suumldafrikanern die in einer friedlichen Revolu-tion fuumlr Freiheit Gleichheit und Versoumlhnung gekaumlmpft haben sind desillusioniert Spaumltestens in der Amtszeit von Praumlsident Jacob Zuma mussten sie feststellen dass sie von einer Diebesbande re-giert werden Die einstigen Befreier haben nichts aus den post-kolonialen Fehlentwicklungen gelernt es ist als wuumlrde sich die Geschichte wiederholen

In den Gruumlnderjahren war der Kontinent noch von den Nach-wehen der Unabhaumlngigkeit gepraumlgt in vielen jungen Staaten herrschten uumlble Militaumlrdiktaturen die sich von ihren ideologischen

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Verbuumlndeten in Moskau Washington oder Paris alimentieren lie-szligen Es kam serienweise zu Staatsstreichen Despoten wurden gestuumlrzt neue Despoten stiegen auf Als ich 1993 nach Suumldafrika uumlbersiedelte schien eine neue Epoche heraufzudaumlmmern In Ber-lin war die Mauer gefallen der Kalte Krieg ging zu Ende Das Rassistenregime der Apartheid die letzte Bastion kolonialer Herr-schaft musste kapitulierten Namibia war unabhaumlngig geworden uumlberall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit National konferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus in zahlreichen Laumlndern wurden Mehrparteiensysteme eingefuumlhrt Doch der raquoWind of Changelaquo war nur ein laues Luumlftchen Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene De-mokratie nur als Fassade hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten Es galt und gilt jene Dialektik die der franzoumlsische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat raquoEin Land ist nicht nur arm weil es schlecht regiert wird es wird auch schlecht regiert weil es arm istlaquo

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Konti-nent abgeschrieben als verlorenen Kontinent der Kriege Krank-heiten und Katastrophen Umgekehrt gehoumlrte ich aber auch nicht zu den blauaumlugigen Chronisten die die Verhaumlltnisse auf diesem Erdteil gern beschoumlnigen und kleine Erfolgsgeschichten zum gro-szligen Aufbruch hochjubeln Ich habe vielmehr versucht zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben Mein Leitspruch Die Lage ist ernst aber keineswegs aussichtslos Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale Es zaumlhlt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde es hat fruchtbares aber groszligflaumlchig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland Und es hat eine junge schnell wachsende Bevoumllkerung Schon im Jahr 2050 wenn geschaumltzte 25 Milliarden Menschen in Afrika leben werden wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbuumlrger behei-maten Europa wird die Umbruumlche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren koumlnnen und seine Festungspolitik durch

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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Bartholomaumlus Gr i l lAFRIKA

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Bartholomaumlus Grill

AFRIKARUumlCKBLICKE IN DIE ZUKUNFT

EINES KONTINENTS

Siedler

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Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

1 Auflage Copyright copy 2021 by Siedler Verlag Muumlnchen

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str 28 81673 Muumlnchen

Umschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt MuumlnchenUmschlagabbildung copy Eric LafforgueArt in All of UsCorbis via

Getty ImagesLektorat und Satz Ditta Ahmadi Berlin

Druck und Bindung GGP Media GmbH PoumlszligneckPrinted in Germany

ISBN 978-3-8275-0145-5wwwsiedler-verlagde

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da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglichauf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

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INHALT

Adieu Afrika Am Ende einer langen Dienstreise 7

Evas Kinder Auf den Spuren unserer Urahnen im Suumlden Afrikas 19

Achtung Bulldozer Der Kampf um die Demokratie in Tansania 30

Krieg und Frieden Aumlthiopien ein neues Modell fuumlr Afrika 41

Ein Obama fuumlr Afrika Von einem Geaumlchteten der auszog Praumlsident Nigerias zu werden 63

Jerusalema Aufstieg und Niedergang des Hoffnungslandes Suumldafrika 82

Wo war Gott Ruumlckkehr nach Ruanda zwanzig Jahre nach dem Genozid 107

Der vergessene Massenmord Nach dem Sturz des Diktators Mugabe holt Simbabwe die Vergangenheit ein 122

Mann ohne Haumlnde Wie ein Opfer des Buumlrgerkriegs in Sierra Leone sein Schicksal bewaumlltigt 134

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Gesang der Flussgeister Siachilaba Oder Die rettende Kraft der Musik 147

Vorprogrammierte Explosion Das schnelle Bevoumllkerungswachstum verschaumlrft die Armut ndash und umgekehrt 158

Endstation Sehnsucht Die Massenflucht aus Afrika ein Hirngespinst rechter Populisten 173

Erst die Tiere dann die Menschen Die Folgen des Klimawandels werden zur groumlszligten Bedrohung fuumlr Afrika 191

In Afrikanistan Warum der islamistische Terror nicht mit militaumlrischen Mitteln besiegt werden kann 204

Fluch des Reichtums Die Pluumlnderung der Ressourcen Zum Beispiel Erdoumll 221

Africa First Wege in die Zukunft 237

Was bleibt Von den Schwierigkeiten uumlber Afrika zu schreiben 259

Anhang Dank 273Literaturempfehlungen 275Bildnachweis 277Namensverzeichnis 279

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ADIEU AFRIKAAm Ende e iner langen D ienst re i se

Eigentlich wollten wir ein kleines Kulturhaus im Dorf Longido bauen eine Begegnungsstaumltte fuumlr die Massai ein Volk von Halb-nomaden das keinen Platz mehr hat im modernen Tansania Wir das waren neun junge Leute aus Deutschland Dritte-Welt- Bewegte wie man damals im Jahr 1980 sagte Wir wollten Afrika retten Unter der gluumlhenden Sonne stellten wir Lehmziegel fuumlr das geplante Gebaumlude her mussten aber bald feststellen dass kein ein-ziger Einheimischer mithalf In ihren Augen waren wir naive Weiszlignasen die sie mit einem sinnlosen Projekt begluumlcken wollten Dabei stammte die Idee von einem ortsansaumlssigen Massai von Esto Mollel der in Australien Soziologie studiert und sich ehrgeizige Entwicklungsplaumlne fuumlr seine ruumlckstaumlndige Region im Norden Tan-sanias ausgedacht hatte Straszligen Kliniken Staudaumlmme Das Kul-turzentrum sollte der Anfang sein Am Ende unserer dreiwoumlchigen Bemuumlhungen war nicht ein Haus der Begegnung entstanden son-dern ein Huumlhnerstall im Garten unseres Gastgebers Esto Mollel wurde zu einem guten Freund und war mein erster Mwalimu ein Lehrer der mir Afrika erklaumlrte Er ist im Januar 2000 im Alter von nur 52 Jahren verstorben aber der Huumlhnerstall steht noch immer unweit von seinem Grab Als ich Ende 2019 das morsche Gemaumluer besichtigte kam es mir vor wie ein Sinnbild fuumlr die Entwicklung Afrikas fuumlr einen Kontinent der nach dem Ende der Kolonialzeit in den fruumlhen 1960er Jahren mit hochfliegenden Erwartungen in die Unabhaumlngigkeit aufgebrochen war ndash und sechs Jahrzehnte spaumlter eher bescheidene Fortschritte erzielt hat

In Tansania betrat ich im August 1980 erstmals afrikanischen Boden hier sollte eine lange Liebesgeschichte beginnen und von

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hier aus blicke ich zuruumlck auf meine Zeit in Afrika Es war ein Wechselbad der Gefuumlhle ein staumlndiges Hin- und Herpendeln zwischen Zuversicht und Enttaumluschung Hoffnung und Pessi-mismus

Longido vor vierzig Jahren ein langweiliges Nest unweit der Grenze zu Kenia zweitausend Einwohner zwei Buschschaumlnken kein Telefon kein Strom keine Trinkwasserversorgung Mittler-weile leben hier siebenmal so viele Menschen und Rose Mollel Estos Witwe schwaumlrmt von den Errungenschaften raquoWir haben jetzt Elektrizitaumlt und flieszligendes Wasser Und sogar eine kleine Klinik mit einem OP-Raum Die Hauptstraszlige ist geteert es gibt zwei Tankstellen und Funktuumlrme fuumlr unsere Mobiltelefonelaquo Dazu ein Dutzend Spelunken jede Menge sozialer Konflikte mehr Wohlstand fuumlr wenige mehr Armut fuumlr viele weil es an Arbeitsplaumltzen mangelt

Seit meinem ersten Besuch der oumlrtlichen Primary School ndash Rose war seinerzeit Schulleiterin ndash hat sich die Zahl der Grund-schuumller auf 1118 nahezu verdoppelt Die Klassenzimmer sind so aumlrmlich ausgestattet wie eh und je primitive Pulte und Holzbaumlnke zersplitterte Schiefertafeln Fenster ohne Scheiben heiszliges Blech-dach raquoWir haben gute Lehrprogramme aber keine Lehrmittellaquo sagt Julieth Godfrey Die 57-jaumlhrige Lehrerin unterrichtet Mathe-matik Sie zeigt auf ein Wandbild im Schulhof ein Computer mit Zubehoumlr beschrieben in Kisuaheli Skrini (Bildschirm) Kibodi (Tastatur) Waya (Kabel) Die Kinder kennen Computer nur als Zeichnung Es gebe nur einen Rechner in der Schule den nutze aber ausschlieszliglich die Verwaltung sagt Godfrey raquoEs heiszligt Bil-dung sei das wichtigste Mittel um die Armut zu uumlberwinden Aber wir sind noch weit von diesem Ziel entferntlaquo

An Longido laumlsst sich ein Paradoxon studieren das exempla-risch ist fuumlr Afrika Der Kontinent ist vorangekommen ndash und gleichzeitig stehen geblieben

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In den vergangenen vier Jahrzehnten bin ich ungefaumlhr zwei Millio-nen Kilometer innerhalb Afrikas geflogen und gefahren um aus uumlber fuumlnfzig Laumlndern zu berichten Nach all den ereignisreichen Jahren werde ich oft gefragt Hat sich die Lage zwischen Khartum und Kapstadt Dakar und Daressalam in dieser Zeitspanne ver-bessert Oder geht es wie haumlufig zu houmlren ist stetig bergab Meine Antwort lautet sowohl als auch

Aber schon die Frage ist falsch gestellt Afrika wird oft als ein einziges Land wahrgenommen als monolithische Krisenmasse nicht als vielfaumlltiger Erdteil mit 54 Nationen die sich houmlchst unter-schiedlich entwickelt haben Es gibt eine Reihe von Failed States durch Buumlrgerkriege ruinierte Staaten wie Suumldsudan oder Somalia Es gibt mit Bodenschaumltzen gesegnete Laumlnder wie Nigeria oder Angola die ihren Reichtum verprassen Laumlnder wie Simbabwe oder Gambia die von Gewaltherrschern zerstoumlrt wurden Laumlnder wie Suumldafrika die sich in einer gefaumlhr lichen Abwaumlrtsspirale befin-den oder wie Kenia die sich irgendwie durchwursteln Politisch stabile Laumlnder wie Namibia Ghana oder Senegal Schlieszliglich Laumlnder die wirtschaftlich erfolgreich sind Botswana Aumlthiopien Ruanda Tansania Doch allerorten schlagen sich Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen mit den immer gleichen Proble-men herum mit Armut Arbeitslosigkeit und Krankheit mit der Unfaumlhigkeit und Gier korrupter Eliten mit Verteilungskaumlmpfen um knappe Ressourcen die durch die schnelle Zunahme der Be-voumllkerung und den Klima wandel verschaumlrft werden Von A wie Alphabetisierungsrate bis Z wie Zahnarztdichte ndash im globalen Vergleich ist Afrika in vielen Bereichen nach wie vor das Schluss-licht Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor moumlgen sich Leser und Leserinnen sagen die mein Buch Ach Afrika kennen denn darin stand schon 2003 der gleiche Befund Seither hat sich an der schwierigen Gesamtlage wenig veraumlndert

Ich habe mit afrikanischen Oumlkonomen Sozialwissenschaft-lern und Historikern uumlber die Ursachen debattiert gelegentlich

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auch gestritten Auffaumlllig waren zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen Da war einmal das groszlige Lamento uumlber den Zustand ihrer Staaten uumlber das Versagen der politischen Klasse ja uumlber deren Verrat an ihren Voumllkern Eine zum Klassiker gewordene Streitschrift der Kamerunerin Axelle Kabou liest sich wie eine Selbstbezichtigung Die Afrikaner und Afrikanerinnen haumltten ihre Misere groumlszligtenteils selbst herbeigefuumlhrt Warum verdammt noch mal schaffen sie es nicht sich aus eigener Kraft zu entwickeln Noch krasser druumlckt es der simbabwische Publizist Kwame Muza-wazi aus raquoDer wahre Feind Afrikas im 21 Jahrhundert ist nicht der Kolonialismus Es ist der schwarze Mann selbst seine eigene Pas-sivitaumlt seine lethargische Herangehensweise an die eigenen Ange-legenheiten hellip wir bewegen uns per Autopilot ins Nirgendwolaquo

Die zweite Erklaumlrung sieht Afrika immer und uumlberall als Opfer stets sind finstere Auszligenmaumlchte fuumlr alle Uumlbel verantwortlich die Ex-Kolonialmaumlchte die Weltbank die multinationalen Konzerne die weiszligen Rassisten und so weiter Der gegenwaumlrtige Zustand des Kontinents koumlnne raquoder niedertraumlchtigen Geschichte des imperialen Westens angelastet werdenlaquo postuliert der kenianische Schriftstel-ler Ngugi wa Thiongrsquoo Ein apodiktisches Urteil das an den Offi-zier in Kafkas Erzaumlhlung In der Strafkolonie erinnert raquoDer Grund-satz nach dem ich entscheide ist Die Schuld ist immer zweifel loslaquo Die herrschenden Eliten Afrikas uumlbernehmen solche Generalankla-gen gerne denn sie lenken vom eigenen Versagen ab wecken im reichen Norden Schuldgefuumlhle und bestaumlrken die internationale Hilfs industrie in ihrem haumlufig sinnlosen Aktivismus Die Ein-waumlnde afrikanischer Kritiker stoszligen hingegen auf taube Ohren Afrikaner und Afrikanerinnen werden viktimisiert sie haben Opfer zu sein

Beide Positionen ndash selbst verschuldet versus fremdverschul-det ndash greifen zu kurz Denn es ist eine Mischung aus internen und externen Faktoren die Afrika so groszlige Probleme bereitet einerseits die Spaumltfolgen des Kolonialismus und das raumluberische

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Weltwirtschaftssystem das der global entfesselte Kapitalismus noch raumluberischer macht andererseits die schlechte Regierungs-fuumlhrung in vielen Laumlndern und drittens die Synergien die sich daraus erge ben die Kollusion der einheimischen Machteliten mit aus laumln di schen Partnern ndash mit Oumllmultis Bergbaumagnaten Waf-fenhaumlndlern Steuerhinterziehern Strategieberatern Anwaumllten Wirtschafts pruumlfern und Bankern ndash die helfen die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlaumlchtig ihre Generalisierungen ndash raquodie Afrikanerlaquo ndash sind aumlrgerlich Doch bei allen Einschraumlnkungen stimme ich ihrem Befund zu Machtmiss-brauch Inkompetenz Planlosigkeit und endemische Korruption sind die groumlszligten Entwicklungshemmnisse Die politischen Eliten regieren seit der Unabhaumlngigkeit souveraumlne Staaten doch in vielen Faumlllen sind sie weder willens noch faumlhig diese in eine bessere Zu-kunft zu fuumlhren Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren sie beruht auf dem Recht des Staumlrkeren Sie pluumlndern ihre Nationen bereichern sich maszliglos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit Die vielleicht groumlszligte Enttaumlu-schung ist dass auch meine Wahlheimat Suumldafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird ndash das reichste Land des Kontinents das nach der Uumlberwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild fuumlr Afrika war Millionen von Suumldafrikanern die in einer friedlichen Revolu-tion fuumlr Freiheit Gleichheit und Versoumlhnung gekaumlmpft haben sind desillusioniert Spaumltestens in der Amtszeit von Praumlsident Jacob Zuma mussten sie feststellen dass sie von einer Diebesbande re-giert werden Die einstigen Befreier haben nichts aus den post-kolonialen Fehlentwicklungen gelernt es ist als wuumlrde sich die Geschichte wiederholen

In den Gruumlnderjahren war der Kontinent noch von den Nach-wehen der Unabhaumlngigkeit gepraumlgt in vielen jungen Staaten herrschten uumlble Militaumlrdiktaturen die sich von ihren ideologischen

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Verbuumlndeten in Moskau Washington oder Paris alimentieren lie-szligen Es kam serienweise zu Staatsstreichen Despoten wurden gestuumlrzt neue Despoten stiegen auf Als ich 1993 nach Suumldafrika uumlbersiedelte schien eine neue Epoche heraufzudaumlmmern In Ber-lin war die Mauer gefallen der Kalte Krieg ging zu Ende Das Rassistenregime der Apartheid die letzte Bastion kolonialer Herr-schaft musste kapitulierten Namibia war unabhaumlngig geworden uumlberall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit National konferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus in zahlreichen Laumlndern wurden Mehrparteiensysteme eingefuumlhrt Doch der raquoWind of Changelaquo war nur ein laues Luumlftchen Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene De-mokratie nur als Fassade hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten Es galt und gilt jene Dialektik die der franzoumlsische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat raquoEin Land ist nicht nur arm weil es schlecht regiert wird es wird auch schlecht regiert weil es arm istlaquo

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Konti-nent abgeschrieben als verlorenen Kontinent der Kriege Krank-heiten und Katastrophen Umgekehrt gehoumlrte ich aber auch nicht zu den blauaumlugigen Chronisten die die Verhaumlltnisse auf diesem Erdteil gern beschoumlnigen und kleine Erfolgsgeschichten zum gro-szligen Aufbruch hochjubeln Ich habe vielmehr versucht zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben Mein Leitspruch Die Lage ist ernst aber keineswegs aussichtslos Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale Es zaumlhlt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde es hat fruchtbares aber groszligflaumlchig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland Und es hat eine junge schnell wachsende Bevoumllkerung Schon im Jahr 2050 wenn geschaumltzte 25 Milliarden Menschen in Afrika leben werden wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbuumlrger behei-maten Europa wird die Umbruumlche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren koumlnnen und seine Festungspolitik durch

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

1 Auflage Copyright copy 2021 by Siedler Verlag Muumlnchen

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str 28 81673 Muumlnchen

Umschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt MuumlnchenUmschlagabbildung copy Eric LafforgueArt in All of UsCorbis via

Getty ImagesLektorat und Satz Ditta Ahmadi Berlin

Druck und Bindung GGP Media GmbH PoumlszligneckPrinted in Germany

ISBN 978-3-8275-0145-5wwwsiedler-verlagde

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthaltenso uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung

da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglichauf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

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INHALT

Adieu Afrika Am Ende einer langen Dienstreise 7

Evas Kinder Auf den Spuren unserer Urahnen im Suumlden Afrikas 19

Achtung Bulldozer Der Kampf um die Demokratie in Tansania 30

Krieg und Frieden Aumlthiopien ein neues Modell fuumlr Afrika 41

Ein Obama fuumlr Afrika Von einem Geaumlchteten der auszog Praumlsident Nigerias zu werden 63

Jerusalema Aufstieg und Niedergang des Hoffnungslandes Suumldafrika 82

Wo war Gott Ruumlckkehr nach Ruanda zwanzig Jahre nach dem Genozid 107

Der vergessene Massenmord Nach dem Sturz des Diktators Mugabe holt Simbabwe die Vergangenheit ein 122

Mann ohne Haumlnde Wie ein Opfer des Buumlrgerkriegs in Sierra Leone sein Schicksal bewaumlltigt 134

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Gesang der Flussgeister Siachilaba Oder Die rettende Kraft der Musik 147

Vorprogrammierte Explosion Das schnelle Bevoumllkerungswachstum verschaumlrft die Armut ndash und umgekehrt 158

Endstation Sehnsucht Die Massenflucht aus Afrika ein Hirngespinst rechter Populisten 173

Erst die Tiere dann die Menschen Die Folgen des Klimawandels werden zur groumlszligten Bedrohung fuumlr Afrika 191

In Afrikanistan Warum der islamistische Terror nicht mit militaumlrischen Mitteln besiegt werden kann 204

Fluch des Reichtums Die Pluumlnderung der Ressourcen Zum Beispiel Erdoumll 221

Africa First Wege in die Zukunft 237

Was bleibt Von den Schwierigkeiten uumlber Afrika zu schreiben 259

Anhang Dank 273Literaturempfehlungen 275Bildnachweis 277Namensverzeichnis 279

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ADIEU AFRIKAAm Ende e iner langen D ienst re i se

Eigentlich wollten wir ein kleines Kulturhaus im Dorf Longido bauen eine Begegnungsstaumltte fuumlr die Massai ein Volk von Halb-nomaden das keinen Platz mehr hat im modernen Tansania Wir das waren neun junge Leute aus Deutschland Dritte-Welt- Bewegte wie man damals im Jahr 1980 sagte Wir wollten Afrika retten Unter der gluumlhenden Sonne stellten wir Lehmziegel fuumlr das geplante Gebaumlude her mussten aber bald feststellen dass kein ein-ziger Einheimischer mithalf In ihren Augen waren wir naive Weiszlignasen die sie mit einem sinnlosen Projekt begluumlcken wollten Dabei stammte die Idee von einem ortsansaumlssigen Massai von Esto Mollel der in Australien Soziologie studiert und sich ehrgeizige Entwicklungsplaumlne fuumlr seine ruumlckstaumlndige Region im Norden Tan-sanias ausgedacht hatte Straszligen Kliniken Staudaumlmme Das Kul-turzentrum sollte der Anfang sein Am Ende unserer dreiwoumlchigen Bemuumlhungen war nicht ein Haus der Begegnung entstanden son-dern ein Huumlhnerstall im Garten unseres Gastgebers Esto Mollel wurde zu einem guten Freund und war mein erster Mwalimu ein Lehrer der mir Afrika erklaumlrte Er ist im Januar 2000 im Alter von nur 52 Jahren verstorben aber der Huumlhnerstall steht noch immer unweit von seinem Grab Als ich Ende 2019 das morsche Gemaumluer besichtigte kam es mir vor wie ein Sinnbild fuumlr die Entwicklung Afrikas fuumlr einen Kontinent der nach dem Ende der Kolonialzeit in den fruumlhen 1960er Jahren mit hochfliegenden Erwartungen in die Unabhaumlngigkeit aufgebrochen war ndash und sechs Jahrzehnte spaumlter eher bescheidene Fortschritte erzielt hat

In Tansania betrat ich im August 1980 erstmals afrikanischen Boden hier sollte eine lange Liebesgeschichte beginnen und von

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hier aus blicke ich zuruumlck auf meine Zeit in Afrika Es war ein Wechselbad der Gefuumlhle ein staumlndiges Hin- und Herpendeln zwischen Zuversicht und Enttaumluschung Hoffnung und Pessi-mismus

Longido vor vierzig Jahren ein langweiliges Nest unweit der Grenze zu Kenia zweitausend Einwohner zwei Buschschaumlnken kein Telefon kein Strom keine Trinkwasserversorgung Mittler-weile leben hier siebenmal so viele Menschen und Rose Mollel Estos Witwe schwaumlrmt von den Errungenschaften raquoWir haben jetzt Elektrizitaumlt und flieszligendes Wasser Und sogar eine kleine Klinik mit einem OP-Raum Die Hauptstraszlige ist geteert es gibt zwei Tankstellen und Funktuumlrme fuumlr unsere Mobiltelefonelaquo Dazu ein Dutzend Spelunken jede Menge sozialer Konflikte mehr Wohlstand fuumlr wenige mehr Armut fuumlr viele weil es an Arbeitsplaumltzen mangelt

Seit meinem ersten Besuch der oumlrtlichen Primary School ndash Rose war seinerzeit Schulleiterin ndash hat sich die Zahl der Grund-schuumller auf 1118 nahezu verdoppelt Die Klassenzimmer sind so aumlrmlich ausgestattet wie eh und je primitive Pulte und Holzbaumlnke zersplitterte Schiefertafeln Fenster ohne Scheiben heiszliges Blech-dach raquoWir haben gute Lehrprogramme aber keine Lehrmittellaquo sagt Julieth Godfrey Die 57-jaumlhrige Lehrerin unterrichtet Mathe-matik Sie zeigt auf ein Wandbild im Schulhof ein Computer mit Zubehoumlr beschrieben in Kisuaheli Skrini (Bildschirm) Kibodi (Tastatur) Waya (Kabel) Die Kinder kennen Computer nur als Zeichnung Es gebe nur einen Rechner in der Schule den nutze aber ausschlieszliglich die Verwaltung sagt Godfrey raquoEs heiszligt Bil-dung sei das wichtigste Mittel um die Armut zu uumlberwinden Aber wir sind noch weit von diesem Ziel entferntlaquo

An Longido laumlsst sich ein Paradoxon studieren das exempla-risch ist fuumlr Afrika Der Kontinent ist vorangekommen ndash und gleichzeitig stehen geblieben

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In den vergangenen vier Jahrzehnten bin ich ungefaumlhr zwei Millio-nen Kilometer innerhalb Afrikas geflogen und gefahren um aus uumlber fuumlnfzig Laumlndern zu berichten Nach all den ereignisreichen Jahren werde ich oft gefragt Hat sich die Lage zwischen Khartum und Kapstadt Dakar und Daressalam in dieser Zeitspanne ver-bessert Oder geht es wie haumlufig zu houmlren ist stetig bergab Meine Antwort lautet sowohl als auch

Aber schon die Frage ist falsch gestellt Afrika wird oft als ein einziges Land wahrgenommen als monolithische Krisenmasse nicht als vielfaumlltiger Erdteil mit 54 Nationen die sich houmlchst unter-schiedlich entwickelt haben Es gibt eine Reihe von Failed States durch Buumlrgerkriege ruinierte Staaten wie Suumldsudan oder Somalia Es gibt mit Bodenschaumltzen gesegnete Laumlnder wie Nigeria oder Angola die ihren Reichtum verprassen Laumlnder wie Simbabwe oder Gambia die von Gewaltherrschern zerstoumlrt wurden Laumlnder wie Suumldafrika die sich in einer gefaumlhr lichen Abwaumlrtsspirale befin-den oder wie Kenia die sich irgendwie durchwursteln Politisch stabile Laumlnder wie Namibia Ghana oder Senegal Schlieszliglich Laumlnder die wirtschaftlich erfolgreich sind Botswana Aumlthiopien Ruanda Tansania Doch allerorten schlagen sich Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen mit den immer gleichen Proble-men herum mit Armut Arbeitslosigkeit und Krankheit mit der Unfaumlhigkeit und Gier korrupter Eliten mit Verteilungskaumlmpfen um knappe Ressourcen die durch die schnelle Zunahme der Be-voumllkerung und den Klima wandel verschaumlrft werden Von A wie Alphabetisierungsrate bis Z wie Zahnarztdichte ndash im globalen Vergleich ist Afrika in vielen Bereichen nach wie vor das Schluss-licht Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor moumlgen sich Leser und Leserinnen sagen die mein Buch Ach Afrika kennen denn darin stand schon 2003 der gleiche Befund Seither hat sich an der schwierigen Gesamtlage wenig veraumlndert

Ich habe mit afrikanischen Oumlkonomen Sozialwissenschaft-lern und Historikern uumlber die Ursachen debattiert gelegentlich

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auch gestritten Auffaumlllig waren zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen Da war einmal das groszlige Lamento uumlber den Zustand ihrer Staaten uumlber das Versagen der politischen Klasse ja uumlber deren Verrat an ihren Voumllkern Eine zum Klassiker gewordene Streitschrift der Kamerunerin Axelle Kabou liest sich wie eine Selbstbezichtigung Die Afrikaner und Afrikanerinnen haumltten ihre Misere groumlszligtenteils selbst herbeigefuumlhrt Warum verdammt noch mal schaffen sie es nicht sich aus eigener Kraft zu entwickeln Noch krasser druumlckt es der simbabwische Publizist Kwame Muza-wazi aus raquoDer wahre Feind Afrikas im 21 Jahrhundert ist nicht der Kolonialismus Es ist der schwarze Mann selbst seine eigene Pas-sivitaumlt seine lethargische Herangehensweise an die eigenen Ange-legenheiten hellip wir bewegen uns per Autopilot ins Nirgendwolaquo

Die zweite Erklaumlrung sieht Afrika immer und uumlberall als Opfer stets sind finstere Auszligenmaumlchte fuumlr alle Uumlbel verantwortlich die Ex-Kolonialmaumlchte die Weltbank die multinationalen Konzerne die weiszligen Rassisten und so weiter Der gegenwaumlrtige Zustand des Kontinents koumlnne raquoder niedertraumlchtigen Geschichte des imperialen Westens angelastet werdenlaquo postuliert der kenianische Schriftstel-ler Ngugi wa Thiongrsquoo Ein apodiktisches Urteil das an den Offi-zier in Kafkas Erzaumlhlung In der Strafkolonie erinnert raquoDer Grund-satz nach dem ich entscheide ist Die Schuld ist immer zweifel loslaquo Die herrschenden Eliten Afrikas uumlbernehmen solche Generalankla-gen gerne denn sie lenken vom eigenen Versagen ab wecken im reichen Norden Schuldgefuumlhle und bestaumlrken die internationale Hilfs industrie in ihrem haumlufig sinnlosen Aktivismus Die Ein-waumlnde afrikanischer Kritiker stoszligen hingegen auf taube Ohren Afrikaner und Afrikanerinnen werden viktimisiert sie haben Opfer zu sein

Beide Positionen ndash selbst verschuldet versus fremdverschul-det ndash greifen zu kurz Denn es ist eine Mischung aus internen und externen Faktoren die Afrika so groszlige Probleme bereitet einerseits die Spaumltfolgen des Kolonialismus und das raumluberische

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Weltwirtschaftssystem das der global entfesselte Kapitalismus noch raumluberischer macht andererseits die schlechte Regierungs-fuumlhrung in vielen Laumlndern und drittens die Synergien die sich daraus erge ben die Kollusion der einheimischen Machteliten mit aus laumln di schen Partnern ndash mit Oumllmultis Bergbaumagnaten Waf-fenhaumlndlern Steuerhinterziehern Strategieberatern Anwaumllten Wirtschafts pruumlfern und Bankern ndash die helfen die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlaumlchtig ihre Generalisierungen ndash raquodie Afrikanerlaquo ndash sind aumlrgerlich Doch bei allen Einschraumlnkungen stimme ich ihrem Befund zu Machtmiss-brauch Inkompetenz Planlosigkeit und endemische Korruption sind die groumlszligten Entwicklungshemmnisse Die politischen Eliten regieren seit der Unabhaumlngigkeit souveraumlne Staaten doch in vielen Faumlllen sind sie weder willens noch faumlhig diese in eine bessere Zu-kunft zu fuumlhren Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren sie beruht auf dem Recht des Staumlrkeren Sie pluumlndern ihre Nationen bereichern sich maszliglos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit Die vielleicht groumlszligte Enttaumlu-schung ist dass auch meine Wahlheimat Suumldafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird ndash das reichste Land des Kontinents das nach der Uumlberwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild fuumlr Afrika war Millionen von Suumldafrikanern die in einer friedlichen Revolu-tion fuumlr Freiheit Gleichheit und Versoumlhnung gekaumlmpft haben sind desillusioniert Spaumltestens in der Amtszeit von Praumlsident Jacob Zuma mussten sie feststellen dass sie von einer Diebesbande re-giert werden Die einstigen Befreier haben nichts aus den post-kolonialen Fehlentwicklungen gelernt es ist als wuumlrde sich die Geschichte wiederholen

In den Gruumlnderjahren war der Kontinent noch von den Nach-wehen der Unabhaumlngigkeit gepraumlgt in vielen jungen Staaten herrschten uumlble Militaumlrdiktaturen die sich von ihren ideologischen

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Verbuumlndeten in Moskau Washington oder Paris alimentieren lie-szligen Es kam serienweise zu Staatsstreichen Despoten wurden gestuumlrzt neue Despoten stiegen auf Als ich 1993 nach Suumldafrika uumlbersiedelte schien eine neue Epoche heraufzudaumlmmern In Ber-lin war die Mauer gefallen der Kalte Krieg ging zu Ende Das Rassistenregime der Apartheid die letzte Bastion kolonialer Herr-schaft musste kapitulierten Namibia war unabhaumlngig geworden uumlberall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit National konferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus in zahlreichen Laumlndern wurden Mehrparteiensysteme eingefuumlhrt Doch der raquoWind of Changelaquo war nur ein laues Luumlftchen Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene De-mokratie nur als Fassade hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten Es galt und gilt jene Dialektik die der franzoumlsische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat raquoEin Land ist nicht nur arm weil es schlecht regiert wird es wird auch schlecht regiert weil es arm istlaquo

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Konti-nent abgeschrieben als verlorenen Kontinent der Kriege Krank-heiten und Katastrophen Umgekehrt gehoumlrte ich aber auch nicht zu den blauaumlugigen Chronisten die die Verhaumlltnisse auf diesem Erdteil gern beschoumlnigen und kleine Erfolgsgeschichten zum gro-szligen Aufbruch hochjubeln Ich habe vielmehr versucht zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben Mein Leitspruch Die Lage ist ernst aber keineswegs aussichtslos Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale Es zaumlhlt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde es hat fruchtbares aber groszligflaumlchig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland Und es hat eine junge schnell wachsende Bevoumllkerung Schon im Jahr 2050 wenn geschaumltzte 25 Milliarden Menschen in Afrika leben werden wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbuumlrger behei-maten Europa wird die Umbruumlche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren koumlnnen und seine Festungspolitik durch

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

1 Auflage Copyright copy 2021 by Siedler Verlag Muumlnchen

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str 28 81673 Muumlnchen

Umschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt MuumlnchenUmschlagabbildung copy Eric LafforgueArt in All of UsCorbis via

Getty ImagesLektorat und Satz Ditta Ahmadi Berlin

Druck und Bindung GGP Media GmbH PoumlszligneckPrinted in Germany

ISBN 978-3-8275-0145-5wwwsiedler-verlagde

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da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglichauf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

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INHALT

Adieu Afrika Am Ende einer langen Dienstreise 7

Evas Kinder Auf den Spuren unserer Urahnen im Suumlden Afrikas 19

Achtung Bulldozer Der Kampf um die Demokratie in Tansania 30

Krieg und Frieden Aumlthiopien ein neues Modell fuumlr Afrika 41

Ein Obama fuumlr Afrika Von einem Geaumlchteten der auszog Praumlsident Nigerias zu werden 63

Jerusalema Aufstieg und Niedergang des Hoffnungslandes Suumldafrika 82

Wo war Gott Ruumlckkehr nach Ruanda zwanzig Jahre nach dem Genozid 107

Der vergessene Massenmord Nach dem Sturz des Diktators Mugabe holt Simbabwe die Vergangenheit ein 122

Mann ohne Haumlnde Wie ein Opfer des Buumlrgerkriegs in Sierra Leone sein Schicksal bewaumlltigt 134

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Gesang der Flussgeister Siachilaba Oder Die rettende Kraft der Musik 147

Vorprogrammierte Explosion Das schnelle Bevoumllkerungswachstum verschaumlrft die Armut ndash und umgekehrt 158

Endstation Sehnsucht Die Massenflucht aus Afrika ein Hirngespinst rechter Populisten 173

Erst die Tiere dann die Menschen Die Folgen des Klimawandels werden zur groumlszligten Bedrohung fuumlr Afrika 191

In Afrikanistan Warum der islamistische Terror nicht mit militaumlrischen Mitteln besiegt werden kann 204

Fluch des Reichtums Die Pluumlnderung der Ressourcen Zum Beispiel Erdoumll 221

Africa First Wege in die Zukunft 237

Was bleibt Von den Schwierigkeiten uumlber Afrika zu schreiben 259

Anhang Dank 273Literaturempfehlungen 275Bildnachweis 277Namensverzeichnis 279

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ADIEU AFRIKAAm Ende e iner langen D ienst re i se

Eigentlich wollten wir ein kleines Kulturhaus im Dorf Longido bauen eine Begegnungsstaumltte fuumlr die Massai ein Volk von Halb-nomaden das keinen Platz mehr hat im modernen Tansania Wir das waren neun junge Leute aus Deutschland Dritte-Welt- Bewegte wie man damals im Jahr 1980 sagte Wir wollten Afrika retten Unter der gluumlhenden Sonne stellten wir Lehmziegel fuumlr das geplante Gebaumlude her mussten aber bald feststellen dass kein ein-ziger Einheimischer mithalf In ihren Augen waren wir naive Weiszlignasen die sie mit einem sinnlosen Projekt begluumlcken wollten Dabei stammte die Idee von einem ortsansaumlssigen Massai von Esto Mollel der in Australien Soziologie studiert und sich ehrgeizige Entwicklungsplaumlne fuumlr seine ruumlckstaumlndige Region im Norden Tan-sanias ausgedacht hatte Straszligen Kliniken Staudaumlmme Das Kul-turzentrum sollte der Anfang sein Am Ende unserer dreiwoumlchigen Bemuumlhungen war nicht ein Haus der Begegnung entstanden son-dern ein Huumlhnerstall im Garten unseres Gastgebers Esto Mollel wurde zu einem guten Freund und war mein erster Mwalimu ein Lehrer der mir Afrika erklaumlrte Er ist im Januar 2000 im Alter von nur 52 Jahren verstorben aber der Huumlhnerstall steht noch immer unweit von seinem Grab Als ich Ende 2019 das morsche Gemaumluer besichtigte kam es mir vor wie ein Sinnbild fuumlr die Entwicklung Afrikas fuumlr einen Kontinent der nach dem Ende der Kolonialzeit in den fruumlhen 1960er Jahren mit hochfliegenden Erwartungen in die Unabhaumlngigkeit aufgebrochen war ndash und sechs Jahrzehnte spaumlter eher bescheidene Fortschritte erzielt hat

In Tansania betrat ich im August 1980 erstmals afrikanischen Boden hier sollte eine lange Liebesgeschichte beginnen und von

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hier aus blicke ich zuruumlck auf meine Zeit in Afrika Es war ein Wechselbad der Gefuumlhle ein staumlndiges Hin- und Herpendeln zwischen Zuversicht und Enttaumluschung Hoffnung und Pessi-mismus

Longido vor vierzig Jahren ein langweiliges Nest unweit der Grenze zu Kenia zweitausend Einwohner zwei Buschschaumlnken kein Telefon kein Strom keine Trinkwasserversorgung Mittler-weile leben hier siebenmal so viele Menschen und Rose Mollel Estos Witwe schwaumlrmt von den Errungenschaften raquoWir haben jetzt Elektrizitaumlt und flieszligendes Wasser Und sogar eine kleine Klinik mit einem OP-Raum Die Hauptstraszlige ist geteert es gibt zwei Tankstellen und Funktuumlrme fuumlr unsere Mobiltelefonelaquo Dazu ein Dutzend Spelunken jede Menge sozialer Konflikte mehr Wohlstand fuumlr wenige mehr Armut fuumlr viele weil es an Arbeitsplaumltzen mangelt

Seit meinem ersten Besuch der oumlrtlichen Primary School ndash Rose war seinerzeit Schulleiterin ndash hat sich die Zahl der Grund-schuumller auf 1118 nahezu verdoppelt Die Klassenzimmer sind so aumlrmlich ausgestattet wie eh und je primitive Pulte und Holzbaumlnke zersplitterte Schiefertafeln Fenster ohne Scheiben heiszliges Blech-dach raquoWir haben gute Lehrprogramme aber keine Lehrmittellaquo sagt Julieth Godfrey Die 57-jaumlhrige Lehrerin unterrichtet Mathe-matik Sie zeigt auf ein Wandbild im Schulhof ein Computer mit Zubehoumlr beschrieben in Kisuaheli Skrini (Bildschirm) Kibodi (Tastatur) Waya (Kabel) Die Kinder kennen Computer nur als Zeichnung Es gebe nur einen Rechner in der Schule den nutze aber ausschlieszliglich die Verwaltung sagt Godfrey raquoEs heiszligt Bil-dung sei das wichtigste Mittel um die Armut zu uumlberwinden Aber wir sind noch weit von diesem Ziel entferntlaquo

An Longido laumlsst sich ein Paradoxon studieren das exempla-risch ist fuumlr Afrika Der Kontinent ist vorangekommen ndash und gleichzeitig stehen geblieben

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In den vergangenen vier Jahrzehnten bin ich ungefaumlhr zwei Millio-nen Kilometer innerhalb Afrikas geflogen und gefahren um aus uumlber fuumlnfzig Laumlndern zu berichten Nach all den ereignisreichen Jahren werde ich oft gefragt Hat sich die Lage zwischen Khartum und Kapstadt Dakar und Daressalam in dieser Zeitspanne ver-bessert Oder geht es wie haumlufig zu houmlren ist stetig bergab Meine Antwort lautet sowohl als auch

Aber schon die Frage ist falsch gestellt Afrika wird oft als ein einziges Land wahrgenommen als monolithische Krisenmasse nicht als vielfaumlltiger Erdteil mit 54 Nationen die sich houmlchst unter-schiedlich entwickelt haben Es gibt eine Reihe von Failed States durch Buumlrgerkriege ruinierte Staaten wie Suumldsudan oder Somalia Es gibt mit Bodenschaumltzen gesegnete Laumlnder wie Nigeria oder Angola die ihren Reichtum verprassen Laumlnder wie Simbabwe oder Gambia die von Gewaltherrschern zerstoumlrt wurden Laumlnder wie Suumldafrika die sich in einer gefaumlhr lichen Abwaumlrtsspirale befin-den oder wie Kenia die sich irgendwie durchwursteln Politisch stabile Laumlnder wie Namibia Ghana oder Senegal Schlieszliglich Laumlnder die wirtschaftlich erfolgreich sind Botswana Aumlthiopien Ruanda Tansania Doch allerorten schlagen sich Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen mit den immer gleichen Proble-men herum mit Armut Arbeitslosigkeit und Krankheit mit der Unfaumlhigkeit und Gier korrupter Eliten mit Verteilungskaumlmpfen um knappe Ressourcen die durch die schnelle Zunahme der Be-voumllkerung und den Klima wandel verschaumlrft werden Von A wie Alphabetisierungsrate bis Z wie Zahnarztdichte ndash im globalen Vergleich ist Afrika in vielen Bereichen nach wie vor das Schluss-licht Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor moumlgen sich Leser und Leserinnen sagen die mein Buch Ach Afrika kennen denn darin stand schon 2003 der gleiche Befund Seither hat sich an der schwierigen Gesamtlage wenig veraumlndert

Ich habe mit afrikanischen Oumlkonomen Sozialwissenschaft-lern und Historikern uumlber die Ursachen debattiert gelegentlich

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auch gestritten Auffaumlllig waren zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen Da war einmal das groszlige Lamento uumlber den Zustand ihrer Staaten uumlber das Versagen der politischen Klasse ja uumlber deren Verrat an ihren Voumllkern Eine zum Klassiker gewordene Streitschrift der Kamerunerin Axelle Kabou liest sich wie eine Selbstbezichtigung Die Afrikaner und Afrikanerinnen haumltten ihre Misere groumlszligtenteils selbst herbeigefuumlhrt Warum verdammt noch mal schaffen sie es nicht sich aus eigener Kraft zu entwickeln Noch krasser druumlckt es der simbabwische Publizist Kwame Muza-wazi aus raquoDer wahre Feind Afrikas im 21 Jahrhundert ist nicht der Kolonialismus Es ist der schwarze Mann selbst seine eigene Pas-sivitaumlt seine lethargische Herangehensweise an die eigenen Ange-legenheiten hellip wir bewegen uns per Autopilot ins Nirgendwolaquo

Die zweite Erklaumlrung sieht Afrika immer und uumlberall als Opfer stets sind finstere Auszligenmaumlchte fuumlr alle Uumlbel verantwortlich die Ex-Kolonialmaumlchte die Weltbank die multinationalen Konzerne die weiszligen Rassisten und so weiter Der gegenwaumlrtige Zustand des Kontinents koumlnne raquoder niedertraumlchtigen Geschichte des imperialen Westens angelastet werdenlaquo postuliert der kenianische Schriftstel-ler Ngugi wa Thiongrsquoo Ein apodiktisches Urteil das an den Offi-zier in Kafkas Erzaumlhlung In der Strafkolonie erinnert raquoDer Grund-satz nach dem ich entscheide ist Die Schuld ist immer zweifel loslaquo Die herrschenden Eliten Afrikas uumlbernehmen solche Generalankla-gen gerne denn sie lenken vom eigenen Versagen ab wecken im reichen Norden Schuldgefuumlhle und bestaumlrken die internationale Hilfs industrie in ihrem haumlufig sinnlosen Aktivismus Die Ein-waumlnde afrikanischer Kritiker stoszligen hingegen auf taube Ohren Afrikaner und Afrikanerinnen werden viktimisiert sie haben Opfer zu sein

Beide Positionen ndash selbst verschuldet versus fremdverschul-det ndash greifen zu kurz Denn es ist eine Mischung aus internen und externen Faktoren die Afrika so groszlige Probleme bereitet einerseits die Spaumltfolgen des Kolonialismus und das raumluberische

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Weltwirtschaftssystem das der global entfesselte Kapitalismus noch raumluberischer macht andererseits die schlechte Regierungs-fuumlhrung in vielen Laumlndern und drittens die Synergien die sich daraus erge ben die Kollusion der einheimischen Machteliten mit aus laumln di schen Partnern ndash mit Oumllmultis Bergbaumagnaten Waf-fenhaumlndlern Steuerhinterziehern Strategieberatern Anwaumllten Wirtschafts pruumlfern und Bankern ndash die helfen die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlaumlchtig ihre Generalisierungen ndash raquodie Afrikanerlaquo ndash sind aumlrgerlich Doch bei allen Einschraumlnkungen stimme ich ihrem Befund zu Machtmiss-brauch Inkompetenz Planlosigkeit und endemische Korruption sind die groumlszligten Entwicklungshemmnisse Die politischen Eliten regieren seit der Unabhaumlngigkeit souveraumlne Staaten doch in vielen Faumlllen sind sie weder willens noch faumlhig diese in eine bessere Zu-kunft zu fuumlhren Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren sie beruht auf dem Recht des Staumlrkeren Sie pluumlndern ihre Nationen bereichern sich maszliglos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit Die vielleicht groumlszligte Enttaumlu-schung ist dass auch meine Wahlheimat Suumldafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird ndash das reichste Land des Kontinents das nach der Uumlberwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild fuumlr Afrika war Millionen von Suumldafrikanern die in einer friedlichen Revolu-tion fuumlr Freiheit Gleichheit und Versoumlhnung gekaumlmpft haben sind desillusioniert Spaumltestens in der Amtszeit von Praumlsident Jacob Zuma mussten sie feststellen dass sie von einer Diebesbande re-giert werden Die einstigen Befreier haben nichts aus den post-kolonialen Fehlentwicklungen gelernt es ist als wuumlrde sich die Geschichte wiederholen

In den Gruumlnderjahren war der Kontinent noch von den Nach-wehen der Unabhaumlngigkeit gepraumlgt in vielen jungen Staaten herrschten uumlble Militaumlrdiktaturen die sich von ihren ideologischen

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Verbuumlndeten in Moskau Washington oder Paris alimentieren lie-szligen Es kam serienweise zu Staatsstreichen Despoten wurden gestuumlrzt neue Despoten stiegen auf Als ich 1993 nach Suumldafrika uumlbersiedelte schien eine neue Epoche heraufzudaumlmmern In Ber-lin war die Mauer gefallen der Kalte Krieg ging zu Ende Das Rassistenregime der Apartheid die letzte Bastion kolonialer Herr-schaft musste kapitulierten Namibia war unabhaumlngig geworden uumlberall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit National konferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus in zahlreichen Laumlndern wurden Mehrparteiensysteme eingefuumlhrt Doch der raquoWind of Changelaquo war nur ein laues Luumlftchen Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene De-mokratie nur als Fassade hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten Es galt und gilt jene Dialektik die der franzoumlsische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat raquoEin Land ist nicht nur arm weil es schlecht regiert wird es wird auch schlecht regiert weil es arm istlaquo

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Konti-nent abgeschrieben als verlorenen Kontinent der Kriege Krank-heiten und Katastrophen Umgekehrt gehoumlrte ich aber auch nicht zu den blauaumlugigen Chronisten die die Verhaumlltnisse auf diesem Erdteil gern beschoumlnigen und kleine Erfolgsgeschichten zum gro-szligen Aufbruch hochjubeln Ich habe vielmehr versucht zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben Mein Leitspruch Die Lage ist ernst aber keineswegs aussichtslos Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale Es zaumlhlt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde es hat fruchtbares aber groszligflaumlchig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland Und es hat eine junge schnell wachsende Bevoumllkerung Schon im Jahr 2050 wenn geschaumltzte 25 Milliarden Menschen in Afrika leben werden wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbuumlrger behei-maten Europa wird die Umbruumlche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren koumlnnen und seine Festungspolitik durch

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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INHALT

Adieu Afrika Am Ende einer langen Dienstreise 7

Evas Kinder Auf den Spuren unserer Urahnen im Suumlden Afrikas 19

Achtung Bulldozer Der Kampf um die Demokratie in Tansania 30

Krieg und Frieden Aumlthiopien ein neues Modell fuumlr Afrika 41

Ein Obama fuumlr Afrika Von einem Geaumlchteten der auszog Praumlsident Nigerias zu werden 63

Jerusalema Aufstieg und Niedergang des Hoffnungslandes Suumldafrika 82

Wo war Gott Ruumlckkehr nach Ruanda zwanzig Jahre nach dem Genozid 107

Der vergessene Massenmord Nach dem Sturz des Diktators Mugabe holt Simbabwe die Vergangenheit ein 122

Mann ohne Haumlnde Wie ein Opfer des Buumlrgerkriegs in Sierra Leone sein Schicksal bewaumlltigt 134

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Gesang der Flussgeister Siachilaba Oder Die rettende Kraft der Musik 147

Vorprogrammierte Explosion Das schnelle Bevoumllkerungswachstum verschaumlrft die Armut ndash und umgekehrt 158

Endstation Sehnsucht Die Massenflucht aus Afrika ein Hirngespinst rechter Populisten 173

Erst die Tiere dann die Menschen Die Folgen des Klimawandels werden zur groumlszligten Bedrohung fuumlr Afrika 191

In Afrikanistan Warum der islamistische Terror nicht mit militaumlrischen Mitteln besiegt werden kann 204

Fluch des Reichtums Die Pluumlnderung der Ressourcen Zum Beispiel Erdoumll 221

Africa First Wege in die Zukunft 237

Was bleibt Von den Schwierigkeiten uumlber Afrika zu schreiben 259

Anhang Dank 273Literaturempfehlungen 275Bildnachweis 277Namensverzeichnis 279

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ADIEU AFRIKAAm Ende e iner langen D ienst re i se

Eigentlich wollten wir ein kleines Kulturhaus im Dorf Longido bauen eine Begegnungsstaumltte fuumlr die Massai ein Volk von Halb-nomaden das keinen Platz mehr hat im modernen Tansania Wir das waren neun junge Leute aus Deutschland Dritte-Welt- Bewegte wie man damals im Jahr 1980 sagte Wir wollten Afrika retten Unter der gluumlhenden Sonne stellten wir Lehmziegel fuumlr das geplante Gebaumlude her mussten aber bald feststellen dass kein ein-ziger Einheimischer mithalf In ihren Augen waren wir naive Weiszlignasen die sie mit einem sinnlosen Projekt begluumlcken wollten Dabei stammte die Idee von einem ortsansaumlssigen Massai von Esto Mollel der in Australien Soziologie studiert und sich ehrgeizige Entwicklungsplaumlne fuumlr seine ruumlckstaumlndige Region im Norden Tan-sanias ausgedacht hatte Straszligen Kliniken Staudaumlmme Das Kul-turzentrum sollte der Anfang sein Am Ende unserer dreiwoumlchigen Bemuumlhungen war nicht ein Haus der Begegnung entstanden son-dern ein Huumlhnerstall im Garten unseres Gastgebers Esto Mollel wurde zu einem guten Freund und war mein erster Mwalimu ein Lehrer der mir Afrika erklaumlrte Er ist im Januar 2000 im Alter von nur 52 Jahren verstorben aber der Huumlhnerstall steht noch immer unweit von seinem Grab Als ich Ende 2019 das morsche Gemaumluer besichtigte kam es mir vor wie ein Sinnbild fuumlr die Entwicklung Afrikas fuumlr einen Kontinent der nach dem Ende der Kolonialzeit in den fruumlhen 1960er Jahren mit hochfliegenden Erwartungen in die Unabhaumlngigkeit aufgebrochen war ndash und sechs Jahrzehnte spaumlter eher bescheidene Fortschritte erzielt hat

In Tansania betrat ich im August 1980 erstmals afrikanischen Boden hier sollte eine lange Liebesgeschichte beginnen und von

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hier aus blicke ich zuruumlck auf meine Zeit in Afrika Es war ein Wechselbad der Gefuumlhle ein staumlndiges Hin- und Herpendeln zwischen Zuversicht und Enttaumluschung Hoffnung und Pessi-mismus

Longido vor vierzig Jahren ein langweiliges Nest unweit der Grenze zu Kenia zweitausend Einwohner zwei Buschschaumlnken kein Telefon kein Strom keine Trinkwasserversorgung Mittler-weile leben hier siebenmal so viele Menschen und Rose Mollel Estos Witwe schwaumlrmt von den Errungenschaften raquoWir haben jetzt Elektrizitaumlt und flieszligendes Wasser Und sogar eine kleine Klinik mit einem OP-Raum Die Hauptstraszlige ist geteert es gibt zwei Tankstellen und Funktuumlrme fuumlr unsere Mobiltelefonelaquo Dazu ein Dutzend Spelunken jede Menge sozialer Konflikte mehr Wohlstand fuumlr wenige mehr Armut fuumlr viele weil es an Arbeitsplaumltzen mangelt

Seit meinem ersten Besuch der oumlrtlichen Primary School ndash Rose war seinerzeit Schulleiterin ndash hat sich die Zahl der Grund-schuumller auf 1118 nahezu verdoppelt Die Klassenzimmer sind so aumlrmlich ausgestattet wie eh und je primitive Pulte und Holzbaumlnke zersplitterte Schiefertafeln Fenster ohne Scheiben heiszliges Blech-dach raquoWir haben gute Lehrprogramme aber keine Lehrmittellaquo sagt Julieth Godfrey Die 57-jaumlhrige Lehrerin unterrichtet Mathe-matik Sie zeigt auf ein Wandbild im Schulhof ein Computer mit Zubehoumlr beschrieben in Kisuaheli Skrini (Bildschirm) Kibodi (Tastatur) Waya (Kabel) Die Kinder kennen Computer nur als Zeichnung Es gebe nur einen Rechner in der Schule den nutze aber ausschlieszliglich die Verwaltung sagt Godfrey raquoEs heiszligt Bil-dung sei das wichtigste Mittel um die Armut zu uumlberwinden Aber wir sind noch weit von diesem Ziel entferntlaquo

An Longido laumlsst sich ein Paradoxon studieren das exempla-risch ist fuumlr Afrika Der Kontinent ist vorangekommen ndash und gleichzeitig stehen geblieben

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In den vergangenen vier Jahrzehnten bin ich ungefaumlhr zwei Millio-nen Kilometer innerhalb Afrikas geflogen und gefahren um aus uumlber fuumlnfzig Laumlndern zu berichten Nach all den ereignisreichen Jahren werde ich oft gefragt Hat sich die Lage zwischen Khartum und Kapstadt Dakar und Daressalam in dieser Zeitspanne ver-bessert Oder geht es wie haumlufig zu houmlren ist stetig bergab Meine Antwort lautet sowohl als auch

Aber schon die Frage ist falsch gestellt Afrika wird oft als ein einziges Land wahrgenommen als monolithische Krisenmasse nicht als vielfaumlltiger Erdteil mit 54 Nationen die sich houmlchst unter-schiedlich entwickelt haben Es gibt eine Reihe von Failed States durch Buumlrgerkriege ruinierte Staaten wie Suumldsudan oder Somalia Es gibt mit Bodenschaumltzen gesegnete Laumlnder wie Nigeria oder Angola die ihren Reichtum verprassen Laumlnder wie Simbabwe oder Gambia die von Gewaltherrschern zerstoumlrt wurden Laumlnder wie Suumldafrika die sich in einer gefaumlhr lichen Abwaumlrtsspirale befin-den oder wie Kenia die sich irgendwie durchwursteln Politisch stabile Laumlnder wie Namibia Ghana oder Senegal Schlieszliglich Laumlnder die wirtschaftlich erfolgreich sind Botswana Aumlthiopien Ruanda Tansania Doch allerorten schlagen sich Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen mit den immer gleichen Proble-men herum mit Armut Arbeitslosigkeit und Krankheit mit der Unfaumlhigkeit und Gier korrupter Eliten mit Verteilungskaumlmpfen um knappe Ressourcen die durch die schnelle Zunahme der Be-voumllkerung und den Klima wandel verschaumlrft werden Von A wie Alphabetisierungsrate bis Z wie Zahnarztdichte ndash im globalen Vergleich ist Afrika in vielen Bereichen nach wie vor das Schluss-licht Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor moumlgen sich Leser und Leserinnen sagen die mein Buch Ach Afrika kennen denn darin stand schon 2003 der gleiche Befund Seither hat sich an der schwierigen Gesamtlage wenig veraumlndert

Ich habe mit afrikanischen Oumlkonomen Sozialwissenschaft-lern und Historikern uumlber die Ursachen debattiert gelegentlich

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auch gestritten Auffaumlllig waren zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen Da war einmal das groszlige Lamento uumlber den Zustand ihrer Staaten uumlber das Versagen der politischen Klasse ja uumlber deren Verrat an ihren Voumllkern Eine zum Klassiker gewordene Streitschrift der Kamerunerin Axelle Kabou liest sich wie eine Selbstbezichtigung Die Afrikaner und Afrikanerinnen haumltten ihre Misere groumlszligtenteils selbst herbeigefuumlhrt Warum verdammt noch mal schaffen sie es nicht sich aus eigener Kraft zu entwickeln Noch krasser druumlckt es der simbabwische Publizist Kwame Muza-wazi aus raquoDer wahre Feind Afrikas im 21 Jahrhundert ist nicht der Kolonialismus Es ist der schwarze Mann selbst seine eigene Pas-sivitaumlt seine lethargische Herangehensweise an die eigenen Ange-legenheiten hellip wir bewegen uns per Autopilot ins Nirgendwolaquo

Die zweite Erklaumlrung sieht Afrika immer und uumlberall als Opfer stets sind finstere Auszligenmaumlchte fuumlr alle Uumlbel verantwortlich die Ex-Kolonialmaumlchte die Weltbank die multinationalen Konzerne die weiszligen Rassisten und so weiter Der gegenwaumlrtige Zustand des Kontinents koumlnne raquoder niedertraumlchtigen Geschichte des imperialen Westens angelastet werdenlaquo postuliert der kenianische Schriftstel-ler Ngugi wa Thiongrsquoo Ein apodiktisches Urteil das an den Offi-zier in Kafkas Erzaumlhlung In der Strafkolonie erinnert raquoDer Grund-satz nach dem ich entscheide ist Die Schuld ist immer zweifel loslaquo Die herrschenden Eliten Afrikas uumlbernehmen solche Generalankla-gen gerne denn sie lenken vom eigenen Versagen ab wecken im reichen Norden Schuldgefuumlhle und bestaumlrken die internationale Hilfs industrie in ihrem haumlufig sinnlosen Aktivismus Die Ein-waumlnde afrikanischer Kritiker stoszligen hingegen auf taube Ohren Afrikaner und Afrikanerinnen werden viktimisiert sie haben Opfer zu sein

Beide Positionen ndash selbst verschuldet versus fremdverschul-det ndash greifen zu kurz Denn es ist eine Mischung aus internen und externen Faktoren die Afrika so groszlige Probleme bereitet einerseits die Spaumltfolgen des Kolonialismus und das raumluberische

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Weltwirtschaftssystem das der global entfesselte Kapitalismus noch raumluberischer macht andererseits die schlechte Regierungs-fuumlhrung in vielen Laumlndern und drittens die Synergien die sich daraus erge ben die Kollusion der einheimischen Machteliten mit aus laumln di schen Partnern ndash mit Oumllmultis Bergbaumagnaten Waf-fenhaumlndlern Steuerhinterziehern Strategieberatern Anwaumllten Wirtschafts pruumlfern und Bankern ndash die helfen die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlaumlchtig ihre Generalisierungen ndash raquodie Afrikanerlaquo ndash sind aumlrgerlich Doch bei allen Einschraumlnkungen stimme ich ihrem Befund zu Machtmiss-brauch Inkompetenz Planlosigkeit und endemische Korruption sind die groumlszligten Entwicklungshemmnisse Die politischen Eliten regieren seit der Unabhaumlngigkeit souveraumlne Staaten doch in vielen Faumlllen sind sie weder willens noch faumlhig diese in eine bessere Zu-kunft zu fuumlhren Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren sie beruht auf dem Recht des Staumlrkeren Sie pluumlndern ihre Nationen bereichern sich maszliglos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit Die vielleicht groumlszligte Enttaumlu-schung ist dass auch meine Wahlheimat Suumldafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird ndash das reichste Land des Kontinents das nach der Uumlberwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild fuumlr Afrika war Millionen von Suumldafrikanern die in einer friedlichen Revolu-tion fuumlr Freiheit Gleichheit und Versoumlhnung gekaumlmpft haben sind desillusioniert Spaumltestens in der Amtszeit von Praumlsident Jacob Zuma mussten sie feststellen dass sie von einer Diebesbande re-giert werden Die einstigen Befreier haben nichts aus den post-kolonialen Fehlentwicklungen gelernt es ist als wuumlrde sich die Geschichte wiederholen

In den Gruumlnderjahren war der Kontinent noch von den Nach-wehen der Unabhaumlngigkeit gepraumlgt in vielen jungen Staaten herrschten uumlble Militaumlrdiktaturen die sich von ihren ideologischen

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Verbuumlndeten in Moskau Washington oder Paris alimentieren lie-szligen Es kam serienweise zu Staatsstreichen Despoten wurden gestuumlrzt neue Despoten stiegen auf Als ich 1993 nach Suumldafrika uumlbersiedelte schien eine neue Epoche heraufzudaumlmmern In Ber-lin war die Mauer gefallen der Kalte Krieg ging zu Ende Das Rassistenregime der Apartheid die letzte Bastion kolonialer Herr-schaft musste kapitulierten Namibia war unabhaumlngig geworden uumlberall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit National konferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus in zahlreichen Laumlndern wurden Mehrparteiensysteme eingefuumlhrt Doch der raquoWind of Changelaquo war nur ein laues Luumlftchen Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene De-mokratie nur als Fassade hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten Es galt und gilt jene Dialektik die der franzoumlsische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat raquoEin Land ist nicht nur arm weil es schlecht regiert wird es wird auch schlecht regiert weil es arm istlaquo

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Konti-nent abgeschrieben als verlorenen Kontinent der Kriege Krank-heiten und Katastrophen Umgekehrt gehoumlrte ich aber auch nicht zu den blauaumlugigen Chronisten die die Verhaumlltnisse auf diesem Erdteil gern beschoumlnigen und kleine Erfolgsgeschichten zum gro-szligen Aufbruch hochjubeln Ich habe vielmehr versucht zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben Mein Leitspruch Die Lage ist ernst aber keineswegs aussichtslos Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale Es zaumlhlt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde es hat fruchtbares aber groszligflaumlchig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland Und es hat eine junge schnell wachsende Bevoumllkerung Schon im Jahr 2050 wenn geschaumltzte 25 Milliarden Menschen in Afrika leben werden wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbuumlrger behei-maten Europa wird die Umbruumlche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren koumlnnen und seine Festungspolitik durch

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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Gesang der Flussgeister Siachilaba Oder Die rettende Kraft der Musik 147

Vorprogrammierte Explosion Das schnelle Bevoumllkerungswachstum verschaumlrft die Armut ndash und umgekehrt 158

Endstation Sehnsucht Die Massenflucht aus Afrika ein Hirngespinst rechter Populisten 173

Erst die Tiere dann die Menschen Die Folgen des Klimawandels werden zur groumlszligten Bedrohung fuumlr Afrika 191

In Afrikanistan Warum der islamistische Terror nicht mit militaumlrischen Mitteln besiegt werden kann 204

Fluch des Reichtums Die Pluumlnderung der Ressourcen Zum Beispiel Erdoumll 221

Africa First Wege in die Zukunft 237

Was bleibt Von den Schwierigkeiten uumlber Afrika zu schreiben 259

Anhang Dank 273Literaturempfehlungen 275Bildnachweis 277Namensverzeichnis 279

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ADIEU AFRIKAAm Ende e iner langen D ienst re i se

Eigentlich wollten wir ein kleines Kulturhaus im Dorf Longido bauen eine Begegnungsstaumltte fuumlr die Massai ein Volk von Halb-nomaden das keinen Platz mehr hat im modernen Tansania Wir das waren neun junge Leute aus Deutschland Dritte-Welt- Bewegte wie man damals im Jahr 1980 sagte Wir wollten Afrika retten Unter der gluumlhenden Sonne stellten wir Lehmziegel fuumlr das geplante Gebaumlude her mussten aber bald feststellen dass kein ein-ziger Einheimischer mithalf In ihren Augen waren wir naive Weiszlignasen die sie mit einem sinnlosen Projekt begluumlcken wollten Dabei stammte die Idee von einem ortsansaumlssigen Massai von Esto Mollel der in Australien Soziologie studiert und sich ehrgeizige Entwicklungsplaumlne fuumlr seine ruumlckstaumlndige Region im Norden Tan-sanias ausgedacht hatte Straszligen Kliniken Staudaumlmme Das Kul-turzentrum sollte der Anfang sein Am Ende unserer dreiwoumlchigen Bemuumlhungen war nicht ein Haus der Begegnung entstanden son-dern ein Huumlhnerstall im Garten unseres Gastgebers Esto Mollel wurde zu einem guten Freund und war mein erster Mwalimu ein Lehrer der mir Afrika erklaumlrte Er ist im Januar 2000 im Alter von nur 52 Jahren verstorben aber der Huumlhnerstall steht noch immer unweit von seinem Grab Als ich Ende 2019 das morsche Gemaumluer besichtigte kam es mir vor wie ein Sinnbild fuumlr die Entwicklung Afrikas fuumlr einen Kontinent der nach dem Ende der Kolonialzeit in den fruumlhen 1960er Jahren mit hochfliegenden Erwartungen in die Unabhaumlngigkeit aufgebrochen war ndash und sechs Jahrzehnte spaumlter eher bescheidene Fortschritte erzielt hat

In Tansania betrat ich im August 1980 erstmals afrikanischen Boden hier sollte eine lange Liebesgeschichte beginnen und von

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hier aus blicke ich zuruumlck auf meine Zeit in Afrika Es war ein Wechselbad der Gefuumlhle ein staumlndiges Hin- und Herpendeln zwischen Zuversicht und Enttaumluschung Hoffnung und Pessi-mismus

Longido vor vierzig Jahren ein langweiliges Nest unweit der Grenze zu Kenia zweitausend Einwohner zwei Buschschaumlnken kein Telefon kein Strom keine Trinkwasserversorgung Mittler-weile leben hier siebenmal so viele Menschen und Rose Mollel Estos Witwe schwaumlrmt von den Errungenschaften raquoWir haben jetzt Elektrizitaumlt und flieszligendes Wasser Und sogar eine kleine Klinik mit einem OP-Raum Die Hauptstraszlige ist geteert es gibt zwei Tankstellen und Funktuumlrme fuumlr unsere Mobiltelefonelaquo Dazu ein Dutzend Spelunken jede Menge sozialer Konflikte mehr Wohlstand fuumlr wenige mehr Armut fuumlr viele weil es an Arbeitsplaumltzen mangelt

Seit meinem ersten Besuch der oumlrtlichen Primary School ndash Rose war seinerzeit Schulleiterin ndash hat sich die Zahl der Grund-schuumller auf 1118 nahezu verdoppelt Die Klassenzimmer sind so aumlrmlich ausgestattet wie eh und je primitive Pulte und Holzbaumlnke zersplitterte Schiefertafeln Fenster ohne Scheiben heiszliges Blech-dach raquoWir haben gute Lehrprogramme aber keine Lehrmittellaquo sagt Julieth Godfrey Die 57-jaumlhrige Lehrerin unterrichtet Mathe-matik Sie zeigt auf ein Wandbild im Schulhof ein Computer mit Zubehoumlr beschrieben in Kisuaheli Skrini (Bildschirm) Kibodi (Tastatur) Waya (Kabel) Die Kinder kennen Computer nur als Zeichnung Es gebe nur einen Rechner in der Schule den nutze aber ausschlieszliglich die Verwaltung sagt Godfrey raquoEs heiszligt Bil-dung sei das wichtigste Mittel um die Armut zu uumlberwinden Aber wir sind noch weit von diesem Ziel entferntlaquo

An Longido laumlsst sich ein Paradoxon studieren das exempla-risch ist fuumlr Afrika Der Kontinent ist vorangekommen ndash und gleichzeitig stehen geblieben

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In den vergangenen vier Jahrzehnten bin ich ungefaumlhr zwei Millio-nen Kilometer innerhalb Afrikas geflogen und gefahren um aus uumlber fuumlnfzig Laumlndern zu berichten Nach all den ereignisreichen Jahren werde ich oft gefragt Hat sich die Lage zwischen Khartum und Kapstadt Dakar und Daressalam in dieser Zeitspanne ver-bessert Oder geht es wie haumlufig zu houmlren ist stetig bergab Meine Antwort lautet sowohl als auch

Aber schon die Frage ist falsch gestellt Afrika wird oft als ein einziges Land wahrgenommen als monolithische Krisenmasse nicht als vielfaumlltiger Erdteil mit 54 Nationen die sich houmlchst unter-schiedlich entwickelt haben Es gibt eine Reihe von Failed States durch Buumlrgerkriege ruinierte Staaten wie Suumldsudan oder Somalia Es gibt mit Bodenschaumltzen gesegnete Laumlnder wie Nigeria oder Angola die ihren Reichtum verprassen Laumlnder wie Simbabwe oder Gambia die von Gewaltherrschern zerstoumlrt wurden Laumlnder wie Suumldafrika die sich in einer gefaumlhr lichen Abwaumlrtsspirale befin-den oder wie Kenia die sich irgendwie durchwursteln Politisch stabile Laumlnder wie Namibia Ghana oder Senegal Schlieszliglich Laumlnder die wirtschaftlich erfolgreich sind Botswana Aumlthiopien Ruanda Tansania Doch allerorten schlagen sich Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen mit den immer gleichen Proble-men herum mit Armut Arbeitslosigkeit und Krankheit mit der Unfaumlhigkeit und Gier korrupter Eliten mit Verteilungskaumlmpfen um knappe Ressourcen die durch die schnelle Zunahme der Be-voumllkerung und den Klima wandel verschaumlrft werden Von A wie Alphabetisierungsrate bis Z wie Zahnarztdichte ndash im globalen Vergleich ist Afrika in vielen Bereichen nach wie vor das Schluss-licht Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor moumlgen sich Leser und Leserinnen sagen die mein Buch Ach Afrika kennen denn darin stand schon 2003 der gleiche Befund Seither hat sich an der schwierigen Gesamtlage wenig veraumlndert

Ich habe mit afrikanischen Oumlkonomen Sozialwissenschaft-lern und Historikern uumlber die Ursachen debattiert gelegentlich

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auch gestritten Auffaumlllig waren zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen Da war einmal das groszlige Lamento uumlber den Zustand ihrer Staaten uumlber das Versagen der politischen Klasse ja uumlber deren Verrat an ihren Voumllkern Eine zum Klassiker gewordene Streitschrift der Kamerunerin Axelle Kabou liest sich wie eine Selbstbezichtigung Die Afrikaner und Afrikanerinnen haumltten ihre Misere groumlszligtenteils selbst herbeigefuumlhrt Warum verdammt noch mal schaffen sie es nicht sich aus eigener Kraft zu entwickeln Noch krasser druumlckt es der simbabwische Publizist Kwame Muza-wazi aus raquoDer wahre Feind Afrikas im 21 Jahrhundert ist nicht der Kolonialismus Es ist der schwarze Mann selbst seine eigene Pas-sivitaumlt seine lethargische Herangehensweise an die eigenen Ange-legenheiten hellip wir bewegen uns per Autopilot ins Nirgendwolaquo

Die zweite Erklaumlrung sieht Afrika immer und uumlberall als Opfer stets sind finstere Auszligenmaumlchte fuumlr alle Uumlbel verantwortlich die Ex-Kolonialmaumlchte die Weltbank die multinationalen Konzerne die weiszligen Rassisten und so weiter Der gegenwaumlrtige Zustand des Kontinents koumlnne raquoder niedertraumlchtigen Geschichte des imperialen Westens angelastet werdenlaquo postuliert der kenianische Schriftstel-ler Ngugi wa Thiongrsquoo Ein apodiktisches Urteil das an den Offi-zier in Kafkas Erzaumlhlung In der Strafkolonie erinnert raquoDer Grund-satz nach dem ich entscheide ist Die Schuld ist immer zweifel loslaquo Die herrschenden Eliten Afrikas uumlbernehmen solche Generalankla-gen gerne denn sie lenken vom eigenen Versagen ab wecken im reichen Norden Schuldgefuumlhle und bestaumlrken die internationale Hilfs industrie in ihrem haumlufig sinnlosen Aktivismus Die Ein-waumlnde afrikanischer Kritiker stoszligen hingegen auf taube Ohren Afrikaner und Afrikanerinnen werden viktimisiert sie haben Opfer zu sein

Beide Positionen ndash selbst verschuldet versus fremdverschul-det ndash greifen zu kurz Denn es ist eine Mischung aus internen und externen Faktoren die Afrika so groszlige Probleme bereitet einerseits die Spaumltfolgen des Kolonialismus und das raumluberische

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Weltwirtschaftssystem das der global entfesselte Kapitalismus noch raumluberischer macht andererseits die schlechte Regierungs-fuumlhrung in vielen Laumlndern und drittens die Synergien die sich daraus erge ben die Kollusion der einheimischen Machteliten mit aus laumln di schen Partnern ndash mit Oumllmultis Bergbaumagnaten Waf-fenhaumlndlern Steuerhinterziehern Strategieberatern Anwaumllten Wirtschafts pruumlfern und Bankern ndash die helfen die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlaumlchtig ihre Generalisierungen ndash raquodie Afrikanerlaquo ndash sind aumlrgerlich Doch bei allen Einschraumlnkungen stimme ich ihrem Befund zu Machtmiss-brauch Inkompetenz Planlosigkeit und endemische Korruption sind die groumlszligten Entwicklungshemmnisse Die politischen Eliten regieren seit der Unabhaumlngigkeit souveraumlne Staaten doch in vielen Faumlllen sind sie weder willens noch faumlhig diese in eine bessere Zu-kunft zu fuumlhren Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren sie beruht auf dem Recht des Staumlrkeren Sie pluumlndern ihre Nationen bereichern sich maszliglos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit Die vielleicht groumlszligte Enttaumlu-schung ist dass auch meine Wahlheimat Suumldafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird ndash das reichste Land des Kontinents das nach der Uumlberwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild fuumlr Afrika war Millionen von Suumldafrikanern die in einer friedlichen Revolu-tion fuumlr Freiheit Gleichheit und Versoumlhnung gekaumlmpft haben sind desillusioniert Spaumltestens in der Amtszeit von Praumlsident Jacob Zuma mussten sie feststellen dass sie von einer Diebesbande re-giert werden Die einstigen Befreier haben nichts aus den post-kolonialen Fehlentwicklungen gelernt es ist als wuumlrde sich die Geschichte wiederholen

In den Gruumlnderjahren war der Kontinent noch von den Nach-wehen der Unabhaumlngigkeit gepraumlgt in vielen jungen Staaten herrschten uumlble Militaumlrdiktaturen die sich von ihren ideologischen

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Verbuumlndeten in Moskau Washington oder Paris alimentieren lie-szligen Es kam serienweise zu Staatsstreichen Despoten wurden gestuumlrzt neue Despoten stiegen auf Als ich 1993 nach Suumldafrika uumlbersiedelte schien eine neue Epoche heraufzudaumlmmern In Ber-lin war die Mauer gefallen der Kalte Krieg ging zu Ende Das Rassistenregime der Apartheid die letzte Bastion kolonialer Herr-schaft musste kapitulierten Namibia war unabhaumlngig geworden uumlberall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit National konferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus in zahlreichen Laumlndern wurden Mehrparteiensysteme eingefuumlhrt Doch der raquoWind of Changelaquo war nur ein laues Luumlftchen Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene De-mokratie nur als Fassade hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten Es galt und gilt jene Dialektik die der franzoumlsische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat raquoEin Land ist nicht nur arm weil es schlecht regiert wird es wird auch schlecht regiert weil es arm istlaquo

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Konti-nent abgeschrieben als verlorenen Kontinent der Kriege Krank-heiten und Katastrophen Umgekehrt gehoumlrte ich aber auch nicht zu den blauaumlugigen Chronisten die die Verhaumlltnisse auf diesem Erdteil gern beschoumlnigen und kleine Erfolgsgeschichten zum gro-szligen Aufbruch hochjubeln Ich habe vielmehr versucht zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben Mein Leitspruch Die Lage ist ernst aber keineswegs aussichtslos Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale Es zaumlhlt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde es hat fruchtbares aber groszligflaumlchig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland Und es hat eine junge schnell wachsende Bevoumllkerung Schon im Jahr 2050 wenn geschaumltzte 25 Milliarden Menschen in Afrika leben werden wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbuumlrger behei-maten Europa wird die Umbruumlche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren koumlnnen und seine Festungspolitik durch

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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ADIEU AFRIKAAm Ende e iner langen D ienst re i se

Eigentlich wollten wir ein kleines Kulturhaus im Dorf Longido bauen eine Begegnungsstaumltte fuumlr die Massai ein Volk von Halb-nomaden das keinen Platz mehr hat im modernen Tansania Wir das waren neun junge Leute aus Deutschland Dritte-Welt- Bewegte wie man damals im Jahr 1980 sagte Wir wollten Afrika retten Unter der gluumlhenden Sonne stellten wir Lehmziegel fuumlr das geplante Gebaumlude her mussten aber bald feststellen dass kein ein-ziger Einheimischer mithalf In ihren Augen waren wir naive Weiszlignasen die sie mit einem sinnlosen Projekt begluumlcken wollten Dabei stammte die Idee von einem ortsansaumlssigen Massai von Esto Mollel der in Australien Soziologie studiert und sich ehrgeizige Entwicklungsplaumlne fuumlr seine ruumlckstaumlndige Region im Norden Tan-sanias ausgedacht hatte Straszligen Kliniken Staudaumlmme Das Kul-turzentrum sollte der Anfang sein Am Ende unserer dreiwoumlchigen Bemuumlhungen war nicht ein Haus der Begegnung entstanden son-dern ein Huumlhnerstall im Garten unseres Gastgebers Esto Mollel wurde zu einem guten Freund und war mein erster Mwalimu ein Lehrer der mir Afrika erklaumlrte Er ist im Januar 2000 im Alter von nur 52 Jahren verstorben aber der Huumlhnerstall steht noch immer unweit von seinem Grab Als ich Ende 2019 das morsche Gemaumluer besichtigte kam es mir vor wie ein Sinnbild fuumlr die Entwicklung Afrikas fuumlr einen Kontinent der nach dem Ende der Kolonialzeit in den fruumlhen 1960er Jahren mit hochfliegenden Erwartungen in die Unabhaumlngigkeit aufgebrochen war ndash und sechs Jahrzehnte spaumlter eher bescheidene Fortschritte erzielt hat

In Tansania betrat ich im August 1980 erstmals afrikanischen Boden hier sollte eine lange Liebesgeschichte beginnen und von

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hier aus blicke ich zuruumlck auf meine Zeit in Afrika Es war ein Wechselbad der Gefuumlhle ein staumlndiges Hin- und Herpendeln zwischen Zuversicht und Enttaumluschung Hoffnung und Pessi-mismus

Longido vor vierzig Jahren ein langweiliges Nest unweit der Grenze zu Kenia zweitausend Einwohner zwei Buschschaumlnken kein Telefon kein Strom keine Trinkwasserversorgung Mittler-weile leben hier siebenmal so viele Menschen und Rose Mollel Estos Witwe schwaumlrmt von den Errungenschaften raquoWir haben jetzt Elektrizitaumlt und flieszligendes Wasser Und sogar eine kleine Klinik mit einem OP-Raum Die Hauptstraszlige ist geteert es gibt zwei Tankstellen und Funktuumlrme fuumlr unsere Mobiltelefonelaquo Dazu ein Dutzend Spelunken jede Menge sozialer Konflikte mehr Wohlstand fuumlr wenige mehr Armut fuumlr viele weil es an Arbeitsplaumltzen mangelt

Seit meinem ersten Besuch der oumlrtlichen Primary School ndash Rose war seinerzeit Schulleiterin ndash hat sich die Zahl der Grund-schuumller auf 1118 nahezu verdoppelt Die Klassenzimmer sind so aumlrmlich ausgestattet wie eh und je primitive Pulte und Holzbaumlnke zersplitterte Schiefertafeln Fenster ohne Scheiben heiszliges Blech-dach raquoWir haben gute Lehrprogramme aber keine Lehrmittellaquo sagt Julieth Godfrey Die 57-jaumlhrige Lehrerin unterrichtet Mathe-matik Sie zeigt auf ein Wandbild im Schulhof ein Computer mit Zubehoumlr beschrieben in Kisuaheli Skrini (Bildschirm) Kibodi (Tastatur) Waya (Kabel) Die Kinder kennen Computer nur als Zeichnung Es gebe nur einen Rechner in der Schule den nutze aber ausschlieszliglich die Verwaltung sagt Godfrey raquoEs heiszligt Bil-dung sei das wichtigste Mittel um die Armut zu uumlberwinden Aber wir sind noch weit von diesem Ziel entferntlaquo

An Longido laumlsst sich ein Paradoxon studieren das exempla-risch ist fuumlr Afrika Der Kontinent ist vorangekommen ndash und gleichzeitig stehen geblieben

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In den vergangenen vier Jahrzehnten bin ich ungefaumlhr zwei Millio-nen Kilometer innerhalb Afrikas geflogen und gefahren um aus uumlber fuumlnfzig Laumlndern zu berichten Nach all den ereignisreichen Jahren werde ich oft gefragt Hat sich die Lage zwischen Khartum und Kapstadt Dakar und Daressalam in dieser Zeitspanne ver-bessert Oder geht es wie haumlufig zu houmlren ist stetig bergab Meine Antwort lautet sowohl als auch

Aber schon die Frage ist falsch gestellt Afrika wird oft als ein einziges Land wahrgenommen als monolithische Krisenmasse nicht als vielfaumlltiger Erdteil mit 54 Nationen die sich houmlchst unter-schiedlich entwickelt haben Es gibt eine Reihe von Failed States durch Buumlrgerkriege ruinierte Staaten wie Suumldsudan oder Somalia Es gibt mit Bodenschaumltzen gesegnete Laumlnder wie Nigeria oder Angola die ihren Reichtum verprassen Laumlnder wie Simbabwe oder Gambia die von Gewaltherrschern zerstoumlrt wurden Laumlnder wie Suumldafrika die sich in einer gefaumlhr lichen Abwaumlrtsspirale befin-den oder wie Kenia die sich irgendwie durchwursteln Politisch stabile Laumlnder wie Namibia Ghana oder Senegal Schlieszliglich Laumlnder die wirtschaftlich erfolgreich sind Botswana Aumlthiopien Ruanda Tansania Doch allerorten schlagen sich Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen mit den immer gleichen Proble-men herum mit Armut Arbeitslosigkeit und Krankheit mit der Unfaumlhigkeit und Gier korrupter Eliten mit Verteilungskaumlmpfen um knappe Ressourcen die durch die schnelle Zunahme der Be-voumllkerung und den Klima wandel verschaumlrft werden Von A wie Alphabetisierungsrate bis Z wie Zahnarztdichte ndash im globalen Vergleich ist Afrika in vielen Bereichen nach wie vor das Schluss-licht Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor moumlgen sich Leser und Leserinnen sagen die mein Buch Ach Afrika kennen denn darin stand schon 2003 der gleiche Befund Seither hat sich an der schwierigen Gesamtlage wenig veraumlndert

Ich habe mit afrikanischen Oumlkonomen Sozialwissenschaft-lern und Historikern uumlber die Ursachen debattiert gelegentlich

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auch gestritten Auffaumlllig waren zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen Da war einmal das groszlige Lamento uumlber den Zustand ihrer Staaten uumlber das Versagen der politischen Klasse ja uumlber deren Verrat an ihren Voumllkern Eine zum Klassiker gewordene Streitschrift der Kamerunerin Axelle Kabou liest sich wie eine Selbstbezichtigung Die Afrikaner und Afrikanerinnen haumltten ihre Misere groumlszligtenteils selbst herbeigefuumlhrt Warum verdammt noch mal schaffen sie es nicht sich aus eigener Kraft zu entwickeln Noch krasser druumlckt es der simbabwische Publizist Kwame Muza-wazi aus raquoDer wahre Feind Afrikas im 21 Jahrhundert ist nicht der Kolonialismus Es ist der schwarze Mann selbst seine eigene Pas-sivitaumlt seine lethargische Herangehensweise an die eigenen Ange-legenheiten hellip wir bewegen uns per Autopilot ins Nirgendwolaquo

Die zweite Erklaumlrung sieht Afrika immer und uumlberall als Opfer stets sind finstere Auszligenmaumlchte fuumlr alle Uumlbel verantwortlich die Ex-Kolonialmaumlchte die Weltbank die multinationalen Konzerne die weiszligen Rassisten und so weiter Der gegenwaumlrtige Zustand des Kontinents koumlnne raquoder niedertraumlchtigen Geschichte des imperialen Westens angelastet werdenlaquo postuliert der kenianische Schriftstel-ler Ngugi wa Thiongrsquoo Ein apodiktisches Urteil das an den Offi-zier in Kafkas Erzaumlhlung In der Strafkolonie erinnert raquoDer Grund-satz nach dem ich entscheide ist Die Schuld ist immer zweifel loslaquo Die herrschenden Eliten Afrikas uumlbernehmen solche Generalankla-gen gerne denn sie lenken vom eigenen Versagen ab wecken im reichen Norden Schuldgefuumlhle und bestaumlrken die internationale Hilfs industrie in ihrem haumlufig sinnlosen Aktivismus Die Ein-waumlnde afrikanischer Kritiker stoszligen hingegen auf taube Ohren Afrikaner und Afrikanerinnen werden viktimisiert sie haben Opfer zu sein

Beide Positionen ndash selbst verschuldet versus fremdverschul-det ndash greifen zu kurz Denn es ist eine Mischung aus internen und externen Faktoren die Afrika so groszlige Probleme bereitet einerseits die Spaumltfolgen des Kolonialismus und das raumluberische

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Weltwirtschaftssystem das der global entfesselte Kapitalismus noch raumluberischer macht andererseits die schlechte Regierungs-fuumlhrung in vielen Laumlndern und drittens die Synergien die sich daraus erge ben die Kollusion der einheimischen Machteliten mit aus laumln di schen Partnern ndash mit Oumllmultis Bergbaumagnaten Waf-fenhaumlndlern Steuerhinterziehern Strategieberatern Anwaumllten Wirtschafts pruumlfern und Bankern ndash die helfen die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlaumlchtig ihre Generalisierungen ndash raquodie Afrikanerlaquo ndash sind aumlrgerlich Doch bei allen Einschraumlnkungen stimme ich ihrem Befund zu Machtmiss-brauch Inkompetenz Planlosigkeit und endemische Korruption sind die groumlszligten Entwicklungshemmnisse Die politischen Eliten regieren seit der Unabhaumlngigkeit souveraumlne Staaten doch in vielen Faumlllen sind sie weder willens noch faumlhig diese in eine bessere Zu-kunft zu fuumlhren Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren sie beruht auf dem Recht des Staumlrkeren Sie pluumlndern ihre Nationen bereichern sich maszliglos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit Die vielleicht groumlszligte Enttaumlu-schung ist dass auch meine Wahlheimat Suumldafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird ndash das reichste Land des Kontinents das nach der Uumlberwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild fuumlr Afrika war Millionen von Suumldafrikanern die in einer friedlichen Revolu-tion fuumlr Freiheit Gleichheit und Versoumlhnung gekaumlmpft haben sind desillusioniert Spaumltestens in der Amtszeit von Praumlsident Jacob Zuma mussten sie feststellen dass sie von einer Diebesbande re-giert werden Die einstigen Befreier haben nichts aus den post-kolonialen Fehlentwicklungen gelernt es ist als wuumlrde sich die Geschichte wiederholen

In den Gruumlnderjahren war der Kontinent noch von den Nach-wehen der Unabhaumlngigkeit gepraumlgt in vielen jungen Staaten herrschten uumlble Militaumlrdiktaturen die sich von ihren ideologischen

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Verbuumlndeten in Moskau Washington oder Paris alimentieren lie-szligen Es kam serienweise zu Staatsstreichen Despoten wurden gestuumlrzt neue Despoten stiegen auf Als ich 1993 nach Suumldafrika uumlbersiedelte schien eine neue Epoche heraufzudaumlmmern In Ber-lin war die Mauer gefallen der Kalte Krieg ging zu Ende Das Rassistenregime der Apartheid die letzte Bastion kolonialer Herr-schaft musste kapitulierten Namibia war unabhaumlngig geworden uumlberall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit National konferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus in zahlreichen Laumlndern wurden Mehrparteiensysteme eingefuumlhrt Doch der raquoWind of Changelaquo war nur ein laues Luumlftchen Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene De-mokratie nur als Fassade hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten Es galt und gilt jene Dialektik die der franzoumlsische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat raquoEin Land ist nicht nur arm weil es schlecht regiert wird es wird auch schlecht regiert weil es arm istlaquo

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Konti-nent abgeschrieben als verlorenen Kontinent der Kriege Krank-heiten und Katastrophen Umgekehrt gehoumlrte ich aber auch nicht zu den blauaumlugigen Chronisten die die Verhaumlltnisse auf diesem Erdteil gern beschoumlnigen und kleine Erfolgsgeschichten zum gro-szligen Aufbruch hochjubeln Ich habe vielmehr versucht zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben Mein Leitspruch Die Lage ist ernst aber keineswegs aussichtslos Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale Es zaumlhlt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde es hat fruchtbares aber groszligflaumlchig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland Und es hat eine junge schnell wachsende Bevoumllkerung Schon im Jahr 2050 wenn geschaumltzte 25 Milliarden Menschen in Afrika leben werden wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbuumlrger behei-maten Europa wird die Umbruumlche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren koumlnnen und seine Festungspolitik durch

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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hier aus blicke ich zuruumlck auf meine Zeit in Afrika Es war ein Wechselbad der Gefuumlhle ein staumlndiges Hin- und Herpendeln zwischen Zuversicht und Enttaumluschung Hoffnung und Pessi-mismus

Longido vor vierzig Jahren ein langweiliges Nest unweit der Grenze zu Kenia zweitausend Einwohner zwei Buschschaumlnken kein Telefon kein Strom keine Trinkwasserversorgung Mittler-weile leben hier siebenmal so viele Menschen und Rose Mollel Estos Witwe schwaumlrmt von den Errungenschaften raquoWir haben jetzt Elektrizitaumlt und flieszligendes Wasser Und sogar eine kleine Klinik mit einem OP-Raum Die Hauptstraszlige ist geteert es gibt zwei Tankstellen und Funktuumlrme fuumlr unsere Mobiltelefonelaquo Dazu ein Dutzend Spelunken jede Menge sozialer Konflikte mehr Wohlstand fuumlr wenige mehr Armut fuumlr viele weil es an Arbeitsplaumltzen mangelt

Seit meinem ersten Besuch der oumlrtlichen Primary School ndash Rose war seinerzeit Schulleiterin ndash hat sich die Zahl der Grund-schuumller auf 1118 nahezu verdoppelt Die Klassenzimmer sind so aumlrmlich ausgestattet wie eh und je primitive Pulte und Holzbaumlnke zersplitterte Schiefertafeln Fenster ohne Scheiben heiszliges Blech-dach raquoWir haben gute Lehrprogramme aber keine Lehrmittellaquo sagt Julieth Godfrey Die 57-jaumlhrige Lehrerin unterrichtet Mathe-matik Sie zeigt auf ein Wandbild im Schulhof ein Computer mit Zubehoumlr beschrieben in Kisuaheli Skrini (Bildschirm) Kibodi (Tastatur) Waya (Kabel) Die Kinder kennen Computer nur als Zeichnung Es gebe nur einen Rechner in der Schule den nutze aber ausschlieszliglich die Verwaltung sagt Godfrey raquoEs heiszligt Bil-dung sei das wichtigste Mittel um die Armut zu uumlberwinden Aber wir sind noch weit von diesem Ziel entferntlaquo

An Longido laumlsst sich ein Paradoxon studieren das exempla-risch ist fuumlr Afrika Der Kontinent ist vorangekommen ndash und gleichzeitig stehen geblieben

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In den vergangenen vier Jahrzehnten bin ich ungefaumlhr zwei Millio-nen Kilometer innerhalb Afrikas geflogen und gefahren um aus uumlber fuumlnfzig Laumlndern zu berichten Nach all den ereignisreichen Jahren werde ich oft gefragt Hat sich die Lage zwischen Khartum und Kapstadt Dakar und Daressalam in dieser Zeitspanne ver-bessert Oder geht es wie haumlufig zu houmlren ist stetig bergab Meine Antwort lautet sowohl als auch

Aber schon die Frage ist falsch gestellt Afrika wird oft als ein einziges Land wahrgenommen als monolithische Krisenmasse nicht als vielfaumlltiger Erdteil mit 54 Nationen die sich houmlchst unter-schiedlich entwickelt haben Es gibt eine Reihe von Failed States durch Buumlrgerkriege ruinierte Staaten wie Suumldsudan oder Somalia Es gibt mit Bodenschaumltzen gesegnete Laumlnder wie Nigeria oder Angola die ihren Reichtum verprassen Laumlnder wie Simbabwe oder Gambia die von Gewaltherrschern zerstoumlrt wurden Laumlnder wie Suumldafrika die sich in einer gefaumlhr lichen Abwaumlrtsspirale befin-den oder wie Kenia die sich irgendwie durchwursteln Politisch stabile Laumlnder wie Namibia Ghana oder Senegal Schlieszliglich Laumlnder die wirtschaftlich erfolgreich sind Botswana Aumlthiopien Ruanda Tansania Doch allerorten schlagen sich Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen mit den immer gleichen Proble-men herum mit Armut Arbeitslosigkeit und Krankheit mit der Unfaumlhigkeit und Gier korrupter Eliten mit Verteilungskaumlmpfen um knappe Ressourcen die durch die schnelle Zunahme der Be-voumllkerung und den Klima wandel verschaumlrft werden Von A wie Alphabetisierungsrate bis Z wie Zahnarztdichte ndash im globalen Vergleich ist Afrika in vielen Bereichen nach wie vor das Schluss-licht Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor moumlgen sich Leser und Leserinnen sagen die mein Buch Ach Afrika kennen denn darin stand schon 2003 der gleiche Befund Seither hat sich an der schwierigen Gesamtlage wenig veraumlndert

Ich habe mit afrikanischen Oumlkonomen Sozialwissenschaft-lern und Historikern uumlber die Ursachen debattiert gelegentlich

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auch gestritten Auffaumlllig waren zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen Da war einmal das groszlige Lamento uumlber den Zustand ihrer Staaten uumlber das Versagen der politischen Klasse ja uumlber deren Verrat an ihren Voumllkern Eine zum Klassiker gewordene Streitschrift der Kamerunerin Axelle Kabou liest sich wie eine Selbstbezichtigung Die Afrikaner und Afrikanerinnen haumltten ihre Misere groumlszligtenteils selbst herbeigefuumlhrt Warum verdammt noch mal schaffen sie es nicht sich aus eigener Kraft zu entwickeln Noch krasser druumlckt es der simbabwische Publizist Kwame Muza-wazi aus raquoDer wahre Feind Afrikas im 21 Jahrhundert ist nicht der Kolonialismus Es ist der schwarze Mann selbst seine eigene Pas-sivitaumlt seine lethargische Herangehensweise an die eigenen Ange-legenheiten hellip wir bewegen uns per Autopilot ins Nirgendwolaquo

Die zweite Erklaumlrung sieht Afrika immer und uumlberall als Opfer stets sind finstere Auszligenmaumlchte fuumlr alle Uumlbel verantwortlich die Ex-Kolonialmaumlchte die Weltbank die multinationalen Konzerne die weiszligen Rassisten und so weiter Der gegenwaumlrtige Zustand des Kontinents koumlnne raquoder niedertraumlchtigen Geschichte des imperialen Westens angelastet werdenlaquo postuliert der kenianische Schriftstel-ler Ngugi wa Thiongrsquoo Ein apodiktisches Urteil das an den Offi-zier in Kafkas Erzaumlhlung In der Strafkolonie erinnert raquoDer Grund-satz nach dem ich entscheide ist Die Schuld ist immer zweifel loslaquo Die herrschenden Eliten Afrikas uumlbernehmen solche Generalankla-gen gerne denn sie lenken vom eigenen Versagen ab wecken im reichen Norden Schuldgefuumlhle und bestaumlrken die internationale Hilfs industrie in ihrem haumlufig sinnlosen Aktivismus Die Ein-waumlnde afrikanischer Kritiker stoszligen hingegen auf taube Ohren Afrikaner und Afrikanerinnen werden viktimisiert sie haben Opfer zu sein

Beide Positionen ndash selbst verschuldet versus fremdverschul-det ndash greifen zu kurz Denn es ist eine Mischung aus internen und externen Faktoren die Afrika so groszlige Probleme bereitet einerseits die Spaumltfolgen des Kolonialismus und das raumluberische

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Weltwirtschaftssystem das der global entfesselte Kapitalismus noch raumluberischer macht andererseits die schlechte Regierungs-fuumlhrung in vielen Laumlndern und drittens die Synergien die sich daraus erge ben die Kollusion der einheimischen Machteliten mit aus laumln di schen Partnern ndash mit Oumllmultis Bergbaumagnaten Waf-fenhaumlndlern Steuerhinterziehern Strategieberatern Anwaumllten Wirtschafts pruumlfern und Bankern ndash die helfen die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlaumlchtig ihre Generalisierungen ndash raquodie Afrikanerlaquo ndash sind aumlrgerlich Doch bei allen Einschraumlnkungen stimme ich ihrem Befund zu Machtmiss-brauch Inkompetenz Planlosigkeit und endemische Korruption sind die groumlszligten Entwicklungshemmnisse Die politischen Eliten regieren seit der Unabhaumlngigkeit souveraumlne Staaten doch in vielen Faumlllen sind sie weder willens noch faumlhig diese in eine bessere Zu-kunft zu fuumlhren Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren sie beruht auf dem Recht des Staumlrkeren Sie pluumlndern ihre Nationen bereichern sich maszliglos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit Die vielleicht groumlszligte Enttaumlu-schung ist dass auch meine Wahlheimat Suumldafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird ndash das reichste Land des Kontinents das nach der Uumlberwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild fuumlr Afrika war Millionen von Suumldafrikanern die in einer friedlichen Revolu-tion fuumlr Freiheit Gleichheit und Versoumlhnung gekaumlmpft haben sind desillusioniert Spaumltestens in der Amtszeit von Praumlsident Jacob Zuma mussten sie feststellen dass sie von einer Diebesbande re-giert werden Die einstigen Befreier haben nichts aus den post-kolonialen Fehlentwicklungen gelernt es ist als wuumlrde sich die Geschichte wiederholen

In den Gruumlnderjahren war der Kontinent noch von den Nach-wehen der Unabhaumlngigkeit gepraumlgt in vielen jungen Staaten herrschten uumlble Militaumlrdiktaturen die sich von ihren ideologischen

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Verbuumlndeten in Moskau Washington oder Paris alimentieren lie-szligen Es kam serienweise zu Staatsstreichen Despoten wurden gestuumlrzt neue Despoten stiegen auf Als ich 1993 nach Suumldafrika uumlbersiedelte schien eine neue Epoche heraufzudaumlmmern In Ber-lin war die Mauer gefallen der Kalte Krieg ging zu Ende Das Rassistenregime der Apartheid die letzte Bastion kolonialer Herr-schaft musste kapitulierten Namibia war unabhaumlngig geworden uumlberall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit National konferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus in zahlreichen Laumlndern wurden Mehrparteiensysteme eingefuumlhrt Doch der raquoWind of Changelaquo war nur ein laues Luumlftchen Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene De-mokratie nur als Fassade hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten Es galt und gilt jene Dialektik die der franzoumlsische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat raquoEin Land ist nicht nur arm weil es schlecht regiert wird es wird auch schlecht regiert weil es arm istlaquo

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Konti-nent abgeschrieben als verlorenen Kontinent der Kriege Krank-heiten und Katastrophen Umgekehrt gehoumlrte ich aber auch nicht zu den blauaumlugigen Chronisten die die Verhaumlltnisse auf diesem Erdteil gern beschoumlnigen und kleine Erfolgsgeschichten zum gro-szligen Aufbruch hochjubeln Ich habe vielmehr versucht zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben Mein Leitspruch Die Lage ist ernst aber keineswegs aussichtslos Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale Es zaumlhlt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde es hat fruchtbares aber groszligflaumlchig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland Und es hat eine junge schnell wachsende Bevoumllkerung Schon im Jahr 2050 wenn geschaumltzte 25 Milliarden Menschen in Afrika leben werden wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbuumlrger behei-maten Europa wird die Umbruumlche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren koumlnnen und seine Festungspolitik durch

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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In den vergangenen vier Jahrzehnten bin ich ungefaumlhr zwei Millio-nen Kilometer innerhalb Afrikas geflogen und gefahren um aus uumlber fuumlnfzig Laumlndern zu berichten Nach all den ereignisreichen Jahren werde ich oft gefragt Hat sich die Lage zwischen Khartum und Kapstadt Dakar und Daressalam in dieser Zeitspanne ver-bessert Oder geht es wie haumlufig zu houmlren ist stetig bergab Meine Antwort lautet sowohl als auch

Aber schon die Frage ist falsch gestellt Afrika wird oft als ein einziges Land wahrgenommen als monolithische Krisenmasse nicht als vielfaumlltiger Erdteil mit 54 Nationen die sich houmlchst unter-schiedlich entwickelt haben Es gibt eine Reihe von Failed States durch Buumlrgerkriege ruinierte Staaten wie Suumldsudan oder Somalia Es gibt mit Bodenschaumltzen gesegnete Laumlnder wie Nigeria oder Angola die ihren Reichtum verprassen Laumlnder wie Simbabwe oder Gambia die von Gewaltherrschern zerstoumlrt wurden Laumlnder wie Suumldafrika die sich in einer gefaumlhr lichen Abwaumlrtsspirale befin-den oder wie Kenia die sich irgendwie durchwursteln Politisch stabile Laumlnder wie Namibia Ghana oder Senegal Schlieszliglich Laumlnder die wirtschaftlich erfolgreich sind Botswana Aumlthiopien Ruanda Tansania Doch allerorten schlagen sich Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen mit den immer gleichen Proble-men herum mit Armut Arbeitslosigkeit und Krankheit mit der Unfaumlhigkeit und Gier korrupter Eliten mit Verteilungskaumlmpfen um knappe Ressourcen die durch die schnelle Zunahme der Be-voumllkerung und den Klima wandel verschaumlrft werden Von A wie Alphabetisierungsrate bis Z wie Zahnarztdichte ndash im globalen Vergleich ist Afrika in vielen Bereichen nach wie vor das Schluss-licht Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor moumlgen sich Leser und Leserinnen sagen die mein Buch Ach Afrika kennen denn darin stand schon 2003 der gleiche Befund Seither hat sich an der schwierigen Gesamtlage wenig veraumlndert

Ich habe mit afrikanischen Oumlkonomen Sozialwissenschaft-lern und Historikern uumlber die Ursachen debattiert gelegentlich

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auch gestritten Auffaumlllig waren zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen Da war einmal das groszlige Lamento uumlber den Zustand ihrer Staaten uumlber das Versagen der politischen Klasse ja uumlber deren Verrat an ihren Voumllkern Eine zum Klassiker gewordene Streitschrift der Kamerunerin Axelle Kabou liest sich wie eine Selbstbezichtigung Die Afrikaner und Afrikanerinnen haumltten ihre Misere groumlszligtenteils selbst herbeigefuumlhrt Warum verdammt noch mal schaffen sie es nicht sich aus eigener Kraft zu entwickeln Noch krasser druumlckt es der simbabwische Publizist Kwame Muza-wazi aus raquoDer wahre Feind Afrikas im 21 Jahrhundert ist nicht der Kolonialismus Es ist der schwarze Mann selbst seine eigene Pas-sivitaumlt seine lethargische Herangehensweise an die eigenen Ange-legenheiten hellip wir bewegen uns per Autopilot ins Nirgendwolaquo

Die zweite Erklaumlrung sieht Afrika immer und uumlberall als Opfer stets sind finstere Auszligenmaumlchte fuumlr alle Uumlbel verantwortlich die Ex-Kolonialmaumlchte die Weltbank die multinationalen Konzerne die weiszligen Rassisten und so weiter Der gegenwaumlrtige Zustand des Kontinents koumlnne raquoder niedertraumlchtigen Geschichte des imperialen Westens angelastet werdenlaquo postuliert der kenianische Schriftstel-ler Ngugi wa Thiongrsquoo Ein apodiktisches Urteil das an den Offi-zier in Kafkas Erzaumlhlung In der Strafkolonie erinnert raquoDer Grund-satz nach dem ich entscheide ist Die Schuld ist immer zweifel loslaquo Die herrschenden Eliten Afrikas uumlbernehmen solche Generalankla-gen gerne denn sie lenken vom eigenen Versagen ab wecken im reichen Norden Schuldgefuumlhle und bestaumlrken die internationale Hilfs industrie in ihrem haumlufig sinnlosen Aktivismus Die Ein-waumlnde afrikanischer Kritiker stoszligen hingegen auf taube Ohren Afrikaner und Afrikanerinnen werden viktimisiert sie haben Opfer zu sein

Beide Positionen ndash selbst verschuldet versus fremdverschul-det ndash greifen zu kurz Denn es ist eine Mischung aus internen und externen Faktoren die Afrika so groszlige Probleme bereitet einerseits die Spaumltfolgen des Kolonialismus und das raumluberische

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Weltwirtschaftssystem das der global entfesselte Kapitalismus noch raumluberischer macht andererseits die schlechte Regierungs-fuumlhrung in vielen Laumlndern und drittens die Synergien die sich daraus erge ben die Kollusion der einheimischen Machteliten mit aus laumln di schen Partnern ndash mit Oumllmultis Bergbaumagnaten Waf-fenhaumlndlern Steuerhinterziehern Strategieberatern Anwaumllten Wirtschafts pruumlfern und Bankern ndash die helfen die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlaumlchtig ihre Generalisierungen ndash raquodie Afrikanerlaquo ndash sind aumlrgerlich Doch bei allen Einschraumlnkungen stimme ich ihrem Befund zu Machtmiss-brauch Inkompetenz Planlosigkeit und endemische Korruption sind die groumlszligten Entwicklungshemmnisse Die politischen Eliten regieren seit der Unabhaumlngigkeit souveraumlne Staaten doch in vielen Faumlllen sind sie weder willens noch faumlhig diese in eine bessere Zu-kunft zu fuumlhren Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren sie beruht auf dem Recht des Staumlrkeren Sie pluumlndern ihre Nationen bereichern sich maszliglos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit Die vielleicht groumlszligte Enttaumlu-schung ist dass auch meine Wahlheimat Suumldafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird ndash das reichste Land des Kontinents das nach der Uumlberwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild fuumlr Afrika war Millionen von Suumldafrikanern die in einer friedlichen Revolu-tion fuumlr Freiheit Gleichheit und Versoumlhnung gekaumlmpft haben sind desillusioniert Spaumltestens in der Amtszeit von Praumlsident Jacob Zuma mussten sie feststellen dass sie von einer Diebesbande re-giert werden Die einstigen Befreier haben nichts aus den post-kolonialen Fehlentwicklungen gelernt es ist als wuumlrde sich die Geschichte wiederholen

In den Gruumlnderjahren war der Kontinent noch von den Nach-wehen der Unabhaumlngigkeit gepraumlgt in vielen jungen Staaten herrschten uumlble Militaumlrdiktaturen die sich von ihren ideologischen

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Verbuumlndeten in Moskau Washington oder Paris alimentieren lie-szligen Es kam serienweise zu Staatsstreichen Despoten wurden gestuumlrzt neue Despoten stiegen auf Als ich 1993 nach Suumldafrika uumlbersiedelte schien eine neue Epoche heraufzudaumlmmern In Ber-lin war die Mauer gefallen der Kalte Krieg ging zu Ende Das Rassistenregime der Apartheid die letzte Bastion kolonialer Herr-schaft musste kapitulierten Namibia war unabhaumlngig geworden uumlberall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit National konferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus in zahlreichen Laumlndern wurden Mehrparteiensysteme eingefuumlhrt Doch der raquoWind of Changelaquo war nur ein laues Luumlftchen Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene De-mokratie nur als Fassade hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten Es galt und gilt jene Dialektik die der franzoumlsische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat raquoEin Land ist nicht nur arm weil es schlecht regiert wird es wird auch schlecht regiert weil es arm istlaquo

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Konti-nent abgeschrieben als verlorenen Kontinent der Kriege Krank-heiten und Katastrophen Umgekehrt gehoumlrte ich aber auch nicht zu den blauaumlugigen Chronisten die die Verhaumlltnisse auf diesem Erdteil gern beschoumlnigen und kleine Erfolgsgeschichten zum gro-szligen Aufbruch hochjubeln Ich habe vielmehr versucht zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben Mein Leitspruch Die Lage ist ernst aber keineswegs aussichtslos Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale Es zaumlhlt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde es hat fruchtbares aber groszligflaumlchig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland Und es hat eine junge schnell wachsende Bevoumllkerung Schon im Jahr 2050 wenn geschaumltzte 25 Milliarden Menschen in Afrika leben werden wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbuumlrger behei-maten Europa wird die Umbruumlche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren koumlnnen und seine Festungspolitik durch

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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auch gestritten Auffaumlllig waren zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen Da war einmal das groszlige Lamento uumlber den Zustand ihrer Staaten uumlber das Versagen der politischen Klasse ja uumlber deren Verrat an ihren Voumllkern Eine zum Klassiker gewordene Streitschrift der Kamerunerin Axelle Kabou liest sich wie eine Selbstbezichtigung Die Afrikaner und Afrikanerinnen haumltten ihre Misere groumlszligtenteils selbst herbeigefuumlhrt Warum verdammt noch mal schaffen sie es nicht sich aus eigener Kraft zu entwickeln Noch krasser druumlckt es der simbabwische Publizist Kwame Muza-wazi aus raquoDer wahre Feind Afrikas im 21 Jahrhundert ist nicht der Kolonialismus Es ist der schwarze Mann selbst seine eigene Pas-sivitaumlt seine lethargische Herangehensweise an die eigenen Ange-legenheiten hellip wir bewegen uns per Autopilot ins Nirgendwolaquo

Die zweite Erklaumlrung sieht Afrika immer und uumlberall als Opfer stets sind finstere Auszligenmaumlchte fuumlr alle Uumlbel verantwortlich die Ex-Kolonialmaumlchte die Weltbank die multinationalen Konzerne die weiszligen Rassisten und so weiter Der gegenwaumlrtige Zustand des Kontinents koumlnne raquoder niedertraumlchtigen Geschichte des imperialen Westens angelastet werdenlaquo postuliert der kenianische Schriftstel-ler Ngugi wa Thiongrsquoo Ein apodiktisches Urteil das an den Offi-zier in Kafkas Erzaumlhlung In der Strafkolonie erinnert raquoDer Grund-satz nach dem ich entscheide ist Die Schuld ist immer zweifel loslaquo Die herrschenden Eliten Afrikas uumlbernehmen solche Generalankla-gen gerne denn sie lenken vom eigenen Versagen ab wecken im reichen Norden Schuldgefuumlhle und bestaumlrken die internationale Hilfs industrie in ihrem haumlufig sinnlosen Aktivismus Die Ein-waumlnde afrikanischer Kritiker stoszligen hingegen auf taube Ohren Afrikaner und Afrikanerinnen werden viktimisiert sie haben Opfer zu sein

Beide Positionen ndash selbst verschuldet versus fremdverschul-det ndash greifen zu kurz Denn es ist eine Mischung aus internen und externen Faktoren die Afrika so groszlige Probleme bereitet einerseits die Spaumltfolgen des Kolonialismus und das raumluberische

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Weltwirtschaftssystem das der global entfesselte Kapitalismus noch raumluberischer macht andererseits die schlechte Regierungs-fuumlhrung in vielen Laumlndern und drittens die Synergien die sich daraus erge ben die Kollusion der einheimischen Machteliten mit aus laumln di schen Partnern ndash mit Oumllmultis Bergbaumagnaten Waf-fenhaumlndlern Steuerhinterziehern Strategieberatern Anwaumllten Wirtschafts pruumlfern und Bankern ndash die helfen die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlaumlchtig ihre Generalisierungen ndash raquodie Afrikanerlaquo ndash sind aumlrgerlich Doch bei allen Einschraumlnkungen stimme ich ihrem Befund zu Machtmiss-brauch Inkompetenz Planlosigkeit und endemische Korruption sind die groumlszligten Entwicklungshemmnisse Die politischen Eliten regieren seit der Unabhaumlngigkeit souveraumlne Staaten doch in vielen Faumlllen sind sie weder willens noch faumlhig diese in eine bessere Zu-kunft zu fuumlhren Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren sie beruht auf dem Recht des Staumlrkeren Sie pluumlndern ihre Nationen bereichern sich maszliglos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit Die vielleicht groumlszligte Enttaumlu-schung ist dass auch meine Wahlheimat Suumldafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird ndash das reichste Land des Kontinents das nach der Uumlberwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild fuumlr Afrika war Millionen von Suumldafrikanern die in einer friedlichen Revolu-tion fuumlr Freiheit Gleichheit und Versoumlhnung gekaumlmpft haben sind desillusioniert Spaumltestens in der Amtszeit von Praumlsident Jacob Zuma mussten sie feststellen dass sie von einer Diebesbande re-giert werden Die einstigen Befreier haben nichts aus den post-kolonialen Fehlentwicklungen gelernt es ist als wuumlrde sich die Geschichte wiederholen

In den Gruumlnderjahren war der Kontinent noch von den Nach-wehen der Unabhaumlngigkeit gepraumlgt in vielen jungen Staaten herrschten uumlble Militaumlrdiktaturen die sich von ihren ideologischen

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Verbuumlndeten in Moskau Washington oder Paris alimentieren lie-szligen Es kam serienweise zu Staatsstreichen Despoten wurden gestuumlrzt neue Despoten stiegen auf Als ich 1993 nach Suumldafrika uumlbersiedelte schien eine neue Epoche heraufzudaumlmmern In Ber-lin war die Mauer gefallen der Kalte Krieg ging zu Ende Das Rassistenregime der Apartheid die letzte Bastion kolonialer Herr-schaft musste kapitulierten Namibia war unabhaumlngig geworden uumlberall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit National konferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus in zahlreichen Laumlndern wurden Mehrparteiensysteme eingefuumlhrt Doch der raquoWind of Changelaquo war nur ein laues Luumlftchen Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene De-mokratie nur als Fassade hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten Es galt und gilt jene Dialektik die der franzoumlsische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat raquoEin Land ist nicht nur arm weil es schlecht regiert wird es wird auch schlecht regiert weil es arm istlaquo

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Konti-nent abgeschrieben als verlorenen Kontinent der Kriege Krank-heiten und Katastrophen Umgekehrt gehoumlrte ich aber auch nicht zu den blauaumlugigen Chronisten die die Verhaumlltnisse auf diesem Erdteil gern beschoumlnigen und kleine Erfolgsgeschichten zum gro-szligen Aufbruch hochjubeln Ich habe vielmehr versucht zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben Mein Leitspruch Die Lage ist ernst aber keineswegs aussichtslos Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale Es zaumlhlt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde es hat fruchtbares aber groszligflaumlchig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland Und es hat eine junge schnell wachsende Bevoumllkerung Schon im Jahr 2050 wenn geschaumltzte 25 Milliarden Menschen in Afrika leben werden wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbuumlrger behei-maten Europa wird die Umbruumlche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren koumlnnen und seine Festungspolitik durch

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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Weltwirtschaftssystem das der global entfesselte Kapitalismus noch raumluberischer macht andererseits die schlechte Regierungs-fuumlhrung in vielen Laumlndern und drittens die Synergien die sich daraus erge ben die Kollusion der einheimischen Machteliten mit aus laumln di schen Partnern ndash mit Oumllmultis Bergbaumagnaten Waf-fenhaumlndlern Steuerhinterziehern Strategieberatern Anwaumllten Wirtschafts pruumlfern und Bankern ndash die helfen die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlaumlchtig ihre Generalisierungen ndash raquodie Afrikanerlaquo ndash sind aumlrgerlich Doch bei allen Einschraumlnkungen stimme ich ihrem Befund zu Machtmiss-brauch Inkompetenz Planlosigkeit und endemische Korruption sind die groumlszligten Entwicklungshemmnisse Die politischen Eliten regieren seit der Unabhaumlngigkeit souveraumlne Staaten doch in vielen Faumlllen sind sie weder willens noch faumlhig diese in eine bessere Zu-kunft zu fuumlhren Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren sie beruht auf dem Recht des Staumlrkeren Sie pluumlndern ihre Nationen bereichern sich maszliglos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit Die vielleicht groumlszligte Enttaumlu-schung ist dass auch meine Wahlheimat Suumldafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird ndash das reichste Land des Kontinents das nach der Uumlberwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild fuumlr Afrika war Millionen von Suumldafrikanern die in einer friedlichen Revolu-tion fuumlr Freiheit Gleichheit und Versoumlhnung gekaumlmpft haben sind desillusioniert Spaumltestens in der Amtszeit von Praumlsident Jacob Zuma mussten sie feststellen dass sie von einer Diebesbande re-giert werden Die einstigen Befreier haben nichts aus den post-kolonialen Fehlentwicklungen gelernt es ist als wuumlrde sich die Geschichte wiederholen

In den Gruumlnderjahren war der Kontinent noch von den Nach-wehen der Unabhaumlngigkeit gepraumlgt in vielen jungen Staaten herrschten uumlble Militaumlrdiktaturen die sich von ihren ideologischen

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Verbuumlndeten in Moskau Washington oder Paris alimentieren lie-szligen Es kam serienweise zu Staatsstreichen Despoten wurden gestuumlrzt neue Despoten stiegen auf Als ich 1993 nach Suumldafrika uumlbersiedelte schien eine neue Epoche heraufzudaumlmmern In Ber-lin war die Mauer gefallen der Kalte Krieg ging zu Ende Das Rassistenregime der Apartheid die letzte Bastion kolonialer Herr-schaft musste kapitulierten Namibia war unabhaumlngig geworden uumlberall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit National konferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus in zahlreichen Laumlndern wurden Mehrparteiensysteme eingefuumlhrt Doch der raquoWind of Changelaquo war nur ein laues Luumlftchen Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene De-mokratie nur als Fassade hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten Es galt und gilt jene Dialektik die der franzoumlsische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat raquoEin Land ist nicht nur arm weil es schlecht regiert wird es wird auch schlecht regiert weil es arm istlaquo

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Konti-nent abgeschrieben als verlorenen Kontinent der Kriege Krank-heiten und Katastrophen Umgekehrt gehoumlrte ich aber auch nicht zu den blauaumlugigen Chronisten die die Verhaumlltnisse auf diesem Erdteil gern beschoumlnigen und kleine Erfolgsgeschichten zum gro-szligen Aufbruch hochjubeln Ich habe vielmehr versucht zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben Mein Leitspruch Die Lage ist ernst aber keineswegs aussichtslos Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale Es zaumlhlt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde es hat fruchtbares aber groszligflaumlchig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland Und es hat eine junge schnell wachsende Bevoumllkerung Schon im Jahr 2050 wenn geschaumltzte 25 Milliarden Menschen in Afrika leben werden wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbuumlrger behei-maten Europa wird die Umbruumlche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren koumlnnen und seine Festungspolitik durch

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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Verbuumlndeten in Moskau Washington oder Paris alimentieren lie-szligen Es kam serienweise zu Staatsstreichen Despoten wurden gestuumlrzt neue Despoten stiegen auf Als ich 1993 nach Suumldafrika uumlbersiedelte schien eine neue Epoche heraufzudaumlmmern In Ber-lin war die Mauer gefallen der Kalte Krieg ging zu Ende Das Rassistenregime der Apartheid die letzte Bastion kolonialer Herr-schaft musste kapitulierten Namibia war unabhaumlngig geworden uumlberall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit National konferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus in zahlreichen Laumlndern wurden Mehrparteiensysteme eingefuumlhrt Doch der raquoWind of Changelaquo war nur ein laues Luumlftchen Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene De-mokratie nur als Fassade hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten Es galt und gilt jene Dialektik die der franzoumlsische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat raquoEin Land ist nicht nur arm weil es schlecht regiert wird es wird auch schlecht regiert weil es arm istlaquo

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Konti-nent abgeschrieben als verlorenen Kontinent der Kriege Krank-heiten und Katastrophen Umgekehrt gehoumlrte ich aber auch nicht zu den blauaumlugigen Chronisten die die Verhaumlltnisse auf diesem Erdteil gern beschoumlnigen und kleine Erfolgsgeschichten zum gro-szligen Aufbruch hochjubeln Ich habe vielmehr versucht zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben Mein Leitspruch Die Lage ist ernst aber keineswegs aussichtslos Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale Es zaumlhlt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde es hat fruchtbares aber groszligflaumlchig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland Und es hat eine junge schnell wachsende Bevoumllkerung Schon im Jahr 2050 wenn geschaumltzte 25 Milliarden Menschen in Afrika leben werden wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbuumlrger behei-maten Europa wird die Umbruumlche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren koumlnnen und seine Festungspolitik durch

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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echte Kooperation ersetzen muumlssen ndash jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden raquoBevoumllkerungsexplosionlaquo und einer anschwellenden raquoFlutlaquo von Migranten und Fluumlchtlingen

Das Zerrbild das sich die Auszligenwelt von Afrika macht ist nach wie vor gepraumlgt von den in der Kolonialaumlra entstandenen Klischees und Stereotypen Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungsspruumlnge in juumlngster Vergangenheit aus Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zuruumlckzufuumlh-ren die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung ausloumlsten Einstige Armenhaumluser wie Aumlthiopien verzeichneten zeitweise die houmlchsten Wachstumsraten der Welt raquoAfrika hebt ablaquo titelte der britische Economist das einflussreiche Wirtschaftsmagazin das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte Gleichzeitig oumlffnete die digitale Revolution neue Horizonte Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetz-anschluss Unterdessen nutzen uumlber eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverstaumlndlich Handys und Smartphones In Nairobis raquoSilicon Savannahlaquo und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt Zum Beispiel M-Pesa ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobil-telefon das inzwischen weltweit genutzt wird In den Bereichen Bildung Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung Sie beschleunigen einen Prozess den man Leapfrogging nennt Afrika uumlberspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien veraumlndert auch die Politik und befluumlgelt demo kratische Bewegungen Ohne diese Kommunikationskanaumlle waumlre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht moumlglich gewesen

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausend-wende zuruumlckblicken werden sie eine weitere fundamentale Ver-aumlnderung in Afrika registrieren eine geradezu tektonische Ver-schiebung die ein neuer Global Player ausgeloumlst hat China Die

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handels-partner aus Europa und Nordamerika abgehaumlngt sie beutet die Bodenschaumltze des Erdteils im groszligen Stil aus und uumlberschwemmt seine Maumlrkte mit Billigwaren China fuumlhrt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtuumlmer an (der erste fand in der Kolonialaumlra statt) aber auch andere Laumlnder nehmen neuerdings daran teil Japan Indien Suumldkorea Brasilien Russland die Tuumlrkei arabi-sche Staaten Der senegalesische Kommentator Adama Gaye be-fuumlrchtet einen raquozweiten Kolonialismuslaquo der vom Reich der Mitte angefuumlhrt wird In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauszlig ist Afrika der flugunfaumlhige Vogel dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert Doch China gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kom-munistischen Partei investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas in Straszligen Bahnlinien Flug- und Seehaumlfen Pipelines Staudaumlmme Mobilfunknetze Wie auch im-mer man die mitunter ziemlich ruumlcksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag eines laumlsst sich schwerlich bestreiten Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren Ploumltzlich riefen einem die Kinder in den hinters-ten Doumlrfern raquoChina Chinalaquo nach ndash als haumltte der weiszlige Mann seine Schuldigkeit getan

raquoWest is bestlaquo das war einmal Jetzt heiszligt die Devise raquoLook Eastlaquo Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden raquoBruderlaquo aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern uumlppige Finanzmittel und neue Legitimitaumlt Sie kopie-ren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdikta-tur und muumlssen sich nicht mehr herumschlagen mit den laumlstigen Konditionen westlicher Partnerlaumlnder (Menschenrechte Trans-parenz Umweltauflagen Arbeitsschutz usw) die deren Kon-zerne oft selbst unterlaufen Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivitaumlt verloren weil sie in vielen Gesellschaften das

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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Versprechen von mehr Wohlstand fuumlr alle nicht einloumlsen konnte Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt raquoBrauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Taglaquo

Afrikanische Loumlsungen fuumlr afrikanische Probleme Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrie-ben In der Agenda 2063 kuumlndigt sie die radikalsten Reformen an die je angepackt wurden sie will sogar eine panafrikanische Frei-handelszone schaffen einen Kontinent ohne Grenzen der dann gemessen an der Zahl seiner Staaten der groumlszligte integrierte Wirt-schaftsraum der Welt waumlre Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt wird sich zeigen Denn die Erblasten sind enorm Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwir-kungen des Kolonialismus er ist nach wie vor marginalisiert hat auf der geopolitischen Buumlhne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse die Wert-schoumlpfung findet anderswo statt Zudem wird seine fragile Land-wirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschaumldigt Hinzu kommen neue beunruhigende Herausforderungen der Klimawandel unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten lei-den obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen der isla-mistische Terrorismus der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet schlieszliglich die Uumlberbevoumllkerung in einigen Regionen

Andererseits Gerade das schnelle Bevoumllkerungswachstum koumlnnte vom Fluch zum Segen werden wie der Aufstieg der asia-tischen Tigerstaaten lehrt Dort hat die hohe Zahl von arbeits-faumlhigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgeloumlst der wiederum zu einem Ruumlckgang der Geburtenraten fuumlhrte Die raquodemografische Dividendelaquo setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung Gesundheit und Familienplanung voraus Sollte es kommenden Generationen gelingen fundamentale Reformen zu verwirklichen koumlnnte sich

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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Afrika in einen Kontinent ungeahnter Moumlglichkeiten verwandeln Davon ist jedenfalls eine neue selbstbewusste Bewegung von afri-kanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus uumlberzeugt In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegale-sische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf endlich nachzuholen was sie seit der Unabhaumlngigkeit versaumlumt haben die geistige Selbstermaumlchtigung um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demuumltigung ihren Minderwertigkeits-komplex zu uumlberwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen

Zugleich aber gilt was uns die sambische Wirtschaftswissen-schaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt raquoDie Welt muss sich engagieren und helfen die Probleme Afrikas zu loumlsen denn sie werden eher fruumlher als spaumlter zu globalen Problemen wer-denlaquo So gesehen laumluft Afrika der benachteiligte Suumlden uumlber-haupt der Globalisierung nicht hinterher sondern voraus Schon waumlhrend der Kolonialaumlra war der Kontinent ein regelrechtes La-boratorium in dem die Europaumler repressive Verwaltungsapparate polizeistaatliche Methoden militaumlrische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten sie versklavten die Menschen bauten Konzentrationslager trennten Wohngebiete nach Rassen fuumlhrten medizinische Experimente durch entwickelten Maszlignah-men zur Bevoumllkerungskontrolle Sozialhygiene und Seuchen-bekaumlmpfung Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zen-tren her erzaumlhlt werden koumlnne befinden die suumldafrikanischen An-thropologen Jean und John Comaroff Der globale Suumlden insbe-sondere Afrika erscheint in diesem Narrativ als unterdruumlckte Kehrseite des Nordens In der suumldlichen Hemisphaumlre zeichne sich die Dynamik die unseren Planeten bedrohe fruumlher ab der ent-hemmte Kapitalismus der beschleunigte Raubbau an der Natur die Pluumlnderung von Gemeinguumltern das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen die Unregierbarkeit von Megacitys die

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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massenhafte Zunahme des Homo sacer des Wegwerfmenschen der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpas-sungs programme die die Europaumlische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat mussten afrikani-sche Staaten schon viel fruumlher uumlber sich ergehen lassen Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen laumlngst die Erfahrung einer toumldlichen Pan-demie gemacht die wir jetzt im Zeitalter von Corona erstmals teilen

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die gro-szligen Herausforderungen der Gegenwart lenken Klimawandel Bevoumllkerungswachstum Ernaumlhrungskrise Migration Krieg und Terror Es sind Parameter fuumlr die Vermessung der Zukunft Zu-gegeben ich schaute manchmal in Abgruumlnde die mich zutiefst pessimistisch stimmten Und dennoch wirken die positiven Ein-druumlcke und Erfahrungen staumlrker nach die unerschuumltterliche Zuversicht mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewaumlltigen die uns Europaumler in den Wahnsinn treiben wuumlrden die Schoumlnheit ihrer Kulturen die Kraft der Versoumlhnung der Ge-meinsinn das heitere Alltagsleben das nicht in unser Bild vom leidenden hungernden verzweifelten Erdteil passen will Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts uumlber mein Verhaumlltnis zu Afrika uumlber die Lektionen die ich gelernt habe und daruumlber wie mich der Kontinent veraumlndert hat auf dem ich fast die Haumllfte meines Lebens verbracht habe

Kapstadt im Fruumlhjahr 2021

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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Dies ist eine lange Reise Sie fuumlhrt uns weit in die Vergangenheit Afrikas bis in die Altsteinzeit und von dort wieder zuruumlck in die Gegenwart ins Buumlro des Friedensnobelpreistraumlgers Desmond Tutu in Kapstadt Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wuumlste Kalahari wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhuumltten stehen Hier lebt ein Mann namens Gubi mit seiner Sippe Seine Frau und die Toumlchter sitzen im Halbkreis und naumlhen Lendenschurze aus Wildhaumluten Nackte staubuumlber-puderte Kinder huumlpfen um die glimmende Feuerstelle und mus-tern die hellhaumlutigen Besucher Aaban der aumllteste Sohn von Gubi pruumlft die Spitzen seiner Giftpfeile Er will auf die Jagd ge-hen die Groszligfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheiszligen Nachmittag Kamrsquoai die aumllteste Tochter kichert weil wir uns staumlndig die Zunge brechen Wir koumlnnen die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuch-staben schreiben Die Schraumlgstriche und Sonderzeichen stehen fuumlr wunderliche Klick- und Klacklaute sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken

Gubi hat sich unter einem bluumlhenden Mankettibaum nieder-gelassen ein klein gewachsener feingliedriger Mann mit straffen Muskeln Er mag achtzig Jahre alt sein in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen Wann genau er geboren wurde kann er nicht sagen in der Kultur seines Volkes der San wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen Und was die Weiszligen wollten die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften weiszlig er auch nicht so genau Erst dachte Gubi sie wuumlrden die uumlblichen

EVAS KINDERAuf den Spuren unserer Urahnen

im Suumlden Af r ikas

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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Gesundheitstests durchfuumlhren Tuberkulose Infektionskrankhei-ten Aids Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes raquoSie woll-ten wissen wie mein Blut aussiehtlaquo sagt Gubi Er deutet auf seine Armbeuge raquoHier haben sie hineingestochenlaquo Jetzt gehoumlrt er neben weltberuumlhmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen deren Erbgut vollstaumlndig entziffert wurde

Die Gendaten der afrikanischen Jaumlger und Sammlerinnen sind ein unschaumltzbarer Gewinn fuumlr die Wissenschaft vom Men-schen Sie koumlnnen den San etwas zuruumlckgeben was sie wohl dringender benoumltigen als alles andere Wuumlrde Und Stolz auf ihre Herkunft Die Botschaft aus den Erbmolekuumllen lautet Die klei-nen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva Natuumlrlich haben auch sie 200 000 Jahre evolu-tionaumlrer Veraumlnderung hinter sich seit sich die Spezies Homo sa-piens in Afrika entwickelte Doch in ihren Erbanlagen das zeigen die Tests der Forscher schlummert ein besonderer Schatz Sie tragen viel von der urspruumlnglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich Gubi repraumlsentiert die aumllteste Abstammungslinie der Menschheit Das ist kein raquoVerdienstlaquo seiner Ethnie sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt erst weil sie geografisch iso-liert lebten dann weil sie nicht nur von den Weiszligen sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch raquoWollt ihr etwa beweisen dass wir Affen sindlaquo

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war die europaumlischen Voumllkerkundler machten da keinen Unter-schied Schon 1790 fabulierte der Goumlttinger Philosoph und Ethno-graf Christoph Meiners uumlber die Natur der raquoNegerlaquo Sie seien raquowegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geborenlaquo und haumltten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen In seinen Schriften stand raquoder Afrikanerlaquo dem Tier naumlher als dem Men-

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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schen er war nur ein primitiver Wilder ohne Geschichte ohne Schrift ohne Rechenkunst Stattdessen Kannibalismus Vielwei-berei Goumltzenglaube Derlei raquoWeltweisheitenlaquo sollten im 19 Jahr-hundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden In Suumldafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds Farbige als minderwertige Rassen und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Voumll-ker eingeordnet die San und die Khoikhoi die man Buschmaumlnner und Hottentotten nannte

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und univer-sell In den Vereinigten Staaten in Brasilien in Groszligbritannien in den Banlieues von Paris wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben uumlberall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie uumlberall werden sie systematisch benachteiligt erniedrigt beleidigt eingesperrt umgebracht Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gruumlndet auf rassistischen Konstruktionen die sich in das Bewusst-sein weiszliger Menschen eingesenkt haben Eine Mail in schlechtem Deutsch die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt sagt alles raquoUumlberall wo Neger auftreten geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert Neger sind das Ende alles guten Lebens und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als saumlmtliche Weltkriegelaquo

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wuumlsten Savannen und karstigen Gebirge im Suumlden des Konti-nents Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen den Regen-wolken Trockenflusslaumlufen und Tierfaumlhrten und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien Die Maumlnner jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen Antilopen oder Stachelschweinen Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft sie nehmen uns zum

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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Sammeln mit Busch Busch nichts als Busch Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo Dichtes Strauchwerk mannshohe Ter-mitenhuumlgel dornige Akazien trockenes Geaumlst heuduumlrre Graumlser unter sengender Hitze Kein Wasser Kein Schatten Kein Lebens-zeichen Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt Wir haben laumlngst die Orientierung verloren Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um Sie kichern uumlber die schweiszlignassen Bleich-gesichter die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen Sie huschen ins Dickicht saugen Saft aus Wurzeln zerkauen Lianen pfluumlcken hier eine Handvoll quittengelber Beeren ernten dort ein paar Baumfruumlchte wo wir Europaumler nur lebensfeindliche Wildnis sehen Fuumlr die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten und sie haben von klein auf gelernt ihn wie ein Buch zu lesen Die Nah-rung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost Man-kettinuumlsse und Baobabfruumlchte Wurzeln und Zwiebeln Beeren und Zuckerpflaumen Melonen Truumlffeln Buschgurken und aller-lei Gruumlnzeug Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier Echsen Schildkrouml-ten Raupen Wuumlrmer und Kaumlfer ergaumlnzt Xukxa holt mit ihrem Grabstock ndash ein Eisenstab mit geplaumltteter Spitze ndash Nuih aus der Erde einen Wurzelstrang mit runden Knollen die nach rohen Erbsen schmecken Tcoqa hat Nama gesammelt eine Abart der Suumlszligkartoffel Uce haumllt stolz eine Delikatesse hoch Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken spargelbleichen Tentakeln schmeckt nach Bambussprossen Die Tragetuumlcher sind prall ge-fuumlllt Zeit zur Heimkehr

Vor rund tausend Jahren als Bantuvoumllker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten sollten die stillen Tage der Jaumlger und Sammlerinnen zu Ende gehen Im 19 Jahrhundert drangen die weiszligen Invasoren aus dem Suumlden vor Missionare und Kolonialoffiziere Diamantensucher Elfen-beinhaumlndler Groszligwildjaumlger Siedler Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europaumler und Afrikaner nichts entgegenzu-

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setzen Sie wurden versklavt oder abgedraumlngt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet Sie verloren ihre Jagdgruumlnde ihre Wasserstellen ndash und ihre Zukunft Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzuumlchter angepasst sie treiben Handel mit ihnen und uumlbernehmen deren Wirtschafts-weisen soziale Hierarchien und Glaubensrituale Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitaumlren Gemein-schaften Maumlnner und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen Alle sind gleichgestellt alle muumlssen alles teilen um in einer extre-men Umwelt zu uumlberleben Die sesshaften San hausen in slum-artigen Doumlrfern in Botswana Suumldafrika und Namibia Oder in Reservaten in die sie zwangsumgesiedelt wurden weil man in ihren Lebensraumlumen Bodenschaumltze entdeckt oder sie fuumlr den Tou-rismus erschlossen hatte Sie wurden und werden von vielen Afri-kanern und Europaumlern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur ge houmlren die San zu den bedrohten Voumllkern die keine politische Stimme haben Sie zaumlhlen nur noch rund 100 000 Menschen Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben ndash ehedem freie Nomaden herabgewuumlrdigt zu Sozialhilfeempfaumlngern

Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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Gubi verdrieszligt besonders dass er nicht mehr jagen kann Das liegt an seinen laumldierten Knien vor allem aber daran dass er keine nore mehr hat Dieses Wort bezeichnet den raquoPlatz der dir Nah-rung und Wasser gibtlaquo Das Land wird jetzt von weiszligen Farmern oder von der Regierung beansprucht die es schwarzen Volksgrup-pen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat Landbesitz Das klingt in den Ohren von Gubi so absurd als wuumlrde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen Auch die Vorstellung von Zaumlunen und Grenzen laumluft seinem Weltbild zuwider zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia die vom Lagerplatz seiner Groszligfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist raquoDie Baumlume die Buumlsche die Tiere alles ist

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