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    Begleitmaterial zu

    »Sommernachtstraum« Ballett von Tim Plegge nach William Shakespeare

    Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy, Bernd Alois Zimmermann, John Adams und anderen

    Hessisches Staatsballett

    für Schülerinnen und Schüler ab der 7. Klasse

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    Liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebes Publikum,

    wir freuen uns, Sie auf den folgenden Seiten auf unsere diesjährige Ballettproduktion

    von Tim Plegge einstimmen zu dürfen!

    Wir wollen Ihnen mit dieser Mappe die Möglichkeit geben, sich selbst und Ihre Schüler

    auf das Stück vorzubereiten. Deshalb finden Sie neben einigen

    Hintergrundinformationen auch Anregungen, wie Sie den Theaterbesuch mit Ihren

    Schüler*innen vor- und nachbereiten können.

    Diese Materialsammlung ist in erster Linie konzipiert für Pädagogen und Pädagoginnen

    an Schulen.

    Herzliche Grüße,

    Nira Priore Nouak, Tanzvermittlung

    Dieses Material wurde zusammengestellt mit der Unterstützung von Brigitte Knöß,

    Luisa Schumacher und Laura Zur Nieden

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    Inhaltsverzeichnis:

    Angaben zum Stück 4

    Die Besetzung 5

    Die Musik 6

    Von der Idee zur Choreografie 7

    Bilder der Handlung 8

    Die Handlung 9

    Das Bühnenbild 11

    Die Kostüme 11

    Dramaturgie 13

    Interview mit Tim Plegge 16

    Sekundäre Literatur 18

    Anregungen zur Vor- und Nachbereitung des Theaterbesuchs 23

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    Angaben zum Stück

    »Sommernachtstraum«

    Ballett von Tim Plegge

    nach William Shakespeare

    Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy, Bernd Alois Zimmermann, John Adams und anderen

    Choreografie Tim Plegge

    Bühne Frank Philipp Schlößmann

    Kostüme Judith Adam

    Dramaturgie Brigitte Knöß

    Choreografische Assistenz Uwe Fischer, Gianluca Martorella

    Uraufführung am 19. Februar 2017, Hessisches Staatstheater Wiesbaden

    Es spielt das Hessische Staatsorchester Wiesbaden. Musikalische Leitung Benjamin Schneider

    Premiere am 18. März 2017, Staatstheater Darmstadt

    Es spielt das Staatsorchester Darmstadt. Musikalische Leitung Michael Nündel

    Dauer ca. 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

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    Die Besetzung

    Choreografie Tim Plegge

    Bühne Frank Philipp Schlößmann

    Kostüme Judith Adam

    Dramaturgie Brigitte Knöß

    Choreografische Assistenz Uwe Fischer, Gianluca Martorella

    Puck Guido Badalamenti // Masayoshi Katori

    Hermia Ezra Houben // Lara Misó Peinado

    Lysander David Cahier // Denislav Kanev

    Helena Miyuki Shimizu // Clémentine Herveux

    Demetrius Igli Mezini // Tatsuki Takada // Aaron Shaw

    Oberon Ramon John // Pablo Girolami

    Titania Ludmila Komkova // Carolinne de Oliveira

    Egeus Taulant Shehu // Tatsuki Takada

    Zettel Denislav Kanev // James Nix

    Hochzeitsplaner

    Pablo Girolami, James Nix, Gaetano Vestris Terrana, Kristin Bjerkestrand, Elisabeth Gareis //

    Aaron Shaw, Jorge Moro Argote, Guido Badalamenti, Polett Kasza, Aurélie Pariarca

    Elfen

    Seraphine Detscher, Livia Gil, Margaret Howard, Stellina Nadine Jonot, Polett Kasza, Aurélie

    Patriarca // Ezra Houben, Miyuki Shimizu, Ludmila Komkova, Kristin Bjerkestrand, Elisabeth

    Gareis

    Alexander Cyr, Pablo Girolami, Masayoshi Katori, Jorge Moro Argote, James Nix, Gaetano Vestris

    Terrana // David Cahier, Aaron Shaw, Ramon John, Taulant Shehu

    Hochzeitsgesellschaft

    Clémentine Herveux, Carolinne de Oliveira, Lara Misó Peinado, Tatsuki Takada, Jorge Moro

    Argote, Masayoshi Katori, Aurélie Patriarca // Ezra Houben, Miyuki Shimizu, Ludmila Komkova,

    Taulant Shehu, Aaron Shaw, Guido Badalamenti, Elisabeth Gareis

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    Die Musik

    Hessisches Staatsorchester Wiesbaden . Musikalische Leitung Benjamin Schneider

    Staatsorchester Darmstadt . Musikalische Leitung Michael Nündel

    1. Akt

    Felix Mendelssohn Bartholdy Ein Sommernachtstraum op. 21, Ouvertüre

    Ruy Blas Ouvertüre op. 95

    Ein Sommernachtstraum op. 61, Marcia funebre

    John Adams Absolute Jest, I. Beginning

    Bernd Alois Zimmermann Un »petit rien«, II. Métamorphose lunaire I

    Felix Mendelssohn Bartholdy Die Heimkehr aus der Fremde op. 89, Ouvertüre

    Alfred Schnittke Gogol-Suite für Orchester, I. Ouvertüre (Bearbeitung: G. Roschdestwenski)

    Andrzej Panufnik Lullaby (Kolysanka)

    Bernd Alois Zimmermann Suite aus Das Gelb und das Grün, III. Kleiner Walzer

    Felix Mendelssohn Bartholdy Ein Sommernachtstraum op. 61, Elfenmarsch

    Frank Bridge Berceuse

    Bernd Alois Zimmermann Un »petit rien«, IV. Métamorphose lunaire II

    Felix Mendelssohn Bartholdy Sinfonie Nr. 3 in a-Moll op. 56 Schottische, I. Andante con moto

    Ein Sommernachtstraum op. 61, Scherzo

    Bernd Alois Zimmermann Suite aus Das Gelb und das Grün, II. Burleske

    Felix Mendelssohn Bartholdy Ein Sommernachtstraum op. 61, Scherzo

    Bernd Alois Zimmermann Un »petit rien«, IV. Petite valse lunaire

    Alfred Schnittke Gogol-Suite für Orchester, IV. Der Soldatenmantel

    Bernd Alois Zimmermann Suite aus Das Gelb und das Grün, IV. Marsch

    Un »petit rien«, I. Ouverture des belles de la nuit

    Alfred Schnittke Gogol-Suite für Orchester, III. Das Portrait

    Franz Schubert

    Luciano Berio Rendering for orchestra D 936 A, 1. Allegro

    Felix Mendelssohn Bartholdy Sinfonie Nr. 4 in A-Dur op. 90 Italienische, IV. Saltarello: Presto

    Ein Sommernachtstraum op. 61, Intermezzo

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    2. Akt

    Dmitri Schostakowitsch Allein op. 26, Musik zum Stummfilm, Storm Scene: Calm after the

    Storm

    Frank Bridge The Sea Suite für Orchester, II. Sea Foam

    Felix Mendelssohn Bartholdy Ein Sommernachtstraum op. 61, Notturno

    Bernd Alois Zimmermann Suite aus Das Gelb und das Grün, VI. Epilog

    Dmitri Schostakowitsch Hamlet Suite für Orchester op. 116a, Ball im Palast

    (Bearbeitung: Lewon Atowmjan)

    Felix Mendelssohn Bartholdy Hochzeitsmarsch, Variationen 1–6 (Bearbeitung: Peter Heidrich)

    Ein Sommernachtstraum op. 21, Ouvertüre

    Von der Idee zur Choreografie

    Ordnung und Chaos einer Sommernacht:

    William Shakespeare stellt in A Midsummer Night’s Dream eine geordnete Welt einer

    ungeordneten gegenüber. Hier Klarheit, dort Dunkelheit. Hier Kontrolle, dort Triebhaftigkeit.

    Hier Harmonie, dort Verrücktheit. Hier Vernunft, dort Fantasie. Hier Moral, dort Magie. Diese

    Pole konkretisiert Shakespeare im Feenreich des Waldes mit seinem anarchischen Chaos

    einerseits und im Herzogtum Athen mit seiner rationalen Ordnung andererseits.

    Tim Plegges »Sommernachtstraum«, bleibt im shakespeareschen Universum, auch wenn er das

    Geschehen in unsere Zeit und in eine bürgerliche Gesellschaft überträgt. Es sind junge Menschen

    an der Schwelle zum Erwachsen-Sein, die er durch eine Nacht voller Überraschungen begleitet.

    Vier Jugendliche, die sich selbst verlieren, um sich zu finden, und die schließlich Regeln

    akzeptieren, ohne ihre Freiheit preiszugeben.

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    Bilder der Handlung

    1. Akt

    Im Hause Egeus: Hochzeitsvorbereitungen.

    Den lieb ich. Den lieb ich nicht.

    Nichts wie weg.

    Nachts im Wald: Wilde Wesen. Wüstes Treiben.

    Was dir ist, soll mir gehören.

    Rache mit Zauberkraft.

    Auf der Flucht.

    In den Schlaf gewiegt.

    Verzaubert.

    Geweckte Triebe.

    Geheime Probe.

    Verliebt in einen Esel.

    Eifersucht und Liebesrausch.

    Bis zur Erschöpfung.

    2. Akt

    Morgen im Wald: Erlösung und Versöhnung.

    Erwachend sich finden.

    Traum oder Wirklichkeit.

    Hochzeit im Hause Egeus: Stilvoll feiern.

    Ein Puppenspiel.

    Zauber der Liebe.

    Verführerische Kräfte.

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    Die Handlung

    1. Akt

    Im Hause Egeus

    Hermia ist sicher, dass Lysander der Richtige ist. Sie liebt ihn und wird von ihm geliebt. Deshalb

    widersetzt sie sich ihrem Vater Egeus, der in bester Absicht gerade ihre Hochzeit vorbereiten

    lässt. Allerdings hat er einen anderen Schwiegersohn vorgesehen, aber an diesem Demetrius

    kann Hermia gar nichts finden, obwohl ihre Freundin Helena ganz verrückt nach ihm ist. Hermia

    will tun, was sie für richtig hält: Lysander heiraten. Sie läuft hinaus in die Dunkelheit, weg von

    allen Zwängen. Im Wald, wo Gefahr droht und wilde Mächte regieren, wird niemand

    Vernünftiges sie suchen, das weiß Hermia.

    Nachts im Wald

    Auch im Feenreich ist die Ordnung aus den Fugen geraten. Das Herrscherpaar streitet um einen

    Elf aus Titanias Gefolge. Rachsüchtig will Oberon seiner Frau einen bösen Streich spielen. Puck

    soll ihm dabei helfen und einen Zaubersaft besorgen.

    In diese Situation kommen vier hitzköpfige junge Leute: Hermia auf der Flucht vor einer

    Zwangsheirat. Gefolgt von Lysander, der seine Geliebte mannhaft beschützen will. Eifersüchtig

    läuft Demetrius dem Liebespaar hinterher. Zuletzt kommt Helena, die vor Liebe zu Demetrius

    brennt. Alle werden getrieben von Leidenschaft. Ihre Nerven sind überreizt – bereit für die

    Magie des nächtlichen Waldes.

    Derweil lässt sich die Feenkönigin in den Schlaf wiegen. Auf Oberons Wunsch bespritzt Puck

    Titania mit dem Zaubersaft: Sie wird denjenigen lieben, den sie beim Aufwachen erblickt.

    Übermütig streift Puck durch den Wald. Er will Unruhe stiften. Als er Hermia und Lysander

    schlafend antrifft, bespritzt Puck den fremden Kerl mit Zaubersaft. Immer noch auf der Suche

    nach Demetrius, ist Helena ganz verzagt. Unabsichtlich weckt sie Lysander. Im Aufwachen trifft

    sie sein erster Blick. Begierde überkommt ihn. Erschrocken stürzt Helena davon. Lysander

    hinterher. Hermia erwacht allein.

    Auch die Hochzeitsplaner sind inzwischen in den Wald gekommen. Ungestört wollen sie eine

    Überraschung vorbereiten. Puck beobachtet sie und findet sein nächstes Opfer: Zettel, ihren

    Boss, macht er zum Esel. Als sie das Vieh sehen, flüchten die anderen.

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    Auf Oberons Geheiß stört Puck Titanias Schlaf. Ihr erster Blick trifft den Esel. Sie ist von ihm

    entzückt. In ungezügelter Lust fällt sie über ihn her.

    Im Wald umherirrend treffen Hermia und Demetrius aufeinander. Grob weist sie seine

    Liebesschwüre zurück. Sie sucht Lysander. Enttäuscht legt sich Demetrius nieder. Puck bespritzt

    auch ihn mit Zaubersaft. Im Liebesrausch verfolgt Lysander Helena. Demetrius erwacht, sieht

    Helena und verfällt ihr gleichfalls. Völlig ihren Trieben ausgeliefert bedrängen beide das

    Mädchen. Hin- und hergerissen von Abscheu und Erregung schwankt Helena zwischen Flucht

    und Hingabe. Hermia wird Augenzeugin. Zutiefst verletzt und wütend lässt sie ihrem Kummer

    freien Lauf. Die vier gehen aufeinander los. Eine Schlacht entbrennt. Puck hält alle zum Narren,

    bis sich das Toben erschöpft. Wie betäubt treiben die vier auseinander. Schließlich fallen sie in

    Schlaf. Oberon betrachtet das angerichtete Chaos. Puck hat sein Spiel zu weit getrieben. Er

    sortiert die Paare.

    2. Akt

    Morgen im Wald

    Titania wurde zur Geliebten eines Esels. Oberon überkommt Mitleid. Er erlöst Titania vom

    Zauber, und beide versöhnen sich.

    Auch Lysander wird entzaubert. Beim Erwachen finden sich die richtigen Paare: Hermia und

    Lysander, die sich von Anfang an liebten. Helena und Demetrius, wo noch ein bisschen Magie im

    Spiel bleibt.

    Hochzeit im Hause Egeus

    Egeus entdeckt seine Tochter im Wald. Gerührt gibt er ihren Wünschen nach: Hermia soll ihren

    geliebten Lysander heiraten. Demetrius wird sein Glück mit Helena finden. Alle verlassen den

    Wald. Sie fühlen sich verändert, ohne genau zu wissen, was mit ihnen in der Nacht geschah.

    Zettel bleibt allein zurück. Er bekommt seine Menschengestalt wieder, wird sein Befremden aber

    nicht los. Wäre er nicht ein Esel, zu glauben, er hätte in der Nacht eine Feenkönigin geliebt?

    Zuhause treibt Egeus die Hochzeitsplaner zur Eile an. Freude herrscht. Gäste kommen. Das Fest

    beginnt. Die Hochzeitsplaner geben ein Puppenspiel zum Besten. Die Paare erkennen sich.

    Erinnerungen steigen auf. War es Traum? War es Wirklichkeit? Die Welt des Waldes ist nicht

    verloren.

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    Das Bühnenbild

    Frank Phillip Schlößmann zum Bühnenbild von »Sommernachtstraum«

    Bühnenbild für Ballett ist im wahrsten Sinne des Wortes »ein weites Feld«. Denn es wird Platz

    gebraucht, und dennoch ist man auf der Suche was Sinnfälliges und dem Stück entsprechendes

    zu finden. Im »Sommernachtstraum« geht es einmal um die reale Welt und zum anderen, um die

    Traumwelt der Elfen und Feen, man kann auch sagen um die unbewusste, die un-erlebte Welt.

    Zur realen Welt, das 1.Bild

    Der Raum hat eine sehr »aufgeräumte« klare Architektursprache. Durchaus ein perspektivisches

    Raumzitat der Renaissance (Shakespeare Zeit). Diese reale Welt ist absolut Vernunft gesteuert.

    Zur unbewussten, irrealen Welt, 2.Bild:

    Diese zweite Welt, die Welt des Unbewussten, die Welt des positiven Chaos, ist permanent um

    den Raum des 1.Bildes herum. Der 2. Raum bricht sich zum 2.Bild Bahn und wird in einer

    offenen Verwandlung sichtbar.

    Die Kostüme

    Judith Adam zum Kostüm von »Sommernachtstraum«

    Vier junge Menschen geraten in einen Wald voll wilder, anziehender, schön-gefährlicher Elfen.

    Während die jungen Leute moderne Straßenkleidung tragen, sind die Elfen farbenfroh verspielt.

    Da sie weder Angst, Strafe, Scham oder Kälte kennen, ist ihr Kostüm keine schützende Kleidung,

    sondern ein wildes, freies Schmücken mit leuchtenden Farben, Mustern, schönen Stoffen,

    glitzerndem Diebesgut. Sie sind gleichberechtigt und das Kostüm unterscheidet nicht in

    Geschlechter. Trotzdem gibt es den Elfenkönig Oberon und die Elfenkönigin Titania, die

    durchaus an Shakespeares Zeit und die Elisabethanische Mode erinnern, jedoch mit einem

    eigenen Augenzwinkern. Gegen die freie und starkfarbige Elfenwelt ist die Hochzeitsgesellschaft

    zeitgenössisch konservativ, hochgeschlossen und zugeknöpft.

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    Figurien der Kostüme:

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    Dramaturgie

    Auf eigene Gefahr

    Autorin Brigitte Knöß

    Das Betreten des Waldes zum Zwecke der Erholung ist auf eigene Gefahr grundsätzlich zu jeder

    Tageszeit gestattet, auch abseits der Wege und Straßen. Im Wald müssen Hunde außerhalb von

    Wegen angeleint sein. (Landesforstgesetz NRW)

    Alles geregelt im Wald: Er wird gepflegt und gehegt. Förster überwachen den Baum-, Jäger den

    Wildbestand. Ein kartographiertes Wegenetz durchzieht den Forst. Freudig läuft der

    Spaziergänger durch die Natur, genießt die frische Luft in dem Bewusstsein, etwas Gutes für

    seine Gesundheit zu tun. Erst wenn die Dunkelheit hereinbricht, wird es dem einsamen

    Wanderer unheimlich. Was raschelt hier? Was knackt da? Woher all die Geräusche?

    Erinnerungen an eigenartige Geschichten kommen ihm in den Sinn, Sagen und Legenden von

    verirrten Kindern, verstoßenen Frauen, Unglücklichen. Atavistische Ängste steigen in ihm auf.

    Unberechenbar.

    Im Mittelalter war nicht beackertes Land Dickicht, Urwald. Nachts war es gefährlich außerhalb

    umschlossener Siedlungen, nicht nur, weil Räuber unterwegs waren. Die Nacht gehörte den

    Geistern, den Untoten, den Wiedergängern. Im Wald trieben dunkle Mächte ihr Unwesen, und

    niemand wäre freiwillig dorthin gegangen.

    Warum also läuft Hermia in William Shakespeares »Sommernachtstraum« ausgerechnet in den

    Wald? Natürlich, sie hat ihrem Vater und sogar Herzog Theseus die Stirn geboten. Sie hat sich

    geweigert, Demetrius zu heiraten, weil sie Lysander liebt. Sie will weg von allen Zwängen, will

    tun, was sie für richtig hält: Lysander heiraten. Sie läuft hinaus in die Dunkelheit, weiß, dass kein

    Vernünftiger sie dort suchen wird. In ihrer Empörung ist sie frei von Angst vor allem, was im

    Wald sein Unwesen treibt. Lysander rennt der Geliebten hinterher, kopflos will er sie schützen,

    bei ihr sein. Eifersüchtig folgt ihm Demetrius, denn auch er liebt Hermia. Zuletzt kommt Helena,

    die vor Liebe zu Demetrius brennt.

    Nur den einen, nur die eine im Blick stürzen vier junge Leute los ins Ungewisse. Und tatsächlich

    werden sie von Geistern und Elfen ins Visier genommen, sogar von Puck, dem Gehilfen des

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    Feenkönigs Oberon, mit einem Zauber belegt. Die Liebenden erleben eine Nacht wie keine

    andere. Ihre Gefühle verwirren sich, werden zum Rausch. Sie begehren sich, verwechseln sich,

    kennen sich selbst nicht mehr.

    Auch die Handwerker lässt Shakespeare in den Wald gehen. Furchtlos suchen sie dort einen

    ungestörten Ort, um ein Festspiel zur Hochzeit ihres Herzogs einzustudieren. Doch gerade Zettl,

    der Mutigste von ihnen, wird verzaubert. In der Gestalt eines Esels erlebt er das Unerhörte: eine

    Liebesnacht mit der Elfenkönigin Titania.

    Der Schlaf überkommt alle – und beim Erwachen dann die Ahnung, dass das kein Traum

    gewesen sein könnte. Zettl realisiert das mächtige Gefühl des Neu-Erkannten in sich. Ohne

    jedwede Folgen abzusehen, spürt er die Tragweite: »Ich hatte ’nen Traum – s’ geht über

    Menschenwitz, zu sagen, was es für ein Traum war. «

    Shakespeare zeigt seinem Publikum, dass Legenden völlig unerwartet zum Leben erwachen

    können – im Wald oder sonst wo. Ganz anders als gedacht, überwältigend, hinterlässt das große,

    unwägbare Andere in jedem von uns seine Spuren, verändert uns auf Dauer. Ebenso wie die vier

    jungen Liebenden verwandelt sind, die am Morgen das Unsagbare in sich verbergen. Noch

    unbewusst tragen sie ein unschätzbares Wissen in sich. Es wird ihnen nicht verloren gehen, auch

    wenn sie sich mit der Ordnung versöhnen und sich vermählen.

    William Shakespeare

    Um William Shakespeare ranken sich Vermutungen und Spekulationen, denn nur wenige

    Lebensdaten sind gesichert. Seine Taufe ist am 26. April 1564 im Kirchenbuch von Stratford-upon-

    Avon registriert, einer Stadt mit 1.500 Einwohnern, wo sein Vater John, als wohlhabender Bürger

    Mitglied des Rates ist. William besucht die Grammar School, lernt Latein und wird in Grammatik und

    Geschichte unterrichtet. Es gilt als sicher, dass der Junge in Stratford Aufführungen durchreisender

    Schauspieltruppen erlebt und wohl auch die Mysterienspiele und Moralitäten aus eigener

    Anschauung kennt. Die materiellen Umstände der Familie verschlechtern sich offenbar um 1577

    erheblich, denn John Shakespeare macht Schulden, verliert seinen Ratssitz und nimmt seinen Sohn

    William aus der Schule, um ihn in eine Lehre zu schicken. Weiteres ist nicht dokumentiert bis zum

    Jahr 1582, als der 18-Jährige William die acht Jahre ältere Anne Hathaway heiratet. Sechs Monate

    später wird ihre gemeinsame Tochter Susanna getauft, knapp zwei Jahre darauf folgt am 12. Februar

    1585 die Taufe der Zwillinge Hamnet und Judith. Später verlässt William Shakespeare Stratford und

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    ist ab 1590 als Schauspieler und Autor in London tätig. 1593 wird Richard III. uraufgeführt, aber

    dann zwingt die Pest zur vorübergehenden Schließung der Theater. Im selben Jahr erscheint sein

    Gedicht Venus und Adonis, das er – ebenso wie 1594 das Versepos Lucrezia – dem Grafen von

    Southampton widmet und so einen einflussreichen Gönner gewinnt.

    In London existieren in dieser Zeit bereits mehrere Theater. Anlässlich einer Aufführung in

    Gegenwart der Königin Elisabeth I. wird Shakespeare Ende 1594 als Schauspieler der Lord

    Chamberlain’s Men erwähnt. Diese Schauspieltruppe um den Theatermann Richard Burbage ist

    neben den Admiral’s Men die bekannteste der Gruppen, die um die Gunst des Publikums buhlen.

    1598 feiert der Kritiker Francis Meres Shakespeare als »hervorragendsten Vertreter beider

    dramatischer Gattungen«. Shakespeares Erfolge schlagen sich auch finanziell nieder, zumal er als

    Teilhaber der Chamberlain’s Men Einfluss auf den Spielplan, die Auswahl und die Ausstattung hat

    und am Gewinn beteiligt ist. Sein Geld legt er in Grundbesitz an und kauft am 4. Mai 1597 in

    Stratford-upon-Avon das Haus New Place. 1599 beteiligt er sich an der Gründung des Globe Theatre

    in Southwark südlich der Themse und wird dessen Miteigentümer.

    Als Elisabeth I. 1603 stirbt, endet die Regentschaft der Tudors, und der Sohn Maria Stuarts wird zum

    englischen König Jakob I. gekrönt. Weit mehr als »The Good Queen Bess« vor ihm, fördert er das

    Theater. Eine königliche Urkunde sichert Lord Chamberlain’s Men, die sich nun The King’s Men

    nennen dürfen, Privilegien zu, die Anerkennung und materielle Vorteile mit sich bringen. Ab 1608

    spielt die Truppe um William Shakespeare und Richard Burbage außer im Globe auch regelmäßig im

    Theatersaal des ehemaligen Klosters Blackfriars. Dieser ist prunkvoll ausgestattet und überdacht,

    was ein zahlungskräftigeres Publikum und uneingeschränkten Betrieb im Winter gewährleistet.

    Shakespeare scheint des Rummels müde, vielleicht spürt er auch, dass seine große Zeit zu Ende geht,

    weil sich im Theater Veränderungen anbahnen. Aus Italien kommt die Guckkastenbühne nach

    England. Kulissen und illusionistische Dekorationen bringen eine neue Sehweise mit, die das

    elisabethanische Theater, das ganz aus der Sprache existiert, langsam aus der Mode kommen lässt.

    Immer häufiger zieht Shakespeare sich nach Stratford zurück und lebt etwa ab 1611 ständig in

    seiner Geburtsstadt, kümmert sich um seinen Besitz und mischt sich in die Lokalpolitik ein. 1616

    nimmt er am 10. Februar an der Hochzeit seiner Tochter Judith teil, am 25. März verfasst er sein

    Testament, und am 23. April stirbt er im Alter von 52 Jahren. Am 25. April 1616 wird William

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    Shakespeare in der Holy Trinity Church von Stratford-upon-Avon beigesetzt.

    Die erste Gesamtausgabe First Folio der Werke William Shakespeares erscheint 1623 und umfasst 36

    Stücke, gegliedert in 14 Komödien, 10 Historien und 12 Tragödien, jedoch ohne chronologische

    Reihenfolge oder Datierung. Schon bald ändern sich die Zeiten: Die Puritaner ergreifen die Macht in

    England. Der Shakespeare-Bewunderer König Karl I. wird hingerichtet. Im Namen der Tugend

    werden 1642 alle Theater geschlossen.

    Interview mit Tim Plegge

    Warum »Sommernachtstraum«?

    Nach »Aschenputtel« im ersten und »Kaspar Hauser« im zweiten Jahr, wollte ich wieder ein

    Handlungsballett auf die Bühne bringen. Der »Sommernachtstraum« reizte mich als Komödie,

    zumal die Liebe im Zentrum steht. Für mich als Choreograf rückte unter anderem die Frage nach

    dem Humor in den Fokus. Wie übersetzt man das in den Tanz?

    William Shakespeare lässt in seinem Stück viele Figuren auftauchen. Das ermöglicht es, alle 28

    Tänzer des Ensembles individuell einzusetzen. Allerdings bedeutet es auch, dass wir sehr viel

    Bewegungsmaterial entwickeln mussten.

    Wo ist der Ausgangspunkt für eine Choreografie?

    Das lässt sich so pauschal nicht beantworten, denn die Herangehensweise ist sowohl vom

    äußeren Kontext, als auch vom jeweiligen Gegenstand abhängig. Ich merke, dass in meiner

    Arbeit verschiedene Ansätze zusammenwirken. Im »Sommernachtstraum« waren Fragen, nach

    den Beziehungen der Figuren miteinander, nach deren Gefühlen zueinander, umso wichtiger,

    weil sie heftigen Wechseln unterworfen sind. Wie verhalten sich Distanz und Nähe? Wie spiegeln

    sich diese Gefühle im Körper? Daraus entstehen weitere Fragen – nach dem Tempo, der

    Spannung, der Energie oder dem Rhythmus. Andere Überlegungen sind, wann wir mit einem

    Solo, einem Duo oder mit der Gruppe arbeiten. Wo setzt man Schwerpunkte? Wie balanciert

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    man die Geschichte aus? Nicht alles kann man von vornherein wissen, vieles ergibt sich erst nach

    und nach. Grundsätzlich macht es mir Spaß, mich den Problemen zu stellen und dann Lösungen

    zu finden.

    Wie arbeitest du mit Musik, mit der musikalischen Struktur?

    Die Musikauswahl ist eine der wichtigsten und zugleich eine der schwierigsten Entscheidungen

    für ein Ballett, weil die Musik letztlich alles trägt. Der »Sommernachtstraum« verhandelt eine

    Reihe von Themen, er spielt in gegensätzlichen Welten, und daraus resultieren unterschiedliche

    Klangbilder. Das gilt es, emotional zu erfassen. Schließlich es geht darum, Gefühle zu

    transportieren. Deshalb zählt mein erster Höreindruck, mein erster Impuls. Dieser intuitive

    Zugang zum Stück ist ganz wichtig, weil man ihn später verliert, indem man anfängt, zu zählen

    und Bilder zu kreieren. Man muss sehr viel hören, bis man einen Rahmen, eine grobe Farbe hat,

    in die man eintauchen kann. Manchmal beginne ich, ohne Musik zu choreografieren, bevor ich

    versuche, mit der Musik oder dagegen zu gehen. Nach und nach entstehen dann einzelne Szenen,

    die sich nach und nach zu einem Stück entwickeln.

    Welche choreografischen Mittel benutzt du? Könntest du uns ein Beispiel geben?

    Ich suche nach Möglichkeiten, Gefühle körperlich zu übermitteln. Und ich strebe danach, eine

    Balance finden, zwischen illustrativer mimischer Erzählung und rein körperlicher Erzählung.

    Was ist unmittelbarer, was ist uns näher? Eine kleine Geste sagt manchmal mehr als die größte

    Bewegung. Mir liegt daran, den adäquaten Ausdruck zu finden. Dabei gehe ich ganz

    unterschiedliche Wege. Klar und deutlich sieht man in der Traum-Welt der Liebende und der

    Elfen den Tanz auf Spitze und ein Bewegungsmaterial, das eher abstrakt ist. In der anderen Welt

    ist die Körpersprache konkreter, hiesiger, mehr in der direkten Rede. Gruppenszenen, die eine

    große Kraft entwickeln, kontrastieren mit subtilen Regungen. So können wir den Reichtum

    unseres tänzerischen Vokabulars zeigen.

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    Sekundär Literatur

    A Midsummer Night's Dream

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    Peter-André Alt

    Traum-Theater

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    Der Midsummer Night’s Dream eröffnet den Blick auf die Bühne im Kopf, welche – nach einer

    schönen Formulierung von Durs Grünbein – die »Traumration« enthält. Die von deutschen

    Lesern lange Zeit als »romantisch« missverstandene Komödie erweist die Macht, die der Schlaf

    über den Menschen ausübt, mit einer fast destruktiven Energie. Titania und Bottom [Zettel],

    Demetrius und Helena, Lysander und Hermia werden von ihr stets neu erfasst. Sie löst und

    stiftet Beziehungen, verhext und versöhnt die Liebenden, zerstört und erneuert soziale

    Ordnungen. Die von Puck entfesselte Gewalt der Affekte, die sich im Schlaf der jungen Athener

    regen darf, besitzt eine anarchische Dimension.

    Im Midsummer Night’s Dream gebiert der Schlaf eine unsteuerbare Welt der Gefühle und mit ihr

    die subversive Kraft eines Verwandlungszaubers, der Liebende zu Hassenden, Ungeliebte zu

    Geliebten, Esel zu Engeln, Elfenköniginnen zu Närrinnen machen kann. Wenn der Schlaf einen so

    massiven Einfluss auf den Menschen ausübt, dann darf sich niemand auf die Zuverlässigkeit der

    Erfahrung berufen. Demetrius formuliert am Ende die Einsicht in die Gesetze des Spiels, dessen

    Objekt nicht allein er geworden ist: »Are you sure ⎮ That we are awake? It seems to me ⎮

    That yet we sleep, we dream.« (»Seid ihr denn des Wachens auch gewiss? Mir scheint's, wir

    schlafen ⎮ Wir träumen noch.«) Nur folgerichtig lautet Demetrius’ Aufforderung an die jungen

    Athener, während des gemeinsamen Gangs zum Herzog über die Bilder ihrer Träume zu

    »plaudern«. Der Dialog erscheint als Mittel, den verwirrenden Figuren der Nacht durch Sprache

    eine kommunizierbare Gestalt zu verleihen.

    Bottom ahnt, dass die Erkenntnis der Wahrheiten, die das Geschehen verbirgt, das Maß

    menschlicher Denkfähigkeiten überschreitet: »I have had a dream, past the wit of man to say

    what dream it was (... )« (»Ich hatte 'nen Traum – ’s geht über Menschenwitz, zu sagen, was es

    für ein Traum war.«) Zur Einsicht, dass die Geheimnisse des Schlafs undeutbar bleiben, gesellt

    sich schließlich der Hinweis auf die Möglichkeiten der poetischen Erinnerung, die festhält, was

    unerklärlich scheint: »I will get Peter Quince to write a ballad of this dream: it shall be called

  • 19

    Bottom's Dream, because it hath no bottom; and I will sing it in the latter end of play, before the

    Duke ( ... )« (»Ich will den Peter Squenz dazu kriegen, mir von diesem Traum eine Ballade zu

    schreiben: sie soll Zettels Traum heißen, weil sie so seltsam angezettelt ist, und ich will sie gegen

    Ende des Stücks vor dem Herzoge singen.«) Das Imaginäre kennt keine Zeit und keine

    Geschichte. Dort, wo der Traum in die Wirklichkeit eindringt, droht er zugleich die Spur der

    Erinnerung zu tilgen. Daher müssen sich Demetrius und Bottom dazu zwingen, den

    phantastischen Gespinsten ihrer Träume eine Gestalt zu verleihen, in der sie aufgehoben und

    kommuniziert werden können. »Erzählung« und »Ballade« bilden die Medien, die den Traum zur

    Mitteilung bringen.

    Die Poesie vermag aufzubewahren, was sich den Kapazitäten des Verstandes entzieht. Sie

    vermittelt einen Einblick in das verwirrende Innere eines imaginären Kosmos, wo Traum und

    Wirklichkeit nicht geschieden sind. Was sie uns vorführt, eröffnet den Blick auf eine Gehirnwelt,

    in der Träume und Phantasie, Realität und Erfahrung zusammenwirken. Diese Perspektive

    beschwören auch die Schlussverse des Midsummer Night’s Dream mit dem beredten Hinweis auf

    die Spiegellogik des Theaters, von dessen suggestiven Traumbildern die Zuschauer gebannt

    werden, weil sie das Innere ihres Kopfes zeigen: »If we shadows have offended, ⎮ Think but

    this, and all is mended, ⎮ That you have but slumber’d here, ⎮ while these visions did appear

    ⎮ And this weak and idle theme, ⎮ No more yielding but a dreame (...)« (»Wenn wir Schatten

    euch beleidigt, ⎮O so glaubt – und wohl verteidigt ⎮ Sind wir dann –: ihr alle schier ⎮ Habet

    nun geschlummert hier ⎮ Und geschaut in Nachtgesichten ⎮ eures eignen Hirnes Dichten.«

    Peter-André Alt, aus: Der Schlaf der Vernunft, Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der

    Neuzeit, München 2002

  • 20

    A Midsummer Night's Dream

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    Jan Kott

    Liebes-Quartett

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    Die erste Aufführung des »Sommernachtstraum« soll in einem alten Londoner Palast

    stattgefunden haben, in einem spätgotischen Haus mit Hof, an den sich ein Garten anschloss, wo

    man lustwandeln konnte. Schwerlich kann man eine bessere Szenerie für die wirkliche

    Handlung des Sommernachtstraums finden. Es ist bereits spät in der Nacht, und das Fest geht zu

    Ende. Alle Trinksprüche sind ausgebracht worden und die Tänze beendet. Im Hof stehen noch

    die Pagen mit den Laternen. Aber im anliegenden Garten ist es dunkel. Durch das Tor gleiten

    langsam verschlungene Paare. Der spanische Wein war schwer, die Liebenden sind

    eingeschlafen. Jemand ging vorbei, der Saft spritzte aus der Blume, der Knabe erwachte. Er sieht

    das Mädchen nicht, das bei ihm schläft; er hat alles vergessen, selbst, dass er das Fest mit ihr

    verlassen hat. In der Nähe befindet sich ein anderes Mädchen, es genügt, den Arm

    auszustrecken, schon hat er ihn ausgestreckt, schon eilt er ihr nach.

    Bei Shakespeare ist die Plötzlichkeit der Liebe immer überwältigend. Die Faszination auf den

    ersten Blick, die Vergiftung vom ersten Sich-berühren der Hände. Die Liebe stürzt herab wie ein

    Habicht, die Welt versinkt, die Liebenden sehen nur sich.

    Die Kommentatoren haben seit langem bemerkt, dass die Partner dieses Liebesquartetts kaum

    voneinander unterschieden sind. Die Mädchen unterscheiden sich eigentlich nur durch Wuchs

    und Haarfarbe. Dem ganzen Quartett fehlt die Deutlichkeit und Unwiederholbarkeit, die

    Shakespeare schon mehrmals erreicht hatte. Die Liebenden sind auswechselbar. Aber vielleicht

    ging es gerade darum? Es scheint immer, dass es bei Shakespeare nichts Zufälliges gibt. Puck

    geht nächstens im Garten um und an den Paaren vorbei, die sich kreuzen und auswechseln.

    Helena liebt Demetrius, Demetrius Hermia, Hermia Lysander. Dann verfolgt Lysander Helena,

    Helena Demetrius, Demetrius Hermia. Diese mechanische Richtungsänderung der Begierden

    und die Auswechselbarkeit der Partner dient nicht nur der Intrigenknüpfung. Die Reduktion der

    Person zum Liebespartner scheint mir das charakteristischste Merkmal dieses grausamen

    Traums zu sein. Und vielleicht das modernste Merkmal. Der Partner trägt keinen Namen mehr,

    er besitzt nicht einmal mehr ein Gesicht. Er ist nur am nächsten.

    Jan Kott, aus: Titania und der Eselskopf, in: Shakespeare heute, Berlin 2002

  • 21

    A Midsummer Night's Dream

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    Klaus Reichert

    Liebes-Quartett

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    Hermia und Lysander haben sich ewige Liebe geschworen; Helena liebt Demetrius, und der

    wiederum liebt Hermia. Aber mit einem Schlag ist alles anders, nachdem Puck den beiden

    Herrchen das Liebesadrenalin in die Augen geträufelt hat. Jetzt verfolgen sie die verachtete

    Helena mit ihren Schwüren, jetzt erst – sagen sie, ›wissen‹ sie – haben sie die wahre Liebe

    gefunden, die frühere war Trug, Wahn und Verblendung, und nur der Zuschauer – wie Puck und

    Oberon ein Voyeur – ›weiß‹, dass das eine Illusion ist. Aber ist es eine? Was Shakespeare hier

    vorführt, lässt sich kaum als Komödie der Irrungen leichthändig entwirren. Denn die Sprache

    der Liebhaber ist jetzt ebenso falsch wie sie es vorher war oder aber ebenso wahr. Die

    ›Wahrheit‹, nach ›Liebe‹ das häufigste Wort im Stück, ist eben, was einer davon hält. Im

    Augenblick. Denn nachher ist alles wieder ganz anders. Im Exhibitionismus der Gefühle kommt

    Liebe als der brutale Egoismus derer, die sie zu empfinden vermeinen, zum Ausdruck. Die

    Andere, das geliebte Wesen, spielt dabei keine Rolle, oder nur in der Erniedrigungsform des

    Lustobjekts. »Wer bist du?« ist keine Frage, die sich stellt. Und ebenso unmäßig, wie sie Helena

    verhimmeln, schlagen die Herrchen verbal auf die eben noch geliebte Hermia ein, in einer

    hassverzerrten Wut, die einen das Fürchten lehrt über die Abgründe in liebenden Seelen. Und

    die Frauen? Sie sind gleichermaßen entsetzt von den Sprachen der Liebe wie des Hasses. Sie

    fühlen sich verhöhnt, mißhandelt und setzen sich zur Wehr mit einer Vehemenz, die zeigt,

    welche ungeheuren Energien bis hin zur Tätlichkeit wie Furien aus ihnen ausbrechen können.

    Diese Frauen passen in kein elisabethanisches Weiblichkeitsbild und sind wohl nur vorstellbar

    unter der Voraussetzung eines Traums, der die einstudierten Ordnungen der Geschlechter

    wieder auflöst und im Träumenden den unheimlichen, ungekannten Anderen ans Licht bringt.

    Das Tempo der Liebes- und Hassszenen ist von einer so atemberaubenden Geschwindigkeit, die

    die Bilderfluchten in Träumen suggeriert.

    Die zärtlichsten Liebesworte auf der Bühne findet Titania – unverstellt, ohne weibliche Scham,

    ohne den Lustaufschub der Liebesrhetorik – für einen Esel. Hier sind alle Spannungen gelöst, das

    Hässlichste verwandelt sich unterm Blick der Liebe zum Schönsten, Tierlaute werden als

    mendelssohnsche Musik vernommen und das Paar vereinigt sich in holdem Einverständnis. Und

  • 22

    diese einzige ›echte‹ Liebesszene im Stück ist ihre eigene Parodie, die bösartige

    Zurschaustellung der Gefühle einer verblendeten Frau durch einen in seinen Besitzansprüchen

    nicht befriedigten Ehemann. Nur: Was durch diese bestialische Vermischung hindurchscheint,

    ist der aufs Animalische reduzierte Sexualtrieb, der in den Träumen jede Grenze überschwemmt,

    sogar die der Gattungen. Als der böse Zauber endlich von Titanias Augen genommen ist, glaubt

    sie geträumt zu haben: »What visions have I seen«, Aber Oberon zeigt nur auf den schlafenden

    Bottom: »Da liegt deine Liebe«, was heißen soll: es war kein Traumgespinst, sondern war (und

    ist) so real wie der, der dort liegt, dieses Bild für die inneren Urwälder. Der andere Blick ist nur

    der verleugnete eigene.

    Dass ›Wirklichkeit‹ und ›Traum‹ sich nicht (mehr) trennen lassen, zeigt sich auch auf der

    anderen Spielebene. Theseus und Hippolyta samt Gefolge erscheinen im Wald, »von Hunden

    rings umheult«, auf daß das Jagd- und Verfolgungsthema, das Reißen einer Beute, nicht

    vergessen werde, vom »harmonischen Zwist« des Gebells ist die Rede, von klangvoller

    Dissonanz. Vor diesem Hintergrund erscheint die Ordnung wiederhergestellt, den

    unbotmäßigen Liebenden ist vergeben, wie in einer Komödie zu erwarten. Der Zauber ist von

    Lysanders Augen genommen, so dass er wieder ›seine‹ Hermia liebt; der Zauber ist von

    Demetrius' Augen nicht genommen, so dass er dabei bleibt, Helena zu lieben: als er mit eigenen

    Augen sah, sah er falsch – jetzt, da er mit anderen, mit bezauberten Augen sieht, sieht er richtig

    und ›wahr‹. Größer kann die Verwirrung über richtig und falsch, wahr und verblendet kaum

    sein, die von Shakespeare nicht aufgelöst wird. Hermia hat noch eine ferne Ahnung, dass etwas

    geschah, was sie anders sehen lässt: »Mir ist, ich säh dies mit geteiltem Auge, / Dem alles doppelt

    scheint ... « Und auch Helena hat etwas gelernt über die Fremdheit zwischen Liebenden;

    Demetrius ist ihr »Mein und auch nicht mein eigen«. Die Männer haben nichts begriffen. Nur

    Bottom. Bottom wacht auf, als alle davon sind aus dem Wald, und begreift, dass er nichts

    begriffen hat: »Ich hatte einen Traum. Es geht über Menschenwitz, zu sagen, was für ein Traum

    es war. Der Mensch ist ein Esel, wenn er sich einfallen lässt, diesen Traum zu deuten.«

    Klaus Reichert, aus: Der fremde Shakespeare, München, Wien 1998

  • 23

    Anregungen zur Vor- und Nachbereitung des Theaterbesuchs

    Mögliche Fragen zu Vorbereitung

    Um was geht es in »Sommernachtstraum«?

    Woher kennst Du die Geschichte: Film, Tanz, Buch, Comic, Zeichentrick, Hörspiel?

    Welche Umsetzung fandst Du schön und warum? Welche hat Dir nicht gefallen?

    Welche Figur gefällt Dir am besten und wieso?

    Welche Figur würdest Du gerne sein?

    Wie ist das Ende der Geschichte?

    Welche Tanzveranstaltungen hast Du schon besucht?

    Fragen zur Nachbereitung:

    TIPP Die +1 Regel bei der Nachbereitung

    Um zu vermeiden, dass eine Schülerin oder ein Schüler eine Aussage wiederholt, weil die

    Erfahrungen ähnlich sind, kann man »+ 1« sagen. Damit sagt man, dass man eine ähnliche

    Erfahrung gemacht hat, ohne es erzählen zu müssen. Dies bietet auch schüchternen

    Schüler/innen die Gelegenheit, sich zu äußern und Ihnen die Möglichkeit, gezielt nochmals

    nachzufragen.

    Welche Momente der Aufführung wirken bei Dir besonders nach?

    Was ist Dir in Erinnerung geblieben?

    Wie könnte man die Geschichte / die Inszenierung einem Außenstehenden

    in wenigen Worten erzählen?

    Wie ist die Stimmung? Fröhlich, traurig, lustig, spannend, usw.?

    Verändert sich diese Stimmung? Wodurch?

    Gibt es mehr Soli (Einer Allein), Duos (zu Zweit) oder Gruppen-Szenen?

    Was erzählt Dir das Bühnenbild (beachte den Hintergrund, die Seiten, die Höhe, den

    Boden, die Farben)? Wo könnte das Stück überall spielen?

    Was haben die Kostüme über die Figuren und ihre Beziehungen zueinander erzählt?

  • 24

    Welche Rolle, glaubst Du, spielt das Licht? Was wurde deiner Meinung nach damit

    erzählt?

    Was war für Dich das Highlight? Hast Du Dich auch gelangweilt? Wann? Warum?

    Wie endet das Stück? Findest Du das passend so? Oder welchen Schluss hättest Du

    ausgesucht?

    Warum glaubt ihr, spielt man dieses Stück heute? Hatte es etwas mit eurer Realität zu

    tun?

    Eine Bewegungsaufgabe in kleinen Gruppen (3 – 4)

    Jeder in der Gruppe versucht sich an eine Bewegung zu erinnern und diese zu

    wiederholen, die Ihr/ Ihm sehr gefallen hat. Danach sollen alle Bewegungen

    aneinander/miteinander verbunden werden (3-4 Bewegungen) -nach 10 minütiger

    Erarbeitungsphase soll das Ergebnis den anderen Kleingruppen gezeigt werden

    Sprechen Sie im Anschluss an die Präsentationen über die unterschiedlichen

    Präsentationen

    Einige Tipps zu Theaterbesuch

    Im Theater gibt es einige grundsätzliche Dinge, die es vor dem gemeinsamen Theaterbesuch zu

    beachten gilt:

    → Das Abendkleid

    Viele Menschen ziehen sich gern schön an, wenn sie ins Theater

    gehen. Sie wollen den Schauspieler/innen, Sänger/innen und Musiker/innen ihren

    Respekt erweisen oder selbst auch ein bisschen glitzern. Es macht natürlich Spaß,

    die schönsten Teile aus dem Kleiderschrank hervorzuholen, ist aber kein Muss.

    → Das Essen

    Ihr könnt euch vorstellen, wie sehr es Dich, aber auch den/die Schauspieler/innen stören würde,

    wenn in ganz leisen oder traurigen Szenen plötzlich jemand im Publikum in einen knackigen

  • 25

    Apfel beißen würde. Und dann stellt euch vor, dass jemand neben euch eine fürchterlich

    knisternde Tüte auspackt... Essen und Trinken ist im Theater grundsätzlich nicht erlaubt.

    → Das Fotografieren

    Auch das Fotografieren ist nicht erlaubt. Wenn ihr Bilder von einer Inszenierung haben wollt,

    schaut auf unsere Homepage. Da gibt es eine Bildergalerie und einen Trailer zu fast jeder

    Inszenierung. Wie sollen sich denn die Schauspieler/innen und Sänger/innen auf ihren Text und

    ihre Töne konzentrieren, wenn ständig irgendwo ein Handy klingelt? Also schaltet bitte vor dem

    Zuschauerraum das Handy aus oder schaltet den Flugzeugmodus ein, bevor man von allen Seiten

    vorwurfsvoll angesehen wird.

    → Das Klatschen

    Der Applaus spielt für die Darsteller/innen eine ganz besondere Rolle. Je lauter und länger er

    erklingt, desto besser ist die Inszenierung beim Publikum angekommen. Scheue dich also nicht,

    nach der Vorstellung laut und ausgiebig zu klatschen, wenn es dir gefallen hat.

    → Das Programmheft

    Ein Programmheft mit Hintergrundwissen zur Inszenierung könnt ihr an der Kasse oder beim

    Einlasspersonal für 3€ erwerben. Dort findet ihr z. B. Interviews mit dem/der Regisseur/in oder

    Informationen zum Stück und zum Autor. Im Internet findet ihr auch zu jedem Stück eine kurze

    Inhaltsbeschreibung.

    → Das Quasseln

    Für eine gute Theateraufführung müssen sich Zuschauenden und Darstellenden konzentrieren.

    Wenn ihr mit eurer Sitznachbarin oder eurem Sitznachbar quatscht, dann stört das nicht nur die

    Darsteller auf der Bühne, sondern auch alle anderen, die zuschauen wollen.

    → Die Vorstellungsdauer

    Wie lange ein Theaterstück dauert und ob es eine Pause gibt, kann man an der Kasse und beim

    Einlasspersonal erfragen oder im Programmheft nachlesen. Um einen Theaterabend im Vollen

    zu beurteilen, ist es wichtig ihn bis zum Schluss zu erleben. Vorzeitiges Verlassen des Saals stört

    außerdem die Tänzer und Zuschauer.


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