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Zur Frage des Menschenbildes in derSoziologie
Hans Paul Bahrdt
European Journal of Sociology / Volume 2 / Issue 01 / June 1961, pp 1 - 17
DOI: 10.1017/S0003975600000254, Published online: 28 July 2009
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sondern nur iiber Ausschnitte aus dem Leben bestimmter Men-
schen. Aber kann sie das, wenn sie nicht von einem Menschen-
bild ausgeht, wenn nicht gewisse Vorstellungen iiber die Eigen-
schaften vorliegen, die alien Menschen zukommen, mogen diese
nun aus der eigenen Werkstatt, etwa der soziologischen Grundla-
genforschung, oder aus anderen Disziplinen stam m en : etwa der
Philosophic, der Theologie oder auch aus der Biologie? Konnten
sich, wenn es diese gemeinsame und fur alle Soziologen geltende
Grundlage aller soziologischen Detailaussagen nicht gabe, die
Soziologen iibe rhau pt miteinander un terh alte n? MiiBte es nicht
ein babylonisches Sprachwirrwarr geben, das keine Verstandigung
mehr erlaubt?
Nun ist die Sprachverwirrung innerhalb der Soziologie in der
Tat recht groB. Ferner dies lehrt die Erfahrung gibt es
in der Soziologie sehr viele Mehschenbilder, vielfach in mehr oder
weniger wissenschaftlicher Ausformung, die sich aber gleichwohl
widersprechen. Wir wollen jetzt nicht die Frage erortern, ob ein
Menschenbild, d. h. eine Vorstellung von dem Gesamtmenschen
durch rein wissenschaftliche Bemiihungen allein iiberhaupt ge-
wonnen werden kann. Immerhin gibt es eine Reihe von Men-
schenbildern, die eine wissenschaftliche Systematisierung erfah-
ren haben, die Anspruch auf Richtigkeit im wissenschaftlichen
Sinn erheben und somit nicht nur verschiedenen Inhalt haben,
sondern auch einander widersprechen konnen. Sie alle finden
wir in der Soziologie vertreten; Grundvorstellungen dariiber, was
der Mensch ist, was er sein konnte, was er eigentlich ist, wohin er
tendiert, wovon er entfremdet ist; Vorstellungen aus dem Geiste
des Christentums, des Biologismus, des Marxismus und den ver-
schiedenen sonstigen Humanismen, aus der Existenzphilosophie,
der Psychoanalyse, der philosophischen Anthropologie, die natiir-
lich alle mehr oder weniger die Weichen fur das weitere Denken
des Soziologen stellen. Dennoch glaube ich n icht, daB das in
der Tat schlimme Aneinander-Vorbeireden in der Soziologie seine
Hauptursache in den unterschiedlichen Menschenbildern der
Soziologen hat, obwohl dies laBt sich gar nicht vermeiden
bei fast jedem Soziologen erkennbar ist, welche anthropologischen
Voraussetzungen er macht, und obwohl nicht zu leugnen ist, daB
sich hieraus Konsequenzen fur die Beurteilung von speziellen
Fachfragen und demnach auch Memungsverschiedenheiten ergeben,
die schwer auszuraumen sind. Die wichtigsten, auch die giftig-
sten Kontroversen haben meines Erachtens aber andere, weniger
tiefliegende Ursachen. Zum Teil sind sie auBerwissenschaftlicher
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Natur,z. B. politischer Herkunft; z.T.wurzelnsie in derBevor-
zugung bestimmter Themen und Methoden und der damit ver-
bundenen Neigung, Einzelergebnisse
zu
verallgemeinern, wobei
jeder
auf
eine andere Weise verallgemeinert.
Die
Kontroversen
schleppen sich dann ungelost durch die Jahrzehnte hindurch,
weiles in der Soziologie ahnlich wie in den anderen Geistes-
wissenschaften
oft
sehr schwer
ist,
endiiltig
die
Richtigkeit
oder Falschheit einer Hypothese oder Theorie zu beweisen.
Gelange es in der taglichen Forschungsarbeit, die verwendeten
Methoden undTerminologien besser aufeinander abzu stimmen
was allerdings angesichts
der
Unvermeidbarkeit
des
Methoden-
pluralismus
in der
Soziologie nicht einfach
ist
,
so
wiirde meines
Erachtens derStreit und dieVerwirrungauf einBruchteil zusam -
menschrumpfen, trotz unterschiedlicher Menschenbilder.
Ich glaube, daB Schelsky recht hat, wenn er Gesprachezwi-
schen Soziologen verschiedener weltanschaulicher Observanz auf
der Ebene
der
mittleren Allgemeinheit
d.h.
doch wohl auch
unter Ausklammerung der Menschenbilder) fur moglich und
fruchtbar halt 2). Vielleicht iiberschatzt er ein wenig diese
Moglichkeiten. (Eine solche Uberschatzung wiirde jedenfalls
gut
zu seiner These passen,
daB wir im
Nachkriegsdeutschland
und
auch in einer Reihe anderer Lander in einer nachideologischen
Phase leben.) Jed och : er kann sich auf Erfahrungen berufen.
Und auch andere Soziologen haben
ja
erlebt,
daB man z.B.
sehr
gut mit jugoslawischen und polnischen Soziologen, m anc hm al
auch mit Russen F achgesprache fiihren k an n, auch wenn diese
stramme Marxisten, vielleicht sogar nicht-stalinistische Kom-
munisten sind.
Bei
Sta linisten gelangt freilich
das
Fachgesprach
meist nicht iiber eine gegenseitige Klarung der Standpunkte hinaus
;
aberbeiihnen ist Gesellschaftswissenschaft ja etwas grundsatzlich
anderes
als das, was wir
heute
im
allgemeinen unter Soziologie
verstehen, namlich eine
bis in die
Einzelheiten dogmatisch
ge-
steuerte Exegese kanonischer Schriften.) Es bleibt jedoch das
Faktum bestehen : Soziologen, die ein christliches oder positi-
vistisches oder marxistisches Menschenbild haben, konnen sich
unterhalten, undzwar nicht nu r iiber Detail-Ergebnisse derSozial-
forschung, sondern auch iiber Probleme recht allgemeinen Cha-
rakters.
Ich
konnte
mir
vorstellen, daB sie sogar vergleichend iiber
die soziale Schichtung ostlicher
und
westlicher Industrie-Gesell-
(2) Vgl. H. SCHELSKY, Ortsbestimmung
er
deutschen Soziologie (Diisseldorf, Die-
derichs, 1959).
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schaften diskutieren konnten. Zweifellos wiirden sich termino-
logische Eigenarten nicht ganz koordinieren lassen. Der Marxist
wird auf den Begriff der Klasse nicht verzichten wollen, wo ein
westlicher Soziologe lieber vorsichtig von sozialen Schichten
spricht, weil er den Klassenbegriff zwar nicht ganz ablehnt, aber
sparsamer verwenden mochte. Aber nachdem jeder sich in die
Sprechweise des andern hineingehort hat, ist ein Gesprach eben
auf der Ebene mittlerer Allgemeinheit moglich. Gewichtige, den
ganzen Korper der Gesellschaft betreffende Strukturtende nzen
konnen erortert werden.
I I
Wenn es wahr ist,daBsolche Gesprache gefiihrt werden konn ten,
trotz verschiedener Menschenbilder, d.h. konkret gesprochen :
wenn sie von Partnern gefiihrt werden konnen, von denen der eine
den Menschen als ein sich selbst entfremdetes Wesen ansieht,
das auf dem Wege ist, in dieser Welt die Entfremdung zu iiber-
winden, der andere im Menschen den Sunder sieht, der sein Heil
in dieser Welt auf keinen Fall finden kann, der dritte die Frage
nach Entfremdung oder Siinde als sinnlose, als falsch gestellte
Frage erklart, weil sie mit wissenschaftlichen Mitteln nicht zu
beantworten ist , wenn diese Menschen sich also sinnvoll iiber
gesellschaftliche Strukturprobleme unterhalten konnen, so nnissen
sie doch so mochte man denken von irgendetwas abstrahiert
haben. Es muB moglich sein, die jeweiligen Menschenbilder
bis zu einem gewissen Grade auszuklammern, ohne daB das
wissenschaftliche Gesprach den Boden unter den FiiBen verliert.
Oder aber dies ware ebenfalls moglich -es funktioniert gerade
deshalb, weil es in einem gewissen Sinn bodenlos ist.
Der Verdacht liegt natiirlich nahe, daB bei solchen gelungenen
Gesprachen nur ein oberflachlicher Tagungskonformismus vorliegt,
auf den sich viele Wissenschaftler |ja recht gu t verstehen.
Dennoch lohnt es sich zu fragen, ob die angedeutete Abstraktion
(Ausklammerung) nicht vielleicht konstitutiv fiir das soziologische
Denken iiberhaupt ist. Das wiirde b edeuten : Die V erstandi-
gung, die fiir diejenigen, die sie erlebt haben, ein verbliiffendes
Erlebnis war, kommt deshalb zustande, weil der Soziologe gerade
das ausklammern muB, was ihn von seinem Fachkollegen, der ein
anderes Menschenbild hat, trennt, und zwar nicht, um gut Freund
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mit ihmzusein, sondern weil es die Denkw eise der D isziplin sowieso
erfordert. Mit anderen Worten : DerSoziologe muBvonGesamt-
aspekten des Menschen abstrahieren, d.h. aber auch, er muB
den Menschen umstilisieren, weil sonst
das
soziologische Denken
nicht schliissig, prazis und systematisch ablauft, unddies wie
gesagt nicht desha lb, weil die inhaltliche Pluralitat derausge-
klammerten Aspekte sonst Verwirrung stiften wiirde, sondern
weil
der
Denkansatz
und die
M ethodik
der
Disziplin
es
erfordern,
auch dann, wenn alle Soziologendasgleiche M enschenbild ha tte n.
D.h. : der Soziologe muB mit einem Modellmenschen arbeiten,
von
dem er
weiB, daBdieser nicht
der
ganze Mensch
ist, mit dem
er sich aber bescheidet,
um im
Rahmen
der
Moglichkeiten seines
Fachs exakt arbeiten zu konnen, wobei ihm freisteht, nebenbei
philosophisch iiber die Begrenzthe it soziologischer Aussagen zu
reflektieren.
Dies beh aup tet Ralf Dahrendorf
in
seinem Aufsatz Homo
sociologicus
3). Sowohl zu Beginn als auch gegen Ende des
Aufsatzesist erimmer wieder bem uht, denM odellcharakter dieses
homo sociologicus,d.h.des Menschen, wieersich als F orschun gs-
gegenstand
der
Soziologie darstellt, aufzuzeigen. Gleichzeitig
weist
er
auch immer wieder
auf die
Problem atik solchen Denkens
hin: auf dieParadoxie, diedarin liegt, daB man esnunmehrmit
einem gedoppelten Menschen
zu tun hat,
weil
der
Forscher,
der
selbst
ein
Mensch
ist, auf
eine Vorstellung
vom
Menschen uber-
haupt nicht verzichten kann, ja daB wir mit fortschreitender
EntwicklungderWissenschaften esnichtnur miteinem gedoppel-
ten, sondern
mit
einer Vielzahl
von
homines
zu tun
haben.
Vor
dem homo sociologicusgab es ja schon lange denhomo oecono-
micus, jenen okonomisch rationalen t)bermenschen, von dem kein
Wirtschaftswissenschaftler je behauptet hat, es habe ihn jemals
gegeben,
der
aber
als
Modellmensch
im
Rahmen eines Modell-
systems un entbehrlich ist. Ferner gibtesden homo psychologicus,
der homo politicus taucht schon am Horizont auf : oder hatte
ihn nicht vielleicht schon Macchiavelli konzipiert? (Sein principe
war doch nicht alsProgramm derBosheit gem eint, sondern doch
wohl als so etwas wie einModellfurst). Dahrendorf gibt auch
deutlich zuerkennen, daB sein homo sociologicus* niemals, selbst
wenn
er
sich
mit den
homines
der
ande ren Disziplinen vereinigt,
den ganzen Menschen abgibt.
Wir sind jetzt
in
unserem Gedankengang
an
einem ganz
(3) Ralf DAHRENDORF, Homo sociologicus 3.Aufl. (Ko ln, Wes tdeu tsche r V erlag, 1961).
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anderen Ort angelangt, als an dem, den wir zu Anfang anzusteuern
glaubten. Zuerst meinten wir, die Soziologie miisse ein Menschen-
bild voraussetzen, wenn sie in ihren einzelnen Teilaussagen nicht
auseinanderflattern will. Dan n stellten wir fest, daB dies nicht
der Fall ist, daB es vielmehr eine Vielzahl von Menschenbildern
gibt, aber gleichwohl eine wissenschaftliche Verstandigung auf
einer Stufe mittlerer Allgemeinheit moglich ist. SchlieBlich eror-
terten wir die Moglichkeit, daB es vielleicht sogar notig sei, nicht
nur von der tatsachlichen Vielzahl der Menschenbilder, sondern
auch wenn es dieses gabe von einem gemeinsamen Men-
schenbild zu abstrahieren, weil sonst die Geschlossenheit, Stringenz
und Systematik soziologischen Denkens nicht gelingt. D.h. die
Soziologie darf gar kein Menschenbild voraussetzen, wenn sie als
W issenschaft funktion ieren soil. W ir konnen freilich un d dies
geht aus den allerletzten Betrachtungen hervor diesen Sach-
verhalt auch folgendermaBen formulieren : Die Soziologie besitzt
doch so etwas wie ein Menschenbild, das sie voraussetzt. Dieses
ist aber etwas ganz anderes, als wir sonst unter einem Menschen-
bild verstehen : nicht ein religios oder philosophisch geformtes
Bild vom Menschen iiberhaupt, sondern ein Kunstprodukt, ein
homunculus, ein Modell, das durch einen ReduktionsprozeB
zus tan de kom m t und das sich wie alle methodischen Kunstgriffe
allein durch den Erfolg bei spateren Einzelaussagen rechtfertigt,
das aber niemals hypostasiert werden
darf,
d.h. das niemals als
Aussage iiber den Menschen iiberhaupt, sondern nur als Regulativ
fur Erfahrungsurteile iiber empirisch erforschte Teilaspekte des
menschlichen Lebens verwendet werden
darf.
I l l
Bleiben wir zunachst noch einmal bei Dahrendorfs homo
sociologicus, der mir in der Tat ein wichtiger Vorschlag der ange-
deuteten Richtung zu sein scheint. Was leistet diese Theorie?
Zunachst darauf weist Dahrendorf mit Recht hin schafft sie
einen Elementarbegriff, der auch dem Indiv idu um gerecht wird
bzw. der Ta tsache, daB es Indiv iduen gib t. Die Soziologie
setzt nicht gleich an mit Primargruppen oder mit Beziehungen,
wodurch die Tatsache des Individuums gleichsam bereits von
Anfang an iibersprungen wird. Vielmehr beginnt sie am Schnitt-
punkt des Einzelnen und der Gesellschaft, da, wo der Mensch der
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argerlichen Tatsache der Gesellschaft begegnet. Hier darf man,
ohne Dahrendorf Unrecht zu tun, ruhig die mehrschichtige Be-
deutung des W ortes axgerlich heraushoren : die vordergriind ige,
daB man sich iiber sie argert, aber auch die an den theologischen
Gebrauch des Wortes Argernis gemahnende.
W eiterhin versp richt sich Dahrendorf von der Theorie des homo
sociologicus eine klare und ehrliche Abgrenzung der Soziologie
als Einzelwissenschaft von der Philosophie wie auch von anderen
Einzelwissenschaften. Somit ergibt sich anscheinend endlich eine
sauberliche Grenzziehung und Arbeitsteilung zwischen Soziologie
und Psychologic Man mochte aufatmen, weil nunmehr die Demar-
kationslinie gefunden ist, die den ewigen Heckenschiitzenkrieg
zwischen den Disziplinen beendet.
Noch ein weiteres scheint gewonnen zu sein : Der Mensch als
homo sociologicus, d.h. als einer, der die ihm angetragenen Rollen
verinnerlicht u nd spielt er ist ja so definiert, daB er dies auch tu t
wird zu einer rationa lisierbaren un d kalku lierbaren GroBe. Es
wird zwar nicht von ihm behauptet, daB er wie sein alterer Bruder
aus der Nachbar-Retorte, der homo ceconomicus, stets selbst auf
hochstem rationalen Niveau handelt, wohl aber, daB er sich stets
nach den Regeln, die der Wissenschaftler erforschen kann, verhalt.
Man kann also Verhaltensschemata entwerfen, sie zu groBeren
Gebilden zusammenfiigen, die durch das Gesetz von Ursache und
W irkung zusamm engehalten w erden. Mit anderen W orten : Der
homo sociologicus eignet sich als Aufbau-Element groBer Sozial-
mechanismen, die eine uniibersehbare Zahl von Individuen um-
fassen. Das klingt im ersten Augenblick viel schrecklicher, als
es ist. Diese Mechanismen sind zunachst namlich genau so nur
Modelle wie ihre Aufbauelemente, die homunculi sociologies.
Jeder verniinftige Soziologe, ob er an die Freiheit des Menschen
glaubt oder einem Determinismus huldigt, weiB, daB diese um-
fassenden mechanistischen Gebilde, die er erdenkt, nicht die
soziale Wirklichkeit in ihrem ganzen Reichtum abbilden konnen.
Andererseits beno tigt er solche mechanistischen GroBmodelle,
wenn es iiberhaupt Theoriebildung, ja, wenn es nu r Hy pothesen-
bildung fur die empirische Forschung geben soil. Freilich gibt
es nicht wenige Soziologen, die sich an dieser Frage nach der Rolle
des kausalen Denkens in der Soziologie vorbeizudrucken versuchen.
Den kausalen Charakter, die mechanistische Struktur, die auftritt,
wenn das soziologische Denken iiber die bloBe Deskription hinaus
zu den Zusammenhangen der Phanomene vorstoBt dieses
Kausaldenken, das gar nicht vermeidbar ist, wenn gesellschaftliche
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Massenerscheinungen erklart werden sollen, bei denen Hundert-
tausende von Individualitaten aufsummiert und eingeebnet werden,
mochten manche Soziologen nicht wahrhaben. Sie sprechen
dann etwa von Motivationszusammenhangen, die angeblich etwas
ganz anderes als Kausalzusammenhange sein sollen (was mir
zweifelhaft erscheint), wahrend sie diese Motivationszusammen-
hange in Wahrheit angesichts der Vielzahl der eingeebneten Ein-
zelfalle gar nicht vergegenwartigen konnen. Oder sie stellen neben
in Wahrheit kausal verknupfte Gedankenketten immer wieder die
bloBe Behauptung, es handele sich hier natiirlich nicht um Kau-
salitat, oder nicht um wirkliche Kausalitat, und beteuern die Frei-
heit des Menschen, der alles auch anders tun konnte, als er es
gottseidank fur die Forschung mit hoher statistischer Wahr-
scheinlichkeit tut. Mir scheint, daC hier die Theorie vom kausal
verwendbaren homo sociologicus Klarheit verbreiten hilft. Bei
dem Herum reden u nd Vorbeidriicken an der F rage, ob der Soziologe,
wenn er umfassende Sozialerscheinungen und Prozesse erklart
bzw. hypothetisch vorklart, kausal denkt, macht man sich in der
Regel eines nicht klar, namlich daB man die menschliche Freiheit
(die Fahigkeit, eine neue Kausalreihe zu beginnen) gar nicht in den
wissenschaftlichen Ansatz hineinnehmen kann. Es liegt hier das
vor, was ich manchm al eine nega tive Koffertheorie nenne. Nicolai
Hartmann nannte manche Theorien in der Philsophie polemisch
Koffertheorien. Man pac kt zunachs t in einen Koffer a lle mo-
glichen Gedanken ein, begibt sich mit ihm auf eine Gedankenreise
und ist stolz, wenn m an, am Ergebnisort angelangt, alles, was m an
in den Koffer eingepackt hat, auch wieder auspacken kann. In
unserem Fall liegt der umgekehrte Fall vor : Was ich in meinen
Koffer nicht eingepackt habe und die menschliche Freiheit,
verstanden als die Fahigkeit jedes einzelnen, so oder so zu handeln,
paBt nicht in den Ansa tzde r Er klaru ng sozialerMassenphanomene
kann ich nicht wieder auspacken. Auch ein statistischer Kausali-
tatsbegriff wiirde da s Problem verschm ieren. D ie Theorie vom
homo sociologicus schafft hier kla re Ve rhaltn isse. Wir sind
uns von Anfang an dariiber im klaren, daB wir es mit einem
Menschen zu tun haben, der den verhiillten oder unverhiillten
Anspriichen kausaler Erklarung von Sozialphanomenen entspricht :
dieser Modellmensch ist kalkulierbar : er entsp richt den empirisch
erforschbaren Rollenerwartungen, die die Gesellschaft an ihn
herantragt. Wie er das macht, ist Sache der Psychologie. Und
den Zweifel daran, ob der wirkliche Mensch es auch so halt wie
unser Modellmensch, delegieren wir an die Philosophic, nicht
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unbedingt an die Fachvertreter fur Philosophie im Institut
nebenan : moglicherweise philosophiert der Soziologe ja auch
selbst und bewahrt sich damit die Chance, die Bedingungen seiner
eigenen Disziplin zu relativieren.
Nun sind die Gedanken Dahrendorfs und die Konsequenzen,
die ich daraus zog, keineswegs Gemeingut aller Soziologen. Im-
merhin, der Begriff der sozialen Rolle und die Betrachtung des
Menschen als Trager von sozialen Rollen scheint sich zu verbreiten.
Es scheint auch so, als ob das Bediirfnis, eine Abgrenzung zur
Philosophie und zur Psychologie zu suchen und die Meinung, da6
diese zu finden sei, recht haufig anzutreflen ist. U nd ich k onnte
mir gut vorstellen, daB die Rollentheorie, die meines Erachtens
von Dahrendorf recht konsequent weitergedacht ist, dazu bei-
tragt, daB ein Teil der jiingeren Soziologengeneration bald zu der
Ansicht gelangt, endlich habe die Soziologie die Mutterbindung
an die Philosophie gelost und sei nun eine erwachsene autonome
Wissenschaft geworden.
IV
Ich hege aber Zweifel, ob dieses Ziel wirklich auf diesem Wege
erreicht wird, ja, daB es iiberhaupt erreicht werden kann. Ich
mochte diesen Zweifel durch die Darlegung einer Frage erlautern,
auf die Dahrendorf in seinem A ufsatz n icht eingegangen ist. Diese
Frage zeigt meines Erachtens, daB die Theorie vom homo socio-
logicus nicht geschlossen ist, ja wohl auch nicht zu schlieBen ist.
Die Frage, wie das Individuum es macht, daB es eine Rolle sich
zu eigen macht (durch Verinnerlichung internalization) wird
als innerpsychischer Vorgang, wenn ich Dahrendorf recht ver-
stehe, dem Psychologen iiberlassen. Ich glaube, daB es ein Fehler
ware, dem Psychologen die Klarung dieser Frage ganz allein zu
iiberlassen. In diesem Zusammenhang taucht namlich noch eine
zweite Frage auf, namlich in welcher Weise Rollenerwartungen dem
Individuum gegeben sind. Wir wollen jetzt einmal eine Situation
annehm en, in der kein AnlaB bes teh t, daB das betroffene Ind ivi-
duum den vorher vorsorglich ausgeklammerten zehnten Charakter
Musils oder den intelligiblen Charakter* Kants ins Spiel bringt.
Es soil kein Rollenkonflikt vorliegen, in dem vielleicht plotzlich
doch das Individuum auf sich selbst zuriickgeworfen wird und
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im Vollzug einer Entscheidung das Vorhandensein eines freien
Willens erlebt. Wir wollen eine ganz banale Situation annehmen,
in der ein Individuum nichts anderes vorhat, als einer recht alltag-
lichen Verhaltenserwartung gema.6 der ihm vorgegebenen Rolle
ganz bieder un d konformistisch zu entsprechen. N ehmen wir
an, ein Priva tdozent h at die Absicht, ein Fak ultatsfe st zu besuchen,
bei dem es tunlich ist, einen dunklen, jedoch nicht einen schwarzen
Anzug zu tragen. Er besitzt den entsprechenden Anzug, jedoch
benotigt er eine neue Krawatte. Er geht in ein Herrenmodenge-
schaft und muB nun unter vielleicht hundert Schlipsen den rich-
tigen auswahlen. Asthetische Momente spielen eine nur geringe
Rolle : Es ist rasch gek lart, daB alle K raw atte n m it Blau- oder
Griinelementen zu seinem Anzug nicht passen. Alle andern kom-
men rein farblich betrachtet in Frage. Schwieriger ist eine andere
Frag e : W as fur eine K raw at te erw arte t m an (d.h. [die Bezugs-
gruppe der Fakultat) bei einem Privatdozenten, der bei einer
feierlichen Gelegenheit wie andere auch einen dunklen,
jedoch nicht schwarzen Anzug tragt. Was hier erwartet wird,
weiB der Privatdozent recht gut : Die Krawatte soil dezent sein.
Der Dozent hat nicht die geringste Absicht, eine nichtdezente
Krawatte zu warden. Weder ein geheimes Oppositionsbediirfnis,
noch der Wunsch, durch einen snobistischen Umweg iiber eine
auffallende K raw atte um die Gun st der Fa ku lta t bzw. der Fa ku l-
tatsdamen zu buhlen, regt sich in seinem Herzen. Aber welche
Krawatte unter den 40 Krawatten, die nach Ausschalten der
farblich unpassenden iibriggeblieben sind, ist dezent? Das ist
gar nicht so leicht zu entscheiden. Der Kraw atteneinkauf wird
zur Qual. Aber was soil das heiBen : Findet hier denn eine
Entsche idung sta tt? Es geht doch nu r um die Erfullung einer
Ro llenerw artung. Unser Priv atdo zen t ist in diesem Augenblick
anscheinend mit dem homunculus sociologicus vollig identisch.
Er reagiert wie eine Marionette, bzw. er mochte wie eine Mario-
nette reagieren, aber leider sind die Faden, an denen er hangt,
unvollstandig. Die Rollenerwartung, die Norm, dezente Kra-
watten zu tragen, ist ihm nur abstrakt gegeben. Wohl kann er
sich Dezenz auch konkretisiert vorstellen : Er hat es langst gelernt,
wie man als Nachwuchskollege auf einem KongreB mit Ordinarien
verkehrt. Aber leider weiB er nicht, wie dezente Krawatten aus-
sehen. Er hat noch nie darauf geachtet. Er kann sich nur auf
die Krawatten seines sonst ebenfalls recht dezent auftretenden
jiingeren Institutskollegen besinnen. Dieser ist aber ein ganz
weltfremder G elehrter, der unbesehen die grellbunten K raw atten
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tra gt, die ihm seine B rau t schenkt. E r ha t also keine anschaulichen
Vorbilder.
Es liegt also eine Rollenerwartung vor. Das Individuum will
ihr entsprechen. Um ihr zu entsprechen, muB es aber erst die
Erwartung, die nur abstrakt gegeben ist, konkretisieren. Diese Rol-
lenkonkretisierung ist seine eigene Leistung; sie ist nahezu ein
Stuck Arbeit, die ihm von niemand abgenommen wird. Er wird
diese Leistung der Rollenkonkretisierung vollbringen und das ist
je tz t wichtig dam it selbst ein Stuck gesellschaftliche W irklichkeit
schaffen. Die Rollenerwartung, dezente Schlipse bei Fakultats-
festen zum dunklen Anzug zu tragen, wurde in der abstrakten
Form namlich nicht nur an ihn herangetragen, sondern auch an
andere Kollegen. Indem er nun fur seine Person die konkrete
dezente Krawatte findet und umbindet, schafft er moglicherweise
fur einen anderen, der der gleichen abstrakten Forderung entspre-
chen muB, eine neue Situation : Fiirderhin gibt es fur diesen nicht
nur allein die abstrakte Forderung : Man tragt bei der Gelegenheit
x eine dezente Krawatte, sondern dazu noch ein anschauliches
Vorbild : ... etwa eine solche, wie der Privatdozent y beim letzten
Fakultatsfest getragen hat.
Damit wird die Krawattenwahl des Kollegen ohne Zweifel
erleichtert, moglicherweise aber auch inhaltlich beeinfluBt. Es
konnte namlich sein, daB er bei dem Akt der Rollenkonkreti-
sierung, bei dem er ja doch die recht dtirftige Rollenanweisung
vervollstandigen, auffullen muBte, ganz unbewuBt ein neues
Moment ins Spiel gebracht hat, vielleicht ein neues Piinktchen-
Muster, das zwar keineswegs auffallend ist sonst hatte er es
nicht gewahlt , aber das doch gerade erst in diesem Jahr auf
den Markt gekommen ist. Indem er es wahlt, fiihrt er es ein
und tragt dazu bei, daB sein Kollege, der ebenfalls angstlich um
Dezenz bemiiht ist, das nachste Mai nicht eines der bisher vorherr-
schenden Streifenmuster wahlt. Das wurde aber bedeuten :
auch das konformistischste Verhalten, das nur die Intention hat,
den angetragenen Rollenerwartungen zu entsprechen, kann
weil es gelegentlich fur den Bedarf der aktuellen Situation die Rolle
erst vervollstandigen muB nicht umhin, durch konkrete Veran-
schaulichung neue Elemente in das soziale Verhalten anderer
Menschen hineinzubringen. Ein Verhaltensmuster wird gewis-
sermaBen durch ein neues Pun ktch eno rnam ent bereichert.
Was wir jetzt an dem scheinbar abseitigen Beispiel des Kra-
wattenkaufs durchgespielt haben, hat aber eine ganz allgemeine
Bedeutung. Vorgeformte Rollenerwartungen sind fast niemals so
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ausgeformt, daB sich aus ihnen das vollstandige Verhalten in einer
aktuellen Situation abziehen laBt. Im Gegenteil : Ein Teil der
Erwartungen, der in Gestalt von Normen tradiert wird, muB, um
iiberhaupt tradierbar zu sein, auf einer gewissen Abstraktionsstufe
in einfache kurze Formeln gefaBt sein.
Andere Erwartungen sind anschaulicher gegeben, z.B. als
lebende Vorbilder. Aber diese kann man nicht genau kopieren.
Es ist jedesmal ein UmsetzungsprozeB notig. Meist gibt es keine
Antwort auf die Frage W as h a t dieser Mensch in der gleichen Situa-
tion getan? Man muB vielmehr die Ph antas ie bem uhen un d fra-
gen : W as wiirde er in dieser S ituation t un ? Andere Erw artung en
formulieren sich iiberhaupt nicht positiv. Sie sind nur miihsam
zu erschlieBen aus abfalligen Urteilen und unfreundlichem Verhal-
ten, die auftreten, wenn den Erwartungen nicht entsprochen wird.
Wir wollen hier noch an einen weiteren Fall denken, der in
unserer stark industriell und biirokratisch gepragten Welt recht
haufig vorkommt. Manche Rollenerwartungen sind nicht nur
allgemein und abstrakt, sondern gleichzeitig auch auBerordentlich
ausfiihrlich formuliert, so daB anscheinend jede einzelne zur Rolle
gehorige Handlung des Individuums ausdriicklich geregelt ist.
Wir kennen viele industrielle und biirokratische Arbeitsvollziige,
bei denen jeder Handgriff und die Sekundenzahl, die fur ihn ge-
braucht wird, vorgeschrieben ist. In Dienstvorschriften, Arbeits-
ordnungen und Akkordplanen wird dies festgelegt, gleichzeitig
auch ein Verbot ausgesprochen, die Arbeit in anderer Weise durch-
zufuhren. Nun konnte man allerdings fragen, ob detaillierte
Vorschriften dieser Art noch als Verhaltenserwartungen im Sinne
der soziologischen Rollentheorie anzusprechen sind, ob sich nicht
der Soziologe mit der allgemeinen Verhaltenserwartung, die an
die Rolle eines fleifiigen Arbeiters oder Buroangestellten gekniipft
wird, begniigen soil. Ich glaube, daB man diese Frage hier nicht
zu bean two rten bra uch t. Es laBt sich namlich nicht leugnen,
daB die soziale Grundsituation, nach Dahrendorf die Begegnung
des Individuums mit der argerlichen Tatsache der Gesellschaft,
ganz verschieden aussieht, je nachdem, ob die Rollenerwartung
in Gestalt einer einfachen abstrakten Norm, oder, wie in dem oben-
genannten Fall, zwar auch aus allgemeinen abstrakten Forderun-
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gen besteht, die aber mit beinhalten, dafi die Nichtbeachtung
zahlloser Detailvorschnften ein VerstoB gegen die Norm uberhaupt
ist. Der Eigenbeitrag, den das Individuum in der Absicht, den
Erwartungen zu entsprechen, zu leisten hat, besitzt jeweils ver-
schiedenen Umfang und verschiedene Qualitat. Einmal muB
es Phantasie haben, um die Erwartungen zu vervollstandigen;
das andere Mai muB es die Gabe der Transposition von einer
anschaulich vorgegebenen Situation auf eine andere besitzen,
wozu eine Abstraktionsgabe gehort. Das dritte Mai muB es
spezielle Einiibungen vornehmen, eine Fiille von Einzelanwei-
sungen in Fleisch und Blut iibergehen lassen, sie habitualisieren
und dann vergessen, da es sonst der Gesamterwartung gar nicht
in der routinierten und fliissigen Weise entsprechen kann, wie von
ihm erwartet wird. Es gibt, wenn wir an industrielle Arbeits-
vollziige denken, aber noch eine weitere Moglichkeit, die gar
nicht so selten auf tritt. Es gibt Akkordplane, ja ganze Akkord-
systeme, die so detailliert und gleichzeitig so voller Unkenntnis
der betrieblichen Wirklichkeit sind, daB kein Arbeiter sich genau
nach alien Vorschriften richten kann, wenn er in der erwarteten
Zeit mit der Arbeit fertig werden will (4). Die Plane setzen einen
Grad von Storungsfreiheit sowohl im organisatorischen als auch
im technischen Bereich des Betriebes voraus, der fast nie gegeben
ist. Aber selbst wenn ausnahmsweise alles so reibungslos zugeht,
wie im Akkordplan, der mit Hundertsteln von Minuten rechnet,
vorgesehen ist, konnte kein Mensch, ohne nervlich oder physisch
oder seelisch zusammenzubrechen, so gleichmaBig und kontinuier-
lich arbeiten, wie es bei diesen hypermodernen Methoden der
Arbeitsvorbereitung vorgesehen ist. Die Folge ist : Die Arbeiter
arbeiten anders. Sie haben zwar keine reale Chance, durch Be-
schwerde oder Widerstand das System zu andern. Jedoch ge-
wohnen sie sich an zahllose Tricks, Heimlichkeiten, gegenseitige
Hilfen, Verschleierungen, t)bertretungen von Unfallvorschriften
und verdienen schlieBlich freilich auf ganz andere Weise
das Geld, das ihnen der Akkordplan verspricht. Da sie in der
vorgesehenen Zeit stets das Arbeitsergebnis vorlegen, das verlangt
wird, glauben die Vorgesesetzten, daB auch nach Plan gearbeitet
wurde und daB das System sich bewahrt ha t. In W ahrh eit zieht
sich mitten durch den Betrieb eine unsichtbare Wand, durch die
(4) Der Verfasser verd ank t He rrn Kon rad M anuskript ausarb eitet, viele Hinweise
Thom as aus Mannheim, der seine Indu- und M itteilungen fiber die Situation des
strieerfahrungen als Arbeiter z.Zt. in einem Ak kordarbe iters in der Metallindustrie.
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keine Informationen dringen. Manchmal steht der Meister oder
Abteilungsleiter diesseits der Wand und halt dicht nach oben.
Manchmal steht er jenseits der Wand und ahnt nur ein wenig
von den Tatsachen. Jedenfalls gibt es zwei betriebliche Wirk-
lichkeiten : die eine, auf die das gesam te Betriebssystem aufgebaut
ist, die von den Trag ern des System s u nd auch von der Offentlich-
keit und den meisten Betriebssoziologen fur wirklich gehalten
wird, und die deshalb ja auch einen gewissen Wirklichkeitsgehalt
hat, denn ihr entspricht Stellenwert und Funktion des Industrie-
betriebes im Gesamtsystem der Gesellschaft. Und dann gibt es
eine zweite Wirklichkeit : namlich die tatsachlichen Geschehnisse
am Arbeitsplatz.
Um jetzt auf unser Thema zuriickzulenken : Die soziale Grund-
situation des Arbeiters, der un ter solchen Bedingungen arbeitet,
ist von der Ar t, da8 er den vorgeformten Verhaltenserwartungen
nur dann entsprechen kann, wenn er sich standig gegen die mit den
Erwartungen verbundenen Vorschriften vergeht. Fur diese Uber-
tretungen gibt es langst vorgeformte Verhaltensmuster, die im
Kollegenkreis gelten und fleiBig tradiert werden. Gleichwohl
benndet er sich in einem Zwiespalt. Er kann sich zwar bis zu
einem gewissen Grade an den Zwiespalt gewohnen. Er kann das
BewuBtsein von der Absurditat seines alltaglichen Lebens ver-
dran gen . E r muB es vielleicht sogar, d enn kein Mensch kann auf
die Dauer in der Absurditat leben. Der eine oder andere Arbeiter
ist moglicherweise so vital, daB er aus dem innerbetrieblichen
Waldgangertum einen Sport macht. Andere werden durch den
Zwiespalt bzw. den Zwang zur Verdrangung und zur Gewohnung
an Absurdes allmahlich aufgerieben. Auf jeden Fall tragt eine
solche Existenz nicht gerade dazu bei, sich als voll integriertes
Mitglied des Be triebes und der Gesellschaft zu fiihlen. Und mir
scheint, daB hier eine Ursache dafur zu suchen ist, daB so viele
Arbeiter ein nach wie vor dichotomisches Bild der Gesamtgesell-
schaft haben, daB sie trotz vieler sozialer Fortschritte, trotz der
Uberwindung der okonomischen Proletaritat, trotz der Ubernahme
burgerlicher Konsumgewohnheiten zum mindesten in ihrer Menta-
lita t bisher nich t Kleinbiirger der nivellierten Mittelstandsgesell-
schaft sind.
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Um jetz t zusamm enzufassen : Die Unterschiedlichkeit der
Gegebenheitsweise, vor allem die verschiedene Ausfuhrlichkeit der
Formulierung von Rollenvorschriften bringt das Individuum in
untersch iedliche Ausgangspositionen bei der jeweiligen Obernahme
einer Rolle. Je nach Lage muB es einen groBeren oder geringeren
Eigenbeitrag leisten, um die vorgeformte Rolle iiberhaupt iiber-
nehmen zu konnen. In welcher Weise diese Ubernahme geschieht,
ist ohne Zweifel auch ein Thema der Psychologic Ich wiirde
sogar beh aup ten, daB dieser Vorgang ohne psychologische K ate-
gorien gar nicht ausreichend im konkreten Fall beschrieben werden
kann. Verdrangung, Habitualisierung, Einubung, Phantasie
zur Veranschaulichung, Abstraktionsleistung, all diese Begriffe
rufen nach dem Psychologen. Ohne seine Hilfe laBt sich wohl
auch nur schwer die emotionale Befindlichkeit des jeweih'gen
Rollentragers beschreiben, die ihm eigen ist, wenn er die Rolle
schlieBlich ha t, wenn er sie verinnerlicht hat und nun sozialisiert
ist. Andererseits ist aber der Vorgang der Rolleniibernahme
ebensosehr ein Zentralthema der Soziologie. Denn nach unseren
bisherigen Betrachtungen ergibt sich, daB das weitere Verhalten
des sozialisierten Rollentragers in starkem MaBe davon mit-
best immt is t :
erstens dadurch , wie groB seine Eigenleistung bei der Konkre-
tisierung der Rollenerwartung war,
zweitens durch die Art der Eigenleistung, ob sie z.B. mehr
den Charakter der Entfaltung oder Spezialisierung der eigenen
Krafte hatte,
drittens durch die Frage, inwieweit die Rollenerwartungen
iiberhaupt von der Art sind, daB ihnen ein Mensch vollstandig
entsprechen kann, oder ob sie den Menschen zur Verschleierung,
Umdeutung oder Verdrangung zwingen, damit entweder nur
nach auBen hin oder auch fiir ihn selbst halbwegs eine Erfiillung
der Rollenerwartungen zustande kommt.
Je nachdem, was der nicht voll anpassungsfahige Mensch, der
nur begrenzt spezialisierbar ist, der Mensch als das Wesen, das
die speziellen Fragen des Lebens niemals genau und speziell
beantworten kann, sondern immer mehr antworten muB, als er
gefragt wird je nachdem, was dieser unbequeme Mensch, wie er
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sich uns im Licht de r philosophischen Anthropologie dar stellt,
erlebt, wenn er die ihm angetragenen Rollen iibernimmt, je
nachdem, was er mit einbringt und auf was er verzichtet, wird
er eine Quelle sozialer Dynamik sein. Schon die vollig kon-
formistische Konkretisierung und Transposition von Rollenerwar-
tungen in konkretes Verhalten formt und modifiziert selbst die
Erwartungen in ihrer Gegebenheitsweise fur die Allgemeinheit
und beeinfluBt damit indirekt das Verhalten anderer Menschen.
Am starksten ist die Modifikation selbstverstandlich dort, wo die
totale Erfiillung der Rollenerwartungen nicht moglich ist. Dies
tr it t wie gesagt nicht nu r im Fall des Rollenkonflikts ein,
der als Quelle sozialer Dynamik unbestritten ist, sondern mitunter
schon im Fall der Sozialisierung im Hinblick auf eine einzige Rolle.
D.h., ein zwingender AnlaB zur Veranderung sozialer Verhaltens-
weisen liegt nich t nu r da vor, wo widersprechende soziale K raft e
in Gestalt entgegengesetzter Rollenvorschriften aufeinandertreffen,
sondern m itun ter bereits dort, wo iiberhaupt das Individuum
eine Rolle iibernehmen muB. Es ist richtig, die Soziologie dort
beginnen zu lassen, wo das Individuum der argerlichen Tatsache
der Gesellschaft begegnet. Diese Begegnung istaber ein Vorgang.
Dieser Vorgang muB auch den Soziologen interessieren, denn in dem
Vorgang liegt sehr oft die Quelle fur neuartig e soziale V erhaltens-
weisen, und zwar nicht nur der Einzelnen, sondern auch ganzer
Gruppen, da der ProzeB der Rollenubernahme sehr oft gruppen-
typisches Geprage hat.
Daraus ergibt sich, daB die sauberliche Trennung von Soziologie,
Psychologie und Philosophie, wie sie scheinbar durch die Theorie
des homo sociologicus angeboten wird , nicht durchgehal ten
werden kann. Die Grenzkampfe zwischen den Disziplinen werden
also wohl weitergehen.
Das Ergebnis unserer Betrachtung ist fur unsere Disziplin
nicht eigentlich erfreulich : Es scheint so, als ob der schon lange
andauernde Zustand der halben Autonomie bei verbleibender
starker Mutterbindung an die Philosophie nicht so rasch beendet
werden kann. Auch der Methodenpluralismus, der die innere
Konsolidierung der Soziologie verhindert, wird sich nicht beseitigen
lassen. Ein eindeutiges Menschenbild besitzt die Soziologie eben-
falls nicht. Sicher werden auch weiterhin hochst unterschiedliche
Menschenbilder durch die Soziologie geistern : Dafiir sorgt die
oben erw ahnte Verkniipfung m it de r Philosophie wie auch die unver-
meidliche politische Relevanz vieler soziologischer Fragestellungen.
Ein wenig Ordnung in die Diskussion vieler Fragen konnte das
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geschilderte instrumentale Menschenbild, der zu Forschungs-
zwecken entwickelte homo sociologicus, bringen. Er erweist sich
als niitzlich, wenn es darum geht, soziale GroBphanomene in ein
kausales Erklarungsschema zu bringen. Und ich deutete an,
daB wir ohne solche Schemata nicht auskommen und uns deshalb
auch zu ihnen bekennen sollten. Aber dieses Modell laBt uns
wieder im Stich, wenn wir einzelne soziale Verhaltensweisen genau
analysieren wollen. Dazu sind wir jedoch gezwungen, wenn wir
der eigentiimlichen Explosivitat und Unberechenbarkeit gesell-
schaftlicher Bewegungsvorgange auf die Spur kommen wollen.
Dann gleitet die soziologische Betrachtungsweise hiniiber in die
anthropologische : Ein anderes Menschenbild wird bemuht, das
uns wiederum nichts niitzt, wo wir kausal denken miissen.