Brent Spar: Greenpace-Aufstand auf Hoher See - Volks-Abstimmung an der Zapfsäule Beobachtung einer Kampagne Von Jochen Vorfelder Dieses Manuskript erschien im Herbst 1995 gekürzt und redigiert als “Greenpeace-Report”
Brent Spar oder die Zukunft der Meere Beck’sche Reihe 1142 München, 1995, C.H. Beck Verlag ISBN 3-406-39242-3, vergriffen
Inhalt
Vorwort 4
1. Der zwanzigste Juni: Greenpeace 6 2. Wohin mit einer Ruine? 15 3. Gijś fixe Idee 24
4. Krisengebiet Nordsee 32 5. Meuterei bei der Seebestattung 47 6. Der Multi mit der sauberen Muschel 54
7. Strategien und Krisenmanagement 71
8. Wer hat hier Boykott gerufen? 95
9. Der zwanzigste Juni: Shell 104
10. Welche Zukunft hat das Meer? 113
Vorwort
In der letzten Aprilwoche 1995 war der Begriff Brent Spar nur einer verschwindend kleinen Zahl von
Menschen bekannt. Brent Spar - das war eine ausführliche Handakte, geführt von Mitarbeitern der
Shell Expro Ltd. im schottischen Aberdeen, und ein Vermerk in den Auftragsbüchern einer Handvoll
Offshore-Spezialisten. Ansonsten beschäftigte sich mit dem Thema nur: Greenpeace.
50 Tage später füllten Berichte und Reportagen über die Plattform Brent Spar die Spalten der
Tageszeitungen und Magazine in Europa. Zwischen Ende April und dem 20. Juni 1995 verfolgten
Millionen von Fernsehzuschauern Bilder, die die Brent Spar zu einem Synonym für verfehlte
Umweltschutzpolitik, für die Arroganz eines Weltkonzerns, für erfolgreiche Greenpeace-Arbeit und
für die aus einem tiefen Schlummer erwachte Macht der europäischen Verbraucher machten.
Aus Shells rostiger Offshore-Ruine war ein weltweites Symbol geworden. "Umweltbewegung,
Greenpeace und die Bevölkerung" hatten den drittgrößten Konzern der Welt in einem unerwartenden
Kraftakt in die Knie gezwungen. Denn während auf dem Nordatlantik eine "Seeschlacht" tobte - was
die Brent Spar immer weiter in den Hauptnachrichten hielt - war auf dem Festland eine Boykott-
Bewegung entstanden, die in dieser politischen Durchschlagskraft und Vehemenz niemand erwartet
hatte.
Shell hat kurz vor dem geplanten Versenkungsort die Notbremse gezogen und die Brent Spar nach
Norwegen zurückgeschickt. Aus "Angst vor roten Bilanzzahlen und dem Imageverlust", sagen die
einen, aber "bar jeglicher technischer und ökologischen Vernunft, die eine Seebestattung der Anlage
vorgeschrieben hätte", die anderen.
Der Streit, ob der Rückzug des Konzern ein "Zeitalter des wahren ökologischen Denkens und eine
Renaissance der Bürgermacht" einläutet, oder in Zukunft "eine Gefahr für die Demokratie" besteht,
dauert an. Man werde jedenfalls, orakelten etwa die politischen Bewegungsmelder der FAZ, in
Zukunft "über die Macht von Greenpeace sprechen" und unbequeme "Fragen staatstheoretischer
Natur" beantworten müssen.
Dieses Buch will auf diesen großen Wurf verzichten. Doch in der Tat sind Überlegungen in aller
Richtungen erlaubt: Hat Greenpeace, die "professionelle Spendensammlertruppe", die harmlose
Brent Spar nur für seine schnöden Zwecke benutzt? Was ist das andererseits für ein Konzern, der
glaubte, "das Votum von Millionen" werde an ihm abperlen wie an einer Öljacke? Oder war der Shell-
Boykott gar nur eine moderne und billige Form des ökologischen Ablaßhandels?
Hamburg, den 6. September 1995
1. Der zwanzigste Juni: Greenpeace
Hamburger S-Bahnzüge, die vor sechs Uhr morgens in den Bahnhof Landungsbrücken einfahren,
befördern außer den halb Bewußtlosen, die sich später an die Nacht auf der Reeperbahn kaum
erinnern werden, eine besondere Klientel. Es sind die an Bord, deren Tagwerk beginnt, und die trotz
ihrer verschlafenen Augen allesamt eine ganz eigene, bodenständige Entschlossenheit ausstrahlen.
Die Bruderschaft der Werftarbeiter etwa, die mit den Barkassen zur Frühschicht bei Blohm & Voss
übersetzten. Oder die Kollegen von den Container-Terminals, die Rangierer und Kranfahrer; sie
wissen, was ihre Arbeit wert ist.
Wenn die riesigen Containerschiffe die Elbe hochkommen, angedockt und geleichtert werden, zählt
jede Stunde. Dann gilt: Es wird malocht, bis der Job erledigt ist.
Gleiches könnte für Roland Hipp gelten. An diesem Dienstag, den 20. Juni 1995, verläßt auch er,
wie an fast fünfzig Tagen zuvor, kurz nach fünf Uhr den S-Bahnhof. Er schlendert rund zweihundert
Meter die Elbbefestigung entlang, und steigt in dem alten Patrizierhaus, in dem sich das deutsche
Greenpeace-Büro befindet, in den vierten Stock. Hipp geht in die Pressestelle und schaltet den
Computer ein, über den Hamburg in den internen Daten- und Informationsaustausch zwischen 30
Greenpeace-Büros weltweit eingebunden ist. Als nächstes überblickt er die Nachrichtenlage. Im
"Tickerraum" sind während der Nacht rund vier Meter Umwelt-Nachrichten der Deutschen
Presseagentur dpa aus der Maschine gelaufen. Hipp sortiert aus und sucht gezielt nach einem
Stichwort: Brent Spar.
Bei seinem ersten Kaffee, den er im Brent Spar-Aktionsraum zu den Nachrichten im
Frühstücksfernsehen schlürft, macht Hipp auf einem Klemmbrett seinen Tagesplan. Das Klemmbrett
mit diversen Zetteln, Zeichnungen und Listen ist seit Ende April Hipps ständiger Begleiter; es ist
sozusagen der sichtbare Teil seiner Gedanken, die pausenlos nur um Shell, Plattformen und
Strategien kreisen. Hipp ist seit Beginn von Kampagne und Besetzung einer der beiden
Koordinatoren im deutschen Büro. Bei ihm laufen alle Greenpeace-Aktivitäten zur Brent Spar über
den Schreibtisch.
Hipp ist dafür eine ideale Besetzung: Der 35jährige untersetzte Schwabe, aus dessen Mund Brent
Spar irgendwie nach Brännd Schpaa klingt, ist ein unermüdlicher Teamarbeiter, hat gleichzeitig aber
einen ausgeprägten Sinn für klare Verantwortlichkeiten und zielorientiertes Arbeiten. Gelernt hat der
Kaufmann dies als Geschäftsführer einer Firma auf der schwäbischen Alb, bevor er zu Greenpeace
stieß und Atom-Kampagner wurde. Derzeit arbeitet er in der Aktionsabteilung und ist unter dem bunt
gemischten Volk der Greenpeace-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter leicht zu erkennen: Die
Aktionisten tragen ein Leatherman-Werkzeug am Gürtel und geben ihre Funktelefone ungern aus
der Hand. Beides ist zugegebenermaßen nützlich und im Alltag praktisch. Aber auch lästig, denn im
Hause Greenpeace werden die Gegenstände unschwer als Statussymbole erkannt und sind daher
ein unerschöpflicher Quell für Spott.
Hipps persönliches Handy klingelt kurz nach sechs Uhr; am anderen Ende der Leitung ist Harald
Zindler, Aktionskoordinator an Bord des Greenpeace-Schiffes Altair. Die Altair verfolgt die Brent
Spar, seit die Plattform vor acht Tagen vor den Shetland-Inseln in Schlepp genommen wurde und auf
dem Weg durch den Nordatlantik ist. Die morgendlichen Gespräche der beiden folgen einem
eingespielten Ritual. Zindler, im Jahr 1980 einer der Gründer von Greenpeace Deutschland und
somit Aktivist der ersten Stunde, gibt zunächst die aktuelle Position der Flotte durch und faßt die
Ereignisse der Nacht zusammen. Dann beschwert er sich - wie jeden Morgen -, daß er zu wenig
über die aktuelle Kampagnen-Situation in Deutschland erfährt. Wie verhält sich die Deutsche Shell,
wie entwickelt sich der Tankstellenboykott, hat es neue Brandanschläge gegeben, wo bleiben die
versprochenen Faxe mit den Zeitungs- und Magazinartikeln vom Vortage, wo die Briefwechsel mit
den Rechtsanwälten? Nicht zuletzt davon hängen die strategischen Entscheidungen vor Ort und die
Art der weiteren Aktionen ab. Hipp kennt das schon, murmelt: "Ja, Harald. Paß auf, wir tun unser
Bestes...", und nörgelt dann seinerseits, daß er mehr über die Lage auf der Altair wissen sollte.
Schließlich sind er und sein Team das Sprachrohr und das logistische Hinterland für die Aktivisten
vor Ort.
Szenen einer Ehe. Zindler und Hipp haben gemeinsam schon so viele Greenpeace-Aktionen
koordiniert, daß sie sich im Grunde blind vertrauen. Dennoch grummeln sie sich aus Gewohnheit
jeden Morgen an, wohlwissend, daß inzwischen fast alle Radio- und Fernsehstationen in
Westeuropa die Satellitentelefonnummer der Altair verzweifelt anwählen. Das wird zunehmend zu
einem Problem; die Leitung wird damit auch für die interne Greenpeace-Kommunikation langsam
dicht.
Im Anschluß gibt Christian Bussau, einer der Kampagner an Bord, durch, welche Frühinterviews er
bereits gegeben hat und welche Sender sich für die nächsten Stunden angekündigt haben. Bussau,
Meeresbiologe und Fischereispezialist, stimmt - wie Zindler auch - mit Hipp das "wording" ab. Der
Anglizismus, in der internationalen Organisation nichts ungewöhnliches, bedeutet nicht mehr und
nicht nicht weniger, als daß sich alle Greenpeace-Sprecher zur Brent Spar, sei es auf den Schiffen,
bei Greenpeace UK, in den Niederlanden oder in Lerwick auf den Shetland-Inseln, möglichst auf
eine gemeinsame Sprachregelung einigen. Hipp achtet, wenn er Bussaus Interviews im Radio
verfolgt, auf die feinen Nuancen: "Christian, paß auf. Ihr kommt gut rüber, aber die Sender kriegen
das mit den Wasserkanonen der Norweger bisher nicht auf die Reihe. Ihr müßt bei euren Interviews
genauer erklären, welcher Druck auf den Rohren ist und was passiert, wenn unsere Leute auf der
Spar damit getroffen werden. Versprochen?" Bussau verspricht, vereinbart den nächsten
Routineanruf gegen Mittag und gibt noch durch, daß eine der Aktivistinnen an Bord sich Sorgen um
ihre Katze macht. Sie bittet darum, daß man ihre Nachbarin anruft. Hipp notiert sich den Punkt und
legt nach ein paar aufmunternden Grüßen an den Rest der Besatzung auf. Mehr Worte sind nicht
nur überflüssig, sondern auch teuer. Satellitenkommunikation, auf die Greenpeace bei Aktionen auf
See baut, verschlingt Geld wie ein Strudel.
Hipp geht die Lage in Gedanken kurz durch. Shell hat die Plattform am 23. Mai nach über drei
Wochen Besetzung räumen lassen. Nach Hipps Einschätzung zwei schwere Fehler des Konzerns:
sowohl die Räumung, als auch der Zeitpunkt. Wenn er im Krisenstab des Ölmultis gesessen hätte,
wären die Greenpeacer noch immer an Bord - kein Hahn würde nach ihnen krähen, kein Mensch
über Shell, Plattformen oder über die Bedrohung der Nordsee reden... Doch Shell hat nicht nur
geräumt, sondern auch kurz nach Ende der Vierten Nordseeschutzkonferenz im dänischen Esbjerg
mit dem Abschleppen der Anlage begonnen - ein Affront an die Adresse der Öffentlichkeit und der
europäischen Politiker. Die hatten mit Ausnahme der Briten und Norweger in Esbjerg für ein
generelles Versenkungsverbot von Plattformen ausgesprochen.
Inzwischen hat sich die Situation auf See dramatisch zugespitzt. Der Flottenverband - die Brent
Spar im Schlepptau der Smit Singapore und der Präsident Hubertus, dazu vier Shell-Begleitschiffe,
ein englisches Militärboot und das Greenpeace-Schiff Altair - ist nur noch 36 Stunden vom geplanten
Versenkungsgebiet entfernt. Seit vier Tagen ist die Brent Spar wieder besetzt; ein Hubschrauber hat
zwei Kletterer abgesetzt. Die Shell-Flotte versucht, jeden Kontakt zwischen den Besetzern und dem
Greenpeace-Schiff zu verhindern. Drei Sicherheitsschiffe beschießen die Plattform-Besetzer und die
Altair mit Wasserwerfern, und werden stündlich aggressiver. Hipp vermutet, daß es damit
zusammenhängt, daß die norwegischen Besatzungen der Schiffe sich für so manche Schlappe ihrer
Walfang-Kollegen rächen wollen. Er befürchtet, daß Shell die Kontrolle über die Besatzung der
Begleitschiffe und somit über die Situation vor Ort verloren hat.
Auch politisch ist die Brent Spar Shell aus dem Ruder gelaufen. Aus der Räumung, den ersten
Informationsbesuchen von Greenpeacern an Shell-Tankstellen und einer EMNID-Umfrage zur
Boykottbereitschaft der Bundesbürger hat sich eine Massenbewegung von Shell-Verweigerern
entwickelt, an deren Spitze das fast geschlossene Bundeskabinett steht. Inzwischen ufert der Druck
auf den Konzern, der sich in Deutschland bereits in 30 Prozent Umsatzeinbußen ausdrückt, weiter
nach Dänemark, in die Niederlande und nach Großbritannien aus. Doch Shell UK zeigt trotz
konzerninternem Druck aus Deutschland und dem Stammhaus in Den Haag immer noch keine
Bereitschaft zum Einlenken.
Langsam füllt sich das Büro. Gegen acht Uhr ist das Brent Spar-Team vollzählig vertreten. Hipp
delegiert bei einer kurzen Besprechung die diversen Jobs. Er selbst hält die Fäden in der Hand, und
sorgt dafür, daß alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Er knüpft weiter den Kontakt zu der Altair
auf hoher See, zu den englischen und niederländischen Büros, zum internationalen Pressezentrum
der Organisation in London, und zum Aktionsbüro auf den Shetlands. Und nicht zuletzt: Er kümmert
sich um die Katze.
Barbara Börner und Dörte Schüler sind für die permanente Betreuung der bundesweit über siebzig
Greenpeace-Gruppen zuständig. Die Gruppen, allesamt ehrenamtliche Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen, haben in den vergangenen Wochen geackert wie selten zuvor, und an über 300
Shell-Tankstellen Flugblätter und Protestpostkarten verteilt. Während das Hamburger Team kaum
aus dem Büro herausgekommen ist, haben sie in Tausenden von Einzelgesprächen mit den Kunden
an der Zapfsäule die Greenpeace-Argumente vertreten. Börner und Schüler achten außerdem
unauffällig darauf, daß das "Großraumbüro" auf 20 Quadratmetern, mit fünf Telefonen, fünf
Schreibtischen und unzähligen Ablagen, nicht im Chaos versinkt.
Zwei Kampagner, Andreas Kleinsteuber und Jörg Feddern, beantworten in den nächsten Stunden
die Pressenachfragen. Sie sind mit den Radio-Interviews, Hintergrundgesprächen und den
Filmteams, die sich die Klinke in die Hand geben, voll ausgelastet. Die beiden arbeiten mit
Pressesprecher Fouad Hamdan zusammen, einem Deutsch-Libanesen, der bereits an einer
weiteren Presseerklärung feilt: Am Wochenende wurde Greenpeace in London ein behördeninternes
Papier anonym zugespielt. Es erhärtet den Verdacht, daß sich an Bord der Brent Spar noch
wesentlich mehr Öl, Ölschlamm und Chemikalien befinden, als Shell beim Versenkungsantrag
angegeben hatte. Darunter befindet sich auch die Chemikalie Glyoxal: Der Stoff muß nach
englischem Recht zwingend an Land entsorgt werden. Ist die geplante Versenkung damit nicht nur
ein Anschlag auf den klaren Menschenverstand, sondern auch rechtlich illegal? Hamdan muß die
komplexe Sachlage möglichst klar und in wenigen Worten zusammenfassen. Eben das richtige
"wording" finden.
Schon um neun ist Hipps schöner Arbeitsplan für den Vormittag völlig über den Haufen geworfen.
Hamdan flucht auf arabisch und muß seine Presseerklärung umschreiben; die beiden Kampagner
haben ein neues Thema bei ihren Interviews. In der Nacht ist ein weiteres Greenpeace-Aktionsschiff,
die Solo, vom Panama-Kanal kommend zur Brent Spar gestoßen. Es war geplant, sie zunächst im
Hintergrund zu halten und als Plattform für ein weiteres Dutzend Journalisten zu nutzen. Was
allerdings keiner ahnte, und auch von der Altair nicht durchgegeben wurde: Es waren weitere
Kletterer an Bord der Solo. Und Paula Huckleberry, die Pilotin des roten Bordhubschraubers, hat es
im ersten Anflug geschafft, zwei weitere Besetzer auf der Plattform abzusetzen.
Noch ist keine eigene Greenpeace-Meldung in Umlauf, aber der ZDF-Reporter an Bord der Solo
hat die glückliche Landung soeben im Frühstücksfernsehen vermeldet. Von einer Minute auf die
andere sind die Chemikalien in den Brent Spar-Tanks, die eine Versenkung doch rechtlich in Frage
stellen und im Grunde wichtiger sind als die Anzahl von Besetzern, für die Medien kein Thema mehr.
Im Aktionsraum laufen die Telefone heiß. Wer sind die vier Besetzer, wer ist Paula Huckleberry,
stimmt es, daß sie Vietnamkriegs-Veteranin ist? "Nein, das stimmt nicht. Wir wissen nicht, welcher
Journalist dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat." Woher stammt der Hubschrauber, wieviele Leute
sind jetzt an Bord, schweben sie in Lebensgefahr? Haben sie ein Photo, können wir mit Frau
Huckleberry telefonieren, können wir die Besetzer live ins Studio schalten? "Nein, tut mir leid, wir
geben die Namen der Besetzer nicht bekannt. Ja, wissen Sie, wir versuchen selbst seit einer halben
Stunde, Kontakt zur Solo aufzunehmen. Klar, das kann ich machen, ich gebe ihre Telefonnummer
gerne weiter an das Schiff, aber versprechen kann ich derzeit beim besten Willen nichts." Hamdan,
Kleinsteuber und Feddern reden wie mit Engelszungen zu den Redakteuren und
Hörfunkjournalisten, die ob der schlechten Verbindung zu den Greenpeace-Schiffen allesamt ein
Komplott gegen ihre Person vermuten, und sich beschweren, daß ausgerechnet ihr Sender keine
Direktleitung in den Nordatlantik hat.
Das Brent Spar-Lagezentrum, vor wenigen Wochen noch ein ruhiger Besprechungsraum, gleicht
wie so oft in den Tagen zuvor einem Tollhaus. Schlechte Luft, schlechtes Licht. Wände voller
Entwürfe für Shell-Plakate, Seekarten mit Positionsangaben und Schreibtafeln, die mit kryptischen
Kürzeln und Legionen von Telefonnummern verunstaltet sind. Leute rennen raus und rein; stolpern
über Telefonschnüre und Computerkabel. Eine Kaffeemaschine röchelt und wetteifert mit dem
Hintergrundrauschen des Fernsehers. Aschenbecher qualmen; die zwei Nichtraucher im Team
haben den Kampf bereits seit Wochen aufgegeben. Die neuen dpa-Meldungen; die Kolleginnen von
der Pressestelle haben sie bereits kopiert und verteilen sie auf den überlaufenden Schreibtischen.
Eine Tüte mit belegten Brötchen wird gebracht und in einer Ablage vergessen.
Es klingelt immerzu, überall, pausenlos. "Südwestfunk? Moment, ich verbinde." Klingeln.
"Greenpeace, Guten Morgen." Kurze Pause. "Geben Sie mir einfach Ihre Adresse durch, wir
schicken Ihnen die Aktions-Postkarten dann heute noch raus. Und Danke für Ihre Unterstützung."
Klingeln. "Ach, Sie sind Shell-Pächter." Lange Pause. "Das ist schön, daß Sie unsere Aktion
unterstützen." Sehr lange Pause, Griff zur Zigarette. "Ja, wir wissen, daß Sie und Ihre Kollegen am
härtesten getroffen werden. Es haben auch schon Kollegen von Ihnen angerufen, die gesagt haben,
daß sie den Kundenrückgang noch höchsten zwei oder drei Wochen durchstehen. ... Nein, das
finden wir auch nicht gut. Aber Sie müssen auch uns verstehen, wir haben den Boykott nicht
ausgerufen." Lange Pause, Feuerzeug gefunden. "Ich an Ihrer Stelle würde mich jetzt mit den
anderen Pächtern zusammentun und richtig Druck bei Shell machen. Die sind die Einzigen, die die
Sache mit einem Schlag beenden könnten." Lange Pause. "Ja, finden wir auch. Danke für Ihren
Anruf."
Am frühen Dienstagabend, kurz nach 18 Uhr, kehrt endlich etwas Ruhe ein. Irgendjemand gibt
eine Runde Eis am Stiel aus. Ein anderer vermerkt lapidar, daß er es den achten Tag in Folge
versäumt hat, zur Bank zu gehen. Er leiht sich weitere fünfzig Mark. Hipp und Börner organisieren
die Nachtschicht und bereiten den kommenden Mittwoch vor. Ein Kampagner und ein zweiter
Pressesprecher werden noch bis Mitternacht die Stellung halten und die Pressemitteilung für den 21.
Juni vorbereiten. Hipp muß noch ins Greenpeace-Lager im Hamburger Hafen und mit seinen
Kollegen die nächsten möglichen Aktionen gegen Shell absprechen. Er bleibt dann die Nacht über
per Handy für die Altair und das Büro auf den Shetlands auf Empfang. Das Team verabredet sich für
sechs Uhr am nächsten Morgen; die Konfrontation mit Shell geht in die letzte und entscheidende
Runde. Die Brent Spar ist jetzt nur noch 24 Stunden vom North Feni Ridge entfernt, dem
Tiefseegraben im Nordatlantik, wo sie 2300 Meter tief versenkt werden soll.
Barbara Börner erzählt später, daß an diesem Abend, am 20. Juni, eine seltsame Stimmung im
Büro geherrscht habe: "Irgendwie wollte keiner so richtig nach Hause. Da lag was in der Luft, weil es
Spitz auf Kopf stand. Alle waren sich sicher, daß wir Shell hart an der Grenze zur Kapitulation hatten,
und machten sich gegenseitig Mut. Aber niemand konnte sich so richtig vorstellen, daß der Riese
auch tatsächlich einknickt."
Wie und wann sich die Nachricht schließlich verbreitete, darüber gibt es widersprüchliche
Angaben. Die Einen behaupten, Pressesprecher Fouad Hamdan habe kurz vor 19 Uhr mitten in
einem Telefonat mit einem Journalisten der BBC den Hörer fallen lassen, sei durch den Flur getobt
und habe "Irre, Irre!" gebrüllt. Die Andern sagen, Birgit Radow, die Chefin der Pressestelle, sei kurz
davor mit roten Flecken am Hals in den Brent Spar-Raum gekommen und habe ganz leise gesagt:
"Leute, ihr werdet es nicht glauben, was ich gerade gehört habe. Ihr habt gewonnen."
Roland Hipp traut dem Frieden nicht: "Das will ich erst schwarz auf weiß sehen." Dann, Minuten
später, um 19.14 Uhr, läuft über den dpa-Ticker eine Eilmeldung ein. Die Presseagentur vermeldet
lapidar, daß Shell UK in London verkündet hat, daß die Brent Spar nicht versenkt, sondern an Land
entsorgt werden soll. Der Zettel mit den fünf Textzeilen wird wie eine Ikone von Hand zu Hand
gereicht und laut verlesen. Es ist wahr: Der Riese ist eingeknickt. Kurze Besprechung. Ratlosigkeit.
Was sagen wir dazu, wenn jetzt gleich die Telefone klingeln? Und dann: Innerhalb weniger Minuten
strömen Greenpeacer aus allen Etagen durch die Tür.
Es vergeht keine Stunde, da stehen die Menschen dichtgedrängt im Flur. Wie aus dem Nichts sind
plötzlich Sektkisten und Blumen aufgetaucht, an Eßbares hat dagegen keiner gedacht. Gläser sind
Mangelware, die Flaschen gehen reihum. Passanten haben unten an der Tür geklingelt, Einlaß
gefunden, und feiern jetzt mit. Ein Hamburger Greenteam, Mama und Papa im Schlepptau, kommt
zu Gratulieren vorbei. Lokale Sender haben sofort ihre Teams losgeschickt; die TV-Reporter und
Radio-Leute interviewen wahllos und zerren jeden vor die Kamera, der Worte findet. Ein Reporter
befragt den Tonmann eines anderen Senders, ja, heute auch egal. Wildfremde Menschen rufen an,
wollen weiter was tun, wollen Greenpeace-Mitglieder werden. Korken knallen im Licht der
Scheinwerfer. In den etwas dunkleren Ecken haben sich diejenigen zurückgezogen haben, die ihren
Tränen freien Lauf lassen. Alle paar Minuten rennt einer in den Tickerraum und kommt begeistert mit
dem nächsten Schwung Faxe zurück, die seit der Tagesschau unaufhörlich aus der Maschine laufen.
Die Faxblätter füllen inzwischen mehrere Wände: "Glückwunsch!" Greenpeace liegt sich in den
Armen; die Anspannung der letzten Wochen entläd sich im Überschwang der Gefühle.
Das Brent Spar-Team hat sich unbemerkt in seinen Raum zurückgezogen. Erste Telefonate mit
den Freunden in London, auf den Shetlands, mit der Altair und der Solo. Glückliche Gesichter,
Freude ohne viele Worte. Widersprüchliche Gefühle und Gedankenfetzen: Gewonnen. Wochenlang
auf einer Welle der Begeisterung gesurft, Entscheidungen lange diskutiert und dann doch aus dem
Bauch heraus getroffen. Freundschaften, Beziehungen, Familie vernachlässigt.
Gehofft, gebangt, befürchtet. Kampagnenarbeit wie Achterbahnfahren im Dunkeln. Fünfzig Tage
Rödeln ohne Ende - und jetzt? Fouad Hamdan bringt es mit seinem levanthischen Humor auf den
Punkt: "Was meint ihr, gibt es ein Leben nach Brent Spar?"
Lange nach Mitternacht; die spontane Feier ist schon etwas abgeebbt. Roland Hipp sitzt mit einem
Kollegen im Halbdunkel des Treppenhauses, in der einen Hand eine Zigarette, in der andern ein
Glas mit warmem Sekt. Die Beiden können schwer von ihren Gewohnheiten lassen, und genau wie
in den fünfzig Tagen zuvor versucht Hipp, Ordnung in die Geschichte zu bringen. Die Besprechung
mit den Aktionisten kann er absagen; weitere Aktionen gegen Shell sind nach Lage der Dinge wohl
nicht angesagt. Auch die neuen Plakate, die nach der Versenkung bundesweit unter die Leute
gebracht werden sollten, können storniert werden. Seine Jobliste wird in Gedanken lang und länger;
auf seinem Klemmbrett sind schon neue Termine vermerkt. In vier Stunden soll er frischt geduscht
vor der Kamera stehen und den RTL-Zuschauern erklären, wie es zu diesem Ende der Affäre
kommen konnte.
Die Beiden räsonieren über die Frage still und versonnen. Vor wenigen Stunden ist offensichtlich
etwas passiert, dessen Ursachen, Hintegründe und Folgen noch keiner überschauen kann. "Paß
auf. Für heute ischs genug", bescheidet Hipp. Die Stufennachbarn stoßen nochmals an, diesmal aus
einen anderen Grund. Hipp hat heute Geburtstag. Prost, Shell.
2. Wohin mit einer Ruine?
Ein Besuch in Fjordland an der Westküste Norwegens ist der Ausflug in eine grandiose Natur.
Rauh, karg und weiß im Winter, doch im Sommer auch tief grün; bizarre und verwunschene Flecken,
als hätten sie den nordischen Trollen als Abenteuerspielplatz gedient. Majestätische Gletscher und
an die Hänge geduckte dichte Wälder, doch nie von ausgedehnter Weite. Von der offenen Küste der
Nordsee winden sich immer enger werdende Buchten und Felsspalten tief ins Innere und teilen das
Land. Unzählige kleine Inseln, hohe Gebirgsflanken und steile Schluchten; sie stoppen Wind und
rauhe See und machen die Fjorde zu sicheren, rundum geschützten Häfen. Die Fjorde, die von
klaren Bächen aus den Bergen gespeist werden, sind ein friedvolles Paradies für Segler,
Sportfischer und Wanderer. Dennoch ist die Gegend zwischen Stavanger und Bergen zugleich eine
geschäftige Industrielandschaft. Die Zufahrten zu den Fjorden sind mit bis zu 600 Metern Wasser
unterm Kiel oft tiefer als breit und ein ideales Operationsgebiet für Ölkonzerne und Firmen, die
jenseits der Küste, also "offshore", arbeiten. Rund um Stavanger und Haugesund liegen die besten
Liegeplätze in Europa, um Erdgas- und Ölplattformen mit enormem Tiefgang zu montieren und auf
den Transport hinaus in die Nordsee vorzubereiten.
Von Sommer 1975 bis Frühjahr 1976 wurde im Bezirk Suldal im Erfjord, wo ansonsten nur ein
kleiner Segelhafen, ein Kaufmannsladen mit Texaco-Tankstelle und eine kleine Poststation zu
erwähnen wären, die Brent Spar montiert. Zwei Firmen aus den Niederlanden hatten im Auftrag von
Shell die Decksaufbauten und den riesigen Unterwassertank in ihren Werften in Rotterdam und
Schiedam getrennt gebaut und dann waagerecht nach Norwegen schleppen lassen. Im Erfjord
wurden die Einzelsegmente zusammengefügt. Zunächst wurde der Tankkörper in neun Tagen
vorsichtig geflutet und senkrecht gestellt. Offensichtlich nicht vorsichtig genug und mit Folgen:
Technische Inspektionen ergaben später, daß die Außenhaut aus zwei Zentimeter dickem Stahl an
einigen Schwachstellen, die sich erst im Betrieb auf der Nordsee herausstellen sollten,
überbeansprucht worden war. Mit riesigen Schwimmkränen wurden schließlich die Wohn- und
Maschinendecks, die alleine über 2.000 Tonnen wogen, aufgesetzt; die Anlage seefest gemacht. Im
Frühjahr 1976 wurde die Plattform beim Schiffsregister Lloyd`s List in London zur offiziellen
Klassifizierung angemeldet.
Die Brent Spar war ein beeindruckendes Bauwerk, auf das die Konstrukteure von Shell Research
BV in Holland mit Recht stolz waren. Mit insgesamt 141 Metern Höhe, vergleichbar mit dem Kölner
Dom, und maximal 29 Metern Durchmesser war sie konzipiert als senkrecht im Wasser stehender
Öltanker. Sie wog leer insgesamt 14.500 Tonnen, und wurde von zwölf Ballasttanks und einem
festen Eisenerz-Beton-Fuß in der Vertikale gehalten. Ein Schaft für die Aufbauten ragte knapp 30
Meter aus dem Wasser und trug die Kontrollräume, Quartiere für maximal 30 Mann Besatzung, ein
Hubschrauberdeck, einen Kran sowie den Ladebaum für den Öltransfer. Der sollte aus den sechs
Tanks erfolgen, die sich unter Wasser fast hundert Meter in die Tiefe erstreckten, und 300.000 Barrel
- rund 47,7 Millionen Liter - Öl faßten. Der Ladebaum und die Übergabeschläuche charakterisierten
die Aufgabe der schwimmenden Insel: Die Brent Spar war dafür vorgesehen, im britischen Brent-
Ölfeld den Bohrplattformen Brent A - gesprochen Alpha - und Brent B - wie Bravo - als
Ölzwischenlager zu dienen. Tanker sollten andocken, Nordsee-Öl überholen, und die Ladung zu den
Raffinerie-Häfen transportierten.
Im Juni 1976 wurde die Spar zum Brent-Ölfeld geschleppt und mit Ketten sowie armdicken
Stahlseilen an sechs Betonblocks verankert, die in 145 Meter Tiefe auf dem Grund der Nordsee in
Position gebracht worden waren. Aus dem Boden der Brent Spar ragten zwei flexible
Schlauchverbindungen, die mit dem "manifold", einer Pipeline-Pumpstation direkt unter der Insel,
verbunden wurden. Damit war die Anbindung an die Förderplattformen Brent A und Brent B
geschaffen, die das gewonnene Öl nunmehr in die Brent Spar pumpen konnten.
Die Ladevorgänge folgten alle dem gleichen Muster: Der Tanker manövrierte sich an den Ausleger
mit dem Ladegeschirr, und während das Rohöl in die Schiffstanks floß, wurde durch ein
kompliziertes Rohr- und Ventilsystem Seewasser in die Öltanks der Brent Spar gepumpt, um
Stabilität und Tiefgang zu wahren. Wieviel Liter Seewasser durch diesen fortwährenden Austausch in
den Tanks mit Öl verseucht und beim nächsten Ladevorgang wieder in die Nordsee abgelassen
wurden, ist nicht bekannt.
Der Betrieb der Brent Spar stand unter keinem guten Stern. Bereits im Januar 1977 rissen während
eines Umpumpvorganges die Schweißnähte an zwei Tanks; als mögliche Gründe wurden die
Überschreitung des zulässigen Druckunterschieds sowie die Überbeanspruchung während des
Aufrichtens im Erfjord genannt. Untersuchungen ergaben, daß eine Reparatur Monate in Anspruch
nehmen und Unsummen verschlingen würde. Shell entschloß sich, die Risse und Öffnungen nur
notdürftig zu schließen, um die Statik der Anlage im Griff zu behalten, und ließ die beiden Öltanks
permanent mit Seewasser fluten. Denn: Nach nur zwei Jahren auf See hatte die Brent Spar de facto
ausgedient. Im Jahr 1978 ging das "Spar System", eine neue Pipeline-Verbindung, ans Netz und
verband das gesamte Brent-Feld mit dem Öl-Terminal Sullom Voe auf den Shetland-Inseln. Die
Plattform diente, nachdem das Verbundsystem den Betrieb aufgenommen hatte, nur noch als
Reservelager für eine immer kleiner werdenden Tankerflotte und als Rückhalte-Tank während
Reparaturen an der Pipeline.
Die Brent Spar dümpelte eine Dekade fast vergessen vor sich hin. Erst 1991, nach fast fünfzehn
Jahren im Brent-Feld, wurde die Anlage kritisch unter die Lupe genommen, weil die
Unterhaltungskosten für Offshore-Anlagen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erheblich
gestiegen waren. Eine interne Shell-Studie führte schließlich aus, daß es für die Anlage nur zwei
Alternativen gab: entweder die hohe Investition von rund 225 Millionen Mark zur Generalüberholung
oder die Schließung und Abwrackung innerhalb von drei bis fünf Jahren. Shell entschloß sich, die
Brent Spar aufzugeben. Im Oktober 1991 wurde die Plattform komplett heruntergefahren, die Tanks
zum letzten Mal mit Seewasser gefüllt. Im November 1991 waren die Verbindungen zur Pipeline
gekappt und entfernt. Shell-Ingenieuren machten ein grobes Inventar, und rechneten hoch, wieviel
Öl und Chemikalien sowie welche Mengen anderer Schadstoffen sich noch an Bord und in den
Tanks befanden. Ein Shell-Mitarbeiter, der während dieser Phase an Bord war, sagte später: "Das
Ganze glich einem überstürzten Abzug mit ganz schneller Kosmetik. Die Operation wirklich
Großreinemachen zu nennen, wäre weit übertrieben." Die Brent Spar erhielt den Status einer "nicht
permanent bemannten Installation" und als solche eine vorläufige "Aufenthaltsgenehmigung" im
Brent-Feld bis zum Juni 1995.
Während draußen im Brent-Feld die verlassene und rostende Ruine den Winterstürmen trotzte,
wurde im schottischen Aberdeen über ihr Schicksal beraten - im Hauptquartier von Shell UK
Exploration and Production Ltd., einer Tochtergesellschaft von Shell UK in London von besonderem
Kaliber. "Sie hat es", so schreibt der Spiegel über die Shell Expro, "in schöner britischer Manier mit
schwerem Gerät zu tun, ihre Mitarbeiter kennen die See und beachten die Vorschriften."
Der Shell-Seebärenabteilung gilt die Nordsee als das feindliche Element, dem das schwarze Gold,
der Wertstoff Öl, mit allen Mitteln abzuringen ist. Shell Expro-Leute berauschen sich an
millionenteuren Investitionen und immer neuen technischen Meisterleistungen, doch die Entsorgung
von alten, abgeschriebenen Lasten wie der Brent Spar empfinden sie als lästige Pflicht.
Umweltschutz scheint in ihren Augen eine Marotte verschrobener Landratten und verwirrter Hippies;
er ist, wenn überhaupt, ein technisch zu lösendes Problem, und keine grundsätzliche Frage der
Unternehmensphilosophie.
Shell Expro sprach entsprechend im Jahr 1992 keine ausgewiesenen Umweltschutzfachleute,
sondern pragmatische Offshore-Spezialisten wie die britische Firma McDermott International oder
die Holländer von Smit Engineering in Rotterdam an, um sogenannte Machbarkeitsstudien erstellen
zu lassen. Die Firmen sollten alle technischen Aspekte der Entsorgung ausloten. Im Spätjahr 1992
legte Smit Engineering die Ergebnisse des "Contracts No. 647100/DB5235" vor, der den Rückbau
und die Verschrottung der Brent Spar in senkrechter Position untersuchte. Die zentralen
Schlußfolgerungen von Smit Engineering waren klar und deutlich: Es war technisch ohne Probleme
machbar, die Brent Spar in Norwegen senkrecht stehend abzubauen und an Land zu entsorgen. Der
Abbau würde, folgt man der Smit Engineering-Studie, umgerechnet rund 24,5 Millionen Mark kosten.
Welche weiteren Überlegungen und Aktivitäten diese Ergebnisse bei Shell Expro auslösten, bleibt
bis zur Stunde noch Firmengeheimnis. Fakt ist nur, daß die Smit Engineering-Studie, die Norwegen
als Abwrackort in Betracht gezogen hatte und von der Kostenseite her erstaunlich günstig schien,
beim weiteren Vorgehen keine Rolle mehr spielte. Die interessanten Ergebnisse von "Contract No.
647100/DB5235" verschwanden in einer Shell-Schublade.
Schließlich wurden Ingenieure von den Aberdeen University Research and Industrial Services
(AURIS) von Shell unter Vertrag genommen, um herauszufinden, wie mit der Brent Spar weiter zu
verfahren sei. Ihr klarer Auftrag: Kostenanalysen anzufertigen, mögliche technische Optionen der
Entsorgung zu empfehlen, aber auch eventuell dabei entstehende Umweltschäden auszuloten. Die
AURIS-Mitarbeiter machten sich ans Werk. Sie führten keine eigenen Mengenuntersuchungen oder
Stoffanalysen an Bord der Brent Spar durch, sondern stützten sich bei ihrer Arbeit auf die Shell-
Angaben, die während der "Grundreinigung" der Anlage im Spätjahr 1991 geschätzt worden waren.
Aus diesen vagen Schätzungen wurden die Hypothesen abgeleitet. AURIS arbeitete Hand in Hand
mit der britischen Beratungsfirma Rudall Blanchard Associates Ltd. (RBA), die aus den AURIS-
Optionen die umweltverträglichste Lösung herausfiltern und die politische Akzeptanz der
Entsorgungswege prüfen sollte. AURIS und RBA nahmen dazu Kontakt mit den britischen
Fachbehörden auf, stimmten den Entscheidungsprozeß ab und klärten im Vorfeld, ob die Option, die
später zur Genehmigung anstand, der Prüfung auch standhalten würde. Die Entsorgung der Brent
Spar wurde, daß sollte sich später an einem Beispiel noch herausstellen, maßgeschneidert. Im
Sommer 1994 - also nach gut zwei Jahren Prüfung - wurden zwei vorläufige RBA-Gutachten, die
sich jeweils auf den AURIS-Report bezogen, Shell Expro vorgelegt.
Das zentrale Gutachten trug bezeichnender Weise den Titel "Best Practicable Environment Option
BPEO", die "am besten durchführbare, umweltverträglichste Option" - mit der Betonung auf "am
besten durchführbar". Die Ergebnisse und Vorschläge entsprachen - das haben Gutachten
honorarabhängiger Konsultanten oft so an sich - dem Tenor, den der Kunde gerne lesen mag. Sechs
Optionen wurden bewertet und standen zur Auswahl. Sprengung und Versenkung vor Ort, "In-Field
Disposal" genannt und im Offshore-Slang auch als "Walk Away"-Strategie bekannt, wurde sofort
verworfen, weil sie nach Ansicht der RBA-Gutachter als "nicht genehmigungsfähig" galt.
Auch zwei weitere Optionen, den Verkauf der Anlage und eine andere Nutzung durch Shell,
standen nicht mehr zur Diskussion, weil kein potentieller Käufer in Sicht war und Shell selbst keinen
anderen Verwendungszweck sah.
Eine weitere Option, der Rückbau der Anlage in senkrechter Schwimmposition, wurde ebenfalls
nicht weiter in Erwägung gezogen. RBA hatte diese Möglichkeit nicht näher untersucht, weil "in
britischen Gewässern keine geeigneten Häfen" dafür zu finden waren. Daß Smit Engineering diese
Option sehr kostengünstig angeboten und wie beim Aufbau einen norwegischen Fjord dafür
vorgeschlagen hatte, wurde von RBA in seinem Gutachten mit keinem Wort erwähnt. Das wirft im
Rückblick verschiedene Fragen auf. Wer hatte ausschließlich einen britischen Hafen als
Entsorgungstätte vorgegeben? Und hatte Shell Expro die Smit-Machbarkeitsstudie von 1992
überhaupt zur Prüfung an Rudall Blanchard Associates weitergegeben? Wenn ja, warum war sie mit
keinem Wort in die Überlegungen eingeflossen? Wenn nicht, warum war sie im Shell-Giftschrank
verschwunden?
Zur Entscheidung empfohlen wurden Shell Expro schließlich zwei Varianten, die beide als
"technisch machbar" galten: waagerechter Rückbau der Anlage an Land oder Versenkung im
Nordatlantik. Beide Optionen kamen sich in einigen Entscheidungskriterien, die RBA angelegt hatte,
sehr nahe. Beim waagerechten Rückbau an Land liege, so die Gutachter, das Risiko eines tödlichen
Arbeitsunfalles bei "0,030 und 0,088 Prozent". Umweltschäden und Einflüsse auf die Umgebung
beim Rückbau seien zu vergleichen mit dem "täglichen Einfluß küstennaher Industrieanlagen." Auch
die Entsorgung der Stoffe an Bord sei zufriedenstellend in entsprechenden Anlagen und
"authorisierten Deponien" zu lösen. Vergleichbares fanden die Experten von Rudall Blanchard für die
Nordatlantikversenkung heraus. Tödliche Unfälle seien, da weniger Arbeitsschritte zu erledigen
waren und das Drehen der Anlage in eine waagerechte Lage nicht nötig war, mit einer geringeren
Wahrscheinlichkeit zwischen 0,005 und 0,014 Prozent zu erwarten. Auch die Folgen für die Umwelt
seien überschaubar und könnten "auf kleine lokale Ereignisse reduziert werden." Eine Versenkung
bedeute in der Summe "ein kleines bis zu keinem Risiko für die Nordsee und die
Küstenökosysteme." Gravierender Unterschied allerdings zu Gunsten der Versenkung: Die
Entsorgungsarbeiten an Land, das Entleeren der Tanks und die Behandlung der Schadstoffe,
erhöhten bei "unsachgemäßem" Umgang das Gesundheitsrisiko der Arbeiter. Beide Varianten waren
von RBA politisch vorsondiert worden; beide würden, so die Aussage im BPEO-Gutachten, "für
Behörden und interessierte Dritte akzeptabel sein."
Was in Abwägung der beiden Optionen allerdings eindeutig für die Versenkung sprach, waren die
Kosten, die das Gutachten jeweils in Aussicht stellte: Während der Rückbau an Land mit
umgerechnet rund 115 Millionen Mark zu Buche schlagen sollte, wurden für die Tiefseeentsorgung
nur rund 30 Millionen Mark prognostiziert.
Mit diesen Zahlen und Fakten gerüstet, legten die Aberdeener Shell-Leute, die nach drei Jahren
Prüfung vollständig von ihrer Lösung überzeugt waren und die Smit Engineering-Studie zum
senkrechten Rückbau in Norwegen längst verdrängt hatten, den Konzern-Oberen von Shell UK ihr
eindeutiges Votum auf den Tisch: Versenkung. Und die Londoner, mit ihrem Vorsitzender Chris Fay
allen voran, sind vor allem für die Kostenkontrolle zuständig: Bei einem Konzernumsatz von rund
129 Milliarden US-Dollar (1994) fiel der Unterschied zwischen Versenkung und Landentsorgung von
85 Millionen Mark zwar kaum ins Gewicht, aber immerhin. Fay stimmte der Versenkung zu und
zeichnete ab - ohne Gespür dafür, was sich durch diesen schnellen Federstrich anbahnen sollte.
Auch die letzte Instanz, die Abteilung Energie beim Ministerium für Handel und Industrie (DTI) unter
Minister Tim Eggar, zog ohne langes Zögern mit. Von den über 200 Plattformen im britischen
Nordsee-Sektor kommen inzwischen über drei Dutzend ans Ende ihrer Lebensdauer; nach
Schätzungen der britischen Offshore-Vereinigung UKOOA müssen in den nächsten zehn Jahren
rund 50 Anlagen außer Betrieb gestellt werden. Ihr Schicksal regelt grundsätzlich ein
Übereinkommen in der Schlußakte der Genfer Seerechtskonvention von 1958, das vorschreibt, daß
alle auf See befindlichen "Installationen, die geschlossen oder aufgegeben werden, vollständig
entfernt" werden müssen. Diese eindeutige Bestimmung ist jedoch in den vergangenen zwei
Jahrzehnten durch Regularien der Londoner Konvention von 1982, andere Seerechtsbestimmungen
und Richtlinien der International Maritime Organisation (IMO) ausgehöhlt worden.
Die IMO-Richtlinien sehen etwa vor, daß alle Anlagen in drei Kategorien - in Wassertiefen unter 75
Meter, mit Aufbauten unter 4.000 Tonnen und vor Ende 1997 gebaut - vollständig entfernt werden.
Entscheidend für die Ölkonzerne ist jedoch die Klausel, daß alle Anlagen an Ort und Stelle bleiben -
sprich versenkt - werden können, die nicht in diese drei Kategorien fallen: somit alle wesentlich
größeren Anlagen und alle Plattformen in tieferen Gewässern. Das sind im britischen Nordsee-
Sektor allein rund 120 von über 200 Anlagen. Ein weiteres Schlupfloch: Eine Befreiung von den
Vorschriften ist nach den IMO-Richtlinien möglich, wenn der Abtransport der Plattform "extreme
Kosten" und außergewöhnliche "technische" Probleme verursacht, sowie "unangemessene" Risiken
birgt.
Damit gewappnet, schien legal nichts gegen die Versenkung der Brent Spar zu sprechen. Doch
andererseits stand ein vor 30 Jahren während des Offshore-Baubooms öffentlich gegebenes
Versprechen im Raum: Alle Plattformen, hieß es damals zur Beruhigung der aufgebrachten
Nordseefischer, würden komplett wieder an Land gebracht werden. Schnee von gestern; die
Behörden fanden eine Lösungsformel, die vernünftig klang und alle Möglichkeiten zumindest
theoretisch offenhielt: "case-by-case", die Strategie der Fall-zu-Fall-Entscheidung. An den
Richtlinien, die auf dieser Grundlage die Entsorgung von alten Offshore-Anlagen im britischen Sektor
regeln sollten und der geplanten Versenkung der Brent Spar den Weg ebneten, wurde in einer
interministeriellen Arbeitsgruppe seit Monaten gearbeitet. Fakt ist: AURIS und RBA hatten 1993 in
Shells Auftrag mit den behördlichen Sachbearbeitern, die an den Richtlinien-Entwürfen feilten, über
Monate hinweg in Kontakt gestanden; entsprechende Informationen ausgestauscht und abgeglichen.
Daher wird wohl nie mehr genau zu klären sein, was zuerst da war: das Huhn oder das Ei? Wurden
die Richtlinien, die das Schicksal von rund 200 britischen Offshore-Einrichtungen präjudizierten und
auf knapp 200 weitere in den norwegischen und dänischen Sektoren großen Einfluß hatten, um die
Brent Spar als erstes Pilotprojekt herumgeschrieben? Oder orientierte sich Shell strikt an den
behördlichen Vorgaben?
Nicht nur der Konzern war an der Versenkung interessiert, weil sie billiger war. Shell UK rechnete
damit, "mindestens 60 Prozent der jeweiligen Entsorgungskosten" von der Steuer absetzen zu
können. Von jeder Mark, die in die Entsorgung floß, konnten also 60 Pfennige über den Umweg
Steuernachlaß der Staatskasse aufbürden werden: Die Regierung in London mußte ebenfalls daran
interessiert sein, die billigere Versenkung-Strategie zum Regelfall werden zu lassen. Die Mehrkosten
der Landentsorgung, im Fall der Brent Spar noch magere 85 Millionen Mark, addierten sich,
hochgerechnet auf die kommende Entsorgungsflut von über 200 Anlagen im britischen Sektor,
schnell auf über 17 Milliarden Mark. Davon 60 Prozent - das war ein Vermögen, das dem ohnehin
leeren britschen Staatssäckel in Zukunft bei einer generellen Landentsorgung fehlen würde.
Es dauerte Monate, bis das komplizierte Genehmigungsverfahren für die Versenkung der Brent
Spar - auf Grundlage des AURIS-Reports und der im Dezember 1994 vorliegenden Endversionen
der beiden RBA-Gutachten - schließlich alle behördlichen Instanzen durchlaufen hatte. Eingeschaltet
in die Beratungen wurde von der Energie-Behörde das britische Umweltministerium unter John
Gummer. Die Umweltbehörde mußte eine Stellungnahme abgeben, und Gummer war der Mann, der
die Versenkung bei seinen Umweltministerkollegen im Ausland zu vertreten hatte. Gummer fand
sofort eine griffige Formel, die er von nun an gebetsmühlenartig wiederholen sollte: "Vom
ökologischen Standpunkt aus ist die Versenkung die sauberste Lösung, und allein das ist
entscheidend." Das konnte Shell nur billig sein. Die Brent Spar wanderte durch alle Hierarchien von
Amststuben: Die tatsächliche Lizenz mußte, das schrieb das Gesetz so vor, vom Leiter einer
untergeordneten Behörde des Landwirtschafts- und Fischereiministerium des "Scottish Office"
(SOAFD), dem Torry Research Laboratory nahe Aberdeen, ausgestellt werden.
So unterschrieben alle Beteiligten eine politisch billige Lösung, und hießen folgende, im
Genehmigungsantrag vorgelegten Fakten gut: Die Brent Spar sollte, so das RBA-Gutachten auf
Basis von unüberprüften Shell-Angaben, mit festen Abfallstoffen und "drei Klassen von regulierten
Substanzen, vor allem Kohlenwasserstoffen, Schwermetallen und schwachradioaktiven
Rückständen" von ihrer Position in der nördlichen Nordsee in den Nordatlantik geschleppt und dort
versenkt werden. Das hieß im Klartext: Auf den Böden der sechs Brent Spar-Tanks, von denen nur
zwei von Shell 1991 beprobt worden waren, hatten sich mindestens 100 Tonnen "sludge" abgesetzt,
eine Mischung aus Sand, Öl, Chemikalien und Schwermetallen. Die giftigen Schwermetalle wurden
einzeln aufgeführt: Arsen, Cadmium, Chrom, Kupfer, Blei, Quecksilber, Nickel und Zink. Sie stellten
insgesamt nur eine Menge von rund 150 Kilogramm dar, waren aber mit rund 9,5 Tonnen
Kohlenwasserstoffen vermengt. Hinzu kamen, auch das wurde hochgerechnet aus den
Messergebnissen zweier Tanks und nach Materialuntersuchungen auf Brent A und Brent B, rund 30
Tonnen schwachradioaktive Rückstände. Dies waren Salze, die in schwächerer Konzentration im
geförderten Öl vorkamen, und sich über die Jahre in den Tank-, Rohr- und Pumpsystemen der Brent
Spar abgelagert hatten. Daß das Seewasser in den gefluteten Tanks mit Öl vermischt und
kontaminiert war, wurde angemerkt, aber nicht weiter gewertet.
In Absatz 3.2.6. des RBA-Gutachtens wurde außerdem noch vermerkt: "Im Jahr 1991 wurden die
Tanks mit 4500 Liter Glyoxal behandelt. (...) Es wird davon ausgegangen, daß das Glyoxal eine
chemische Reaktion eingegangen ist und daß alle Reaktionsstoffe während der
Außerbetriebsstellungsoperation im Jahr 1991 entfernt wurden (AURIS, 1994)". Diese Fußnote über
den lange zurückliegenden Einsatz einer Chemikalie schien zunächst keine weitere Bedeutung zu
haben.
In der zweiten Februarwoche 1995 war der Genehmigungsprozeß für die Versenkung der Brent
Spar abgeschlossen. Am 16. Februar wurde das Ergebnis öffentlich bekanntgegeben. Minister Tim
Eggar kündigte an, daß die Plattform im Sommer an einem der drei vorgeschlagenen
Versenkungsorte, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber beim über 2000 Meter tiefen North Feni Ridge,
gesprengt werde. Dies geschehe, so Eggar, in "voller Übereinkunft mit allen internationalen
Konventionen und auch im Rahmen der Oslo und Paris Kommissionen von 1992 OSPARCOM." Die
Schadstoffe an Bord seien zu vernachlässigen und würden, so Eggar später, "im schlimmsten Falle
ein paar Würmer auf dem Meeresgrund töten."
Tim Eggar hatte im Februar noch keine Ahnung, welchen Ärger ihm die Handvoll Würmer noch
bereiten sollten.
3. Gijś fixe Idee
Im Sommer 1980 entdeckte der Holländer Gijs Thieme, damals 27 und Betreuer in einem Heim für
schwererziehbare Jugendliche, in einer Amsterdamer Tageszeitung eine kleine Greenpeace-
Anzeige: "Techniker oder Mechaniker dringend gesucht." Thieme war weder das eine noch das
andere, hatte aber ein Semester an einer Schule für Schiffsingenieure zugebracht. Er meldete sich
an Bord des Greenpeace-Flagschiffes Rainbow Warrior bei Kapitän Jon Castle, und war, nachdem
er einen der Schlauchbootmotoren überholt hatte, fortan Umweltaktivist. Thieme segelte an Bord der
alten Rainbow Warrior nach Neufundland, um Robben zu schützen. Er steuerte Schlauchboote unter
Atommüllfässer, die im Nordatlantik versenkt werden sollten, und protestierte in der Nordsee solange
gegen Dünnsäure, bis die Verklappung 1988 endlich eingestellt wurde.
"Bis 1992 habe ich dann verschiedene Jobs in Amsterdam gemacht", erinnert er sich. "So ziemlich
alles - von der Nordsee-Kampagne für die Holländer bis zur Schiffsbetreuung bei Greenpeace
International." Als Thieme vor drei Jahren auf eigenen Wunsch von der Lohnliste gestrichen wurde,
bedeutete dies nicht, daß er der Organisation den Rücken kehrte. Wer so lange Jahre dabei war,
bleibt in der Regel in Reichweite der alten Mitstreiter. "Mitte Dezember 1994 hat Tim Birch, der
Koordinator der Chemie-Kampagne, angerufen und mich gefragt, ob ich ihm bei der Vorbereitung
der Nordseeschutzkonferenz im Juni 1995 helfen konnte. Das heißt, ich sollte ihm Ideen und Bilder
liefern, auf denen die aktuelle Problematik der Nordsee klar zu erkennen war", erinnert sich Thieme.
Keine einfacher Job: Die Nordsee ist ein einzigartiges Ökosystem, aber schwer belastet - verdreckt
von den Stickstoff-Abwässern der Landwirtschaft, verseucht von den Chlorrückständen der
chemischen Industrie, und verölt von den Mineralölkonzernen. Doch die Unmengen an Abwässern
und Schadstoffen, die aus den Anrainerstaaten in die Nordsee gespült werden oder bei der Öl- und
Gasförderung anfallen, sind erst auf den zweiten Blick zu erkennen und meist nur im Labor
nachzuweisen. Auch sind nur wenige Verantwortliche klar und eindeutig auszumachen.
Thieme: "Diese Unsichtbarkeit der Gefährdung und die Anonymität der Verursacher sind ein echtes
Problem der Nordsee-Kampagne. Wir haben zu allem sowohl das Wissen als auch die
entsprechenden Papiere und Forderungen. Doch die Politik schläft und ist mit harten Fakten allein
nicht zu bewegen. Sie reagiert nur, wenn sie massiv unter Druck gerät. Und Druck läßt sich nur
erzeugen, wenn es ein Symbol gibt, an dem sich die politischen Inhalte in aller Öffentlichkeit
festmachen und entzünden. Wissenschaft und Politik, das ist eine Sache. Aber Kampagne - das ist
immer symbolische Arbeit, einfache Konfrontation mit viel Tiefgang." Die Nordsee, das alte
Problemfeld, war schon immer verkürzt und bildlich - mit kleinen Giftbeuteln, toten Robben, leeren
Fangnetzen oder verkrebsten Fischen - ins Bewußtsein von Politik und Öffentlichkeit getragen
worden. Wie also sollte die Greenpeace-Aufgabe - die Reduzierung und Symbolisierung der
vielschichtigen Kampagneninhalte - diesmal gelöst werden? Im Januar 1995 fuhr Thieme nach
London, wo er außer Tim Birch einen alten Bekannten traf: Paul Horsman.
Horsman, ein Engländer Mitte dreißig, ist einer der Rechercheure bei Greenpeace, und beschäftigt
sich seit dem Golfkrieg 1990 mit dem Thema Öl. Er sammelt Hintergrundinformationen, stellt Firmen-
und Regionen-Dossiers zusammen und ist in vielen Fällen - etwa bei Tankerunfällen oder beim
Bruch einer russischen Pipeline - einer der Sprecher vor Ort. Als Thieme ihn auf die
Nordseeschutzkonferenz ansprach, reichte Horsman ihm spontan eine Photographie und einen
Stapel Papier über den Tisch: ein Bild der Brent Spar und den AURIS-Report. Thieme sah sich die
Aufnahme lange an, überflog den Report und war wie elektrisiert: "Ich hatte das Gefühl im Bauch,
daß ich auf etwas Wichtiges gestoßen war. Ein eindeutiges Symbol, ein eindeutiger
Verantwortlicher."
Horsman erzählte Thieme zunächst, wie er zu den Unterlagen gekommen war. Im August 1994
hatte ihm ein Kontaktmann aus der Offshore-Industrie von einer Problematik berichtet, die
geradewegs auf die Öl-Multis zukam: Nach rund zwei Dutzend Betriebsjahren stünden viele Anlagen
zur Entsorgung an und die britische Regierung arbeite an Richtlinien, wie mit diesen alten
Plattformen zu verfahren sei. Die Briten arbeiteten daran, das Versenken der Anlagen zum Regelfall
zu machen. Sein Bekannter spielte ihm den AURIS-Report zu. Nach der Lektüre rief Horsman im
verantwortlichen Ministerium an, und äußerte heftige Bedenken gegen die geplante
Versenkungsstrategie. Ohne Erfolg. Der zuständige Beamte beschied ihm, Greenpeace könne eine
Eingabe machen, aber man habe sich schon "unabhängigen" Rat geholt: bei der britischen
Vereinigung der Offshore-Firmen UKOOA.
Das reichte, um zu wissen, woher der Wind wehte. Noch im August 1994 wurde der Meeresbiologe
und Offshore-Spezialist Simon Reddy beauftragt, eine Greenpeace-Studie zur Frage der
Plattformentsorgung zu erstellen und sowohl die geplanten Richtlinien als auch den AURIS-Report
einzuschätzen. Das Ergebnis der Studie mit dem Titel "Kein Grund zum Versenken" war
niederschmetternd: "Regierung und Shell haben sich auf eine Variante geeinigt, die Versenkung
hoffähig macht, am wenigsten kostet, und diese Lösung die ́am besten durchführbare,
umweltverträglichste Option` getauft." Simon Reddy schickte die Zusammenfassung der Studie im
November an das Ministerium, hörte aber nie mehr von der Behörde.
Als Thieme mit der Brent Spar-Geschichte bei ihm auftauchte, äußerte Tim Birch zunächst
Bedenken: Er sähe zwar auch die Gefahr, daß aus der Shell-Plattform ein Präzidenzfall für weitere
Offshore-Anlagen werden könne. Doch die Plattform habe anderseits wenig mit dem Thema
Chlorchemie zu tun, das während der Nordseeschutzkonferenz der beschlossene Schwerpunkt der
Greenpeace-Arbeit sein sollte. Es gäbe außerdem kein Budget und keinen Kampagner; Horsman sei
ab Ende Februar in Sibirien unterwegs, um die Folgen des Pipelinebruchs vom vergangenen
Spätjahr zu dokumentieren. Doch Birch sagte, trotz dieser Bedenken, schließlich ja zur Brent Spar:
"Prioritäten setzen, darf ja nicht heißen, Pläne in Stein zu meißeln."
Thieme war lange genug bei Greenpeace, um zu wissen, wie Dinge dort zu beschleunigen sind.
Zudem zeichnet ihn eine Eigenschaft aus: eine Hartnäckigkeit, die knapp an Sturheit grenzt. Gijs
Thieme begab sich auf eine Brent Spar-Odyssee durch Greenpeace, die zwei Monate dauern sollte.
"In London, Amsterdam, Kopenhagen oder Hamburg, überall habe ich gezielt Leute angesprochen
und für die Plattform geworben. Und je länger ich über die Brent Spar nachdachte, desto klarer
wurde mir, welchen Wert sie darstellte."
Als Tim Eggar, der britische Energieminister, am 16. Februar 1995 bekanntgab, daß die
Genehmigung zur Versenkung der Brent Spar nunmehr erteilt sei, bekam Thiemes Kreuzzug
zusätzliche Schubkraft. Ende März 1995 hatte er die Mannschaft zusammen, die das zusätzliche
Projekt Brent Spar quer zu allen eingespielten Strukturen bei Greenpeace möglich machen konnte.
In London waren außer dem Geschäftsführer Peter Melchett auch der Kampagnen-Direktor Chris
Rose und den Aktionskoordinator Rick Le Coyte auf seiner Seite, in Amsterdam der Geschäftsführer
Hans van Rooij. Der Holländer brachte die wertvolle Zusage mit, einen siebenstelligen Guldenbetrag
in die Kampagne zu investieren. Ebenfalls in Amsterdam, beim Dachverband Greenpeace
International, fand er einen weiteren wichtigen Fürsprecher: Ulrich Jürgens. Der graubärtige Kapitän
der Handelsschiffahrt, ehemals elf Jahre lang in Diensten von Hapag Lloyd auf allen Weltmeeren
unterwegs, ist verantwortlich für internationale Kampagnen. Ohne sein Votum fährt kein
Greenpeace-Flagschiff aus einem Hafen; findet keine größere internationale Aktion statt.
Was Thieme jetzt für die Brent Spar noch brauchte, war die politische und finanzielle Unterstützung
aus Hamburg. Die zwei Personen, mit denen Thieme dafür ins Geschäft kommen mußte, waren
Geschäftsführer Thilo Bode und Harald Zindler, der Leiter der Aktionsabteilung. Die Beiden, so
erinnert sich Thieme, "erkannten sofort, welcher tiefergehende Konflikt mit der Industrie sich hinter
der eigentlichen Versenkung verbarg. Es war ihnen sofort klar, daß es hier nicht um Shell, oder um
die anderen Öl-Multis ging. Bei der Brent Spar handelte es sich um ein Symbol von grundsätzlicher
Natur." Bode gab Greenpeace Deutsche Sektion e.V. grünes Licht zur Durchführung der Aktion, und
stellte Geld aus den Rücklagen von Greenpeace bereit. Seine Zusage: ein Startkapital von einer
halben Million Mark.
Am Abend des 10. April hockten Gijs Thieme und Ulrich Jürgens im Amsterdamer Stadtteil
Watergraafsmeer in Elisa`s Bar. Die Kneipe, in der sich die Nachbarschaft deftige Hausmannskost
und reichlich Bier servieren läßt, war brechend voll. Nur am runden Stammtisch hatten sie noch zwei
Plätze gefunden. Thieme und Jürgens begannen, Ideen zu spinnen und Bierdeckel mit Brent Spar-
Strategien zu bekritzeln. Spontane Einfälle wurden schnell niedergeschrieben, durchgestrichen und
später doch verwirklicht; andere als wichtig befunden, dick angekreuzt, und nie umgesetzt.
"Es war sonnenklar," erinnert sich Ulrich Jürgens rund drei Monate später an gleicher Stelle, "daß
die Brent Spar so oder so eine verflucht teure Angelegenheit werden würde. Egal, ob man nun
rausfuhr für eine kurzfristige Demonstration oder für eine langfristige Besetzung. Von daher schwebt
uns von Anfang an vor, länger auf der Spar zu bleiben und das Ding zu einem richtigen Nordsee-
Stützpunkt auszubauen." Das bedeutete, daß die Organisation aus dem Stand heraus alle
verfügbaren Kräfte mobilisieren mußte. "Wir hatten wirklich keinen Tag mehr zu verschenken; wir
wußten, daß Shell spätestens in der zweiten Maiwoche Leute auf die Plattform bringen wollte. Das
setzte uns zwar unter Zeitdruck, aber kam uns auch gerade recht, weil ja Anfang Juni die
Nordseeschutzkonferenz anfangen sollte. Wir hätten es nicht besser planen können. Shells Timing
war optimal. Sie haben uns die Brent Spar wie auf einem Silbertablett serviert."
Am nächsten Morgen, am Dienstag, den 11. April, trafen sich Thieme und Jürgens mit zehn
Kollegen aus Deutschland, Großbritannien und Holland im Amsterdamer Büro von Greenpeace
International und präsentierten die nächtens erarbeiteten Ideen. Sie begründeten, warum die Brent
Spar trotz der Abweichung vom Plan der Chemie-Kampagne in das geplante Öffentlichkeitskonzept
für die Nordseeschutzkonferenz paßte, und stellten ein personelles Gerüst für die sieben Wochen
bis zum Beginn der Konferenz in Esbjerg vor. Die Sitzung dauerte rund zweieinhalb Stunden, dann
war die Aktion beschlossene Sache. Die Operation "Brent Spar", die Errichtung einer bemannten
Nordsee-Station zunächst geplant bis zum Ende der Nordseeschutzkonferenz, konnte beginnen. Als
Tag der Besetzung wurde der 1. Mai festgelegt.
"Damals, Mitte der achtziger Jahre, als wir die Expedition in der Antarktis vorbereiteten, da standen
wir vor einem ähnlichen Problem. Da mußten wir auch auf jede Situation, auf jede Eventualität im
Niemandsland vorbereitet sein. Der Unterschied war damals nur: Wir hatten endlos Zeit. Diesmal
blieben uns rund 14 Tage", erinnert sich Harald Zindler, der während des Treffens in Amsterdam mit
der logistischen Seite der Aktion betraut worden war. Er und seine Aktionstruppe sollten unter
anderem die nötigen Schiffe besorgen, Ausrüstung für rund 30 Leute und drei Wochen bunkern und
eine Gruppe von erfahrenen Aktionisten und Kletterern zusammenstellen. Es war klar, daß die Aktion
kein Spaziergang werden würde: Das Brent-Feld lag im härtesten Seegebiete der Nordsee mit
Windgeschwindigkeiten bis zu 140 Stundenkilometern und Wellengang an die zwanzig Metern Höhe.
Im Hamburger Aktionsmittellager brach die Hölle los. Einzelne Teams splitteten in Schichten die
komplexe Logistik in Dutzende von logischen Arbeitschritten und Hunderte von Einzeljobs auf. Der
bewährte Kreis von Hamburger "Greenpeace-Firmen" - Großhändler, Lieferanten und Werften, die
bei einem Notruf auf der Stelle alles anderen Aufträge stehen und liegen lassen - wurde aktiviert.
Erfolg: Ausrüstung, auf die man sonst Wochen wartet ("Tut mir leid, Sie kennen doch die
Lieferzeiten..."), wurde binnen Tagen angeliefert.
Annette Bruhns in einer Reportage über die Vorbereitungen: "Es war einmal ein Seemann, der
mitten in der Nacht alte Bekannte anfaxt, Schiffsmakler, Kapitäne - vorzugsweise zwielichtige
Gestalten aus der christlichen Seefahrt. Zwanzig Jahre lang hat der Mann Waffen, Dünnsäure und
Öl über die Weltmeere geschippert. Jetzt steht er im Büro eines riesigen Lagers im Hamburger
Hafen. Hier türmen sich neben den Werkbänken Schlauchboote, hängen Klettereisen neben
Tauchanzügen, stapeln sich Container, parken schwere Laster. Solarzellen liefern Strom für das
mehrstöckige Gebäude. Der Mann, der nachts Faxe quer durch Europa schickt, heißt Peter Küster
und ist 48. Seit der Geburt seines Sohnes vor 15 Jahren ist er nicht mehr Maschinist, sondern
Koordinator bei Greenpeace.
"Es galt, ein Schiff mit einem Kapitän zu finden, der sich traut, am Rande der Legalität zu
operieren", erklärt Küster. Ein Schiff wie die Embla, ein vergammelter dänischer Frachter, den
Greenpeace 72 Stunden vor dem Auslaufen chartert. Die Uhr tickt. Wenn die Aktion zu spät anläuft,
wird Shell vor den Kletterern auf der Brent Spar sein und die Plattform fürs Abschleppen klarmachen.
Notkojen werden in Container gedübelt, 100 Kisten für je 100 Kilo Material gezimmert. Frühmorgens,
24 Stunden vor dem Auslaufen, treffen sich noch zehn weitere Helfer. Im ersten Stock, wo ein
Segelmacher die Protestbanner näht, sammelt sich Stunde für Stunde alles, was zwanzig Menschen
für die Besetzung einer Insel brauchen: Lebensmittel, Überlebensanzüge, Satellitentelefone,
Verbandskästen, Werkzeug. Abends passiert die Panne. Der Fahrstuhl klemmt. Es ist zu spät, um
die schweren Kisten einzeln nach unten zu tragen. Mit einem Gaberstapler wird ein Ersatzlift
konstruiert und die Fracht durchs Fenster in den Hof befördert. Die Abfahrt verschiebt sich nur um
eine Stunde."
Zur gleichen Zeit saß im Büro das Brent Spar-Team in seinem neuen Domizil. In normalen Zeiten
wird die Nordsee bei Greenpeace sowohl von der Meeres- als auch der Chemie-Kampagne betreut.
Doch die Brent Spar, das war von Anfang an klar gewesen, würde den Rahmen des Üblichen
sprengen. Konsequenz: Innerhalb von Tagen, Stunden, wurden acht Leute von ihren sonstigen Jobs
losgeeist und freigestellt. Als im Lager die letzten Kisten zugenagelt wurden, saßen sie über ihren
Hausaufgaben. Schlachtpläne, Kampagnenschritte, Medienstrategien; Planungssitzungen, endlose
Absprachen. Doch die Uhr schien plötzlich schneller zu laufen. Fachleute wurden per Telefon
konsultiert oder einbestellt; Photos, Videos, Hintergrundpapiere zusammengestellt;
Presseerklärungen mit den Kollegen in London, Amsterdam und mit Comms, dem Pressebüro von
Greenpeace International, abgestimmt. Journalisten wurden ausgewählt und vertraulich eingeweiht.
Flüge gebucht. Dinge beschlossen, delegiert und nach einem Tag wieder umgestoßen. Kommando
zurück. Wechselbäder, Management by Chaos. Am 22. April fand eine weitere Krisensitzung und
internationale Telefonkonferenz statt; insgesamt waren 12 Leute, verstreut über fünf Länder,
gleichzeitig in der Leitung; Ulrich Jürgens leitete die Versammlung. Die Zeit lief den Teams,
insgesamt waren zu Beginn wohl über hundertzwanzig Leute in der einen oder anderen Form
beteiligt, jetzt davon. Neue Hiobsbotschaft: Die Besetzung mußte vorgezogen werden. Das
Seewetteramt meldete, daß ab dem 1. Mai mit stürmischer See zu rechnen sei. Ab Windstärke vier
waren die Ladeluken der Embla auf hoher See nicht zu öffnen. Neue Abstimmung der Termine.
Neuer Konsenz über die Telefonringschaltung. Neuer Besetzungstermin: einen Tag früher, der 30.
April. Die Leute im Lager stöhnten.
Als die Embla in der Nacht vom 27. auf den 28. April mit einer Ladung "Handelsware" an Bord im
Harburger Hafen ausklarierte und auf der Elbe Richtung Nordsee fuhr, ahnte der Lotse nicht, daß
sich in den Laderäumen des Schiffes zwei Dutzend Blinde Passagiere verbargen - Kampagner,
Koordinatoren, Schlauchbootfahrer, Kletterer, Techniker, eine Photographin und ein Filmteam.
Am frühen Morgen des 30. April traf sich die unauffällige Embla mit dem Aktionsschiff Moby Dick im
Brent-Feld. Tante Moby, wie sie von den Greenpeace-Seeleuten liebevoll genannt wird, hatte im
Hafen von Lerwick auf den Shetlands gewartet und noch zusätzliches Material, Aktionisten und
Journalisten an Bord genommen. Das massive Aufgebot war in Lerwick, wo es von Shell- und Öl-
Leuten nur so wimmelt, natürlich aufgefallen, doch die Besatzung der Moby hatte in die Trickkiste
gegriffen. Das Schiff war, als es am Kai lag, mit eindeutigen Bannern und Flaggen geschmückt:
"Stoppt Norwegen - Stoppt den Walfang!". Niemand in Lerwick war auf dumme Gedanken
gekommen.
Das Wetter, in der nördlichen Nordsee immer ein Risikofaktor, hielt zunächst. Am 30. April, gegen
zehn Uhr früh, wurden die ersten Schlauchboote von der Moby aus ins Wasser gesetzt, der Kapitän
der Embla ließ die Ladeluken öffnen. Was folgte, war ein Desaster. Von sechs Außenbordern waren
zwei nicht zum Leben zu erwecken, zwei weitere gaben immer wieder den Geist auf. Eine
Schlauchboot-Besatzung wurde abgetrieben. Die Kletterer hatten Schwierigkeiten mit ihrer nassen
Ausrüstung und waren reihum seekrank. Shell war überrascht worden, aber schon vor Ort; ein
norwegisches Schiff in Diensten des Konzerns, die Rembas, kreiste um die Brent Spar. Gegen
Nachmittag war die See so rauh geworden, daß die erschöpften Bootsbesatzungen in ihren Booten
zur Moby und Embla zurückgerufen werden mußten. Sturm zog auf. An den Transport von
Ausrüstung war unter diesen Bedingungen nicht weiter zu denken; eine schwere Rippenprellung und
ein Fingerbruch die Bilanz des Tages. Die Operation Brent Spar mußte, kaum daß sie begonnen
hatte, wegen des Sturms für volle zwei Tage auf Eis gelegt werden.
Doch ein erstes Team war an Bord. Sechs Kletterer und Aktivisten, ein Kamerateam, zwei
Photographen und zwei Reporter, hatte mit Hilfe von Wurfankern, Fallseilen und einem Steignetz die
Brent Spar geentert. Die zwölf hatten fünf von hundert Kisten an Bord; einen kleinen Generator,
einige Werkzeuge und Sprechfunk; nur hundert Liter Wasser und kaum Essen. Die ersten Besetzer
fanden in der verwüsteten Brent Spar-Kombüse schließlich vier Jahre alte Shell-Kekse.
Brent Spar stand am Abend des 30. April auf Messers Schneide. Hätte der Konzern in dieser
Situation weitere Schiffe zusammengezogen und die Plattform von den Greenpeace-Schiffen massiv
abgeschirmt, gut möglich, daß die Aktion in wenigen Tagen in sich zusammengebrochen wäre. Doch
der aufgekommene Sturm schützte auch die Besetzer, und Shell hielt die Aktion, so gab später ein
Pressesprecher des Konzerns unumwunden zu, für eine "spektakuläre Eintagsfliege, die sich schnell
von selbst erledigt."
Shell hätte besser auf Jon Castle, den neuen Plattform-Kapitän, hören sollen. Castle ist ein stiller,
leiser Mensch, der seine Überzeugungen lieber durch Taten als durch viele Worte ausdrückt. Der
Brite hat am Ruder der Rainbow Warrior gestanden und seine eigene kleine Jolle unbeeindruckt vor
den Bug von Atomfrachtern gesteuert. Wenn Castle sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann er
ziemlich kompromißlos werden. Er meldete sich am Abend des 30. April über Sprechfunk bei der
drohend kreisenden Rembas. "Hallo, Rembas, hören Sie? Hier ist Greenpeace. Wir haben die Brent
Spar auf unbestimmte Zeit wieder in Betrieb genommen, weil wir ihre Versenkung verhindern wollen.
Wir werden so lange auf dieser Plattform sein, wie es nötig ist. Over and out."
4. Krisengebiet Nordsee
Manchmal glüht die Nordsee nachts. Wenn der Schiffsbug in die Wogen taucht, spritzt gleißende
Gischt aus der dunklen Wassermasse. Jede Schaumkrone sprüht Funken wie eine riesige
Wunderkerze, jedes Wellental wirkt kälter und düsterer als sonst. Das Meeresleuchten ist wie das
Nordlicht auf den winterlichen Lofoten ein faszinierendes Schauspiel: Zu wissen, daß hier keine
Magie am Werk ist, sondern bloß Abermillionen mikroskopisch kleiner Algen phosphoreszieren,
schmälert das Erlebnis nicht. Das unheimliche Glitzern bannt alle Sinne des Betrachters und weckt
Sehnsucht; Sehnsucht nach der Weite und der unendlichen Tiefen dieses Meeres.
Die Nordsee ist weit, aber gar nicht tief. Das Schelfmeer, mit einer Fläche von 575.000
Quadratkilometern etwa anderthalb Mal so groß wie die Bundesrepublik, liegt wie auf einem flacher
Teller, im Norden weit geöffnet zum Nord-Atlantik. Die Durchschnittstiefe liegt bei nur siebzig Metern
- der Atlantik reicht, zum Vergleich, im Schnitt 3.500 Meter tief. Vor 8.000 Jahren gab es die Nordsee
noch gar nicht. Erst in der Nacheiszeit tauten die Gletscher ab, isolierten Großbritannien vom
Kontinent, und überfluteten die Landstriche zwischen Schottland, Norwegen und der Wattenküste.
Wo es einst blühte, fließt heute eine ringförmige Strömung gegen den Uhrzeigersinn vor England
nach Süden, an der holländischen, deutschen und dänischen Küste vorbei weiter hoch bis in das
Skagerrak und den Atlantik. Sechs Monate braucht die nördliche Nordsee für einen kompletten
Wasseraustausch; in der Deutschen Bucht erneuert sich das Wasser erst nach drei Jahren.
Ihre Untiefen machen die Nordsee zu einem der fruchtbarsten Meere der Welt. Licht, der Motor
allen Lebens, dringt tief in sie ein. In einem Liter Nordseewasser gedeihen bis zu drei Millionen
Algen, sogenanntes Phytoplankton, das mit Hilfe von Sonnenenergie den Kohlenstoff aus der Luft in
organisches Material verwandelt. Das nächtliche Meeresleuchten ist ein Zeichen üppigen
Wachstums in diesem kalten Gewässer. Plankton steht am Anfang der unermüdlichen
Nahrungsmaschine Nordsee: allein 100 verschiedene Muscheln, 250 Fischsorten, 30 Wal- und
Delphinarten und 70 Arten von Seevögeln ernährt das vergleichsweise kleine Meer.
Auch für die Anwohner ist die Nordsee immer eine schier unerschöpfliche Vorratskammer gewesen.
Doch immer gieriger haben industrielle Fangflotten diesen Reichtum ausgebeutet; immer riesiger
wurden ihre Netze, immer raffinierter die Methoden, um die reichen Herings- oder
Makrelenschwärme zu orten. Die Folge ist Überfischung. 1977 mußte der Heringsfang in der
Nordsee für drei Jahre eingestellt werden, damit sich die Bestände mühsam erholen konnten.
Wieviele Seevögel, Robben und Delphinen durch die verheerenden Beutezüge der Industriefischerei
verhungerten, wird nicht gezählt.
Aber nicht allein die Industriefischerei schädigt die Nordsee. Dunkelgrau, die Farbe des Planktons,
ist die natürliche Farbe ihres Lebens - nicht aber trüb-braun bis schwarz wie an den Mündungen der
Elbe, des Rheins, der Schelde und der Themse, oder rot wie in manchen Sommern an den von
Algenteppichen geplagten Stränden. Aus der Nordsee beziehen alle angrenzenden Länder einen
großen Teil ihres Reichtums - durch die Fischerei, den Tourismus und seit ein paar Jahrzehnten auch
durch die Ölquellen. Zurück bekommt die See nur den Preis unseres Wohlstands: festen Müll,
verflüssigte Fäkalien, überschüssigen Stickstoffdünger, unsichtbare Chemierückstände, schmieriges
Altöl, radioaktive Substanzen wie Strontium oder den giftigsten Stoff der Erde, Plutonium.
Ihre geringe Tiefe macht die Nordsee so verletzlich: Sie kann unter der Schmutzfracht "umkippen"
wie so viele Süßwasserseen. Durch den hohen Nährstoffeintrag wachsen zuviele Algen, und
besonders die giftigen Sorten. Der Sauerstoffgehalt der Nordsee nimmt jeden Sommer bedenklich
ab - im Monat nach dem Stopp der Brent Spar meldet das Bundesamt für Seeschiffahrt und
Hydrographie (BSH) ein Absinken auf nur noch rund 60 Prozent des Normalwertes. Gleichzeitig
reichern sich Schwermetalle und chlororganische Verbindungen in den Pflanzen und Tieren der
Nordsee an.
Bei der Ausbeutung und dem Mißbrauch der Nordsee als Müllkippe handelt der Mensch kurzsichtig:
Er ist das letzte Glied in der langen Nahrungskette. Im Frühjahr sorgte eine Illustrierte mit der
Vergleich zwischen der gesundheitlichen Belastung eines Bewohners der Insel Sylt mit der eines
Bürgers der berüchtigten ostdeutschen Chemie-Region Bitterfeld für kurzes Aufsehen. Der Sylter
trug mehr Schwermetalle und andere Umweltgifte im Blut als der Bitterfelder. Die einzig mögliche
Begründung: Die vorgeblich gesunde Nordseeluft und der häufigere Genuß von frischem
Meeresgetier hatten bei dem Insulaner für schlechte Werte gesorgt.
Bilder von sterbenden Seehunden, schaumbedeckten Ferienstränden und havarierten
Chemiefrachtern warnen die Nordseeanrainer seit langem. Immer wieder beteuern Politiker auf
unzähligen Konferenzen zum Schutz der Nordsee, daß ihre Zerstörung ein Ende haben muß. Aber
was passiert wirklich? Die Landwirte bringen heute rund doppelt soviel Dünger wie noch vor zwanzig
Jahren auf ihren Äckern aus; die Alge blüht. Der Fisch stirbt. Man scheint zu wissen, warum. Doch
weit draußen auf hoher See, weit ab vom Blick der Öffentlichkeit, haben sich die Mineralöl-Multis
über den Förderfeldern ein Industrie-Imperium baut, dessen kontinuierliche Zerstörungskraft
verheerend ist und meist unterschätzt wird.
Offshore. Das harte und gefährliche Geschäft der wahren Männer. Das schnöde Schlossergewerbe
und Ingenieurwesen auf See umgibt sich gerne mit einem Abenteuer-Flair. Die selbstgestrickten
Legenden blühen. Eine der Geschichten, die man sich in den Öl-Kreisen gerne erzählt, geht wie
folgt: Ein brave amerikanische Ehefrau träumte einst davon, die europäische Kultur, oder zumindest,
was sie sich darunter vorstellt, kennenzulernen. Sie bearbeitete lange Jahre beharrlich ihren
Ehemann, bis der schließlich genervt einlenkte, und im Jahr 1962 eine gemeinsame Urlaubsreise
durch den alten Kontinent buchte.
Ihr Mann war damals, vor 33 Jahren, einer der Vizepräsidenten von Phillips Petroleum aus
Bartelsville, Oklahoma, und deshalb sollte die Reise ungeahnte Folgen haben. Er wurde aus dem
Urlaubstrott gerissen, als er im niederländischen Groningen etwas sah, was ihm mächtig bekannt
vorkam: Bohrtürme. Zurück in Bartelsville, überprüfte er mit seinen leitenden Angestellten die
seismographischen Daten, und in Kürze war den Ölmännern klar, daß der geologische Aufbau unter
der Nordsee dem von Holland entsprach: Wenn es in Groningen Öl gab, mußte draußen auf See
auch welches zu holen sein. Die Phillips-Leute waren nicht die Ersten, die auf diesen Gedanken
gekommen waren. Schon seit den zwanziger Jahren waren auf der Suche nach Öl Probebohrungen
vor allem in holländischer Küstennähe niedergebracht hatten; Gas war gefunden worden und wurde
seit den Fünfziger Jahren vor der britischen Küste auch gewonnen, doch Öl? Alle Bohrungen waren
bisher vergeblich gewesen; auch im norwegischen Schelfsockel waren über 30 Versuche
gescheitert.
Doch die Amerikaner waren starrsinniger oder hartnäckiger als alle anderen zuvor und stießen
weiter hinaus in die Nordsee vor; Phillips schickte 1964 mehrere Bohr-Crews und
Schiffsbesatzungen aus und gab den Prospektoren fünf Jahre Zeit. Doch wieder schien alles
umsonst, die Bohrmannschaften produzierten nur trockene Löcher. Im November 1969, Phillips hatte
gerade beschlossen, nach dieser letzten Bohrung das Nordsee-Projekt aufzugeben, stieß ein
Bohrschiff, die Ocean Viking, im norwegischen Ekofisk-Bereich in Block 2/4 auf eine Bonanza. Das
Öl schoß goldgelb und unter starkem Druck aus 3000 Meter Tiefe; es war von eindeutig von
hervorragender Qualität. Daniel Yergin, ein bekannter Erdöl-Journalist, schreibt über den Phillips-
Fund, der in einschlägigen Fachzeitschriften als der "Drill of a lifetime" schlechthin gehandelt wurde:
"Einige Monate später wurde einer der leitenden Angestellter von Phillips auf einer technischen
Konferenz in London aufgeregt gefragt, was für Methoden die Firma verwendet habe, um die
Geologie des Feldes zu erkennen. "Glück," antwortete er."
Bis dato hatten sich die Ölmultis nur zögernd weit auf die offene See, wo rund ein Viertel der
weltweiten Erdölreserven lagerten, hinausgewagt. Das Offshore-Geschäft spielte sich im seichteren
Teil des Golfs von Mexiko, in der südlichen Nordsee in Küstennähe, im südchinesischen Meer, an
einigen Stellen vor Australien und im Golf von Suez in geschützten Schelfgebieten ab. Der Phillips-
Volltreffer zog nun andere Ölfirmen scharenweise an; der Nordsee-Ölboom war da, und löste in den
norwegischen und britischen Nordsee-Sektoren eines der größten Investitionsvorhaben der
Industriegeschichte aus. Im Sommer 1970 gab British Petroleum BP bekannt, daß man im Forties,
einem britischen Feld, auf reichlich Ölvorkommen gestoßen war. Im August 1971 brachten Shell und
Esso Petroleum Ltd. (Exxon) rund 160 Kilometer nordöstlich der Shetland-Inseln gemeinsam die bis
dahin nördlichste Bohrung der Welt unter der Kennung "211/29-1" erfolgreich nieder und stießen auf
ein Feld, das sich als der größte Fund im britischen Nordsee-Sektor erweisen sollte: Brent. Das
Vorkommen in rund 2600 Meter Tiefe unter dem Meeresgrund hatte eine Ausdehnung von knapp
neunzig Quadratkilometern und wurde auf einen Inhalt von rund 474 Millionen Tonnen Öl und rund
471 Milliarden Kubikmeter Gas geschätzt.
Die Ölkrise 1973, die Geschichte der vermeintlichen Verknappung des Sprit-Angebots, der
weltweiten Hamsterkäufe und dem plötzliche Sprung des Rohölpreises von rund sechs auf knapp 12
Dollar pro Barrel, gab dem Ölrausch in der Nordsee weiter heftigen Auftrieb. Die Profite der
Ölkonzerne seien riesig und stiegen ständig an, schrieb Daniel Yergin: "... von 6,9 Milliarden Dollar
im Jahr 1972 auf 11,7 Milliarden 1973, und im Rekordjahr 1974 schnellten sie auf 16,4 Milliarden
hoch." Kostenintensive Explorationen in Gegenden wie der nördlichen Nordsee, die vorher als "No-
Go-Areas" gegolten hatten, wurden plötzlich attraktiv und rentabel. Auch im Brent-Feld wurde kräftig
investiert. Das Gebiet, dessen Lizenz von Shell und Esso (Exxon) zu je 50 Prozent gemeinsam
gehalten wurde, aber von Shell betrieben wird, wurde innerhalb von vier Jahren mit gigantischen
Förderplattformen vollständig erschlossen. Als erste Plattform wurde Brent B, eine 195.000 Tonnen
schwere, dreisäulige Betonkonstruktion und zu ihrer Zeit die größte Anlage der Welt, im August 1975
in Betrieb genommen; im Mai 1976 wurde Brent A, eine sechsbeinige Stahlkonstruktion, installiert.
Brent C und Brent D folgten bis Juni 1978. Um das Brent-Feld abzuschöpfen, wurde zunächst die in
Norwegen montierte Brent Spar in Position gebracht, und dann zusätzlich ein Pipeline-System
installiert, wie es die Nordsee bis dahin nicht gesehen hatte. Die 300 Kilometer Rohrleitungen des
"Brent Systems" wurden in damaligen Rekordtiefen von über 150 Metern verlegt und hatten
Durchmesser bis zu 91 Zentimeter. Bis Januar 1994 waren aus dem Brent-Feld etwa 200 Millionen
Tonnen Rohöl und 186 Milliarden Kubikmeter Gas gefördert worden - die Mengen entsprechen rund
13 Prozent der jährlichen Öl- und zehn Prozent der Gasförderung Großbritanniens. Damit war Brent
mit Abstand das produktivste Einzel-Feld im britischen Nordsee-Sektor.
In den vergangene beiden Jahrzehnten haben die multinationalen Ölgesellschaften ihr
Fördergeschäft zunehmend vor die Küsten - also Offshore - verlagert; heute gewinnen dort Anlagen
in über 40 Ländern mit einer Milliarde Tonnen Öl etwa ein Drittel der jährlichen Weltförderung. Auch
die "Goldgrube Nordsee" (Finacial Times) ist mit insgesamt 416 Förderplattformen auf 85
verschiedenen Feldern zu einem völlig erschlossen und produktiven Industriegebiet gemacht
gemacht worden. Im britischen Nordsee-Einzugsgebiet haben die Ölkonzerne 208 Plattformen in
Betrieb gebracht, auf niederländischem Gebiet 106. Vor der norwegischen Küste stehen inzwischen
71 Fördertürme, in dänischen Hoheitsgewässern 31 Anlagen. Zusammen fördern die "Schatzinseln"
derzeit pro Jahr rund 205 Millionen Tonnen Öl - damit knapp sieben Prozent der weltweiten
Produktion und täglich etwa 900.000 Liter - und etwa 92 Milliarden Kubikmeter Erdgas.
Wer heute mit einem Hubschrauber über die Nordsee fliegt, wird von dem Anblick zwangsläufig
gefesselt. Er erblickt von der südenglischen Küste bis zum hohen Norden nahe am Polarkreis ein
zusammenhängendes und verwachsenes Fabrikkonglomerat. Überall Produktionsstätten, mal
dichter gedrängt, mal weiter entfernt; schwimmende Arbeitsdecks, Tanker, Bergungs- und
Sicherheitsschiffe, Versorger und Leichter. Bewegung überall, auf, über und zwischen den
Plattformen. Schlepper bugsieren undefinierbare Teile auf Pontons. Verschiedene Typen von
Hubschraubern schwirren wie dicke fette Hummeln oder zornige Hornissen durch das Gewirr der
Anlagen. Fördergestänge drehen sich, Rohre pumpen und spucken Flüssigkeiten aller Art über Bord.
Offene Brände und Rauchfahnen geben dem Geschehen etwas apokalyptisches; spezielle Inseln,
sogenannte "Flares", oder Ausleger an den Förderplattformen fackeln Gas öder Öl ab. Kleine orange
Punkte, die sich bewegen, in Förderkörben schwanken, auf Gerüsten klettern; die Betriebsamkeit
setzt sich rund um die Uhr in Schichten fort, ist förmlich spürbar.
Die Nordsee zahlt für das Öl, das die Gesellschaften Phillips, Shell, Exxon, Phillips, Amoco,
Conoco, Chevron, Elf, Agip, Texaco, Total, Mobil, Marathon, Amerada Hess uns andere fördern,
einen hohen Preis. Beispiel: Im April 1995 untersuchten Fachleute des Bundesamtes für
Seeschiffahrt und Hydrographie (BSH) in Hamburg die Ursachen einer plötzlichen
Ölanschwemmung, von der vom 27. März an bis in die ersten Aprilwoche praktisch die gesamte
Deutsche Bucht betroffen war. Zuerst hatte es das Watt und die Strände im Bereich Amrum und Sylt
getroffen, danach die ostfriesischen Inseln und die Halbinsel Eiderstedt. Bereits am 23. März hatte
das Öl die Westküste Dänemarks erreicht. Nach Auskunft dänischer Ornithologen waren mehr als
400 Tonnen Öl an die Strände gelangt; nach Angaben der Gemeinde Blavand, die an meisten
betroffen war, sogar rund Tausend Tonnen.
Die lokale Ölpest wurde von den Medien nicht weiter aufgegriffen oder verfolgt, weil die Ferienzeit
noch nicht begonnen hatte und andere Themen gerade die Titelseiten beherrschten. Dabei war der
Verursacher, so die BSH-Fachleute in ihrem Bericht, recht eindeutig zu lokalisieren: Das Öl, das
ergaben Driftberechnungen, stammte vom einer Förderinsel im norwegischen Ekofisk-Feld oder von
der dänischen Plattform Dagmar, in jedem Fall aber aus einem Leck von drei bis vier Tagen Dauer.
Solche Störfälle, sie kommen alle Jahre wieder, sind nur die Spitze des Eisberges und kurzzeitige
Skandale. Die eigentliche Verschmutzung der Nordsee durch die Ölindustrie geschieht alltäglich
durch den Normalbetrieb. Das meiste Öl wird zusammen mit den Bohrschlämmen und dem
Bohrklein - den sogenannten "cuttings" - bei der regulären Ölförderung eingetragen. Wenn von den
Plattformen aus eine Bohrung niedergebracht und später Öl gefördert wird, werden dabei noch
ölhaltige Bohrschlämme benutzt, die bis vor wenigen Jahren noch rund um die Inseln ins Meer
gekippt wurden. Die Bohrschlämme wurden bis 1985 auf Dieselbasis hergestellt; seit dieser Zeit auf
reiner Ölbasis. Seit Norwegen und Dänemark im Jahr 1993 diese Praxis verboten hat, benutzen die
Fördergesellschaften in diesen Sektoren nur noch Schlämme auf Wasserbasis, die maximal zehn
Gramm Öl auf einem Kilo Schlamm enthalten dürfen.
Die Briten sind nicht so zimperlich. Sie machen sich auf ihren Plattformen eine entsprechende
Ausnahmeregelung der PARCOM zu Nutze, der internationalen "Pariser Kommission zur Verhütung
der Meeresverschmutzung". Die Briten erlauben heute noch Bohrschlämme auf Ölbasis und reizen
eine Übergangsfrist bis 1996 voll aus: Ihre Öl-Bohrschlämme enthalten nach wie vor rund 70 bis 80
Gramm Öl pro Kilo Schlamm. PARCOM-Wissenschaftler schätzen, daß im Jahr 1981 rund 8.000
Tonnen Öl über die Bohrschlämme in die Nordsee gekippt wurden. Die Menge stiegt kontinuierlich
auf etwa 25.000 Tonnen im Jahr 1985 an, und ist durch strengere Anwendungsvorschriften und
geschlossene Systeme wieder auf rund 9.000 Tonnen im Jahr 1994 gefallen.
Gestiegen sind dagegen die Öleinleitungen durch das sogenannte "Produktionswasser" - einem
Gemisch aus Erdöl, natürlich vorhandenem Grundwasser und Meerwasser. Um das Öl aus der Tiefe
ans Tageslicht zu fördern, wird direkt durch die Förderbohrung oder durch seitliche
Injektionsbohrungen Süß- und Nordseewasser in die unterirdischen Lagerstätten gepresst. Dadurch
wird das Öl unter Druck gesetzt und nach oben gezwungen. Mit dem Öl gelangt zwangsläufig
Produktions-wasser wieder nach oben; je älter und ausgebeuteter die Fundstelle, desto mehr
Produktionswasser muß eingepumpt werden, desto mehr der giftigen Mixtur enthält das geförderte
Öl. Produktionswasser, das in neueren Anlagen im Kreislauf mehrfach benutzt wird, darf auf den
älteren Anlagen nach den PARCOM-Vorschriften mit einem Anteil von 40 Gramm Öl pro Kubikmeter
Wasser zurück in die Nordsee geleitet werden. Weil immer mehr Quellen erschlossen werden, alte
Funde langsam versiegen und nur noch über erhöhten Produktionswasserdruck Öl spenden, steigt
die Menge der Öleinleitungen über diesen Weg stetig an. Sie lag im Jahr 1994 bei rund 5000
Tonnen.
Völlig ungeregelt und mengenmäßig schwer zu bestimmen sind die Chemikalien, die bei der
Förderung benutzt werden und dabei in die Nordsee gelangen. Alle möglichen toxischen Substanzen
sind im Einsatz: Manche helfen bei der Bohrung, manche sorgen dafür, daß das Rohöl fließfähig
bleib, andere scheiden Fremdstoffe im Öl ab. Für den Betrieb der Plattformen selbst werden
Pestizide, zinkhaltige Farben, Reinigungs- und Ölbekämpfungsmittel benutzt. Über 300
verschiedene Stoffe sind nach englischen Untersuchungen in Gebrauch. Die Briten rechnen sehr
konservativ mit jährlich rund 100.000 Tonnen, die Norweger mit etwa 200.000 Tonnen - von denen
nach norwegischen Schätzungen rund fünfzig Prozenz in die Nordsee eingeleitet werden.
Schon Tropfen dieser Chemikalien und Bruchteile eines Milligramms Erdölkohlenwasserstoffe
wirken auf viele Organismen giftig; schon Spuren genügen, um bei Fischlarven, Krebsen,
Weichtieren und Seevögeln erhebliche Mißbildungen und Verhaltenstörungen zu verursachen. Das
Öl beschränkt sich nicht auf die sichbare Pest an der Oberfläche oder die harten Klumpen, die am
Ferienstrand angespült werden. Mikroskopische Teile werden im Meerwasser gelöst und von der
Meeresfauna aufgenommen - der direkte Weg in die Nahrungsketten, die sichere Garantie, daß sich
die Schadstoffe im Organismus von Fischen, Kleinstlebewesen oder Seevögeln anreichern. Norbert
Theobald von der Bundesanstalt BSH schildert die Folgen so: "Etwa 500 Meter rund um die Inseln
ist der Meeresboden weitgehend tot. In einem Kilometer zeigen sich immer noch deutliche Effekte.
Weiter entfernt sind die Schäden meist nur als veränderte Zusammensetzung von Tier- und
Pflanzenarten erkennbar."
Härter geht der Brite John Gray, der an der Universität von Oslo lehrt und als einer der
anerkanntesten Nordsee-Meeresbiologen gilt, mit dem Öl zu Gericht. Gray versucht seit Jahren,
Material über die Kohlenwasserstoffkonzentration in Plattformnähe zu sammeln, doch vor allem die
britischen Behörden halten die entsprechenden Daten unter Verschluß. Die norwegischen
Umweltbehörden sind etwas liberaler und gewähren zumindest Einblick in Teile ihrer Unterlagen.
John Gray veröffentlichte im Mai 1995 auf Grundlage der norwegischen Zahlen eine Studie, die von
einem direkten Einflußradius von acht Kilometern um jede Plattform ausgeht, in dem sich eine bis zu
10.000fach höhere Konzentration von Kohlenwasserstoffen - sprich Ölspuren - nachweisen läßt.
Was Grays Studie brisant macht, ist die These, daß sich diese Radien um die einzelnen Plattformen
und Felder über die Jahre hinweg immer weiter ausgedehnt haben und inzwischen anfangen, sich
zu überlappen. Im norwgischen Valhall-Feld glaubt Gray, eine inzwischen 100 Quadratkilometer
große, geschlossene Schadensfläche nachweisen zu können.
Als einen Beweis für die verheerende Wirkung der Öleinleitung führt Gray den Schlangenstern,
lateinisch amphiura filiformis, ins Feld. In Nordseeregionen, in denen nicht gebohrt und gefördert
wird, ist der Schlangenstern überall zu Hause, dort gibt es im Schnitt weit über 100 Exemplare pro
Quadratkilometer. Im Umkreis von ein bis zwei Kilometern um Plattformen dagegen ist der Nordsee-
Bewohner aus der Familie der Stachelhäuter nicht mehr zu finden und wie ausgestorben. Der
Schlangenstern ist ein wichtiges Glied in der Nahrungskette, eine unerläßliche Beute für Schollen
und Seezungen. Bei dem angenommenen Zusammenwachsen der Schadensgebiete, welches auch
die Bundesanstalt BSH langfristig befürchtet, sind die Folgen bisher unabsehbar. Gray: "Wenn die
Population von Organismen, die eine Schlüsselfunktion in der Meeresgrundgemeinde innehaben, so
dramatisch sinkt, könnte das eine wichtige Rolle beim Niedergang vieler Nordseefischbestände
haben." Will im Klartext heißen: Es ist auf Dauer gut möglich, daß den geringen Fischbestände, die
die Raubfischerei überlebt haben, durch die Öl-Multis der Garaus gemacht wird.
Öl ist in der Nordsee allgegenwärtig, nicht allein durch die Förderung. Die Schiffahrt läßt - ohne
Unfälle wohlgemerkt, sondern im normalen Fahrbetrieb in einem der geschäftigsten Seegebiete der
Welt - jährlich 100.000 Tonnen Öl legal ab. Tanker dürfen während der Fahrt pro Meile bis zu 60 Liter
Öl absondern, die Waschvorgänge von Öl- und Chemikalientankschiffen sind nach wie vor rechtlich
nicht zu ahnden.
Die Ostsee gilt wie das Mittelmeer seit dem Jahr 1983 als "Sondergebiet", in dem kein Tropfen Öl
gelangen darf. Die Nordsee dagegen war nur "teilweise Sondergebiet", seit sich die europäischen
Umweltminister auf der Zweiten Nordseeschutzkonferenz im November 1987 in London zu diesem
"Erfolg" durchringen konnten. Acht Jahre später, nach der Vierten Konferenz in Esbjerg, hat sich
nicht viel verändert: Die Esbjerger Ministererklärung sieht zwar vor, daß Altöl aus dem Schiffsbetrieb
künftig nicht mehr ins Meer eingeleitet werden soll - diesen Beschluß muß allerdings die zuständige
Internationale Schiffahrtsorganisation IMO noch in geltendes Seerecht umwandeln. Doch mehr
"Rechte" waren für die Nordsee nicht drin: Großbritannien sperrte sich gegen ein Verbot,
Chemietanks auf See zu spülen. Der "Dirty man of Europe" ist es auch, der weiter seine schwach-
und mittelradioaktiven Abfälle - zusammen mit dem französischen Nachbarn - ins Meer spülen darf.
Die mutwillige Verschmutzung, die der Nordsee in großem Maßstab zugemutet wird, trifft das
Wattenmeer auf kleinstem Raum. Dabei kann das eine nicht ohne das andere: Das Watt ist das
Fruchtwasser der Nordsee. Bis zu neun Millionen Zugvögel machen auf der 450 Kilometer langen
salzigen Marsch zwischen der niederländischen Insel Texel und dem dänischen Esbjerg Jahr für
Jahr Rast. Ihr Nahrungsangebot ist erstklassig: Pro Quadratmeter Watt wurden schon 20.000
Schlickkrebse und 300.000 junge Mini-Schnecken gezählt. 1.748 Tierarten wurden im Watt bisher
identifiziert - zwei Drittel von ihnen gehören zur Mikrofauna am Anfang der Nahrungskette. Die
Schlickkrebse und Schnecken grasen diesen den Mikrorasen ab, der das Watt überzieht. Die öde
graue Schlickfarbe rührt in Wirklichkeit von seinem dichten Bewuchs mit Kieselalgen her. Der
extreme Lebensraum, in dem sich alle sechs Stunden Ebbe mit Flut abwechselt, wo sich Temperatur
und Salzgehalt stündlich verändern, hat ein einzigartiges Bio-Programm entwickelt: drei Tonnen
organische Masse bedeckt jeden Hektar Boden. Das Wattenmeer ist Laichplatz für Seeskorpion,
Butterfisch und Aalmutter und Kinderstube für Hering, Scholle und Sprotte. Es ist auch der
Lebensraum des Symboltiers der Nordsee: dem Seehund, der mit seinen Knopfaugen, der weichen
Schnauze und seiner Tolpatschigkeit Beschützerinstinkte weckt. Leider setzen die Nordsee-Anrainer
diesen Impuls nur zögerlich in die Tat um. Beispiel Deutschland: Seit einem Jahr bohrt sich die Euro-
Erdgas-Pipeline wie eine tiefe Wunde durch das ostfriesische Watt. Ob sie vernarbt, oder ob durch
Erosion der umliegende Schlickboden weggewaschen wird, ist noch ungewiß. Sicher wären
dagegen die Folgen einer Leckage: verheerend.
Daß die ungebremste Nährstoffeinleitung für das Watt und die gesamte Nordsee nichts Gutes
bedeutet kann, ist ebenfalls leicht auszurechnen. Knapp 1,3 Millionen Tonnen Stickstoff und 50.000
Tonnen Phosphat muß die Nordsee jährlich schlucken. Siebzig Prozent der Schadstoffe stammen
von überdüngten Feldern und werden über die Flüsse transportiert; der Rest - aus Autoabgasen und
über Kraftwerksverbrennung, Industrieschlote und private Schornsteine in die Luft geblasen - wird
über Regen eingebracht. Eine der möglichen Folgen: Die Killeralgen (oder waren es die
Killertomaten? der Säzzer) vom Frühjahr 1988 können jederzeit wiederkommen. Damals töteten
giftige Algenschwämme zwischen dem Nordatlantik und dem 1.000 Kilometer entfernten
norwegischen Stavanger ganze Heringsschwärme; selbst Seesterne und Pflanzen fielen der
"Goldalge" zum Opfer.
Der Zusammenhang zwischen den hohen Nährstoffeinträgen und dem verheerenden Algenwuchs
stellt Wissenschaftler vor Rätsel. "Das Ökosystem der Nordsee verändert sich sprunghaft", hat
Wolfgang Hickel von der Biologischen Anstalt Helgoland beobachtet. "Ende der 70er verdoppelte
sich die Biomasse der Großalgen auf einen Schlag." Dadurch wird die für das Leben in der Nordsee
so wichtige Kieselalge von den schwimmfädenbewehrten Grünalgen zurückgedrängt. Die Folgen für
die maritime Nahrungspyramide sind noch unbekannt; fest steht nur, daß es unter den Kieselalgen
keine giftigen Arten gibt - unter den Grünalgen umso mehr.
Die Vierte Nordseeschutzkonferenz hat erstmals die Behandlung kommunaler Abwässer und
Nitrateinträge aus der Landwirtschaft als vorrangiges Problem im gesamten Abwassereinzugsgebiet
des Meeres - von den Alpen bis Schottland - ausgewiesen. Endlich. Wie im Mittelalter gehen immer
noch die Fäkalien von 30 Millionen Menschen - aus Belgien, Großbritannien und Frankreich -
ungeklärt ins Meer. Und was Überdüngung angeht, hat kein Nordsee-Anrainer seine Hausaufgaben
gemacht: 1987 verabredeten sie eine Senkung der Nährstoffeinträge um die Hälfte bis 1995;
tatsächlich wurden die Emissionen von Stickstoff nur um ein Viertel reduziert.
"Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Bauern darf durch die Düngeverordnung nicht beeinträchtigt
werden", redet sich das Bonner Landwirtschaftsministerium aus der Verantwortung. Die Rinder-,
Schweine- und Geflügelzüchter fürchten, in ihrer Gülle zu ertrinken, wenn die von Brüssel
geforderten Höchstmengen von 170 Kilo Stickstoff pro Hektar Ackerland Gesetz werden. Zwei Jahre
lang hat die deutsche Agrar-Lobby inzwischen die fällige Düngeverordnung verzögert - und nach den
wachsweichen Beschlüssen der Nordseeschutzkonferenz im Juni 1995 muß der Entwurf vom
Februar nochmal überarbeitet werden: Es fehlt die Verpflichtung zu Stickstoff-Bilanzen.
"Es gibt Alternativen für die Landwirte - biologische Anbauweisen zum Beispiel", sagt der britische
Nordsee-Experte Malcolm McGavin von Greenpeace. "Viel schwieriger wird es für die Fischer
werden: Ihre Zukunft ist ungewiß, wenn sie die Nordsee nicht solange schonen, bis sich die
Bestände erholt haben." Die Lage ist in der Tat dramatisch: Bei mehr als 80 Prozent der
Grundfischarten in Nordsee und Nordatlantik wurden im Brent Spar-Sommer die niedrigsten Laich-
und Fischbestände aller Zeiten gemessen. Scholle, Wittling, Seezunge und Schellfisch sind in
Gefahr; Dorsch, mahnt der Internationale Meeresrat ICES, gehöre für den Fischfang gesperrt.
Mittels Satelliten, Radar und Unterwassersensoren suchen die Fischtrawler das Meer nach Beute
ab. Ihre Treibnetze haben Längen bis zu zwanzig Kilometern; Langleinenfischer spulen innerhalb
eines Tages sechzig Kilometer Schnur mit 40.000 maschinell beköderten Angelhaken ab. In den
siebzigerer Jahren hatte die Industriefischerei auf der Nordsee mit drei Millionen Tonnen Fisch pro
Jahr ihre Blütezeit - doch 1977 kam die Quittung: Der Heringsfang mußte für drei Jahre eingestellt
werden. Seitdem ist die Anzahl der Trawler auf ein Viertel geschrumpft. Die Europäische Union
verhängte Fangquoten - aber immer noch werden jedes Jahr über zwei Millionen Tonnen
Nordseefisch angelandet.
Dabei landet nicht mal die Hälfte der Fänge auf dem Teller. Sechzig Prozent der jährlichen Beute
wird zu Fischmehl verarbeitet - Futtermittel für die Massentierhaltung. Zwar sind die Netzmaschen
seit der Heringskrise größer geworden, so daß mehr Jungtiere durchschlüpfen. Dennoch wird ein
Drittel aller Fänge wird "Discard", Abfall, über Bord geworfen - weil der Fisch zu klein, nicht wertvoll
genug ist oder der falschen Art angehört. "Wenn ein Fischer zum Beispiel seine Dorschquote
ausgeschöpft hat geht er auf Schellfisch. Dann wirft er alle Dorsche, die mit dem Schellfisch ins Netz
gehen, wieder über Bord - tot", erklärt der Meeresbiologe McGavin. Im Schnitt verendet pro
gefangenem Kilo Scholle oder Heilbutt 800 Gramm anderer Fisch als Discard, rechnet die
Welternährungsorganisation FAO vor.
Aquakulturen - Fischzucht im Käfig - nehmen den Fangdruck nicht von den freilebenden
Fischpopulationen der Nordsee. Im Gegenteil: Um eine Tonne Lachs zu erzeugen, verfüttern die
norwegischen Züchter mehr als drei Tonnen Sandaale - in Form von Fischmehl. Zudem bergen die
Fischfarmen eigene Umweltprobleme: Durch die Überdüngung kam es in den Fjorden schon zu
spektakulären Algenteppichen; Pestizide und Antibiotika, die die häufig auftretenden Krankheiten
und Epidemien in den Fisch-Monokulturen unterdrücken sollen, werden von der Strömung aus den
Käfigen und in die offene See hinausgeschwemmt.
Gegen die schleichende Vergiftung der Nordseefischbestände durch Chemikalien, so der einzig
wirklich richtungsweisende Beschluß der Vierten Nordseeschutzkonferenz, wollen die Nordsee-
Anrainer zwar sehr langfristig, aber doch grundsätzlich einschreiten. Aale mit Krebsgeschwüren,
Klieschen mit Hauttumoren, Kabeljau mit "Mopsköpfen" und Schollen mit abgefaulten Flossen sollen
nicht länger einen eigenen Zweig der Meeresbiologie beschäftigen. Ein Ergebnis der
Nordseekonferenz 1995 läßt für das nächste Jahrtausend hoffen: Ab 2020 dürfen keine gefährlichen
chemischen Substanzen mehr in die Nordsee eingeleitet werden.
"Das ist eine Sensation", urteilt McGavin, "Greenpeace wird auf die Umsetzung und Einhaltung
dieser Abmachung sehr penibel achten." Das wird auch nötig sein. Die britische Delegation
versuchte bereits in Esbjerg, den Befreiungsschlag gegen eine europaweite Industriebranche, die
Chlorchemie, zu verhindern. Man werde auf die Einleitung gefährlicher Substanzen verzichten -
vorausgesetzt, ein Risiko-Gutachen beweise, daß eine Substanz wirklich schädlich ist. Die Strategie
dahinter, mit der das auf der ersten Nordseeschutzkonferenz beschlossene Vorsorge-Prinzip
ausgehebelt worden wäre, war allzu durchsichtig: 11.000 Chemikalien, die Jahr für Jahr in die
Nordsee fließen, würden 11.000 langwierige Risiko-Gutachten nach sich ziehen. Die Greenpeace-
Lobbyisten in Esbjerg kehrten das Prinzip um: Die Briten könnten doch eine Liste der
geprüftermaßen harmlosen Chemikalien aufstellen, das ginge sicher einfacher und schneller.
Unüberzeugt, und erst nach langem Verhandlungsmarathon, duldeten die Briten schließlich den
geforderten Einleitungs-Stopp für das Jahr 2020 - ein Londoner Delegierter im Nachhinein in
privatissimo: Dieses Ziel sei ohnehin "unrealistisch".
Erreichbar ist das Ziel der Null-Emission von Gefahrstoffen nur über saubere
Produktionsmethoden - "clean production". Das Filtern und Säubern von Abwässern, die "end-of-
pipe"-Technologie ist an ihre Grenzen gelangt - wenn Gefahrstoffe überhaupt filterbar sind, dann
belasten sie meistens an anderer Stelle, etwa im Klärschlamm, die Umwelt. Umweltschützer fordern
schon lange "Clean Production" mit "Sanfter Technologie" - dies scheint auch der Weg zu sein, den
einige Nordsee-Anrainer anpeilen. Beispielsweise will Dänemark den chlorhaltigen Kunststoff PVC,
dessen Verbrennungsgas maßgeblich am Sauren Regen beteiligt ist, ersetzen - sei es in Kabeln,
Fußböden oder Verpackungen. Ein erster Schritt war 1994 die Erstellung einer erschöpfenden Öko-
Bilanz, die den Weg des PVC von den Rohstoffen bis zur Entsorgung seiner Endprodukte
untersucht.
Das Seehundsterben 1988 hat den europäischen Fernsehnationen auf herzzerreißende Weise das
Leiden der Nordsee vorgeführt. Insgesamt 18.000 von schätzungsweise 40.000 Tieren verendeten
kläglich an Lungenentzündung, die ein Virus ausgelöst hatte. Daß die Krankheit ungebremst unter
den Kuscheltieren der Nordsee wüten konnte, führen viele Wissenschaftler auf das geschwächte
Immunsystem der Robben zurück. Das durch den Holzschutzmittelprozeß traurig bekanntgewordene
Nervengift Pentachlorphenol (PCB) etwa hat den Vitamin-A-Spiegel der Seehunde bedenklich
gesenkt. "Wenn man ein totes Weibchen seziert und die Gebèrmutter fühlt sich steinhart an, dann
kann man stets hohe PCB-Werte im Fettgewebe erwarten", berichtete der Kieler Zoologe Günther
Heidemann. "Seehunde sterben einen spektakulären, einen Fernseh-Tod. (...) Wer aber weiß, daß
auch die Lummen, eine Vogelart, an unseren Küsten stark gefährdet, ja ähnlich wie die Robben vom
Aussterben bedroht sind?", fragt Johanna Wieland in ihrem Greenpeace-Report "Nordsee in Not".
Und wer weiß, daß sich die Menschen der französischen Hafenstadt Cherbourg bei jedem
Austernessen wie beim Russischen Roulett fühlen: Ob diese Auster wohl die entscheidende Dosis
des mit tödlicher Sicherheit krebserzeugenden Supergifts Plutonium enthält? Das radioaktive Metall
leckt im benachbarten La Hague, bei der Wiederaufarbeitung von Uranbrennstäben, in die See.
Briten und Franzosen haben in Esbjerg die Lizenz zum Töten verlängert: Beide Länder dürfen
weiterhin schwach- und mittelradioaktive Abwässer in die Nordsee einleiten. Die neue
Wiederaufbereitungsanlage THORP im britischen Sellafield wird laut Greenpeace-Berechnungen die
strahlenden Einleitungen des Atomkomplexes um 900 Prozent steigern.
Das Versenkungs-Verbot für Ölplattformen ist nur eine der Greenpeace-Forderungen zum Schutz
der bedrohten Nordsee. Brent Spar-Kampagner Christian Bussau: "Um das Meer vor unserer
Haustür zu retten, muß im Prinzip unser gesamtes Wirtschaftssystem auf umweltfreundliche
Verfahren umgestellt werden. Energiesparen, um Atomkraftwerke überflüssig und Photovoltaik
rentabel zu machen, ist genauso wichtig wie biologische Landwirtschaft oder die Rückgabe von
eingedeichten Schafweiden ans Meer, damit möglichst viele Zugvögeln wieder auf den
Salzmarschen rasten können. Auch der Verbraucher kann helfen: Jeder eingesparte Liter Benzin
dient dem Schutz der Nordsee, jeder ausgelassene sonntägliche Schweinebraten läßt dem Meer
seinen durch Gülle-Einträge gefährdeten Atem."
Nach Auskunft von Malcolm McGavin hat Greenpeace keine feste Prioritätenliste der Dinge, die für
den Erhalt der Nordsee und die Zukunft der Meere getan werden müßten. McGavin: "So ein Ranking
wäre Quatsch. Ob die Fische an Sauerstoffmangel durch die Algen verenden, an Krebsgeschwulsten
durch Dioxine sterben oder den Schleppnetzen der Industriefischer zum Opfer fallen, kann doch
niemand vorhersagen. Wichtig ist, mit allen Mitteln die Schandtaten zu verhindern." Der
Greenpeacer faßt die wichtigsten Schutzmaßnahmen aus seiner Sicht zusammen: "Erstens: Zehn
Jahre Schonung für die Fische. Nach dieser Frist hätten sich die Bestände erholt, und die Fischerei
könnte mit einem ausgewogenen Management, das die Populationen schont, höhere Gewinne
machen als heute. Zweitens: Umstellung der Landwirtschaft auf Anbauweisen ohne Chemie;
Umstellung der Konsumenten auf weniger Fleischkost. Und drittens natürlich Clean Production - also
Produktionsprozesse mit geschlossenen Kreisläufen mit möglichst wenig Energie- und
Rohstoffeinsatz bei gleichzeitiger Ersetzung umweltgefährdender Stoffe."
Alles, was der Umwelt gut tut, hilft der Nordsee, hilft den Meeren. Alle Gifte, die auf Äcker
geschüttet, in die Luft geblasen oder in die Flüsse geleitet werden, landen irgendwann in der See.
Die Kampagne gegen die Versenkung der Brent Spar war ein Schreckschuß gegen den
verantwortungslosen Umgang mit dem Ursprung unseres Daseins, dem Meer. "Die britische
Regierung hat vor Brent Spar sogar erwogen, Atomreaktoren aus ausgemusterten U-Booten einfach
in die Tiefsee zu versenken. Davon redet jetzt hoffentlich niemand mehr", erzählt McGavin.
Wer also nachts am Bug die Nordsee glühen sieht, kann sich weiterhin dem Sog der Tiefe
hingeben: Das Glitzern und Glimmen ist noch kein Effekt radioaktiver Strahlung. Es ist
lebensspendendes "noctoluca"-Plankton - die Glühwürmchen des Meeres.
5. Meuterei bei der Seebestattung
"Sie waren", schrieb der Journalist Nicolas Schoon für die englische Zeitung The Independent,
"wirklich ein begabter Haufen. Ich hörte Tim, einen jungen Neuseeländer mit deutsch-
niederländischen Eltern, wie er sich in fünf verschiedenen Sprachen fließend unterhielt. Er ist nicht
nur ein erfahrener Schiffsführer, es gelang ihm auch, ein zweites Satellitentelefon zum Leben zu
erwecken. Dazu tauchte er tief in die Innereien eines Notebook-Computers, erzeugte eine 1000
Hertz-Ton, und tat noch irgendetwas, das ich nicht verstand, aber mit einer bestimmten Dezibel-Zahl
zu tun hatte."
Nicolas Schoon war einer der wenigen Reporter an Bord, als Shell am 22. Mai begann, die
Plattform nach drei Wochen Besetzung zu räumen. Das Unternehmen hatte sich in der zweiten
Maiwoche vor einem Gericht in Edinburgh ein "warrant" - einen Haftbefehl - erstritten, die dazu
berechtigte, den einzigen namentlich bekannten Besetzer zu räumen: Jon Castle. Castle hatte es
abgelehnt, freiwillig zu gehen. Firmen, die für Shell auf der Plattform arbeiten und die Versenkung
vorbereiten sollten, hatten indirekt bestätigt, daß ihre Leute für den 25. Mai gebucht waren. Damit
war klar, daß der Aufmarsch begann; der Konzern machte mobil. Nachdem Helikopter die Situation
auf der Brent Spar mehrmals aus der Luft erkundet hatten, wurde in einem anderen, nur knapp
dreißig Seemeilen entfernten Ölfeld die Stadive in Bewegung gesetzt. Die Stadive ist eine
gigantische, selbstfahrende Arbeitsplattform, groß und geräumig wie ein Fußballfeld. Ihre Kräne
überragen das Landedeck der Brent Spar, die selbst rund dreißig Meter aus dem Wasser ragte, noch
um Dutzende von Metern. Sie war, so ein Besetzer später, "die perfekte Maschine", und hatte außer
unzähligen Shell-Angestellten und Beamten der schottischen Polizei moderste Räumtechnik an
Bord. Shell war wild entschlossen, dem Spuk ein Ende zu bereiten.
Die achtzehn Besetzer hatten sich auf ihre Weise auf die drohende Räumung eingestimmt. Um
einen Hubschrauberanflug und das Absetzen von Räum-Kommandos zu verhindern, spielten sie mit
riesigen Lenkdrachen, die fast hundert Meter hoch in den Himmel stiegen. Luftballons flatterten im
Wind. Jon Castle hatte angekündigt, daß die Greenpeacer sich verschanzen, und tief ins Innere der
Plattform zurückziehen würden: "Wir sind absolut gewaltfrei, aber wir gehen auch nicht von selbst."
Die Fenster und Bullaugen der Brent Spar waren verschweißt; das Landedeck und die Gitterläufe mit
Metallstangen, Seilen, Netzen und Bannern verbarrikadiert. Am Abend vor der Ankunft der Stadive
gab es eine Party mit "Kulturprogramm". Danach baumelten rund um die Plattform seltsame
Artifakte. Einer der Reporter: "Die Jungs, die sie in der Abenddämmerung aufhängten, hatten
Wuschelköpfe und trugen schrille Sonnenbrillen. Sie sprachen in einem seltsamen Rastafari-Akzent
und erklärten den Schrott zu gutem Voodoo, der mit Sicherheit jede Räumung verhindern würde."
Jon Castle dazu später lächend: "Man darf die Dinge nicht so verbissen sehen. Es war Kunst, Kunst
aus Shell-Abfällen. Sie entsteht zwangsläufig, wenn zwei so grundverschiedene Kulturen
aufeinanderprallen."
Die Stadive mit einem Shell-Krisenzentrum auf der Brücke erreichte die Brent Spar mitten in der
kurzen Nordsee-Nacht. Christian Bussau sah sie näher kommen: "Sie wirkte auf mich, als ob ich in
Zeitlupe auf eine hell erleuchtete Kleinstadt zufahren würde. Das Ding wurde größer und größer,
ehrlich gesagt, mir rutsche das Herz schon in die Hosentasche." Die Besatzung manövrierte den
schwimmenden Koloss im Licht von starken Scheinwerfern bis auf zwanzig Meter an die Brent Spar
heran. Rote und grüne Leuchtraketen stiegen in den Himmel. Megafone bellten Befehle; die
schottischen Polizeibeamten forderten die Besetzer auf, den Protest zu beenden. Eine Handvoll
Shell-Arbeiter mit orangen Schutzhelmen hantierten an einem offenen Förderkorb, der an einem der
Kräne hing. Gegen halb vier wurde es heller. Kameras wurden in Position gebracht, Reporter
hippelig. Doch dann schlug sich die Nordsee auf die Seite der Besetzer. Der Wind frischte
schlagartig auf, die Seegang nahm zu. Der Kranausleger, mit dem der Shell-Käfig an Bord der Brent
Spar geschwungen werden sollte, kränkte bedrohlich. Krisensitzung auf der Stadive. Das Wetter
siegte. Gegen sieben Uhr gab Shell Expro in Aberdeen offiziell bekannt, daß man die "Räumung
wegen der schlechten Witterungsverhältnisse abgebrochen und auf unbestimmte Zeit ausgesetzt"
habe. Galgenfrist.
Drei Wochen zuvor, zu Beginn der Besetzung, hatten die Moby Dick und die Embla zwei Tage lang
auf besseres Wetter warten müssen, bevor fast zehn Tonnen Ausrüstung übergesetzt, hochgehieft,
im Innern verstaut und installiert wurden. Das Camp auf der Brent Spar war damit vorerst gesichert
und nahm Formen an. Nach einer ersten, intensiven Sicherheitsinspektion wurden die 1991
verlassenen Shell-Quartiere, mit fein säuberlich gefaltetem Bettzeug aber verwüsteter Küche,
notdürftig in Betrieb genommen; Schlafräume, Funkquartiere und Wohnzimmer entstanden. Aus den
oberen Decks der Ruine wurde das provisorische Nordsee-Hauptquartier von Greenpeace.
Gemütlich zwar, aber nicht anheimelnd warm. Die Temperaturen im Brent-Feld lagen in der Regel
bei fünf Grad, die Besetzer schliefen zumeist in ihren roten Schutzanzügen. Die tieferen Ebenen, die
Maschinenräume, Arbeitsdecks und Tankabstiege, wurden von den Besetzern zunächst nur
vorsichtig erkundet, denn die Brent Spar barg erhebliche Gefahren.
Der Stahlkoloss strahlt eine enorme Faszination, aber auch eine dumpfe Drohung aus. Schon im
Jahr 1977 waren drei Arbeiter in einem der Decks unterhalb der Wasserlinie getötet worden. Sie
erstickten an Schwefelwasserstoff-Gasen. Und 1990 hatte sechs weitere Menschen, die komplette
Besatzung eines Hubschraubers, ihr Leben auf der Brent Spar verloren. Ihre Maschine war mit dem
Kranausleger kollidiert und wie ein Stein vom Himmel gefallen. Christian Bussau beschreibt seine
Eindrücke, als die vorsichtige Sondierung der tiefergelegten Brent Spar-Decks und die
Probennahme aus den Tanks begann: "Düster, bedrückend. Wir schwitzen in unseren
Schutzanzügen; die schweren Atemschutzmasken sind leicht beschlagen. Auf dem Boden steht
schwarzes Wasser. Es riecht nach Öl und Maschinen. Aus den Schaltkästen hängen tote
Elektrokabel; dunkle Spinde klaffen offen. Rostpocken. Hellgelbe Warnschilder überall."
Die Probennahme aus den verlassenen Tanks der Brent Spar war ein schwieriges Unterfangen,
aber von zentraler Bedeutung. Shell hatte sich im Versenkungsantrag auf Schadstoffmengen
berufen, die bei dem "Großreinemachen" im Jahr 1991 nicht exakt bestimmt, sondern lediglich
hochgerechnet worden waren. Nach diesen Shell-Angaben waren rund 30 Tonnen schwach
radioaktive Salze in den Rohr- und Pumpsystemen, und das mit Öl kontaminierte Seewasser über
den 100 Tonnen Bodensatz in den Tanks. Den tatsächlichen, aktuellen Inhalt der Brent Spar, die
Mengen an Müll und Gift, die versenkt werden sollten, kannte niemand. Doch direkt zur untersten
Arbeitsebene über den Tanks, dem M-Deck, vorzudringen, war angesichts der begrenzten
Ausrüstung praktisch unmöglich. Zwei der sechs Tanks - die im Jahr 1977 beschädigten und mit
Seewasser gefluteten - waren verschlossen; eine wissenschaftlich exakte Probennahme war daher
nicht zu machen. Die Besetzer behalfen sich nach Rüchsprache mit dem Analyse-Labor der
Universität von Exeter in England mit einer praktikablen Notlösung. Sie beschwerten Probengefässe
mit Gewichten und seilten sie durch die Belüftungsrohre von drei anderen Tanks ab. Simon Reddy,
der später die Ergebnisse der Probenuntersuchung im Exeter-Labor auf den Tisch bekam, wunderte
sich bereits über die ersten Resultate vor Ort: "Das Erstaunliche war, daß die Probengläser in zwei
Tanks erst eine 25 Meter dicke Ölschicht durchdringen mußten, bevor wir auf verschmutztes Wasser
stießen. Das konnte eigentlich nur bedeuten, daß über dem Schlamm am Boden des Tanks und dem
kontaminierten Seewasser noch richtiges Öl schwamm - doch davon war im Inventar, das Shell beim
Entsorgungsantrag eingereicht hatte, nie die Rede gewesen." Auch in dem letzten untersuchten Tank
wurde eine Ölschicht gefunden. Reddy: "Die Tanks, das war uns klar, waren die totalen Dreckeimer."
Auch sonst war die Brent Spar nicht gerade das, was man besenrein nennen würde. In den
Maschinendecks stapelten sich alte Batterien, Ölfässer, Abfallsäcke, aber auch neue, noch original
verpackte Generatoren. Jon Castle ortete einen Satz fabrikneuer Tauchflaschen. Asbestverseuchte
Verkleidungen hingen von den Wänden. In den Gängen und tieferen Decks lagerten überall Behälter
mit giftigen oder brennbaren Chemikalien. Auf einigen der Tonnen war ein gelbschwarzes Zeichen
angebracht: Radioaktivität. Die Besatzer saßen auf einem undefinierbaren Giftcocktail.
Nur insgesamt vier Greenpeacer verbrachten alle drei Wochen bis zur Räumung an Bord der Brent
Spar. Die Moby und ein Fischerboot aus Lerwick, die Starina, sorgten für den Nachschub von den
Shetland-Inseln. Sie brachten auch die Mannschaften für den wöchentlichen Crew-Wechsel. Mit den
neuen Funkern, Kampagnern und Seeleuten kamen die neuen Journalisten. Sie beschrieben den
Besetzeralltag, und verfassten, von der Routine frustriert, dramatische Hochseeromantik. Beispiel:
"Sie könnten alle ein heißes Bad vertragen. Doch die Lebensbedingungen an Bord sind dennoch
jenen vorzuziehen, denen man während der zwölfstündigen Überfahrt zur Brent Spar ausgesetzt ist.
Und nicht zu reden von den schrecklichen sechs Stunden, die man wartet, bevor die Wellen den
Versuch zulassen, jemand zur Plattform zu bringen. Dann, angetan mit einem hellorangen
Überlebensanzug, kraxelst man eine Netzleiter in ein winziges Schlauchboot runter, wo zwei
hochkompetente norwegische Ladies zwei Seemeilen weit durch drei Meter hohe Wellen mit Dir
sausen. Sie tragen Bommelmützen und laufen unter dem Spitznamen "Inflatable Dolls". Doch jetzt
bist Du im Schatten der Brent Spar, die rostig, trostlos und nach Öl stinkend über Dir thront. Ein
großer Haken wird am Geschirr um deine Brust befestigt, dann wirst Du beinahe 30 Meter
hochgezogen auf die Decks."
"Ach, der Alltag war öde, aber irgendwie auch ziemlich witzig", sagt David Sims. Sims, ein kleiner
stämmiger Brite mit schwarzem Schopf, ist freier Photograph. Er war im Auftrag von Greenpeace an
Bord gekommen und drei Wochen lang der visuelle Chronist der Ereignisse. Wenn er ins Erzählen
kommt, ist er kaum aufzuhalten. "Wir hatten echt unsern Spaß. Am Abend haben wir meist Roulette
gespielt, mit Ronan als Croupier. Ich hätte mich totlachen können über Ronan, wenn er sich mit
seinem Slang so aufplusterte und kommandierte: Monsieurs, Madams, fait vous jeu, fait vous jeu
maintenant..." Ronan, der Franzose, war auf die Shell-Insel gekommen, weil der vorgesehene Koch
drei Tage vor der Abfahrt der Moby Dick abgesprungen war. Keiner kannte Ronan genauer, doch
seine Referenzen klangen verlockend: Lehre in einem Grand-Hotel in Paris, dann Anstellung in
einem Londoner Novelle Cuisine-Tempel. Warum also nicht? Ronan machte das Beste aus der Brent
Spar. Er würdigte der Mikrowelle, die Shell zurückgelassen hatte, keinen Blick, aber zauberte auf
zwei Gasflammen täglich mehrgängige Menüs: Gartenkräuter von der Moby Dick, Frischfisch vom
Angelhaken aus der Nordsee. Sims: "Auf zwei Sachen konnte man auf der Spar bauen. Die
Fischfilets waren nicht älter als eine Stunde und zu allem gab es saus, echte französische saus mit
Knoblauch. Ohne Knoblauch-Soße ging bei Ronan gar nichts."
Shell mußte das Feinschmecker-Camp räumen. Das Brent-Feld war Öl-Land. An Tagen mit guter
Sicht waren bis zum Horizont fast dreißig der riesigen Förderplattformen auszumachen, die sich die
Öl-Multis wie moderne Kathedralen errichtet hatten. Es war ihre Schatzkammer, ihr großes Reich,
hier draußen; ihr Wort war hier Recht und Gesetz. In Öl-Land waren Kläger, Richter und Henker
eins. Greenpeace war provokativ in ihre Domäne eingedrungen; ihre Ruhe gestört, sich in ihrem
Hinterhof breitgemacht, sie vorgeführt. Jeder Tag der Besetzung hatte Shell Expro geschmerzt wie
ein Stachel im Fleisch.
Shell räumte die Brent Spar, wegen des aufgekommenen Wetters mit rund 24 Stunden Verspätung,
am 23. Mai gegen sechs Uhr in der Früh. Wind und Seegang hatten nachgelassen; die Stadive
konnte eine Enter-Mannschaft am Kran übersetzen. David Sims: "Sie kamen mit ihren Leuten und
ihrem Korb viel schneller über die Seile und Barrikaden, als wir gedacht hatten, und landeten. Nun,
ich meine, sie sind im wahrsten Sinne des Wortes aus mindestens einem Meter gelandet. Der
Eisenkorb fiel runter, machte bäng!, und dann lag er auf Deck."
"Sie kamen also runter, sprangen raus und haben sie sich als ersten Frank geschnappt, und ihn an
allen Vieren in den Korb gezerrt. Ich stand dabei und habe meine Photos gemacht. Da kam der
Shell-Häuptling, und meinte: Sie da, Sie können hier keine Fotos machen! Hören Sie, keine Fotos
hier! Dabei hat er immer sein Hand vor mein Objektiv gehalten. Ich hab weiter auf den Auslöser
gedrückt, und gesagt: Danke, Sir! Und er glotzte mich an, und sagte: Für was denn? Und ich drauf:
Sir, sie haben gerade ein astreines Bild abgegeben. Shell hindert freien Presse-Photographen bei
der Arbeit. Verstehen Sie, Sir?"
Die Räumung der Brent Spar, die am frühen Morgen begonnen hatte, dauerte den ganzen Tag an.
Die Besetzer, die sich auf dem Landedeck und in den Wohnquartieren festgekettet hatten, wurden
mit Zangen und Bolzenschneidern losgemacht. Am Abend waren nur noch Jon Castle, Al Baker und
David Sims auf der Plattform. Baker und Sims hatten die letzten Stunden auf der Spitze eines Turms
zugebracht, bevor sie ihren Hochsitz freiwillig verließen. Jon Castle hatte sich in die tieferen Decks
zurückgezogen und ging, wie es sich für den Kapitän gehört, als Letzter von Bord.
Während die Bilder der Räumung in halb Europa auf Sendung gingen, warteten die Greenpeacer
und die mitgeräumten Journalisten im Innern der Stadive auf ihren Abtransport zu den Shetland-
Inseln. Die Brent Spar war wieder in Shells Händen.
Doch die Stimmung war bombig, nicht zuletzt, weil David Sims eine unglaubliche Geschichte auf
Lager hatte:
"Ich packe also meine Filmrollen und die Videocassetten wie abgesprochen in die wasserdichte
Rettungsbox, und ab damit über Bord. Dreißig Meter, bäng!, schlägt sie auf dem Wasser auf. Funkruf
an Anita im Schlauchboot: Habt ihr die Kiste? Und sie nach einer Pause: Nein, verflucht. Das Ding ist
abgetrieben. Wir können die Kiste nicht mehr sehen. Ich denk nur: Fuck, das darf doch nicht wahr
sein! Die ganzen Aufnahmen von der Räumung. Alles Futsch, treiben jetzt in der Nordsee in dieser
blöden Rettungsbox.”
“Und dann, so nach rund fünf Minuten, kam Anita wieder über Funk rein und sagte bloß: Dave, wir
haben sie wieder.”
"Stellt Euch vor: Die hatten die Box im Boot, aber eine Welle hat sie rausgespült, und weg war sie.
Verzweiflung. Und in ihrer Not sind sie losgefahren, zu jedem von den Shell-Schlauchbooten, die
rundum im Wasser waren. Haben dummdreist nachgefragt: Sagt mal, ist hier vielleicht unsere
Rettungsbox vorbeigeschwommen, so eine rote?"
"Und einer von den Shell-Leuten sagt doch tatsächlich: Äh, ja, Mädels. Hier ist eine
vorbeigekommen. Ist sie das hier? Und Anita ganz cool: Ja, genau, das ist unsre. Schmeiß mal
rüber."
"Anita fängt das Ding auf, sagt noch: Schönen Dank, Jungs!, und ab durch die Mitte zum
wartenden Hubschrauber. Irre."
6. Der Multi mit der sauberen Muschel
Marcus Samuel, mit dem die Geschichte der gelben Muschel auf rotem Grund beginnt, residierte
1889 in einer nicht gerade noblen Gegend. Der Londoner Kaufmann betrieb seine Geschäfte von
einem kleinen Büro in einer Seitengasse in Houndsditch im Eastend, nicht weit von den Docks und
den dunklen Spelunken, in denen die Segler, die Frachter und ihre Matrosen einliefen. Hinter dem
Büro befand sich das Lager von M. Samuel & Co., zugestellt und vollgestopft mit einem bunten
Allerlei aus "japanischen Vasen, importierten Möbeln, Seide, Muscheln" und sonstigen Kuriositäten,
das Samuel an andere Händler weiterverkaufte.
Der Kaufmann wäre wohl, wie sein Vater vor ihm, sein Leben lang ein "Muschelhändler" geblieben,
wenn nicht 1890 der Makler Fred Lane mit einer interessanten Geschichte und einem spannenden
Angebot zu ihm gekommen wäre. In den Vereinigten Staaten war nach der ersten erfolgreichen
Bohrung nach Öl, die Edwin "Colonel" Drake im August 1859 in Titusville, Pennsylvania,
niedergebracht hatte, ein fast religiöser Ölwahn ausgebrochen, vergleichbar nur mit dem legendären
Goldrausch. "Es ist das Licht der Epoche", schrieb der Verfasser von Amerikas erstem Öl-Handbuch
begeistert. "Wer es nicht brennen gesehen hat, mag mir getrost glauben, daß sein Licht kein
Mondschein ist; schon eher so etwas wie das klare, starke, leuchtende Licht des Tages, an dem die
Mächte der Finsternis nicht teilhaben..." Drei Jahre nach den ersten Eimern, die Colonel Drake aus
der Finsternis der Erde geholt hatte, wurden in Pennsylvania bereits drei Millionen Barrel Öl jährlich
gefördert; 1871 öffnete die erste Ölbörse der Welt in Titusville ihre Pforten.
Die Suche nach dem Leuchtstoff war zu einer Industrie mit unbändiger Energie geworden, und an
ihre Spitze setzte sich John D. Rockefeller. Der Sproß einer Familie, in welcher der Vater unter
einem falschen Doktor-Titel noch Kräuter und rezeptfreie Wundermittel verkaufte, hatte eine
Raffinerie nach der anderen gekauft und gebaut, Pferdekutschen gemietet und Transportwege
erschlossen, Pipelines legen lassen - und hart daran gearbeitet, die Nummer eins im
amerikanischen Öl-Geschäft zu werden. Um 1880 hatte er, trotz öffentlicher Anfeindungen und einer
Klage wegen verbotener Monopolstellung, sein Ziel erreicht; seine Standard Oil Company
kontrollierte fast neunzig Prozent der amerikanischen Raffinerien sowie der Transportwege des Öls,
und erhielt einen neuen Namen, der vielen wie eine düstere Drohung klang: Trust.
Sich mit dem allgegenwärtigen Trust anzulegen, war gefährlich, denn Rockefellers Firmen und
leitenden Angestellten reagierten auf jede Gefährdung ihrer Position und ihrer Märkte wie eine
gereizte Klapperschlange. Sie schnappten und bissen zu; entweder mit knallharten Kampf- und
Dumpingpreisen am Markt, bis der unliebsame Konkurrent Pleite gegangen war, oder aber mit wohl
kalkulierten und verlockenden Übernahmeangeboten. Das wußten auch die europäischen Finanziers
und Bankhäuser wie etwa die französischen Rothschilds, die mit dem Gedanken spielten, ins Öl-
Geschäft und vor allem in die neu ergründeten russischen Ölvorkommen am Kaspischen Meer zu
investieren.
Sie brauchten dazu Hassadeure und risikobereite Strohmänner - und Makler Fred Lane suchte
einen Kaufmann, der im Auftrag der Rothschild-Dynastie den Transport von russischem Erdöl vom
Schwarzmeerhafen Batumi nach Asien und anderen neuen Absatzmärkten organisieren sollte.
Marcus Samuel verstand sofort, welche unerhörten Gewinnchancen in dem Vorschlag lagen, griff
trotz der Risiken ohne zu Zögern zu - und brachte eine technische Neuerung in das Geschäft ein, die
das Unternehmen erst rentabel machen sollte: Tanker. Denn bis zu diesem Zeitpunkt war der Stoff,
den immer mehr Menschen Brennstoff und Licht ins Dunkel brachte, auch auf See sehr
kostenaufwendig in Fässern, großen Korbflaschen oder Kanistern transportiert worden. Samuel gab
heimlich, um das Augenmerk des Giganten Standard Oil nicht auf den Rothschild-Plan und die
asiatischen Märkte zu lenken, den Bau eines Tankers in Auftrag. Er schaffte es mit Hilfe cleverer
Rechtsanwälte, trotz erheblicher Sicherheitsbedenken eine Durchfahrtsgenehmigung durch den
neuen Suez-Kanal zu bekommen, und füllte in Batumi die Tanks. Im Juli 1892 erreichte die Murex,
der erste Tanker mit dem Muschel-Emblem am Schornstein, den Hafen Singapore. Schon zehn
Jahre später gehörten neunzig Prozent der enormen Mengen Öls, das durch den Suez-Kanal nach
Asien gingen, Samuels Shell. Die neuen roten Kanister, in denen das Tanker-Öl umgefüllt und
weiterverkauft wurde, lösten die verbeulten blauen Transport-Behälter der Standard Oil ab. 1893
liefen bereits zehn Tankschiffe, die allesamt Muschel-Namen wie Murex trugen, unter der britischen
Shell-Flagge, und Samuel war so erfolgreich, daß er ein Übernahmeangebot der Standard Oil
ablehnen konnte. Um sein Gesellschaftskapital auf gesunde Beine zu stellen, nahm er im Jahr 1897
ein Dutzend andere Londoner Kaufleute mit ins Boot und gründete die Shell Transport and Trading
Company.
Sieben Jahre zuvor, im Sommer 1890, hatte der Holländer Aeilko Jan Zijlker, der Manager einer
Tabakplantage im niederländischen Ostindien, die "Koninklijke Nederlandse Maatschappij tot
Exploitatie van Petroleumbronnen in Nederlandsch-Indie" oder auch kurz "Royal Dutch" gegründet,
nachdem er in den unzugänglichen Sümpfen Sumatras durch Zufall auf Öl-Quellen gestoßen war.
Nach den damals üblichen Anfangsschwierigkeiten - wie Malariaanfällen, Hungersnöten unter den
chinesischen Arbeitern, Piratenangriffen und Pipelinebrüchen - wurde 1992 die erste Raffinerie mit
Rohöl beliefert. Auch Royal Dutch wurde, nachdem es erste Gewinne vorweisen konnte und sich
einen bedeutenden regionalen Markt in Südostasien erobert hatte, von Standard Oil mit einem guten
Angebot geködert.
Doch erfolgreiche Verhandlungen wurden schließlich zwischen den Holländern und Samuels Shell
geführt: Ihre Firmen ergänzten sich von der Struktur her fast ideal. Während Shell, mit einem
blendend organisierten Vertriebssystem, nach eigenen Förderquellen suchte und damit von den
russischen Lieferungen der Rothschilds unabhängig werden wollte, brauchte Royal Dutch mit den
eigenen Feldern in Sumatra dringend einen verläßlichen Vertriebspartner. Im Jahr 1907 wurde die
Vernunftehe der beiden Firmen besiegelt - sie hieß von nun an Royal Dutch/Shell-Gruppe - oder
auch nur "die Gruppe" -, und an der Spitze stand unangefochten nicht Marcus Samuel, der auf seine
alten Tage noch Bürgermeister von London wurde, sondern der junge und dynamische Holländer
Henri Wilhelm August Deterding. Die beiden unsprünglichen Firmen blieben weiter bestehen und
wurden zu Holdings umgewandelt; obwohl die Royal Dutch sechzig Prozent der Gesellschaftsanteile
an den Tochtergesellschaften und die Shell Transport und Trading nur vierzig Prozent hielten,
bürgerte sich der letztere Name ein: Shell. Mit der Fusion begann der Siegeszug der Muschel.
Während Standard Oil unter dem Druck der amerikanischen Anti-Trust-Gesetze im Jahr 1911
entflochten und in mehrere unabhängige Mineralölgesellschaften umgewandelt wurde, wuchs die
Gruppe stetig. Der Verbrauchsboom nach dem Ersten Weltkrieg, der Siegeszug des
Verbrennungsmotors, der aus dem Leuchtstoff für Lampen den Lebenssaft der Mobilität machte, und
die Welle der weltweiten Industrialisierung spülte die multinationalen Ölkonzerne immer weiter nach
oben. Shell war an der Spitze mit dabei; Im Jahr 1936 kontrollierte die Firma rund zehn Prozent der
weltweiten Produktion. Der Visionär Deterding hatte mit einer perfekten Witterung für große
gewinnbringende Investitionen und einer starken Führungshand aus den beiden
Schwesterunternehmen einen weltumspannenden Konzern gemacht. Er herrschte über den Konzern
wie über seinen Privatbesitz: "Sir Henris Wort ist Gesetz," zitiert Daniel Yergin in seinem Buch Der
Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht einen hohen britischen Beamten. "Er kann den Vorstand
von Shell zu allem möglichen verpflichten - ohne dessen Wissen und Einverständnis."
Deterding wurde, darauf verweisen inoffizielle Biographen, mit zunehmendem Alter immer
schrulliger, und wie Yergin bemerkt, "zu einer Peinlichkeit für das Management". Inzwischen ein alter
Herr von Anfang siebzig, entwickelte er Vorlieben, die seinen Ruf als "größten Ölmannes des
beginnenden Jahrhunderts" nachhaltig beschädigen sollten. Im Jahr 1936 begeisterte er sich unter
dem Einfluß seiner jungen deutschen Sekretärin und Geliebten für nationalsozialistische Ideen und
wurde ein glühender Verehrer von Adolf Hitler. Als er begann, Geheimverhandlungen mit den Nazis
über die Lieferung eines Jahresbedarfs an Erdöl - die Kriegsreserve - zu führen, und ihnen private
Gelder zukommen ließ, wurde er gezwungen, die Führungsposition bei Shell zu verlassen. Doch
Deterdings enge Liaison mit den Nazis - er verbrachte seinen Lebensabend auf einem Gut in
Pommern und starb kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges - hatte einen ersten Schatten auf die
strahlend gelbe Muschel geworfen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Zeit der großen Shell-Magnaten vorbei. Deterdings
Nachfolger an der Spitze der Gruppe führten den Konzern mit weniger öffentlichem Aufsehen und
exzentrischer Verve, aber mit gleichem Erfolg. Bei allen erfolgreichen Öl-Deals nach dem Zweiten
Weltkrieg bis heute, wie etwa bei der Erschließung der Kuwait-Quellen, bei der Öffnung des Irans,
dem Aufschluß der Nordsee oder den großen Investitionen in Alaska - Shell war entweder direkt
daran beteiligt oder profitierte zumindest davon. Das britisch-niederländische Unternehmen wurde
ein - im Branchenjargon - "voll integierter Konzern" und eine wahrlich weltumspannende
Organisation. Sie agierte globaler, straffer gelenkt und erfolgreicher als vergleichbare internationale
Zusammenschlüsse auf politischer Ebene wie etwa die Vereinigten Nationen. Denn im Gegensatz zu
dieser muß Shell keine verschiedenen, widersprüchlichen Interessen ausgleichen, sondern nur
einem einzigen, eigenen Zwecke folgen: Gewinn. Die Royal Dutch/Shell-Gruppe, aus einem einzigen
Tankschiff des Londoner Muschelhändlers Samuel entstanden, ist inzwischen nach den
Automobilherstellern General Motors und Ford der drittgrößte Konzern der Welt. Die individuelle
Mobilität, mit dem Aufkommen des Verbrennungsmotors geboren und seit den sechziger Jahren zum
Fetisch der Freiheit verklärt, steht damit an der Spitze der weltweiten Produktivitätsskala: Zwei
Firmen bauen die Autos, die dritte füllt die Tanks.
Die Gruppe operiert heute weltweit in über 130 Ländern und beschäftigt 110.000 Menschen in rund
2000 Tochtergesellschaften. Die Zeit schreibt: "Der Wert der Aktien der beiden Holdings an der
Spitze beträgt an der Börse über 100 Milliarden US-Dollar, einsame Spitze in Europa. Ein
Bruttoumsatz von 129 Millarden US-Dollar im Jahr 1994 entspricht dem Dreifachen der
Wirtschaftsleistung Nigerias. Der Nettogewinn von fast 6,3 Milliarden US-Dollar (ein Plus von 39
Prozent gegenüber 1993) ist größer als der Umsatz des deutschen Reifenherstellers Continental."
Diese Rendite, soviel wie die Gewinne der Firmen Daimler-Benz, Siemens, Hoechst, Veba, BASF
und Viag zusammengenommen, macht die Shell-Gruppe nicht mehr allein im Erdöl- oder
Erdgassektor. Das Management hat frühzeitig diversifiziert, ist inzwischen im Kohle- und
Metallgeschäft vor allem in den USA, Australien und Südafrika aktiv, und hat einen Standbein in der
petrochemischen Industrie: Shell ist in dieser Branche globaler Marktführer. Andere Töchter haben
den Konzern weltweit unter das erfolgreichste Dutzend der Pestizid- und Saatgutproduzenten
katapultiert.
Wer allerdings welchen Anteil an dem immensen Gruppen-Gewinn einfährt, ist schwer zu
übersehen, denn Shell hat eine für einen multinationalen Konzern einzigartige
Unternehmensstruktur. An der Spitze der Gruppe stehen wie zu Samuels und Deterdings Zeiten die
beiden unabhängigen niederländischen und britischen Unternehmen Royal Dutch und Shell
Transport and Trading. Sie kontrollieren zu je 60:40 Anteil drei "Gruppen"-Holdingunternehmen
kontrollieren: die Shell Petroleum NV in Den Haag, die Shell Petroleum Co. Ltd. in London und die
Shell Petroleum Inc. in den USA. Diese drei "Gruppen"-Unternehmen unterhalten wiederum "Service
Unternehmen" wie z.B. Shell Marine, Shell Chemical oder Shell Research, die in der Theorie den
2000 weltweit verstreuten "Betriebsgesellschaften" die gesamte Forschungs- und Logistikerfahrung
des Konzern zur Verfügung stellen. Doch spätestens hier wird es unübersichtlich. Die 2000 Töchter
unterstehen nämlich nicht direkt den "Gruppen-Holdings", sondern Regionaldirektoren und 130
nationalen "Ländergesellschaften" wie etwa Shell UK, der Deutschen Shell AG oder Shell Nigeria.
Shell ist im Vergleich zu anderen weltweiten Multis kein Polyp mit einem Zentralhirn und langen,
weitreichenden Tentakeln, sondern ein rhizomartiges Wesen. Nach dem schwerfälligen "Matrix-
System", das die amerikanischen Unternehmungsberater von McKinsey in den fünfziger Jahren für
den Konzern austüftelten, hat der Manager einer nationalen "Betriebsgesellschaft" mindestens zwei,
oft drei Vorgesetzte, denen er verantwortlich ist - einen für die Region, einen im Land, und einen für
das Sachgebiet. Gleichzeitig, und anders etwa wie beim Hamburger-Multi McDonalds, wo jede noch
so kleine Änderung des Fahr- und Speiseplans von der Zentrale im amerikanischen Oakbrook,
Illinois abgesegnet werden muß, genießen die Shell-Leute vor Ort freie Hand. Peter Duncan,
Vorstandschef der Deutschen Shell, über das verwirrende Shellsche Satellitensystem: "Diese
Unternehmensgruppe gibt den einzelnen Töchtern eine sehr große Selbständigkeit. Das ist eine
unserer Stärken."
Landesfürsten wie Peter Duncan sind wie die Bosse der großen "Betriebsgesellschaften" wie z.B.
Shell Expro frei in ihren Tagesentscheidungen, solange sie profitabel arbeiten. Die ferne
Konzernleitung in den Hauptquartieren Den Haag und London wird nur konsultiert, wenn es um die
wichtigen, langfristigen Investitionen geht. Diese Konzernspitze, die selten per Dekret eingreift, aber
doch das überragende Sagen hat, ist ein erlauchter, handverlesener Kreis: Im sogenannten
"Committee of Managing Directors (CMD)" sind die beiden Mütter Royal Dutch und Shell Transport
and Trading sowie die Gruppenholding-Gesellschaften vertreten, schön ausgewogen im Verhältnis
60 zu 40 zugunsten der Niederländer. Vorsitzender ist derzeit der Niederländer Cornelius
Herkströter, von 1985 bis 1988 Vorsitzender der Deutschen Shell. Nach Ansicht eines deutschen
Shell-Mitarbeiters ist bei CMD-Sitzungen von den Niederungen des Alltagsgeschäftes und dem
Wind, der dem Weltkonzern auf dem schwer umkämpften Öl-Markt ins Gesicht bläst, wenig zu
spüren: "Wer bei Shell einmal in diesen Olymp vorgetrugen ist, bei dem fließt längst feinstes Öl in
den Adern. Der gehört zu den Erleuchteten, der ist nicht mehr von dieser Welt."
Um die weltlichen Dinge kümmern sich die Gemeinen von Shell, die allerdings nach Einschätzung
des britischen Wirtschaftsblattes Economist ebenfalls eine besondere Spezies Mensch darstellen:
"Der Mann von Shell ist durchdrungen von Treue zum Unternehmen, ist ein Diplomat in
Verhandlungen mit Regierungen und hat einen entschieden internationalen Ausblick." Und daß bei
130 Länderorganisationen und 2000 Betriebsgesellschaften unzählige Kapitäne auf den Brücken
stehen und den jeweiligen Kurs anlegen, hat einen unschätzbaren Vorteil für den Konzern: Er ist mit
diesen revierkundigen Crews an Bord in rauhen Zeiten fähig, örtliche Klippen jeglicher Art und vor
allem politisch aufgewühlte Seen zu umschiffen.
Shell hat es in der Vergangenheit in vielen brenzligen Situationen meisterlich verstanden, sich der
lokalen Wetterlage anzupassen, und - immer das eigentliche Ziel Unternehmensgewinn im Auge -
mit dem gerade herrschenden Wind im Rücken zu segeln. Das ist wichtig, wenn man in Ländern wie
Nigeria, Iran, Burma oder Regionen wie dem indonesischen Ost-Timor, wo die Menschenrechte mit
Füßen getreten werden, in aller Ruhe seinen Bohrgeschäften nachgehen will.
Doch in vielen Ländern geht die Rechnung nicht so einfach auf. Beispiel: Südafrika. Im Jahr 1990,
als sich die Gründung von Royal Dutch zum hundersten Mal jährte und der Multi Geburtstag feierte,
wurde Shell vom Weltkirchenrat, internationalen Gewerkschaften und einer Unzahl von
Menschenrechtsgruppen vor allem in den USA und Großbritannien massiv kritisiert. Die Anti-
Apartheid-Bewegung warf dem Konzern vor, die wesentliche Stütze des weißen Regimes in
Südafrika zu sein und kräftig am Rassismus zu verdienen. Ein weltweiter Boykott-Aufruf gegen Shell
war im Umlauf. Jubelstimmung konnte daher bei den Jubiläumsfeierlichkeiten nicht aufkommen. In
Den Haag wurde das Hauptquartier des Konzerns von Protestierern stundenlang belagert; erst ein
ruppiger Polizeieinsatz machte den Beschäftigten den Weg an die Schreibtische frei. Schon in den
Monaten zuvor waren rund 200 holländische Tankstellen durch Sabotage und Brandstiftung
beschädigt worden. In Deutschland hatte das Special Interest-Magazin "Radikal - das Fachblatt für
alles, was Terroristen Spaß macht" dem Thema "Shell-Tankstellen" vierzig Seiten gewidmet und
Aktionen in mehreren Großstädten angekündigt.
Die Anti-Apartheid-Bewegung konnte seriöse und gewichtige Argumente gegen Shell vorbringen.
So stammte rund ein Fünftel des von Südafrika benötigten Öls von Shell, obwohl ein internationaler
Boykott gegen die Rassisten ausgerufen worden war und die EU-Staaten 1988 zugestimmt hatten.
In der Nähe von Durban stand die größte Raffinerie des Landes, die zwei Drittel des Ölbedarfs
Südafrikas deckte. Besitzer: zur Hälfte Shell. Doch Shell weigerte sich, seine Kap-Filialen zu
schließen, und lieferte umgerechnet täglich 800 Tonnen Erdöl an die Armee des Landes. Hans
Branscheidt, damals Sprecher der Hilfsorganisation Medico International: "Der Konzern hilft
wesentlich dabei, die schwarze Bevölkerungsmehrheit zu unterdrücken." Auch James Motlatsi, im
Jahr 1990 der Chef der afrikanischen Minenarbeitergewerkschaft und ein wichtiger Mann des African
National Congress ANC, fand für das "Schmiermittel der Apartheid" deutliche Worte: "Shell liefert Öl
an eine Regierung, die unschuldige Frauen und Kinder tötet. Shell muß Südafrika verlassen, das ist
der einzige Schritt in die richtige Richtung." Motlatsi vertrat die Arbeiter in den großen Kohlegruben
des Landes, die ebenfalls auf der Boykott-Liste standen, und an denen Shell gewichtige Anteile hielt.
Das war vor allem für die Boykotteure in den Niederlanden interessant. Ihnen waren vertrauliche
Konzern-Unterlagen zugespielt worden, die eine plötzliche Exportsteigerung von "niederländischer"
Shell-Kohle nachwiesen. Nur: In dem Land hinter den Deichen wird gar keine Kohle abgebaut.
Der damalige Shell-Chef in Südafrika, John Wilson, gab den Apartheid-Gegnern zumindest
moralisch Recht. Er erkannte auch an, daß man unter strategischen Gesichtspunkten für einen
Boykott "kein größeres oder besseres Objekt hätte auswählen können". Doch der Boykott selbst sei
nicht gerechtfertigt. Das Unternehmen verurteile nämlich das Unrechts-Regime in Pretoria, und "tue
alles, was möglich ist, um dieses Unterdrückungssystem auszurotten." Doch im Gegensatz zu
anderen Weltfirmen wie General Motors, IBM, Esso, Kodak oder der britischen Barclays Bank
entschied sich Shell, in Südafrika zu bleiben. Offizielle Begründung, die auch heute noch bei
Nachfragen gilt: Shell könne vor Ort mehr für die Überwindung des Apartheid-Systems tun als durch
einen Abzug. Das Verlassen des Landes würde den Einfluß einer Firma schwächen, "die
entschieden in Opposition zu Apartheid steht und für eine Veränderung arbeitet." Eine der
erfolgreichsten Maßnahmen, um zumindest unter der schwarzen Bevölkerung Südafrikas um
Verständnis für diese Position zu werben, war die Shell-Anzeigenkampagne in der Wochenzeitung
"Weekly Mail". Das Sprachrohr der Schwarzen, in dem regelmäßig zum Shell-Boykott aufgerufen
worden war, und ständig Gefahr lief, von den weißen Behörden verboten zu werden, erhielt plötzlich
ganzseitige und gutbezahlte Anzeigenvorlagen zu den politisch heißen Themen Menschenrechte
und Pressefreiheit: "Shell unterstützt das Recht aller Menschen, zu leben, wo sie wollen." hieß es
da. Oder: "Man kann die Presse zum Schweigen bringen, aber nicht die Menschen. Die Menschen
wollen die Weekly Mail."
Was Shell tatsächlich bewogen hat, den Boykott und die jahrelangen Anfeindungen der Anti-
Apartheid-Bewegung durchzustehen und dafür in Dänemark und Großbritannien kurzfristige
Umsatzeinbußen von sieben Prozent hinzunehmen, mag die heutige Marktposition im schwarzen
Südafrika erklären. Shell ist unangefochten Nummer Eins im Lande, die Marke der schwarzen
Townships und fährt die Ernte des langen Marktvorsprungs gegenüber den anderen
Ölgesellschaften ein. Der ANC mit Nelson Mandela an der Spitze, der einst wie der Südafrikanische
Kirchrat und Bischof Tutu den Shell-Boykott begrüßte, hat dem einstigen Gegner längst verziehen.
Shells Südafrika-Mann John Wilson: "Das primäre Ziel eines Betriebes ist, langfristig profitabel zu
bleiben."
Neben der anrüchigen Südafrika-Episode findet sich in der jüngeren Firmenchronik das weitaus
düsterere Kapitel "Ogoniland im Niger-Delta". Das mit 20.000 Quadratkilometern größte Flußdelta
Afrikas besteht aus rund einem Drittel nahezu unberührten Mangrovenwäldern, einem Drittel
Süßwassersümpfen und einem Drittel ehemaligen Regenwäldern. Die Wälder sind inzwischen unter
dem hohen Bevölkerungsdruck und der Industrialisierung der Region fast vollständig gerodet und in
Nutzflächen umgewandelt. Die Konkurrenz um diese Nutzflächen ist enorm: Das Niger-Delta wird
von rund 6,5 Millionen Menschen, die sich auf fast zwei Dutzend ethnische Gruppen verteilen,
bewohnt, und nur rund 25 Prozent der gesamten Fläche bleibt von den regelmäßigen
Flutkatastrophen verschont.
Seit dem Jahr 1958 fördert Shell Nigeria (SPDC) in dieser Ballungsregion Öl - das Zentrum der
Förderung liegt auf dem rund 1000 Quadratkilometer großen Siedlungsgebiet der Ogonis. 550.000
Menschen leben hier. Die Förderlizenz halten gemeinsam Shell Nigeria (30 Prozent), die
französische Firma Elf (10 Prozent), die italienische Agip (5 Prozent) und die staatliche Gesellschaft
Nigerian National Petroleum Corporation NNPC (55 Prozent), wobei Shell vor Ort als "Operator"
fungiert und die Felder betreibt. Richard Tockey, der frühere Chef der Öffentlichkeitsarbeit bei Shell
International in London, erklärte 1992 in einem Brief, welche Maßstäbe Shell Nigeria (SPDC) bei der
Erschließung und der Ausbeutung der Quellen anlegt hat: "SPDC versucht zu jeder Zeit, den Einfluß
seiner Tätigkeit auf die Umwelt zu minimieren, und gleichzeitig sicherzustellen, daß die lokalen
Anwohner wirkliche Vorteile daraus ziehen, Shell als Nachbarn zu haben."
Hehre Worte. Die ausgiebigen Recherchebesuche von Umweltschutz- und
Menschenrechtsgruppen zeichnen ebenso wie die Vorträge von Ogoni-Vertretern beim Umweltgipfel
in Rio ein völlig anderes Bild. Das dicht besiedelte Ackerland am Niger wird von einem dichten Netz
von Bohrtürmen und Pipelines überzogen; die Flammen der unzähligen Abfackelstationen erinnern
an Kuwait nach der irakischen Invasion. Greenpeace, Amnesty International, die Gesellschaft für
bedrohte Völker oder Friends of the Earth unisono: Shell hat das Niger-Delta ruiniert und den Ogonis
das Leben zur Hölle gemacht.
Prinzessin Irene Amangala, die Tochter des traditionellen Königs von Ogbia im Delta, erinnert sich
an den Beginn des Ölbooms: "Damals schon kam es zum ersten großen Leck, das Öl kam einfach
aus dem Boden, und dagegen waren sie machtlos. Das Öl vermischte sich mit den Flüssen, zuerst
starben die Fische, dann die Felder, und das Land wurde unfruchtbar." Seit diesen ersten Tagen hat
sich nicht viel verbessert. Erstes Beispiel: Pipelines. Die Hochdruckleitungen, in denen das Öl zu
den Raffinerien gepumpt wird, laufen wie ein Spinnennetz über das Land der Ogonis. Die Ogonis
wurden, selbst wenn der Strang über Ackerland oder in die Nähe von Dörfern führte, bei der
Verlegung oder beim Ausbau nicht gefragt. Im Vergleich dazu: Als Shell 1992 eine Rohrleitung vom
britischen Cheshire nach Schottland verlegen ließ, wurden vor dem ersten Spatenstich 17
Umweltprüfungen mit Bürgerbeteiligung durchgeführt. Zweites Beispiel: Lecks. Nach Angabe der
Badischen Zeitung in Freiburg vom 14.6.95 räumt Shell ein, daß es jährlich zu mindestens 200
kleineren Rohrleitungsbrüchen kommt. In einem Fall, zwischen Juli und August 1993, floß Öl
geschlagene 40 Tage lang aus einem Rohr. Nach Konzern-Angaben passieren rund 40 Prozent aller
weltweiten Shell-Leckagen in Nigeria, sie seien allerdings, so Shell in seiner englischen Publikation
"The Ogoni Issue", in Ogoniland zu fast 70 Prozent "auf Sabotage der Anlagen" zurückzuführen.
Dem widerspricht eine Studie des nigerianischen Petroleum-Ministeriums, die bei der Bewertung der
Schadensfälle auf maximal 18 Prozent Sabotage kommt.
Beispiel Nummer Drei: Kompensation für Flächen, die Shell für seine Anlagen und Bohrungen
braucht. Die Ogonis, aus deren Boden Shell seine Reichtümer bezieht, sind bis heute auf wenige
Ausnahmen bettelarm, und leben wie in Flüchtlings-Camps neben den Anlagen. Shell beharrt darauf,
daß "die Firma ohne angemessenen Ausgleich und Zustimmung der Besitzer niemals Land
erworben hat." Beim Erdgipfel in Rio dagegen warfen die Ogoni-Vertreter dem Konzern vor, mit
Strohmännern in den Dörfern zu verhandeln und in den meisten Fällen nicht für das erworbene
Land, sondern nur für den Ernteausfall zu bezahlen. Die Vorwürfe der Ogonis werden durch ihre
Aussagen unter Eid vor einer staatliche Untersuchungskommission gestützt: "Die Kompensationen
für die erlittenen Verluste sind Hungerlöhne, klägliche Hungerlöhne, von denen die Leute nicht
einmal sechs Monate existieren können und die Lust am Leben verlieren."
Daß Shell bei seiner Ölförderung in Nigeria - die Hälfte der Landesförderung und immerhin im Wert
von 30 Milliarden US-Dollar in 35 Jahren - bisher andere Standards angelegt hat als in Europa, auf
Umweltprüfungen verzichtete, veraltetes Gerät zu spät ersetzte, und die Ogoni-Bevölkerung für ihr
Land mit Almosen abspeiste, ist schon Skandal genug. Doch wer sich im Niger-Delta dagegen wehrt,
wird von den herrschenden Militärs, die an jedem Liter Shell-Öl mitverdienen, brutal unterdrückt und
riskiert sein Leben. Ogoniland ist, seit General Sani Abachi im November 1993 seinen Vorgänger
General Babangida von der Macht puschte, von den nigerianischen Streitkräften besetzt und de
facto Kriegsgebiet. Als 1990 Einwohner der Ortschaft Umuechem gegen die Ölförderung
protestierten, wurde nach Anforderung von Shell eine Polizeispezialtruppe eingesetzt, um eine
Demonstration zu verhindern. Nach Angaben von Amnesty International wurden dabei 80 Leute
erschossen und rund 500 Häuser niedergebrannt. 1992 wurden im Dorf Bonny bei der
Niederschlagung einer Demonstration eine Frau erschossen und 30 Personen durch Kugeln verletzt.
Als am 30. April 1993 amerikanische Pipeline-Bauer im Auftrag von Shell Rohrleitungen auf frisch
angepflanztem Ogoniland verlegen wollten, wurden sie von Soldaten eskortiert. Als 10.000 Ogonis
protestierten, eröffneten die Soldaten wieder das Feuer. Ein Demonstrant wurde durch einen Schuß
in den Rücken getötet. Nach übereinstimmenden Angaben von Amnesty und der Unrepresented
Nations and Peoples Organisation (UNPO) in Brüssel wurden seit August 1993 fast 30 Ogoni-Dörfer
von frei marodierenden Militäreinheiten angegriffen und teilweise geplündert, dabei seien über
Tausend Menschen zu Tode gekommen. Der Vorsitzende der deutschen Gesellschaft für Bedrohte
Völker, Tilman Zülch, hält diese Zahl für zu niedrig. Er sagt: "Mindestens 2.000 Ogonis sind seit 1993
bei Überfällen der Armee auf ihre Dörfer ums Leben gekommen, mehr als 30.000 wurden
obdachlos."
Das Militär geht so grausam vor, weil die Einnahmen aus der Ölförderung - mit über 80 Prozent fast
das alleinige Standbein des Staatshaushaltes und Quell des privaten Reichtums der Obristen - mit
allen Mitteln aufrecht erhalten werden soll. In einem internen Dokument des nigerianischen
Geheimdienstes, das im Frühjahr 1995 in die Öffentlichkeit drang, heißt es: " - Polizei in Ogoniland
seit 1993 ineffektive - Shell-Aktivitäten immer noch unmöglich, wenn nicht skrupellose
Militäroperationen unternommen werden." Der Geheimdienst schlug vor, 400 weitere Soldaten zu
schicken, und Förderdruck auf die Öl-Gesellschaften auszuüben. Das Militärregime in Lagos
versucht außerdem, jede Stimme des Widerstands gegen die unheilige Allianz von Geschäft,
Menschenrechtsverletzung und Umweltzerstörung mundtot zu machen. Am 22. Mai 1994 wurde der
53jährige Journalist und Schriftsteller Ken Saro-Wiwa in seinem Haus in Port Harcourt von
nigerianischen Militärpolizisten verhaftet. Saro-Wiwa, Vorsitzender des Movement for the Survival of
the Ogoni People (MOSOP) und seit vergangenem Jahr Träger des Goldman-Umweltpreises, sitzt
seither ohne dringende ärztliche Versorgung und zeitweise an Händen und Füßen gefesselt in Haft.
Ihm wird zusammen mit vier anderen Angeklagten vorgeworfen, jugendliche Ogonis zum Mord an
vier Ogoni-Führern angestachelt zu haben. Saro-Wiwa und MOSOP haben jede Beteiligung oder
Verantwortung an den Morden zurückgewiesen. MOSOP hat stattdessen der Militärregierung
vorgeworfen, die Morde inszeniert zu haben, um einen Grund für die Verhaftung von Saro-Wiwa
("Die Militärs planen einen Genozid an meinem Volk") zu haben. Der Fall wird seit dem 6.Februar
1995 vor einem speziellen, von General Abacha per Dekret angeordneten Tribunal in Port Harcourt
außerhalb der üblichen nigerianischen Gerichtsbarkeit verhandelt. Saro-Wiwa und den anderen
Angeklagten droht nach der Anklageschrift die Todesstrafe. Die Menschenrechtsorganisation Article
19, die sich speziell um die Rechtschaffenheit von Strafprozessen unter Militärregimes kümmert und
einen Beobachter nach Port Harcourt entsandte, kommt zum eindeutigen Schluß: "Das Tribunal ist
nicht regierungsunabhängig. (...) Es hat sich so verhalten, daß es stark den Eindruck hinterläßt, es
sei eindeutig für die Militärregierung und die Anklage voreingenommen." Auch für Amnesty
International entbehrt die Anklage jeglicher Grundlage; die Organisation hat Saro-Wiwa 1994 zum
gewaltlosen politischen Gefangenen erklärt.
Shell hat nach eigenen Angaben seine Mitarbeiter zum großen Teil seit 1993 aus Ogoniland
zurückgezogen; wieviel Öl derzeit dort noch gefördert wird, sei unklar. Der Ogoni Lazarus Tamana,
Vorsitzender der Ogoni-Vereinigung in Europa, hält dem Konzern allerdings vor: "Shell operiert nach
wie vor in Bodo-West und Ibubu-Eleme in West-Ogoni. Außerdem hat Shell in Ogoniland erneut Öl
gefunden. Das beweist, daß sie dort aktiv sind." Er sagt weiter: "Shell ist, wenn es darum geht, die
Ogonis zum Schweigen zu bringen, quasi Teil der nigerianischen Regierung. Wir sprechen von
einem Land, das zu neunzig Prozent von Öl abhängig ist, von der Regierung und Shell in einem.
Vom Machtfaktor Öl."
Unter inzwischen massivem öffentlichen Druck kündigte Shell im Februar 1995 an, eine zwei
Millionen US-Dollar teure Studie über das Ökosystem Niger-Delta in Auftrag zu geben, und
veröffentlichte eine Broschüre, in der soziale Leistungen für einzelne Ogonidörfer wie Schulbau,
Straßen und Wasserleitungen im Wert von jährlich 20 Millionen US-Dollar hervorgehoben wurden.
Für Tilman Zülch von der Gesellschaft für Bedrohte Völker ist das reine Kosmetik: "Der Konzern hat
sich aus dem Sperrgebiet zurückgezogen. Das ist der einfachste Weg, um sich aus der
Verantwortung zu stehlen."
In der Tat erinnert das Verhalten des Konzerns in Nigeria fatal an eine Option, die auch für die
ausgediente Brent Spar in Erwägung gezogen wurde: die "Walk Away"-Strategie. Nachdem das
Land und die Ogonis unter dem Schutz der Machthaber in Lagos 30 Jahre lang systematisch
ausgebeutet wurden, weigert sich Shell nun, die volle Verantwortung für die menschliche und
ökologische Katastrophe einzugestehen. Während die Deutsche Shell mit dem Merksatz "Wir sind
nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun" wirbt, stellt sich
Shell Nigeria stur. Die bedauernswerteren Schäden und politische Unterdrückung in Ogoniland
hätten nichts mit den Firmenaktivitäten zu tun. Forderungen der Ogonis nach nachträglicher
Kompensation und Wiedergutmachung wurden bislang abgelehnt.
Hinter den Kulissen allerdings hat der Konzern begonnen, politische Schadensbegrenzung zu
betreiben und den vorsichtigen Versuch gewagt, seinen Kopf aus der nigerianischen Schlinge zu
ziehen. Doch daß dies bei Geschäftspartnern wie den nigerianischen Militärs nicht so einfach geht,
dämmert langsam auch Konzernoberen bei Shell International Petroleum in London. Sie trafen sich
am 16. März 1995 mit einem nigerianischen Spitzendiplomaten - dem High Commissioner - und zwei
Vertretern des Militärs und der Polizei zu einer Krisensitzung im Shell Centre, um mäßigend
einzuwirken. Auszüge aus dem internen Protokoll: "6. (...) An diesem Punkt wollte seine Excellenz,
der High Commissioner, wissen, was man unternehmen können, um der schlechten Presse
entgegenzuwirken. Er fragte, ob es nicht angebracht sei, Gegenmaßnahmen wie Poster, Anzeigen in
Zeitungen und gesponserte TV-Programme zu untersuchen. 7. Mr. Malcolm ( Malcom T. Williams
von Shell International Petroleum, der Verf.) meldete seine Bedenken gegen jeden Ansatz an, der
den Propagandisten (des Ogoni-Skandals, der Verf.) in die Hände spiele. Er verwies darauf, daß
jeder direkte Angriff auf die beteiligten Gruppen die Angelegenheit nur noch mehr in die Öffentlichkeit
bringen würde. Das sei es, was sie wollten."
Die nigerianischen Machthaber haben ein gutes Druckmittel, um Shell bei der Stange zu halten:
Bargeld. Das Protokoll weiter: "11. Am Ende kehrte Mr. Brack (Shell International, d. Verf.) noch
einmal zu der Problematik des Anteils Nigerias zurück, der es Shell ermöglicht, (...) Löhne und
Kontraktoren zu zahlen. Er merkte an, daß ausstehende Zahlen oft zu Arbeitslosigkeit und Unruhe
führt. Er bemerkte weiter, daß Nigerias Zahlungsverpflichtungen seit vier Monaten ausstünden. Der
High Commissioner versprach, die Angelegenheit mit dem (nigerianischen, d.Verf.) Finanzminister
zu diskutieren."
Shell ist tief in den nigerianischen Sumpf gesunken. "Wir schicken unseren Nigeria-Mann
permanent zu den Militärs, um die Saro-Wiwa-Sache gütlich zu lösen, aber er beißt auf Granit," gibt
ein Hamburger Shell-Mitarbeiter zu, der weiß, daß sich der Konzern nach der Brent Spar nicht mehr
viele öffentliche Skandale leisten kann. Doch das vorsichtige Engagement für den von der
Todestrafe bedrohten Schriftsteller stürzt Shell in ein Dilemma. Macht der Konzern sich öffentlich für
Saro-Wiwa - und dessen Argumente - stark, kann er nicht gleichzeitig seine Verantwortung für die
politische Unterdrückung der Ogoni und die Umweltkatastrophe im Niger-Delta leugnen. Weigert er
sich wie bisher weiter, droht ihm unter dem Druck, den eine internationale Allianz von Umwelt- und
Menschenrechtsaktivisten inzwischen entfacht, eine weitere Boykott-Welle.
Nigerias Militärs, denen die Nöte des Konzerns egal sind, haben inzwischen die finanziellen
Daumenschrauben noch mehr angezogen: Weil internationale Kritik auch an anderen nigerianischen
Schauprozessen - unter anderem gegen den letzten demokratisch gewählten Präsidenten wegen
staatsfeindlicher Verschwörung - laut wird, hat die Militärregierung gedroht, Shell Nigeria und andere
multinationale Ölgesellschaften wie BP einfach zu verstaatlichen und die Firmen aus dem Land zu
werfen. Ein Hamburger Werbefachmann dazu: "Aus PR-Sicht für Shell vielleicht nicht die
schlechteste Lösung."
Die Beispiele Südafrika und Nigeria machen deutlich, in welche fatale Problematik das weltweite
Operationsfeld und die gewollte Selbstständigkeit der einzelnen Töchter die Royal Dutch/Shell-
Gruppe stürzen: Selbst wenn es eine gemeinsame Vision von gesellschaftlicher Verantwortung, eine
gemeingültige Vorstellung von Menschenrechten und Umweltschutz im Konzern gäbe - die Töchter
wären nicht verpflichtet, ihr zu folgen, oder fähig, sie in der Praxis umzusetzen. Wer weltweit nach Öl
sucht und vom schwarzen Gold lebt, wird sich nur ungern Fragen der Moral stellen. Shell hofft, daß
die dunklen Flecken auf der Muschel nicht entdeckt werden. Shell ist der globale Opportunist. Da
wundert es nicht, daß die gleiche Firma, die in Nigeria mit blutbesudelten Militärs am Tisch sitzt, in
Deutschland saubere Tankstellen und Raffinierien hat, und unbestritten Vorreiter in Umwelttechnik
ist.
Benzin wäre, wenn es "roh" aus den Shell-Raffinerien in Hamburg oder Köln kommen würde, in
jeder Beziehung ein farbloser Stoff. Erst die Mischung mit Farbstoffen, oder die Beimengung von
Additiven wie "M 2000 - für mehr Motorleistung", macht aus dem Grundstoff Benzin einen
Markenartikel, der Aral, BP, Esso oder Shell heißt. Doch der Kaufanreiz, die Entscheidung des
Kunden, an der einen Zapfsäule vorbei und zu "seiner" Tankstelle zu fahren, läuft auf dichtgepackten
Märkten wie der Bundesrepublik über etwas anderes: das Image des Unternehmens. Image ist das
subjektive Gefühl, an der "richtigen" Tankstelle gelandet zu sein. "Richtig" ist dabei weder die
Farbkombination Blau-Weiß, noch der Kanister-Song "I`m walking..." für sich. "Richtig" ist die richtige
Kombination solcher Elemente, die Feinjustierung von diversen Einzelmaßnahmen, an denen
Werbeagenturen, Public Relations-Experten und Corparate Identitiy-Designer monatelang gearbeitet
und minutiös gefeilt haben. Das Ergebnis: Der ARAL-Mann ist heute bekannter als das
sympathische Dreierteam von DEA, das selbst bei einer verrückten Horde Joggern noch freundlich
und hilfsbereit bleibt. Da fährt man gerne hin, wenn der Tankdeckel klemmt. Doch auch die, die dem
Zossen mal ordentlich die Sporen geben wollen, bis das Gummi brennt, sind gut aufgehoben: bei der
ESSO mit dem Tiger, wo so richtig Kraft in den Tank gepackt wird. Aber SHELL?
Shell Deutschland hatte jahrelang zwar einen guten Ruf, aber ein Problem: kein Image. Das
Unternehmen hatte nach eigenem Bekunden im Vergleich zu den anderen Mineralölgesellschaften
auf dem deutschen Markt jahrelang wenig bis kaum Werbung gemacht; das Rot-Gelb und die
Muschel von Shell wurde nicht assoziativ mit einem klaren Bild, einem aussagekräftigen Symbol
oder einer eingängigen Melodie in Verbindung gebracht. Die direkte Folge: "Wir mußten an den
Marktforschungszahlen erkennen, daß die Werbeerinnerung an Shell dramatisch abgenommen hat
und eine Lücke klafft zwischen den Erinnerungswerten von vor allem Aral und den unsrigen," sagte
der Jurist Klaus-Peter Johanssen, Direktor der Deutschen Shell für Unternehmenskommunikation
und Wirtschaftspolitik. Was also tun, wenn Qualitätsunterschiede keine Rolle mehr spielten,
Umweltschutz sich inzwischen alle auf die Fahnen geschrieben hatten, und Kraft, Witz und
Sympathie bereits von den Mitkonkurrenten auf dem Markt in Beschlag genommen waren? Nach
Johanssen mußten "andere Unterscheidungsmerkmale her." Shell ließ sich von den
Kommunikations-Spezialisten Lauck & Partner aus dem rheinischen Frechen beraten, die als
Antwort auf den Image-Notstand eine simple Lösungformel vorschlugen: Verantwortung. Shell, das
sollte ab sofort das Unternehmen sein, das sich um mehr als Autos kümmerte. Shell, mehr als ein
Öl-Multi. Eine gesellschaftliche Institution, die nicht nur umweltbewußt handelte, sondern sich auch
sozial engagierte. Aus Shell, der Sprit-Marke ohne Image, sollte eine Mutation aus Angela Merkel
und Norbert Blüm werden.
Die Begründung der neuen Werbestrategie von Shell las sich, wie wenn sie einem verquasten
Grundsatz-Papier von Greenpeace entnommen worden wäre. "Unsere Vision ist, daß es uns gelingt,
durch unser Auftreten Anstöße zur Veränderung in der Gesellschaft zu geben," sagte
Kommunikations-Chef Johanssen, als er am 1. März 1995 die neue Kampagne "Wir wollen etwas
ändern" vorstellte. Denn: "Wenn es um den Schutz der Umwelt geht, hat die Shell als
Mineralölkonzern eine besondere Verantwortung", zu der sich das Unternehmen bekenne, "und dies
in der Praxis an nachvollziehbaren Initiativen und Projekten beweist." Die Kampagne, für 1994 mit
30 Millionen Mark Kosten veranschlagt und mehrstufig über mehrere Jahre angelegt, wurde von der
Fachpresse aufmerksam verfolgt ("vollmundig, ambitionös"). Sie startete mit doppelseitigen
Anzeigen in allen überregionalen Magazinen und TV-Spots zu besten Sendezeiten. Die Werbefilme
wurden wie die gesamte Kampagne von der Hamburger Agentur K,N,S,K, elegant und höchst
professionell in Szene gesetzt. Das Shell-Urteil über die Werbe-Partner: "Volksverdummung läuft mit
K,N,S,K, nicht."
Paul Horsman hat das Geschäftsgebahren des Konzerns in Afrika und Europa monatelang unter
die Lupe genommen und mit den jeweiligen Image-Kampagnen verglichen. Er urteilt hart: "Wenn es
um den Zugang zu Ölquellen und um Marktanteile geht, ist Shell - wie übrigens alle anderen
Ölgesellschaften auch - zu jeder Konzession und Schandtat bereit. Dann geht die Firma, wie in
Nigeria geschehen, auch die Verbindung mit einem noch so schäbigen Militärregime ein. In andern
Ländern wie Deutschland oder den Niederlanden dagegen, wo wir inzwischen hohe, allgemein
anerkannte Umweltstandards haben, reißen sie sich unter dem Druck des Verbrauchers mächtig am
Riemen und hängen sich nette Deckmäntelchen um."
"Wir wollen etwas ändern" wurde paßgenau für den deutschen Markt geschneidert: Zwischen
Aachen und Zwickau ist das Land im Umbruch, das soziale Netz gerade noch so dicht, daß man sich
Verantwortung und Veränderung leisten kann. Ökologie wird großgeschrieben. Auch die Shell-
Werbestrategien in anderen Ländern spiegelt exakt die gesellschaftlichen Verhältnisse wieder. In
Großbritannien etwa wirbt der Konzern mit dem Slogan "You can be shure of Shell - Auf Shell
können Sie bauen". Das ist der richtige Zungenschlag in einem Land, in dem die galoppierende
Arbeitslosigkeit für breite Kreise der Bevölkerung zu einem existenziellen Problem geworden ist.
Experimente oder Veränderung stehen in den Haushalten in London oder Liverpool zur Zeit nicht auf
der Wunschliste. Ökologie ist ein Luxus; dort sucht man nach Sicherheit. Als Fels in der Brandung,
auf den man bauen kann, bietet sich an: Shell UK.
Der tiefe Fall des Konzerns war kein einmaliger, von Shell UK ausgelöster Betriebsunfall, sondern
ein Fehler im System. Die Selbständigkeit der Töchter, von Peter Duncan als entscheidende Stärke
gelobt, ist zugleich die entscheidende Schwäche des Konzerns. Auch Shell-Mitarbeiter sind nur
Spiegelbilder ihrer Gesellschaft und handeln entsprechend. Chris Fay in London und seine
Seebären von Shell Expro, durch und durch Angelsachsen, sind von der Richtigkeit der Brent Spar-
Versenkung genauso überzeugt wie die Deutsche Shell von ihrer Verantwortungs-Rolle. Die
Deutschen glauben wirklich daran, ein "guter" Konzern zu sein. Wie dieses Werte-Chaos unter eine
einheitliche, weltweite Firmenphilosphie gepackt werden soll, davon hat der Multi, solange er nur
einem Zwecke dient, keine Vorstellung. One World - das Kunstprodukt Geldkonzern mit Muschel hat
darin keine saubere Zukunft. Samuels und Deterdings Visionen von grenzenloser Macht sind an ihre
Grenzen gestoßen. Der Konzern bastelt an der Reorganisation; das "Matrix"-System wird
überarbeitet. Doch das wird wenig nützen. Shell hat nicht begriffen, daß im "Globalen Dorf Erde"
Nigeria überall ist, Brent Spars an allen Ecken lauern, und alle Shells nicht nur Shell heißen, sondern
auch Shell sind. Mit einer Verantwortung und einer Angriffsfläche. Der Soziologe Ulrich Beck: "Der
überzeugendste und ausdauerndste Gegner von Shell war und ist - Shell selbst."
7. Strategien und Krisenmanagement
Der Morgen des 1. Juni 1995 war grau und unfreundlich. Leichter Nieselregen erinnerte daran, daß
der Sommer nicht richtig beginnen wollte. Der Überseering in Hamburgs Bürohaus-Ghetto City Nord,
wo sich die Zentrale der Deutschen Shell AG befindet, war wie leergefegt, als kurz vor zehn Uhr bei
Shell ein Taxi vorfuhr. Vier Fahrgäste stiegen aus, betraten das Gebäude, und wurden nach einer
Sicherheitsüberprüfung von einem chromblitzenden Fahrstuhl ins zwölfte Stockwerk befördert. Sie
begaben sich, von einem Shell-Mitarbeiter eskortiert, durch einen langen, mit Teppichvelour
ausgelegten Korridor, in einen klimatisierten Besprechungsraum mit einer schwarzen Ledergarnitur.
Hinter den Fenstern lag Hamburg; im Nieselregen versteckt und am Horizont nur schemenhaft zu
erkennen. Auf dem Kristallglastisch standen Kaffeetassen und Plätzchen: Shell meets Greenpeace.
Die Unterhändler
Die vier Greenpeacer, neben zwei Leuten aus dem Hamburger Brent Spar-Team der damalige
deutsche Geschäftsführer Dr. Thilo Bode und der internationale Kampagnendirektor Ulrich Jürgens,
warteten artig mit dem Platznehmen, bis die Shell-Delegation vollständig erschienen war. Neben
Rainer Winzenried, dem Leiter für Information und Presse, und Klaus-Peter Johanssen, Direktor für
Unternehmenskommunikation, war dies der Neuseeländer Peter Duncan, der Vorstandsvorsitzende
und damit oberste Shell-Mann in Deutschland. Duncan nannte nach den Austausch einiger
Begrüßungsfloskeln den Anlaß der Runde: "Meine Herren, wir sind erfreut, sie kennenzulernen, und
gespannt, ihre Argumente zu hören."
Das Zustandekommen des Treffens, für die Deutsche Shell ein langwieriger Prozeß mit
einwöchiger Rücksprache in Den Haag und London, mußte der Firma wie Feuer unter den Nägeln
gebrannt haben. Was mit einer Besetzung durch ein Dutzend Greenpeace-Aktivisten begonnen
hatte, war inzwischen zu einem alarmierenden Problem für die Reputation der Deutschen Shell und
einem Machtkampf im Konzern geworden. Die Deutsche Shell stand unter massivem öffentlichen
Beschuß; ihren Sprechern war in den Interviews und Talksshows, zu denen sie sich genötigt sahen,
die Rolle des bösen Buben gewiß. Sie suchte nach einem Ausweg aus dem Konflikt. Doch die Shell-
Kollegen in London betrachteten die Brent Spar als ein rein englisches Problem, und weigerten sich,
die Nöte der Deutschen Shell zur Kenntnis zu nehmen.
Shell UK wollte auch Greenpeace nicht zur Kenntnis nehmen. Mehrere Vorstöße der britischen
Brent Spar-Kampagner nach einem klärenden Gespräch waren in London und Aberdeen mit dem
kühlen Verweis abgelehnt worden, daß man alle Versenkungsoptionen wissenschaftlich geprüft und
die beste gewählt habe. Daher gehe die Brent Spar jetzt ihrer vorgesehenen Schicksal entgegen.
Und außerdem: Man habe, so der Vorstandsvorsitzende der Shell UK, Chris Fay, keinerlei
Veranlassung, sich mit "Ökoextremisten während der Begehung einer Straftat" an einen Tisch zu
setzen. Shell UK konnte Ende Mai seine ablehnende Haltung - mit dem Wissen um die volle
Unterstützung der Regierung - noch locker aussitzen: Seit Beginn der Kampagne waren in den
englischen Tageszeitungen eher lamoyante Artikel unter der Rubrik "Aus der bunten Welt" oder
unterhaltsame Reportagen mit dem Tenor "Sie wollen die Welt retten und rauchen wie Schlote"
erschienen. Obwohl die britischen Greenpeacer eine wissenschaftlich saubere und politische
Argumentation vorgelegt hatten, schätzten die Redakteure die Aktion im Brent-Feld als "weitere
Greenpeace-Posse" ein. Sie weigerten sich im Gegensatz zu ihren schottischen Kollegen, die seit
Beginn der Besetzung in ihren Kommentaren gegen die Versenkung geschrieben hatten, die
Plattform als das Symbol für einen schwelenden umweltpolitischen Konflikt zu erkennen. Die
englische Öffentlichkeit wußte kaum, was sich im Brent-Feld abspielte. Wenn ein kontroverser
Bericht in London überhaupt erschien, wurden darin wissenschaftliche Standpunkte vorgetragen und
über das "marginale Gefahrenpotential von 150 Tonnen in der unendlichen Weite des Nordatlantiks"
diskutiert.
Anders in Deutschland. Fernseh-, Magazin- und Zeitungsredaktionen hatten seit Beginn der
Besetzung ausführliches Hintergrundmaterial über die Brent Spar erhalten. Es skizzierte die
technischen Details und beschrieb, mit Greenpeace-Studie und AURIS-Report im Anhang, die
Argumente pro und contra Versenkung. Zugleich stellte es die politische Dimension der
Auseinandersetzung mit Shell in den Vordergrund. Die Greenpeace-Sprecher und Kampagner wie
aus einem Mund, mit dem gleichen "wording": "Es geht hier nicht um die Brent Spar, oder um die
Firma Shell. Sondern um eine eminent wichtige Langzeitentscheidung, um ein Signal, wie wir in
Zukunft mit der Nordsee und den Meeren umgehen." Die Life-Bilder während der Brent Spar-
Besetzung hatten, dieser Kampagnen-Strategie entsprechend, ein erstes Aktions-Schlaglicht
geworfen, aber auch die weitaus breitere und wichtigere Nordsee-Problematik beleuchtet, die Anfang
Juni in Esbjerg auf der Tagesordnung stand. Von BILD bis Taz - schon in den ersten Berichten wurde
die Brent Spar in Verbindung mit der kommenden Nordseeschutzkonferenz gebracht. Nachdem sich
die EU-Umweltkommisarin Ritt Bjerregard am zweiten Mai-Wochenende prinzipiell gegen die
Versenkung von Ölplattformen ausgesprochen und die Greenpeace-Aktion in diesem
Zusammenhang ausdrücklich begrüßt hatte, war die Shell-Plattform ein umweltpolitisches Thema.
Seit Shell UK am 22. und 23. Mai mit einem martialischen Aufgebot an Schiffen und Mannschaft
eine bühnenreife Räumung inszeniert hatte, war die Brent Spar nach den spektakulären
Auftakttagen in Deutschland auch visuell wieder in aller Munde. Die Folgen für den Konzern werden
im hausinternen "Shell-Brief" für die Mitarbeiter geschildert: "Von Arbeitsbeginn (in den Tagen von
Brent Spar irgendwann zwischen 6.30 und 7.00 Uhr) bis abends (diese Uhrzeit soll hier lieber
ungenannt bleiben) klingelten die Telefone permanent. (...) Die Telefonzentrale und abends die
Pförtner waren genauso überfordert wie die zusätzlich eingesetzten Auszubildenden. (...) In diesen
Anrufen - von Gesprächen konnte meist keine Rede sein - tobte ein Sturm der Entrüstung. Bald ging
es aber gar nicht mehr um den Fall Brent Spar. Diese Plattform wurde zu einem Symbol, an dem
sich Wut und Ohnmacht des einzelnen Bürgers gegen anonyme Konzerne, Umweltverschmutzung
und Politikverdrossenheit entlud. Das eigentliche Problem - Entsorgung einer ausgedienten
Offshore-Plattform an Land oder im Tiefwasser - stand nur noch selten zur Diskussion."
Die Deutsche Shell war vom Thema Brent Spar absolut kalt erwischt worden. Klaus-Peter
Johanssen, der Kommunikations-Chef, über seinen Wissensstand: "Als ich am Montag, den 1. Mai,
eine Anfrage des NDR erhielt, habe ich nichts gewußt. (...) Mit anderen Worten: Es hat niemand in
Deutschland etwas gewußt." Dieser eklatante Mangel an Informationen und Argumentationshilfe
sollte sich während der ganzen Zeit der Auseinandersetzung nicht grundlegend ändern. Während
Greenpeace regelmäßig interne Telefonkonferenzen abhielt, Nachrichten in Sekundenbruchteilen
über Computernetze schickte, und fast täglich in Presserklärungen über den aktuellen Brent Spar-
Stand informierte, gingen die Shell-Öffentlichkeitsarbeiter in Hamburg regelrecht auf Tauchstation
und warteten auf ihre Materialien aus London oft tagelang. Sie kamen schließlich mit der Post.
Was nie da war und auch aus London nicht kam, war eine reale Einschätzung von Stärke und
Kultur der Organisation, die Shell den Fehdehandschuh hingeworfen hatte. Für Shell war
Greenpeace so exotisch und undurchsichtig wie die Stammesversammlung nigerianischer Ogonis.
Englische Greenpeacer berichten übereinstimmend, daß bei Kontakten mit Shell-Mitarbeitern
besonders frappierend gewesen sei, welche Verunsicherung der persönliche Kontakt ausgelöste.
"Ich hatte immer das Gefühl, die erwarten jemanden, der mit Gummistiefeln und Ölzeug in ihr Büro
kommt und Besetzung brüllt," berichtet Brent Spar-Kampagner Chris Rose. "Daß wir uns überhaupt
artikulieren konnten, unsere Hausaufgaben gemacht hatten, und uns seriös und trefflich über ihre
Fachgebiete streiten konnten, hat die Shell-Leute völlig aus den Socken gehauen. Die dachten, sie
hätten es mit einem Haufen wilder Hippies zu tun, der aus alter Tradition mal wieder dem
Aktionismus frönt."
Auch Thilo Bode hatte bei dem Hamburger Treffen mit Peter Duncan das Gefühl, daß der
Neuseeländer mit Greenpeace überhaupt nichts anfangen konnte. Bode: "Duncan wirkt wie vor den
Kopf gestoßen. Auf der einen Seite war er offensichtlich von der Professionalität, die wir an den Tag
gelegt hatten, beeindruckt. Anderseits war bei ihm ein tiefer kultureller Bruch spürbar; als
Neuseeländer mit angelsächsischem Hintergrund konnte er nicht nachvollziehen, welche
gesellschaftliche Rolle Greenpeace in Deutschland spielte."
Peter Duncan, die Arme fest vor der Brust gekreuzt, sondierte zunächst die Lage. Wenn man sich
die Mühe machen würde, die Struktur des Konzern zu betrachten, so der Shell-Chef, müsse doch
einleuchten, daß die Deutsche Shell nicht in der Position sei, in die Geschäfte einer anderen
unabhängigen Tochter hineinzuregieren. Deshalb werde die Deutsche Shell auch völlig zu Unrecht in
diesen Konflikt hineingezogen. Es sei nicht gerechtfertigt, daß Greenpeace Deutschland einen
Angriff auf die Deutsche Shell starte, wo es um eine englische Plattform ginge. Greenpeace spiele
hier ein falsches Spiel.
Bode konterte. "Herr Duncan, wir sehen dies mit Verlaub von einem anderen Standpunkt aus. Es
kann nicht unser Problem oder das einer breiten Protestbewegung sein, daß ihr Konzern sich aus
internen Gründen in formal unabhängige Töchter gegliedert hat. Fakt ist doch, daß alle ihre
nationalen Dependancen den gemeinsamen Namen Shell tragen und in der einen oder anderen
Form einem gemeinsamen Zwecke, nämlich dem Geschäft mit Öl, dienen. Shell, Herr Duncan, das
ist ihre gemeinsame Muschel-Flagge, dafür tragen sie alle gemeinsam Verantwortung. Also bitte
kritisieren Sie uns nicht dafür, daß wir eine internationale Organisation sind, dementsprechend über
Ländergrenzen hinweg handeln, und - übrigens im Gegensatz zu Shell in Sachen Brent Spar -
konsequent an einem Strang ziehen."
Bode dann wesentlich konzilianter: "Herr Dancan, wir möchten Sie bitten, Ihren persönlichen und
den sicher nicht unwesentlichen Einfluß der Deutschen Shell im Konzern zu nutzen, um diese
unsägliche Versenkung zu verhindern."
Die vier Greenpeacer legten, nachdem das erste Eis bei dem Gespräch gebrochen war, den Shell-
Leuten die Beweggründe zur Besetzung der Brent Spar sehr ausführlich dar. Greenpeace sei im
Jahr 1971, bei einer abenteuerlichen Protestfahrt gegen die amerikanischen Atomtests vor den
Aleuten, quasi auf den Meer geboren worden. Wenn man zurückschaue, hätten viele zentrale und
erfolgreiche Kampagnen der Organisation etwas mit dem Schutz des Elementes Wasser zu tun: Die
ersten Segeltörns von David McTaggart gegen die französischen Atomversuche gehörten da
ebenfalls dazu wie die internationalen Fahrten in die Antarktis, die Wale-Kampagne oder die
deutsch-englisch-niederländischen Aktionen auf der Nordsee gegen die Dünnsäureverklappung. Und
auch die Brent Spar-Aktion, erläuterte Ulrich Jürgens, füge sich schlüssig in dieses Gesamtbild ein.
Ulrich Jürgens: "Herr Duncan, Shell ist, und ich betone das hier ausdrücklich, nicht ins Gemenge
gekommen, weil wir speziell etwas gegen Sie oder Herrn Fay oder ihren Konzern haben. Shell ist
wahrscheinlich so gut oder schlecht wie alle anderen Öl-Multis auch. Sie sind allerdings unser
derzeitiger Kampagnen-Gegner, weil ihre Plattform Brent Spar, ihre derzeitigen
Versenkungsabsichten, die Zukunftsaussichten der Nordsee insgesamt verschlechtern. Es geht uns
um den Zustand der Meere; die Brent Spar, isoliert als Einzelfall betrachtet, interessiert uns
überhaupt nicht. Es geht daher auch nicht darum, ob auf ihrer alten Plattform nun 150 oder 5000
Tonnen Giftstoffe lagern. Sie müssen begreifen, daß ihre Brent Spar ein zentrales Pilotprojekt
darstellt. Shell ist nur die erste der über ein Dutzend Mineralölgesellschaften, die ihre Nordsee-
Plattformen entsorgen müssen. Wenn Sie es mit Hilfe der britischen Regierung durchdrücken, die
Brent Spar zu versenken, stehen ein Dutzend anderer Gesellschaften mit ihren Offshore-Ruinen
Gewehr bei Fuß. Ihre Brent Spar ist nur das Symbol für einen ganzen Haufen von Schrott und Müll,
der eindeutig an Land, und nicht auf hoher See entsorgt werden muß. Das ist unsere zentrale
politische Forderung, die sie überdenken und erfüllen sollten."
Für die Shell-Leute war diese Sicht der Dinge unbegreiflich. Erstens: Die Firma lasse sich von
niemandem in dieser Form erpressen. Und Zweitens: Greenpeace täte Shell und vor allem der
Deutschen Shell, immerhin einer Firma, die auf eine ausgezeichnete Umweltbilanz stolz sein könne,
in der Sache bitterlich unrecht. Zwei Dinge seien vom Konzern als auch vom zuständigen britischen
Energieministerium immer wieder klargestellt worden: Die Brent Spar war, von der technischen Seite
her betrachtet, keine Bohrinsel, und daher auch kein Präzidenzfall für solche. Ganz im Gegenteil.
Shell habe "den Entsorgungsplan für die Brent Spar nach gründlicher Analyse aller Optionen
erarbeitet", doch er gelte eben nur für die Brent Spar. Ansonsten sei man mit der britischen
Regierung einer Meinung, daß es bei der Entsorgung eine Fall zu Fall-Entscheidung geben müsse.
Genau da, in der Einzelfallentscheidung, die mit der Brent Spar eingeführt und hoffähig werde,
liege die Gefahr, argumentierten die Greenpeacer dagegen. Damit sei das gültige Vorsorgeprinzip,
auf das sich die Nordseeanrainerstaaten geeinigt hätten, aufgebrochen. Mit der ersten Versenkung,
nämlich der Brent Spar, sei der Damm gebrochen und eine fatale Richtung vorgegeben - die
amerikanische Gesellschaft Amoco zum Beispiel habe ihre Plattform North West Hutton schon auf
der britischen Versenkungsliste und warte gespannt, wie es Shell mit der Brent Spar ergehe. Auch
die British Petroleum BP habe in London bereits verlauten lassen, daß sie in nächster Zukunft vier
bis fünf Anlagen entsorgen werde. Wo und wie - das hing nicht zuletzt vom Schicksal der Brent Spar
ab. Wenn diese Anlage aus prinzipiellen politischen Überlegungen heraus zurück an Land gehe, wo
sie immerhin hergekommen sei, würden sich BP und andere Gesellschaften schwer hüten, die
Versenkung einer eigenen Anlage vorzuschlagen.
Dieses Argument wollte Klaus-Peter Johanssen nicht einleuchten. Greenpeace könne Shell nicht
stellvertretend für andere an den Pranger stellen. Shell sei, so erwiderte er, eine Firma, die ihre
gesellschaftliche Verantwortung trage und ernstnehme, und zu der man sich im übrigen auch in der
neuerdings vielgeschmähten Kampagne "Wir wollen etwas ändern" bekenne. Was Greenpeace hier
ungerechtfertigt in Zusammenhang bringe, sei einerseits das klare Selbstverständnis einer Firma -
zugebenermaßen auch aus Image- und Werbegründen - und andererseits die Verantwortung der
politischen Entscheidungsträger. Die hätten sowohl in Großbritannien, in Deutschland als auch auf
europäischer Ebene entsprechenden Gesetze und Richtlinien vorgegeben. Gemessen daran,
bewege sich Shell mit der Versenkung rechtlich auf der sicheren Seite: Greenpeace prügele im Fall
Brent Spar den Sack Deutsche Shell, aber meine den Esel Politik.
Diesmal übernahm Bode den Part. "Die Zeiten, in denen sich große multinationale Konzerne, oder
die Industrie überhaupt, mit dem Verweis auf die Führungsrolle der Politik aus der Verantwortung
stehlen konnten, sind vorbei. Es kann nicht angehen, daß große Industrien oder Firmen wie die Shell
mit einsamen Entscheidungen über Wirtschaftsstandorte, mit Lobbyarbeit vor oder in den
Parlamenten, massiven Einfluß auf Gesetzgebung nehmen und im Detail Wirtschaftspolitik machen.
Und sich ansonsten, wenn es ihnen nicht paßt, bequem zurücklehnen. Unternehmen wie Ihres
machen de facto große Politik, weil sie über die Arbeit, das Leben und das Schicksal von Menschen
entscheiden. Sie sind ein Entscheidungsträger, wenn es um strategische Entscheidungen wie etwa
die von uns geforderte Öko-Steuer, oder aber wie im vorliegenden Fall um fundamentale Fragen wie
die Zukunft der Meere geht. Und nun am Beispiel Brent Spar gesprochen: Sie stehen in der
Verantwortung, hier eine Entscheidung zu treffen, die weit über technische oder umweltpolitische
Fragen hinausgeht. Ich darf Sie übrigens daran erinnern, daß diese grundsätzliche Einschätzung der
Rolle der Industrie nicht allein von mir stimmt. Das ist sowohl die Philosophie der Internationalen
Handelskammer ICC als auch das Credo des Unternehmerrates für nachhaltige Entwicklung. Das
haben führende Industrielle wie Herr Schmidtheiny bei der Rio-Konferenz 1992 in diesem Sinne
formuliert."
Die Greenpeacer schilderten den Shell-Leuten bei dem Gespräch, das rund eineinhalb Stunden
dauerte, sehr klar, wie sie ihre Kampagne bisher betrieben und die politische Unterstützung gesucht
hatten. Noch am ersten Tag der Besetzung waren Faxe und Briefe an Ministerin Angela Merkel und
die für die Nordseeschutzkonferenz zuständigen Beamten gegangen. Inhalt: Alle Unterlagen über die
Brent Spar und die Aufforderung, die deutsche Position zur Versenkung von Plattformen
offenzulegen. Während der drei Wochen, in denen das Ministerium darauf nicht reagierte, sprachen
Greenpeace-Mitarbeiter in Bonn gezielt die Oppositions-Politiker an, die mit der Vorbereitung der
Konferenz befaßt waren.
Als Merkel am 23. Mai, just am Tag der Plattformräumung, in Hamburg auf einer Tagung des
Bundesamtes für Seeschiffahrt und Hydrographie (BSH) die Eröffnungsrede hielt, warteten zwei
Dutzend Greenpeace-Aktivisten auf die Ministerin. Ihre Frage: Wie sieht die deutsche Position in
Esbjerg aus? Merkel, vor laufender Kamera mit einem Flugticket zu den Shetland-Inseln und dem
Transfer-Angebot auf die Brent Spar konfrontiert, überraschte die Greenpeacer. Original-Ton der
Ministerin auf der Pressekonferenz: "Es kommt selten vor, daß ich mit Greenpeace einer Meinung
bin, aber in diesem Falle schon. Wenn die Brent Spar eine deutsche Plattform wäre, hätten wir keine
Genehmigung zur Versenkung gegeben. Die deutsche Delegation wird ein generelles
Versenkungsverbot bei der Nordseeschutzkonferenz zur Sprache bringen und sich für eine solche
Lösung aussprechen."
Für Shell, das bis dahin nur Druck von Greenpeace, aber keinen Gegenwind aus Bonn gespürt
hatte, war die eindeutige Position der Ministerin ein schwerer Schlag. Für Greenpeace dagegen
waren Merkels Worte Gold wert. Damit hatte sich die Bundesregierung für exakt jene politische
Lösung ausgesprochen, die während der Besetzung von Greenpeace gefordert worden war.
Auf dieser politischen Basis ließ sich auch in dem Gespräch mit Shell aufbauen. Die Greenpeacer
legten am 1. Juni ihre Karten offen auf den Tisch. Sie erklärten Duncan, was Greenpeace für die
nächsten Wochen plante, und "daß der Tanz jetzt erst richtig losgeht." Ab dem 2. Juni würden
Greenpeace-Gruppen in achtzig deutschen Städten Shell-Tankstellen regelmäßig besuchen, und die
Autofahrer mit Flugblättern und Aktionspostkarten an die Shell UK über die Brent Spar informieren.
Das gleiche sei zu einem späteren Zeitpunkt auch in Holland, der Schweiz, Dänemark und
Großbritannien geplant. Den Hebel, den man dabei benutzen werde, sei die laufende Anzeigen-
Kampagne der Shell. "Wir wollen etwas ändern" sei, so einer der Greenpeacer zu Kommunikations-
Chef Johanssen, "angesichts der Brent Spar die größte Lachnummer, die man sich vorstellen kann."
Greenpeace-Plakate, auf denen der Werbespruch und das saubere Logo der Shell gezielt aufs Korn
genommen würden, seien bereits gedruckt.
Und: Shell solle sich nicht der falschen Hoffnung hingeben, daß mit der Räumung der Insel der Fall
vor Ort auf hoher See erledigt sei. Ulrich Jürgens zu den Shell-Vertretern: "Machen Sie sich klar, und
teilen Sie das bitte auch ihren Kollegen in Den Haag und London mit, daß Brent Spar die
Schwerpunkt-Kampagne aller europäischen Greenpeace-Büros sein wird. Und ich sage Ihnen ganz
offen, denn die Entscheidung liegt bei Ihnen: Wir haben unsere Ressourcen noch lange nicht alle ins
Spiel gebracht. Wenn Sie beginnen, die Brent Spar durch den Nordatlantik zu schleppen, sind wir
dabei. Dann wird diese Zeit nicht nur für die Deutsche Shell, sondern für ihren ganzen Konzern zum
Alptraum."
Shell drohe, resümierte Jürgens zum Abschluß des Gesprächs, in einem Strudel unterzugehen, der
seine Kraft nicht nur aus dem konkreten Umweltfrevel mit der Brent Spar beziehe. Jeder in
Deutschland - "Und wenn wir mal ehrlich sind, auch Sie, meine Herren," - könne nachvollziehen,
daß es bei dem Konflikt um die Frage ginge, ob für alle die gleichen Maßstäbe gälten oder nicht.
Jeder Bürger, der heute ein paar Altreifen am Straßenrand deponiere oder seine Rostlaube in einem
Baggersee verschwinden lasse, habe mit empfindlichen Strafen zu rechnen. Und nun wolle ein
Konzern straflos mehrere Tausend Tonnen Stahl und über Hundert Tonnen Müll im Nordatlantik
versenken. Shell werde, so prophezeite Jürgens, bitter dafür büßen, wenn es das Meer wie seinen
Privatbesitz behandle, und in dieser Form mit den Emotionen von Millionen spiele.
Peter Duncan sichtlich beeindruckt: "Meine Herren, sie können sicher sein, ich werde ihre
Argumente und Vorstellungen nach Den Haag und London übermitteln. Aber es liegt nicht in der
Macht der Deutschen Shell, über die Zukunft der Brent Spar zu entscheiden. Ich gehe davon aus,
daß sie versenkt wird." Jürgens darauf: "Dann nehmen die Dingen wohl ihren Lauf, Herr Duncan."
Greenpeace meets Shell: Um den beeindruckten Hamburger Konzern-Leuten zu zeigen, wie ernst
die Lage einzuschätzen war, hinterließen die vier Umweltschützer beim Aufbruch außer ihren
Visitenkarten die Kopie einer Umfrage, die sie beim Meinungsforschungsinstitut EMNID in Auftrag
gegeben hatten. Darin hatten sie repräsentativ erfragen lassen, wieviel Prozent der deutschen
Bevölkerung wegen der Brent Spar zu einem Shell-Boykott bereit seien. Das Ergebnis dürfte auf
Duncan, Johanssen und Winzenried, die bisher kaum nennenswerte Einbußen an den Tankstellen
festgestellt hatten, wie ein Schock gewirkt haben: 74 Prozent aller Befragten - und rund 85 Prozent
der Autofahrer - waren bereit, an eine andere Tankstelle zu wechseln.
Die Greenpeace-Emissionäre kündigten an, das EMNID-Ergebnis noch am selben Tag zu
veröffentlichen, aber betonten, daß die Organisation selbst nicht zu einem Boykott der Tankstellen
aufrufen werde. Der Boykott sei allerdings, falls die Spar nicht von Shell gestoppt werde, bereits am
Horizont zu erkennen. Shell habe, so Thilo Bode beim Abschied zu Peter Duncan, "noch
schätzungsweise eine Woche, höchstens noch bis zum Ende der Nordseeschutzkonferenz Zeit, um
sich die Sache anders zu überlegen und noch größeren Schaden abzuwenden."
Perfektes Timing
Es sei nichts Neues, "daß Greenpeace mit professioneller Phantasie in flagranti ertappte
ökologische Großsünder am massenmedialen Marterpfahl die Füße röstet," schrieb wenige Tage,
nachdem Shell seine 180-Grad-Wendung auf dem Nordatlantik vollführt hatte, in der Süddeutschen
Zeitung Ulrich Beck. Neu und ungemein "irritierend-elektrisierend" sei allerdings das Verhalten der
Politiker, das unerhörte "Bündnis der Staatsmacht mit der illegitimen Aktion und ihren
Organisatoren." Beck weiter: "Indem Kohl sich beim britischen Premier Major gegen Shell und für die
Greenpeace-Aktion verwendet, hat er zugleich die `Fortschrittskoalitioń, auf die sich Shell stützte -
bestehend aus Regierung, Verwaltung und Experten - des Irrtums bezichtigt. Und zwar genau jenes
Irrtums, (...) was im konkreten Fall `rational und sicheŕ ist - mit der Folge: Die Flüsse, Meere, Arten
sterben, das Ozonloch wächst, Allergien werden zu Massenkrankheiten und so weiter."
Vor diesem Hintergrund und bei der breiten Ohnmacht gegen die anonyme Koalition, sei der
"moralische Aufschrei" der Autofahrer, die "zum revolutionären Exekutivorgan eines ökologischen
Bürgerprotestes geworden" seien, zu verstehen: "Die da oben" dürfen mit dem Segen der Regierung
und ihrer Experten "eine mit Giftmüll angefüllte Ölbohrinsel im Atlantik versenken, während "wir hier
unten" zur Rettung der Welt jeden Teebeutel dreiteilen müssen in Papier, Faden und Blättermasse,
um diese getrennt zu entsorgen."
Die Deutsche Shell hatten in dieser Oben-Unten-Konstellation nie eine Chance: Ihre englischen
Kollegen hatten sie in eine unhaltbare Lage gebracht. Der Betriebsrat des Unternehmens sprach
sich intern gegen die Versenkung aus und ließ diese Haltung auch nach außen sickern: "Unsere
Mitarbeiter finden die Versenkung nicht gut", distanzierte sich Betriebsrätin Ruth Lange. Die
ehrenamtlichen Greenpeace-Gruppen waren in einem unerhörten Kraftakt zeitgleich und bundesweit
an 300 Zapfsäulen mit dem rot-gelben Logo aufgetaucht und hatten Zehntausenden von Autofahrern
ihre Argumente plausibel gemacht. Die Shell-Tankstellenpächter litten täglich mehr unter dem
Kundenschwund. Der Zorn auf den Muschel-Konzern, der öffentlich Umweltschutz predigte und
Versenkung probte, verbreitete sich unaufhaltsam wie ein Schnupfen-Virus. Egal was die Deutsche
Shell nun unternahm, es würde ihr später als schwerer taktischer Fehler, als "desaströses
Krisenmanagement" und "Schande für die gesamte Kommunikationsbranche" ausgelegt werden.
Fakt ist: Von der historischen Allianz zwischen Greenpeace und Angela Merkel politisch in die
Defensive gedrängt, von den kraftvollen Bildern der "tapferen kleinen Schlauchboote in der tobenden
See" medial überrollt, und von den starrsinnigen Versenkungsfanatikern in London paralysiert, war
die Deutsche Shell zunächst nur noch Statist in dem Drama.
Am Pfingstwochenende hatte der Sommer schließlich die Oberhand gewonnen. Der Nieselregen
hatte aufgehört. Während Manta-Deutschland sich - mit Shell-Benzin im Tank - am Montag irgendwo
im Autobahn-Stau befand, betrieb in Hamburg das Brent Spar-Team, gut gerüstet mit Eis am Stiel
und einem plärrenden Kofferradio, sein Kampagnenmanagement.
Barbara Börner und Dörte Schüler telefonierten ununterbrochen mit den Gruppen, die an den 300
Shell-Tankstellen agiert hatten, und bereiteten die nächste Runde vor. Der 16. Juni war mit den
Kollegen in London, Amsterdam, Zürich, Wien und Kopenhagen abgestimmt; an diesem Termin
sollte es ein europaweiter Aktionstag werden. Zwei Brent Spar-Kampagner bildeten die
kampagnenpolitische Nachhut. Sie gaben den unzähligen Lokaljournalisten, die durch die
Greenpeacer an ihren Tankstellen auf die Brent Spar aufmerksam geworden waren, und nun einen
zusätzlichen örtlichen Aufhänger für ihre Story suchten, den aktuellen Stand der Dinge durch: "Nein,
wir haben derzeit keine Besetzer auf der Plattform. Nürnberg? Nein, tut uns leid, es ist leider
niemand aus Nürnberg oder ihrem Einzugsbereich auf der Plattform gewesen."
Fouad Hamdan, der Pressesprecher, hatte seine vierjährige Tochter mitgebracht. Während sie
Bauklötze stapelte und den Inhalt von Überraschungseiern überprüfte, bereitete er die Pressemappe
für die Nordseeschutzkonferenz vor.
Roland Hipp hatte Mühe, Ordnung auf seinem Klemmbrett zu halten; es gab inzwischen über ein
Dutzend verschiedenster "Baustellen", die mit London, Lerwick auf den Shetland-Inseln, Esbjerg und
dem deutschen Aktionsmittellager im Hamburger Hafen abzuklären waren.
Sein Handy glühte. "Christian, paß auf. Fouad ist heute abend mit den Pressemappen durch, die
kannst Du morgen früh abholen, bevor ihr mit dem Modell nach Esbjerg fahrt. Die Lagerleute
machen noch Nachtschicht und sind dann auch fertig." Im Lager schweißten und pinselten ein
halbes Dutzend Helfer an einem fast neun Meter hohen, stählernen Nachbau der Brent Spar. Das
Symbol für die Verrohung der Sitten auf der Nordsee sollte von einem Kran vor das
Konferenzzentrum in Esbjerg gestellt werden, während die europäischen Umweltminister ihre
Tagesordnung abarbeiteten und sich dabei auch mit der Brent Spar beschäftigten. Dafür hatten die
meist unsichbaren "Dry Suits", die politischen Lobby-Arbeiter und -Arbeiterinnen von Greenpeace,
gesorgt; sie planten, mit sechs Leuten drinnen im Gebäude zu sein und ihre Argumente nicht nur zur
Frage der Plattform-Versenkung unter die Delegationen zu streuen. Ihre Thesenpapiere und
Forderungen deckten das gesamte Szenario der Nordsee-Katastrophe ab: die verheerenden Folgen
der industriellen Landwirtschaft, der Chlorparaffine, der Einleitungen der chemischen Industrie und
auch der Überfischung. Daß die Greenpeace-Delegation diesmal auf genügend Resonanz stoßen
würde, dafür hatten die "Wet Suits", die Greenpeacer in den Schlauchbooten, draußen bei der Brent
Spar gesorgt. Die Kampagnen-Maschine lief auf vollen Touren, einzig offene Frage war nur: Was
würde Shell tun? Wie würde der Multi auf die offene Kampfansage während des Hamburger
Gesprächs reagieren? Würde der Konzern eine PR-Offensive in Esbjerg starten?
Hamdans Tochter schmollte; keiner wollte jetzt mit ihr spielen. Anruf für Hipp aus London, am
Apparat einer der britischen Kollegen. Chris Rose, der Kampagnendirektor des UK-Büros, berichtete
von juristischen Nebenkriegsschauplätzen. Die Shell-Rechtsanwälte in Großbritannien hatten sich
bereits während der Besetzung vor einem Gericht in Edinburgh eine einstweilige Verfügung gegen
Jon Castle erstritten, damals die rechtliche Grundlage der Räumung. Nun versuchten sie, das war zu
Greenpeace UK durchgesickert, weitere Verantwortliche innerhalb der Organisation dingfest zu
machen. Die Greenpeace-Quelle hatte durchgegeben, daß in den nächsten Tagen mit einem
juristischen Schachzug gegen Greenpeace Deutschland zu rechnen sei. Wahrscheinlich war eine
weitere einstweilige Verfügung im Anrollen. "Gut, Chris, ich kümmer mich drum," seufzte Hipp und
notierte, daß er den Hamburger Greenpeace-Anwalt anrufen mußte, der für solche Fälle seine
Pfingst-Notnummer hinterlassen hatte. Die Frage auch hier: Was würde Shell sonst noch
unternehmen? Welchen Kurs fuhr der Konzern weiter?
Zunächst jedoch brauchte Hipp eine strategische Einscheidung, die weder er noch das deutsche
Büro allein fällen konnten. Brent Spar war eine durch und durch internationale Kampagne; die
politische Planung für die nächsten Wochen oblag dem Konsens aller europaweit verstreuten Brent
Spar-Teams. Doch bei Beschlüssen, die grundsätzlicher Natur waren und erheblich ins Geld gingen,
mußte Greenpeace International grünes Licht geben: sprich Ulrich Jürgens auf den Shetland-Inseln
oder der internationale Interims-Geschäftsführer Steve D`Esposito. Also Anruf in Lerwick auf den
Shetlands. NENIG, die Northern European Nuclear Information Group, hatte dort seit Beginn der
Aktion ihr Büro zur Verfügung gestellt. Der 20 Quadratmeter kleine Raum wurde zu einem
Lagezentrum ausgebaut, das fast rund um die Uhr besetzt war. Von dort aus wurde zunächst von
Gijs Thieme und der Shetländerin Rose Young - Herz, Seele und Gehirn von NENIG zugleich - die
gesamt Aktions- und Transportlogistik vor Ort organisiert: Außenborder kaputt, verirrte Journalisten
auf dem Flughafen, Ersatz für die Moby Dick, Salatkräuter für den Küchenchef auf der Brent Spar,
Lenkdrachen für die Besetzer? Ein Fall für Gijs oder Rose bei NENIG.
Seit Ulrich Jürgens eingetroffen war, liefen auch immer mehr politische Fäden in Lerwick
zusammen. "Moin, Ulrich. Paß auf. Wie weit seit ihr mit der Altair? Ich habe hier noch tausend
Sachen zu organisieren. Wenn wir unsere Leute und die Ausrüstung noch zusammenkriegen wollen,
muß ich bis heute abend Bescheid wissen. Ja, ich weiß, das bracht seine Zeit. Aber Shell wartet mit
dem Schleppen nicht, bis wir in die Gänge gekommen sinhd. Ruf mich zurück. Ciao, und grüß mir
Rose."
Das die Organisation das umgebaute Lotsenschiff Altair charterte, war für den weiteren Verlauf der
Kampagne von existenzieller Bedeutung. Schon die Besetzung der Brent Spar mit Hilfe der kleinen
Moby Dick und dem angeheuerten dänischen Frachter Embla war ein Notbehelf gewesen, weil
weder die Solo, noch die MV Greenpeace, noch die Rainbow Warrior verfügbar waren. Die Solo war
trotz Volldampf noch weit ab vom Schuß auf dem Rückweg aus Japan, die MV Greenpeace auf
Mittelmeer-Tour und die Warrior im Pazifik, wo sie für die kommenden französischen Atomtests auch
bleiben mußte. Die Logistik mit der Moby, die wiederholten Aktionen, der Austausch der Crews, der
Pendelverkehr für die Journalisten, alles hatte am seidenen Faden gehangen. Einmal hatte das
Schiff in Lerwick mit einem leichten Maschinenschaden für eine Woche festgelegen; unbemerkt von
Shell, und ersetzt durch die Starina, einem Fischerkutter, dessen Kapitän aus Überzeugung und
gegen gute Bezahlung eingesprungen war. Die Moby, da waren sich alle einig, war ein feines,
kleines Aktionsschiff, aber für die Beschattung der geschleppten Brent Spar, die inclusive Rückfahrt
über vier Wochen dauern würde, nicht zu gebrauchen. Was Greenpeace dafür brauchte, war ein
Dampfer wie die Altair: absolut hochseetüchtig, über vierzig Kojen an Bord, nahezu perfekte
Satellitenkommunikation, Kräne für die Schlauchboote und - ein Hubschrauberlandedeck.
Am 7. Juni, just am Tage, als die Altair im holländischen Hafen Scheveningen mit noch feuchten
Regenbogenfarben am Rumpf die Leinen losmachte, trafen in Esbjerg die ersten Delegationen für
die Vierte Nordseeschutzkonferenz ein. Greenpeace eröffnete in der Vorhalle sein Lobby-Büro. Shell
dagegen hatte die Zeit, die dem Konzern zur Rettung seines angeschlagenen Images noch
verblieben war, unnütz verstreichen lassen. Der Multi war von seinem Versenkungsplan keinen
Millimeter abgerückt, und war in Esbjerg nicht präsent. Greenpeace dagegen nutzte das breite
öffentliche Interesse für seine Argumente, für zwei Protest-Aktionen und eine weitere Breitseite
gegen den unbeweglichen Konzern.
7. Juni: Die Arbeitsplattform Stadive und die Brent Spar dümpelten gegen vier Uhr früh wie zwei
gelähmte Kolosse sanft in den Wellen des Brent-Feldes. Als die Moby Dick noch rund 30 Seemeilen
entfernt war, setzte die Besatzung zwei Schlauchboote mit fünf Aktivisten und einem Kamerateam
ins Wasser. Die Boote steuerten geraden Kurses auf die Brent Spar zu. Tina Haardt, 25 Jahre alt
und engagierte Studentin der Politikwissenschaft ("Ich habe es satt, nur zu diskutieren, ich will auch
was tun"), war mit von der Partie. Sie schilderte später, was geschah: "Als wir die Spar ein paar Mal
umkreisten, standen die Shell-Leute zunächst nur wie auf einer Theatergalerie hoch oben auf der
Stadive. Ich glaube, sie hielten es nicht für möglich, daß wir direkt unter ihren Augen eine
Neubesetzung versuchen würden." Shell hatte tatsächlich einiges gegen diese Möglichkeit
unternommen. Die Eisensprossen, die vom Meeresspiegel aus nach oben führten, waren mit einer
Flex abgetrennt worden. Der offene, schmale Rundgang unter den Wohnquartieren war dicht mit
Natodraht verkleidet. Zwischen den Greenpeace-Schlauchbooten und dem Rundgang lagen 18
Meter glitschige, senkrechte Eisenwand. Die Shell-Arbeiter feixten auf ihrer Galerie.
Haardt: "Womit sie nicht gerechnet hatten, war unsere Buschhaus-Leiter." Diese Eigenentwicklung
der Greenpeace-Aktionsabteilung, leichte, zusammensteckbare Aluminiumrohre mit winzigen Tritten
und einem arretierbaren Haken am oberen Ende, war vor Jahren extra für eine andere geschleifte
Festung, das Braunkohlekraftwerk Buschhaus bei Helmstedt, konstruiert worden. Jetzt kam sie auf
der Nordsee wieder zum Einsatz. Erst als der erste Kletterer die Brent Spar wieselflink geentert, mit
einem Bolzenschneider den Natodrahtverhau zerschnitten, und weitere Kletterseile abgeworfen
hatte, reagierten die verblüfften Shell-Mitarbeiter. Tina Hardt: "Ich war etwa auf halber Höhe am Seil,
als die Kanonade einsetzte." Die Kletterer wurden vom Begleitschiff Rembas aus mit
Wasserschwaden eingedeckt; mit gezielten, schmerzenden Schüssen aus den
Feuerlöschschläuchen wollten die Besatzungsmitglieder verhindern, daß die Fünf ihre Banner an der
Brent Spar befestigten. Doch um sechs Uhr in der Früh flatterte die Greenpeace-Flagge wieder auf
der Plattform; die nassen und frierenden Kletterer hielten die symbolische Neubesetzung trotz des
enervierenden Wasserschwalles für geschlagene sechs Stunden durch.
Shell Expro in Aberdeen betrachtete die Ereignisse aus einer anderen Perspektive. Die Firma
erklärte in einer Presseerklärung, der erwähnte Wasserwerfereinsatz habe mit den unklaren
Aktivitäten der Greenpeace-Kletterer nicht das Geringste zu tun gehabt. "Das Begleitschiff Rembas,"
so Shell Expro wortkarg, habe "nur seine Wasserschläuche getestet."
Doch die Video-Aufnahmen der "Tests", von einer von der Moby Dick per Funk angeforderten
Hubschrauberbesatzung aus dem Wasser gefischt, wurden zum schottischen Aberdeen geflogen.
Dort wurden sie in das europäische TV-Verbundnetz eingespeist, aus dem sich alle nationalen
Fernsehanstalten für ihre aktuellen Nachrichten bedienen. Die Szenen mit dem Banner-Slogan
"Save Our Seas - Rettet unsere Meere" gingen am Abend des 7. Juni ebenso über den Äther wie die
Aufnahmen der Aktion, die am selben Tag in Aberdeen stattgefunden hatte. Dort hatten sich
Aktivisten in die Masten der Smit Singapore, dem vorgesehen Brent Spar-Schlepper, gekettet und
das Auslaufen verzögert. Auch dort die gleiche Forderungen: "Stoppt die Verseuchung der Nordsee -
Stoppt die Brent Spar - Rettet unsere Meere."
Als am Tag darauf die Minister in Esbjerg - am stählernen Modell der Brent Spar vorbei - durch das
Hauptportal schritten und sich an den Verhandlungstisch setzten, waren die Bilder noch frisch und
die Fronten verhärtet. Der britische Umweltminister John Gummer verteidigte, im Wissen um
norwegische und französische Unterstützung, zunächst mit wissenschaftlichen Unterlagen und
später mit gällender britischer Arroganz den Versenkungsplan gegen die restlichen Nordsee-
Anrainer: "Sollen die Dänen doch vor ihrer eigenen Tür kehren. Wenn ein Hund dort Wasser aus
einem Graben trinkt, ist er die nächste Minute tot." Die Dänen hatten sich Gummers besonderen
Zorn zugezogen, weil ihr Umweltminister Svend Auken einen Antrag auf ein generelles
Versenkungsverbot von Plattformen formuliert und eingebracht hatte. Aucken über die Brent Spar:
"Wenn wir das zulassen, geben wir grünes Licht zur Nutzung der Nordsee als Müllhalde für
Industrieanlagen."
Das mußte wirklich nicht sein. Und daß der Brent Spar-Müll entgegen der Shell-Beteuerungen
("Viel zu risikoreich, viel zu teuer") durchaus an Land entsorgt werden konnte, bewies Greenpeace in
Esbjerg mit einem Überraschungs-Coup, der in dieser Form weder geplant oder abzusehen war.
Paul Horsman: "Ich saß am Abend des 8. Juni nichtsahnend an meinem Schreibtisch in London, als
das Fax-Gerät plötzlich anfing, Seiten auszuspucken. Als ich sah, was da reinkam, gingen mir fast
die Augen über." Das Fax kam von einer Greenpeace-Quelle in der Offshore-Industrie und war purer
Sprenstoff: der "Contract No. 647100/DB5235" zwischen Shell Expro und der Firma Smit
Engineering. Jene Studie aus dem Jahr 1992 also, in der Smit Engineering schwarz auf weiß
nachgewiesen hatte, daß ein Rückbau der Brent Spar in Norwegen technisch ohne Probleme
machbar war und rund 24,5 Millionen Mark kosten sollte. Deutlich weniger als die Zahlen, mit denen
Shell - und Umweltminister Gummer - in der Öffentlichkeit und in Esbjerg operierten.
Die Studie war 1992 nie über einige ausgewählte Schreibtische hinausgekommen; weder im
AURIS-Report noch in den offiziellen Shell-Unterlagen zum Genehmigungsantrag war auf sie Bezug
genommen worden. Die englischen Ministerien für Energie und Umweltschutz kannten sie offiziell
nicht. Jetzt, in der Hand von Greenpeace, bedeutete sie zwei Dinge: Shell und die britische
Regierung hatten offensichtlich nicht mit offenen Karten gespielt, und eine Nachtschicht für
Horsman.
Als die Greenpeace-Delegation am nächsten Morgen Kopien der brandheißen Smit Engineering-
Studie in Esbjerg verteilte, wurden die Gesichter der englischen Delegationsteilnehmer lang und
länger. Ein Greenpeace-Lobbyist: "John Gummer war weiß wie eine Wand, aber kochte innerlich vor
Wut." Die anscheinend sorgfältig aus "allen verfügbaren technischen Optionen" gebaute und
wissenschaftlich untermauerte britische Trutzburg mit der Flagge "Umweltfreundlich" auf der Zinne
erwies sich plötzlich als ein fragwürdiges Kartenhaus.
Die Vierte Nordseeschutzkonferenz ging am Freitag, den 9. Juni, zu Ende. Sie wurde landauf,
landab als erfolglos und als "Jahrmarkt der Unverbindlichkeiten" kritisiert. Zu Recht: Man hatte sich
weder auf ein Versenkungsverbot geeinigt, noch war der deutsche Vorschlag, die Nordsee analog
zur Ostsee zum besonders geschützten "Sondergebiet" zu erklären, konsensfähig gewesen. Die
Fischerei-Lobbys der Anrainer hatten sich gegenseitig blockiert; die ausgehandelte Erklärung der
Ministerrunde enthielt kein aussagekräftiges Wort zur nötigen Verkleinerung der Fangflotten. Die
hochindustrielle Landwirtschaft, Quelle der Stickstoffeinträge in die Nordsee und hartnäckigster
Verschmutzer, wurde mit keinem entscheidenden Satz gestreift.
Dennoch hatte Greenpeace in Esbjerg wichtige Etappensiege errungen. Vom Aufruhr um die Brent
Spar überlagert und fast unbemerkt, hatte die Chemiemannschaft eine erste Ernte langjähriger
Kampagnen- und Lobbyarbeit nach Hause gefahren. Die Nordseeanrainer hatten sich nach langem
Ringen - und wie üblich mit englischem Widerstand - darauf verständigt, die Einleitung von
gefährlichen Chemikalien bis zum Jahr 2020 ganz zu stoppen. Darunter befinden sich vor allem
Produkte der Chlorchemie, was der Engländer Tim Birch, internationaler Koordinator der
Chemiekampagne, mit dem Satz kommentierte: "Die europäische Chemie-Lobby schäumt. Denn
was wir heute in Esbjerg erlebt haben, war der Beginn des langen, aber finalen Todeskampfes der
Chlorchemie."
Für die Brent Spar-Teams bei Greenpeace war Esbjerg ebenfalls zu einem wichtigen Baustein ihrer
Kampagnen-Strategie geworden. Shells Glaubwürdigkeit war durch das Auftauchen der Smit
Engineering-Studie in den Grundfesten erschüttert worden. Keiner der konferenzerfahren "Dry Suits"
hatte zudem erwartet, daß sich die Ministerrunde im ersten Anlauf auf ein generelles
Versenkungsverbot einigen würde. Sie hatten von Beginn an auf die "Windschatten-Theorie" gesetzt:
Macht den Briten mit der Brent Spar die Hölle heiß, und laßt sie sich da heftig wehren, dann sind sie
in Sachen Chlorchemie wahrscheinlich zu Kompromissen bereit. Eindeutig Punktsieg: Das Thema
"Plattformen" war offiziell als Tagesordnungspunkt auf der Anfang Juli kommenden Tagung der Oslo-
Paris-Kommission OSPARCOM in Brüssel gelandet. Doch was noch wichtiger war: Die Politiker
hatten erstaunlicherweise einmal Klartext geredet. Angela Merkel war, wie von vielen befürchtet und
von der englischen Presse zuvor angekündigt, nicht umgefallen. Sie hatte bereits vor ihrem Abflug
nach Esbjerg verkündet, daß Deutschland sich entschieden für eine Entsorgung aller Nordsee-
Plattformen an Land einsetze. SPD-Chef Rudolf Scharping hatte gar noch einen Zahn zugelegt,
Greenpeace öffentlich gedankt und gefordert, die Versenkung der Brent Spar zu verhindern.
Doch wirklich entscheidend waren die feinen Zwischentöne. EU-Kommissarin Bjerregard hatte
demonstrativ Interviews neben dem Brent Spar-Modell vor dem Konferenz-Zentrum gegeben und
erklärt: "Ich würde es völlig verstehen, wenn die Verbraucher beginnen würden, ihr Benzin woanders
als bei Shell zu kaufen." Die SPD-Umweltministerin von Schleswig-Holstein, Edda Müller, schlug in
die gleiche Kerbe. Sie erklärte in einem Deutschlandfunk-Interview, "Sie persönlich könne sich nicht
vorstellen, jetzt noch bei Shell zu tanken." Heide Simonis, der schleswig-hollsteinische
Ministerpräsidentin, war es schließlich vorbehalten, den Vorschlag zu machen, der der Plattform
noch eine ganz andere Dimension geben sollte: Sie forderte Helmut Kohl auf, Brent Spar und die
Nordsee zur Chefsache zu machen.
Kohl gegen Shell. Der Kanzler als der große ökologische Steuermann und Boykott-Papst, der einig
Deutschland bei der Abstrafung eines Industrie-Konzerns seinen Segen erteilt - den Shell-Leuten in
Hamburg müssen bei dieser Vorstellung die Haare zu Berge gestanden haben. Zehn Tage nach dem
Besuch der Greenpeace-Unterhändler hatten sich deren Prognosen voll bewahrheitet. Die
Tankstellenpächter meldeten nun ernstzunehmenden Kundenschwund und beschwerten sich
öffentlich über die Deutsche Shell. Die Glaubwürdigkeit der Muschel war tiefer im Keller als je zuvor.
Ganz Deutschland lachte über den Slogan "Wir wollen etwas ändern" und die Greenpeace-Variante
"Das werden wir ändern". Ein Shell-Mitarbeiter aus der Hamburger Zentrale später im vertraulichen
Gespräch: "Spätestens in diesem Moment hätten wir hier in Deutschland die Notbremse gezogen."
Doch das durfte offiziell nur die Betonköpfe von Shell UK, deren Inselblick jenseits von Dover
jegliche Tiefenschärfe vermissen ließ. Sie glaubten auch nach dem verheerenden politischen
Debakel auf der Nordseeschutzkonferenz noch, es hier mit einer Handvoll verrückter
Umweltschützer zu tun zu haben. Spannung bei Greenpeace und banges Erwarten bei der
Deutschen Shell: Was würden die Briten unternehmen?
Sie setzten ein provozierendes Spekatakel mit geradezu perfektem Timing in Szene. Chris Fay von
Shell Uk gab am 10. Juni, nur 24 Stunden nach dem hitzigen Ende der Esbjerger Konferenz, die
weitere Parole aus: "Wir werden die Brent Spar wie geplant versenken." Es schien, als wollte er aller
Welt nun erst recht beweisen, daß ein Multi ein ungestörtes Eigenleben führen kann. Augen zu und
durch. Im Innern der belagerten Brent Spar wurden die Sprengstoffpakete, mit denen die Plattform in
die Tiefe gebombt werden sollte, unterhalb der Wasserlinie gesetzt und sorgfältig verkabelt.
Am selben Tag versuchte die abgekämpften und seekranken Greenpeace-Kletterer, die drei Tage
zuvor schon das Banner "Save Our Seas" gehängt hatten, das Kappen der sechs Brent Spar-
Ankerketten zu verhindern. Eine Rettungsinsel der Moby Dick mit drei Leuten an Bord wurde von
einer rabiaten Shell-Bootsbesatzung mehrmals gerammt und schließlich untergepflügt: Totalschaden
vor laufender Kamera.
In der Nacht vom 12. auf den 13. Juni, Punkt 23.15 Uhr, nahmen die beiden Schlepper Smit
Singapore und President Hubertus vom Brent-Feld aus Kurs auf das North Feni Ridge im
Nordatlantik. Sie hatten etwas im Schlepptau, das zu diesem Zeitpunkt längst keine rostige Shell-
Ruine mehr war. Die Brent Spar war das öffentliche Symbol für die schiere Arroganz der Macht.
Nervenkrieg
In Hamburg hatte es das Brent Spar-Team nach der Esbjerger Konferenz aufgegeben, langatmige
Planungssitzungen über die weitere Kampagnenstrategie abzuhalten. Die Angelegenheit hatte eine
eigene Dynamik entwickelt, die Dinge entwickelten sich rasend; viel zu schnell für langwierige
Analyseprozeduren.
Im Aktionsraum waren weiße Plakate an die Wand gepinnt worden; mit Filzstiften konnte jeder
spontan und zwischendurch seine Aktions- und Kampagnenideen mit entsprechender Begründung
festhalten: "Aktion bei Gummer-Besuch in Bonn 29.5. (englische Medien vor Ort) ERLEDIGT! -
Flugblätter auf dem Kirchentag (Beginn nach 2. Juniwoche, GP-Gruppen, Koordination macht die
Hamburger Gruppe) - Blockade bei der Shell-Raffinerie Harburg (5 Uhr früh Abfahrt der Tankwagen,
viel zu früh!) - weitere Lobby beim ADAC (Pressesprecher windet sich nervös nach erstem Anruf) -
Öffentliche Ausschreibung für Abwrackunternehmen (wir weisen nach, daß ein Industrieinteresse da
ist, Arbeitsplätze, Ansprache Gewerkschaft, Financial Times, FAZ, Handelsblatt) - Aktion
Schrottautos vor Shell-Zentrale (Wer Plattform versenkt, soll meinen Schrott gleich draufpacken...) -
gemeinsame Presseerkl. mit den deutschen Fischern (mit Fischereikampagne wg. Kontakten
absprechen, Flaggen auf Boote!) - Rundruf bei Talksshows (Schreinemakers, Koschwitz, Gottschalk,
keine Versenkung von Gummi-Bärchen)."
Hipp und seine Kollegen hatten es sich außerdem zur Angewohnheit gemacht, wann immer es ging
(und das war meistens spät in der Nacht), den sogenannten "Kampagnensimulator" einzuschieben.
Rollenspiel: Zwei Greenpeacer mimten zuerst Peter Duncan und Chris Fay, dann zogen zwei
Kampagner ihre Schlüsse daraus. Was würde ich tun, wenn ich Shell wäre? Was sollte Greenpeace
weiter tun? "Ok, unsere Schlepper sind unterwegs. Greenpeace wird mit Sicherheit versuchen, die
Plattform wieder zu besetzen. Wie wollt ihr das verhindern, mein lieber Chris?" Kichern. "Mach Dir
darüber mal keine Sorgen, Peter. Wir haben drei Begleitschiffe mit der strikten Order, rund um die
Uhr einen geschlossenen Wasservorhang zu legen. Eine Wiederbesetzung schaffen die auf keinen
Fall." Wieder Kichern. "Wenn Du meinst. Ich gebe nur zu Bedenken, daß eine Verteidigung weitaus
schwieriger ist als eine Räumung. Aber andere Frage, Chris. Wir hier in Deutschland glauben, daß
es gut wäre, ein eigenes Shell-Schiff für die Journalisten zu chartern und mitzuschicken. Wie Du
weißt, hat Greenpeace an Bord der Altair mehrere TV-Teams. Wir haben gehört, daß sich die Sender
quasi um die Plätze an Bord geschlagen haben." Lange Pause, Stimme wird härter. "Nein, keine
gute Idee, ist außerdem zu spät. Vergiss das." Duncan wird fordernder. "Aber Chris, ich bitte Dich,
Du mußt uns verstehen, die deutsche Öffentlichkeit..." Fay fällt ihm unwirsch ins Wort. "Hör jetzt auf
damit, Peter. Ich habe Dir schon tausendmal gesagt, daß die Brent Spar eine rein britische
Angelegenheit ist." Und Tschüß.
Jetzt waren die beiden Greenpeacer an der Reihe. "Wir könnten die Shell-Raffinerie in Köln für eine
Weile belagern oder dichtmachen, die Beluga ist auf dem Rhein unterwegs und hätte jetzt Zeit."
Energischer Widerspruch. "Nein, auf keinen Fall. Mein Gefühl sagt mir, daß wir die Deutsche Shell
mit Aktionen nicht weiter angehen sollten. Duncan unter starkem Druck ist unsere beste Waffe gegen
Fay, aber zuviel Druck ist kontraproduktiv. Wenn einer am Boden liegt, treten wir nicht nach. Laß uns
lieber alle Energie auf den kommenden Kirchtag konzentrieren." Kurze Pause. "Ok, aber was ist mit
der Altair? Laß uns überlegen, was wir draußen auf See machen sollten, halb Europa starrt auf das
Schiff. Was ist, wenn die Marine eingreift und das Schiff aus dem Verkehr zieht? Dafür gibts keine
rechtliche Handhabe, aber bei den Briten kann ich mir alles vorstellen. Dann stehen wir dumm da."
Lange Pause. "Gut, wir sollten uns zunächst etwas zurückhalten und weiter nur beschatten.
Außerdem sollten wir darüber nachdenken, was wir aus der Luft bewerkstelligen könnten." Sehr,
sehr lange Pause. "Apropos Luft. Mir ist noch was aufgefallen. Ich habe mir vorhin mal die
Zusammensetzung des Shell-Konvois näher angeschaut. Sechs Wasserkanonen und drei
Begleitschiffe rund um die Spar sind sicher ein harter Brocken. Aber sie haben zwei Fehler gemacht.
Sie haben a) während des Schlepps keine Leute auf der Plattform und b) keinen eigenen
Hubschrauber dabei. Das ist unsere Chance. Wir brauchen einen Hubschrauber. Haben wir
eigentlich noch Geld? " Kichern. "Keine Ahnung. Ich dachte, Du wüßtest das."
Im Aktionsraum hatte inzwischen ein kleiner Zettel einen Ehrenplatz auf der Seekarte mit der Route
der Brent Spar: "Unsere Stärke: Keiner weiß, was wir morgen tun. Nicht mal wir."
Die Altair mit der Greenpeace-Besatzung und einem Dutzend internationaler Journalisten an Bord
verfolgte die Shell-Armada seit dem Schleppbeginn am 12. Juni. Die Aufgabe der Besatzung: die
Versenkung zu verzögern und im besten Fall zu verhindern. Spiegel-Redakteurin Michaela Schießl
setzte ihren ersten Bericht ab: "Die Ausgangslage ist schwierig. Das schwimmende Tanklager wird
bewacht von den Sicherheitsschiffen Rembas und Torbas, die mit ihren Wasserwerfern wie zwei
Köter in Drohhaltung ihr Gebiet markieren. Ein drittes Sicherheitsschiff observiert die Altair. Dahinter
kreuzen ein Fischereischutzschiff der Royal Navy und ein weiterer Versorger, die Grampian Pride.
"Kein Zweifel, unsere Freunde meinen es ernst", sagt Kapitän Castle, "wir müssen es also auch
ernst meinen. Und das möglichst schnell. Wenn ihr über Lösungen nachdenkt: Findet die einfachen,
naheliegenden. Man muß die Dinge nur tun."
Doch in keinem Fall zu schnell, oder gar überhastet. Harald Zindler, Aktionskoordinator an Bord der
Altair: "Im Grunde war es eine Woche permanenter Nervenkrieg mit direktem Blickkontakt. Auf der
einen Seite wir und der immer stärker werdende Druck an Land durch die täglichen Fernsehbilder
und Nachrichten von der Boykottentwicklung. Und auf der anderen Seite die englische Regierung
und Shell auf allen Ebenen - Shell im Vorstand, Shell in London, Aberdeen und Hamburg, und Shell
an den Wasserkanonen. Die Uhr lief jedenfalls ab. Es war nur eine Frage der Zeit, bis irgendjemand
agierte und einen Fehler machte."
Zindler gibt zunächst die Order aus, die Taktik der Begleitschiffe, die die Brent Spar rund um die
Uhr mit ihren Wasserkanonen einnebelten, mit den Schlauchbooten zu testen. Die Shell-Leute auf
ihrem Feldherrenhügel an Bord der Rembas und die Norweger in den Abschirmbooten sind
ausgesprochen clever. Sie bleiben stoisch auf ihren strategischen Positionen, und lassen sich nicht
von der Plattform weglocken.
Normalbetrieb, Abwarten. Am Dienstag spielt Shell seine erste Karte. Ein Hubschrauber aus
Edinburgh mit einem Gerichtsdiener an Bord versucht, einen Haftbefehl gegen Jon Castle
zuzustellen. Castle hatte, mit der Vorbereitung der Altair in Scheveningen beschäftigt, eine
Vorladung vor Gericht verpaßt. Die Landeerlaubnis auf der Altair muß "aus Sicherheitsgründen"
verweigert werden. Als der Mann im Helikopter versucht, das Schreiben per Megafon zuzustellen,
laufen die Signalhörner des Greenpeace-Schiffes auf voller Lautstärke. Auch der letzte Versuch, die
Zustellung des offiziellen Schreibens per Shell-Boot, scheitert. Als die wasserdichte Schriftenrolle an
Bord geworfen wird, werden gerade die Decks geschrubbt. Ein ungeschickter Besen befördert die
unerwünschte Postwurfsendung über Bord.
Was ist der nächste Schachzug? Warten. Die Kletterer überprüfen zum zehnten Mal ihr Geschirr
und die Überlebensanzüge, die Journalisten langweilen sich. Zindler und die Kampagner halten den
Kontakt zum Land. Aus Amsterdam, London und Hamburg laufen widersprüchliche Informationen
ein. 15. Juni, Donnerstag früh: Bei Shell scheint sich intern etwas zu bewegen. Jan Slechte, der
Direktor der Shell Niederlande, hat in einem Interview die Möglichkeit angedeutet, über die
Entsorgung der Brent Spar neu zu verhandeln. Auch die Deutsche Shell, daß lassen Telefonate
erkennen, übt inzwischen verstärkt Druck auf Chris Fay aus. Hoffnung?
Am Donnerstag nachmittag dementiert die Shell Uk jede Änderung des Plans. John Major
verkündet in Halifax auf dem Weltwirtschaftsgipfel, er halte ebenfalls an der Versenkung der Brent
Spar fest. Die Shell-Leute auf den norwegischen Sicherheitschiffen interpretieren das als
Aufforderung, den Verfolgern jetzt entgültig den Schneid abzukaufen. Die Wasserkanonaden
nehmen zu; der Kapitän der Kronbas läßt mit dem harten Wasserstrahl direkt auf das Brückenhaus
der Altair halten. Er droht Jon Castle über Funk, ein Netz in die Schiffsschraube zu werfen. Kronbas
an Altair: "Ich habe hier eine nette Falle für Euch und mein Messer schon aus der Scheide. Und
schöne Grüße von Walfänger Bastensen." Altair an Kronbas: "Danke für die Information. Hört sich
interessant an." Immer freundlich, immer ruhig. Warten.
Nach über fünf Tagen Geleitfahrt geht es am frühen Freitagmorgen schließlich zur Sache; die
Wasserschlacht beginnt. Der Spiegel wie gewohnt süffisant und in Starkdeutsch: "Die Außenborder
heulen auf, ein letztes Nicken, dann geben die Umweltschützer guten Gewissens vollen Stoff.
Entschlossen wie ausgehungerte Moskitos werfen sich die fünf winzigen Greenpeace-
Schlauchboote den drei eisernen Sicherungsbooten Rembas, Torbas und Grampian Pride entgegen.
Eine Inszenierung wie aus dem Bilderbuch: aufrechte Gläubige auf dem Weg zu den Löwen." Harald
Zindler sieht die Sache weniger prosaisch: "Alles eine Frage der Taktik und des Timings. Die fünf
Schlauchboote hatten ihre klaren Jobs. Drei Boote fuhren Ablenkung direkt bei der Brent Spar, zwei
Besatzungen sollten zeitgleich an der Reling der Rembas für Irritation sorgen. Das war alles." Den
zentralen Job der Aktion, die Besetzer auf die Plattform zu bringen, übernimmt ein anderer, mit dem
Shell nicht gerechnet hat: Hubschrauberpilot Uwe Lahrmann.
Lahrmann, Pilot einer Hamburger Charterfirma, war erst wenige Tage zuvor angefragt worden: "Als
Greenpeace uns um den Flug gebeten hat, war mir das Risiko klar." Lahrmann sagte dennoch zu.
Am Freitagmorgen fliegt er pünktlich mit seiner BO 105 ein. Er nimmt drei Kletterer von der Altair auf,
und steuert, während die Wasserkanonen noch mit den fünf Schlauchbooten beschäftigt sind, seinen
Helikopter weiter zur Brent Spar. Der Anflug mißlingt: "Zuerst war der Strahl gar nicht zu spüren,
aber dann drang das Wasser durch das Seitenfenster." Die Maschine wird von den Spritzkanonen
getroffen und droht, ins Drudeln zu kommen. Lahrmann dreht ab und landet auf der Altair. Auch die
Schlauchboote sind zurückbeordert.
Lahrmann beruhigt die Gemüter, keine Gefahr. Doch die erste Bilanz sieht schlecht aus: Shell hat
die Brent Spar erfolgreich verteidigt und hält zwei Leute aus den Schlauchbooten gegen ihren Willen
an Bord der Rembas fest. Der Kapitän teilt mit, sie müßten bleiben - der eine sei ein normaler
Schiffbrüchiger, der über Bord eines Schlauchboots gespült worden sei, der andere allerdings ein
Pirat, weil er über die Reling an Bord gekommen sei.
Abwarten. Zwei Stunden vergehen; Zweifel. Dann kommt der nächste Anlauf wie aus heiterem
Himmel. Plan B. Der Spiegel: "Tatsächlich lassen die Shell-Schiffe zufrieden Druck ab. Der zweite
Angriff um 12 Uhr mittags überrumpelt sie vollkommen. Ohne Vorwarnung zieht der Hubschrauber
von der Altair in die Luft und ist diesmal vor den Fontänen über der Plattform. Den Helikopter
abschießen, das will dann doch keiner riskieren. Al und Eric, die beiden ausgebildeten Kletterer,
springen aus zwei Meter Höhe auf die Plattform." Al Baker, einer der Besetzer, meldet sich über CB-
Funk bei der Altair. Kollege Eric hat sich bei der Landung auf Deck die Ferse angebrochen, aber
ansonsten sind beide wohlauf: "Wir wissen jetzt, wo die Verkabelung für die Sprengsätze verläuft."
Zindlers Anweisung ist knapp und eindeutig: "Kappen." Am späten Nachmittag durchtrennen die
Besetzer sytematisch die Kabelstränge, die von der elektronisch gesteuerten Zündeinheit zu den
Sprengstoffpaketen führen.
Daß die Brent Spar am North Feni Ridge auch nach einer Räumung nicht mehr sofort versenkt
werden kann, hat der Shell-Krisenstab auf der Rembas nur vermuten können. Die Shell-Schiffe und
die gecharterte Altair waren mit Satelliten- und Kommunikations-High-Tech ausgestattet und hörten
sich, wenn sie über die VHF-Seefunkkanäle kommunizierten, mit sogenannten "Scannern"
konsequent gegenseitig ab. Jedes Wort, auch der VHF-Sprechfunkverkehr mit den zwei Besetzern,
wurde von Computern aufgezeichnet. Doch die wirklich wichtigen Gespräche zwischen Altair und
Besetzern blieben Shell immer ein Rätsel. Die Greenpeacer wechselten, nachdem das Codewort
"Mikrowelle" gefallen war, von VHF auf CB-Funk, den sogenannten "Bürgerkanal". Das waren jene
kleinen Handgeräte, die nur eine geringe Reichweite haben, und in der Spielzeugversion für 29,80
DM, inclusive Batterien, in jedem Kaufhaus angeboten werden. Richtige Funk-Profis schütteln über
die Billigteile aus China nur den Kopf - und Shell hatte die Geräte wie erwartet nicht an Bord. Auch
auf See hatte der Konzern kein Ohr für die Stimmen der Bürger.
Wie sagte Jon Castle: "Wenn ihr über Lösungen nachdenkt: Findet die einfachen, naheliegenden.
Man muß die Dinge nur tun." Greenpeace hatte das Symbol Brent Spar zum dritten Mal besetzt.
8. Wer hat hier Boykott gerufen?
E.F., Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, war spürbar vergrätzt, denn so etwas hatte er
noch nicht erleben, geschweige denn kommentieren müssen. "Die smarten Kampagnen-Designer
von Greenpeace," grantelte er am 21. Juni, "können wahrscheinlich ihren Erfolg nicht fassen. Eine
ganze Nation tanzt nach ihrer Pfeife, und die politische Klasse verliert den Verstand. Minister,
Parteiführer, Gewerkschaftsvorsitzende, Kirchentagspräsidenten schwören mit martialischem
Kriegsgeschrei die Deutschen auf ein Feindbild ein: Shell. Die Kriegskeule, die geschwungen wird,
heißt Boykott. (...) Wie kommen eigentlich demokratisch gewählte Politiker dazu, sich zu Statisten in
einer Inszenierung symbolischer Politik machen zu lassen?" Das dürfe, so E.F. weiter, nicht ohne
Folgen bleibe. Der Kommentator drohend: "Man wird, wenn der Shell-Trubel vorbei ist, über die
Macht gut organisierter Pressure-Groups wie Greenpeace sprechen müssen."
Die Schelte ging an die falsche Adresse. Greenpeace hatte weder die Bonner Politiker zu
Marionetten degradiert noch zum Shell-Boykott aufgerufen. Die Organisation hatte nur getan, was
sie am besten beherrscht: In aller Öffentlichkeit ihre Finger auf eine Wunde gelegt. Zu sprechen
wäre in Sachen Boykott allenfalls über die Rolle einer Organisation, bei der auch die FAZ
umstürzlerische Umtriebe kaum vermuten würde: die Junge Union. Der nordrhein-westfälische
Landesverband der christdemokratischen Jugend war es gewesen, der am 24. Mai, einen Tag nach
der Räumung der Brent Spar, als erste politische Gruppierung in der Bundesrepublik dazu
aufgerufen hatte, die Tankstellen mit der Muschel weiträumig zu umfahren. Auch Greenpeace war
überrascht. Angenehm. Anruf eines Brent Spar-Kampagners bei der Pressestelle der Jungen Union
in Bonn: "Sagen Sie, ist Ihnen klar, auf was Sie sich da gerade einlassen? Ist das ein
ernstzunehmender Boykottaufruf gegen Shell?" Stille. Äh, man muß sich erst einmal schlau machen.
Rückruf der JU nach mehreren Stunden: "Nein, das ist keine beschlossene bundesweite Geschichte,
das ist eindeutig ein Alleingang." Doch der Gedanke, klein vermeldet in einigen überregionalen
Tageszeitungen, keimte. Die JU-Landesverbände Schleswig-Holstein und Brandenburg zogen nach.
Gerüchte kamen auf, die CSU führe ähnliches im Schilde. Fünf Tage später sprach auch Klaus
Lennartz, Bonner SPD-Abgeordneter, von der Möglichkeit, "daß die Verbraucher Shell-Tankstellen
meiden."
Laut der EMNID-Studie, die Greenpeace nach dem ersten Vorstoß der Jungen Union in Auftrag
gegeben hatte, waren schon Ende Mai rund 74 Prozent der Bevölkerung zu einem Boykott bereit.
Nur: Sie wußten es nicht. Viele Autofahrer verzichteten spontan darauf, ihren Tank bei Shell zu
füllen. Doch von einem flächendeckenden Boykott gegen Shell konnte noch Anfang Juni die Rede
nicht sein. Erst nach der Esbjerger Nordseeschutzkonferenz, wo der Widerstand gegen den Multi
politisch absolutiert worden war, und dem fast zeitgleichen Schleppbeginn der Brent Spar
entwickelte sich der spontane Einzelprotest zu einer erstaunlichen "Volksabstimmung an der
Zapfsäule".
Die Entwicklung des Boykott, der Shell am 20. Juni schließlich zur Umkehr zwang, war ein
vielschichtigen Szenario. Die wichtigsten politischen Stationen: CSU-Generalsekretär Bernd
Protzner kündigt am 12. Juni an, er werde in Zukunft seinen Wagen nicht mehr bei Shell betanken.
Die Umweltbeauftragten und die Synodale der nordelbischen Kirche rufen am gleichen Tag zum
Boykott auf. Die Grünen in Hessen und der Verkehrsclub Deutschland (VCD) schließen sich an. Am
13. Juni verlautbart FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle den Entschluß, die Dienstfahrzeuge
der Parteizentrale nicht mehr bei Shell zu betanken. Renate Schmidt vom Präsidium der SPD und
Joschka Fischer verkünden ebenfalls ihren Boykott. Am 14. Juni ist die hessische CDU mit von der
Partie. Der Strumpfhersteller Kunert AG betankt seine Fahrzeugflotte nicht mehr bei Shell. Das
baden-württembergische Umweltministerium in Stuttgart gibt seine Shell-Flottenkarte zurück. Auch
der Auto Club Europa (ACE) gibt bekannt, daß seine Pannenhelfer und Dienstfahrzeuge Shell-
Tankstellen nicht mehr anfahren. 15. Juni, der Tag des Kabinetts. Außenminister Klaus Kinkel ("Die
Meere dürfen nicht als Müllkippe mißbraucht werden") und Ex-Umweltminister Klaus Töpfer fordern
eine Entsorgung an Land. Finanzminister Theo Waigel (CSU) äußert zeitgleich Verständnis für den
Boykott. Die PDS schließt sich an. Auch die Junge Union ruft nun bundesweit zu einem Boykott auf.
Hätten allein diese Politiker, Funktionäre, Firmen und spontanen Verweigerer auf Shell-Sprit
verzichtet, der Boykott und die Verluste für Shell wären lächerlich gewesen. Daß Millionen von
Autofahrern mitzogen und der Protest den Konzern überrollte wie eine Lawine, dafür sorgten weder
die Politiker noch die Greenpeace-Kletterer, sondern die Medien. Sie griffen, mit plötzlich erwachter
Lust auf Parteilichkeit, beherzt ein und machten die Idee zu einem Massenphänomen, den leisen
Aufruf zur lauten Bewegung. Zwischen dem 13. und 20. Juni verging kein Tag, an dem die Position
der Brent Spar und der Stand der Boykott-Bewegung nicht in den TV-Nachrichten aller Sender
vermeldet wurde. Der Spiegel, obwohl mit der Titelstory "Aufstand gegen Shell", zwei Leuten an
Bord der Altair und einem Spiegel-TV-Team selbst schnell auf den fahrenden Zug gesprungen,
süffisant über die Kollegen: "Abend für Abend wurde das rostige Stahlgerippe, fast so hoch wie der
Kölner Dom, in majestätischer Langsamkeit vor den Augen des Fernsehvolkes vorbeigezogen."
Boulevardblätter wie BILD, die Hamburger Morgenpost oder der Kölner Express machten das
Thema zu ihrer ureigenen Kampagne. Sie fragten "Tanken Sie noch bei Shell?" und bezogen
eindeutig Position: "Schämen Sie sich, Mister Shell!". Die Berliner BZ forderte am 14. Juni auf der
Titelseite "Shell muß die Öl-Plattform stoppen!" und führte eine bunte Riege von Fürsprechern ins
Feld: u.a. Harald Juhnke, Eberhard Diepgen, Margarete Schreinemakers, Lotti Huber, Heinrich
Lummer, Regine Hildebrandt und Bärbel Bohley. Der Express, besonders hartgesotten, wenn er
jemand auf dem Kieker hat, fuhr seine Kampagne unter dem Slogan "Kehrt um!" und brachte mit
jeder Ausgabe vorgedruckte Protestbriefe an den Shell-Chef Peter Duncan unter die Leser.
Radiosender stellten bundesweit ihre Programme um. Jede Hörerbefragung lief jetzt unter dem
Thema: Brent Spar.
Die feinsinnigeren unter den deutschen Tageszeitungen beobachteten dagegen mit Verwirrung,
was da plötzlich vor sich ging: "Doch seltsam: CDU/CSU/FPD-PolitikerInnen, die die Grünen glatt
rechts liegen lassen? Autofahrer als wahrhafte Kämpfer für den Erhalt der Lebensgrundlagen?"
spekulierte die Taz und schulmeisterte weiter: "In Deutschland gehört es inzwischen zum guten Ton,
ein bißchen die Umwelt zu schützen." Noch am Tag zuvor hatte das gleiche Blatt dazu aufgerufen,
alte Schrottautos bei Shell-Tankstellen abzugeben, und sich für die Boykottisten erwärmt. War die
Teilnahme am Shell-Boykott etwa eine moderne und praktische Form des Ablaßhandels? Mahnend
an die Adresse der Boykotteure die Stuttgarter Nachrichten: "Nein, Verzicht mußte niemand üben.
Opfer wurden keinem abverlangt. Ein kleiner Umweg zur nächsten Zapfsäule, 500 Meter vielleicht
oder ein bißchen mehr. Dort wird die gleiche Leistung zum gleichen Preis angeboten. Den Boykott
gab es zum Nulltarif."
Der Vorwurf der Heuchelei und das schlechte Gewissen mancher Boykotteure half Shell indess
wenig weiter. Dort liefen die Telefone heiß. Im Hamburger Hauptquartier des Konzerns wurden
zusätzliche Sicherheitskräfte abgestellt; jedes eingehende Paket durchleuchtet. Die Angst vor einem
Anschlag war nicht unbegründet. In der Nacht vom 15. auf den 16. Juni wurde eine Shell-Tankstelle
in Mörfelden-Walldorf bei Frankfurt beschossen. Die sechs Projektile trafen die Zapfsäulen, das
Schaufenster und ein Werbeplakat. Eine Nacht später, am 17. Juni, stand im Hamburger Stadtteil
Volksdorf eine Shell-Station in Flammen. Unbekannte Täter hatten Feuer gelegt, und Parolen wie
"Keine Versenkung von Brent Spar" und "Shell to Hell" gesprüht. Der Feuerwehr gelang es mit
Mühe, den Brand zu löschen und das Übergreifen auf die unterirdischen Tanks zu verhindern.
Konsequenz: Die Polizei fuhr nun verstärkten Objektschutz bei den 43 Hamburger Shell-Tankstellen.
Die Volksbewegung gegen den Shellschen Starrsinn drohte sinnlos zu eskalieren und wie die Brent
Spar selbst aus dem Ruder zu laufen.
Am Freitagmorgen, sechs Stunden nach dem Hamburger Brandanschlag, klingelte bei Rainer
Winzenried, dem Pressechef der Deutschen Shell, das Telefon. In der Leitung war ein Brent Spar-
Kampagner. Er erklärte Winzenried, daß in wenigen Minuten eine Greenpeace-Erklärung an die
Presseagentur dpa gehen würde und las ihm die zentralen Passagen vor: "Greenpeace appelliert an
die Öffentlichkeit, bei Boykott-Aktionen und Protesten auf jegliche Art von Gewalt zu verzichten. Wir
haben für kriminelle und gewalttätige Handlungen nicht das geringste Verständnis, sagt Thilo Bode,
Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland." Doch die Boykott-Welle sei inzwischen emotional so
hochgeschwappt, so der Greenpeacer, daß selbst ein Abzug der Altair den Zorn auf Shell nicht mehr
bremsen könne. Nur noch die Shell selbst sei jetzt in der Lage, die Dinge zu ordnen, indem sie die
Brent Spar stoppe. Der Greenpeacer bat Winzenried, auch in den Shell-Stellungnahmen die Lage
nicht weiter anzuheizen, und schlug vor, sich gemeinsam zu äußern. Winzenried stimmte ohne
Zögern zu. Am Abend des gleichen Tages waren Thilo Bode und Klaus-Peter Johanssen in eine
Talkshow des Bayrischen Rundfunks geladen. Sie stritten sich in der Sache, aber richteten einen
gemeinsamen Appell an die Öffentlichkeit, ruhig zu bleiben und wegen einer Plattform nicht die
Nerven zu verlieren.
Eine Stunde vor der Sendung saß Roland Hipp in Hamburg an seinem Schreibtisch. Er fragte sich,
ob Greenpeace die gesamte Brent Spar-Kampagne nicht sofort abblasen und einstellen mußte. Vor
ihm lag eine dpa-Meldung, wonach in Belgien, kurz hinter der deutschen Grenze, eine
Autobahntankstelle in die Luft geflogen war. Die erste Meldung sprach von mehreren Toten. Erst
nach einer halben Stunde kamen weitere Informationen. Es war ein Unfall, und keine Shell-
Tankstelle.
Die Tankstellenpächter litten schwer unter dem Boykott. Die Deutsche Shell, mit rund 13 Prozent
Marktanteil nach Aral (20 Prozent) zweitstärkster Anbieter im bundesdeutschen Tankstellennetz,
beziffert die zwischenzeitlichen Umsatzeinbußen vage mit "20 bis 30 Prozent". Doch einzelne
Pächter wurden weitaus härter getroffen. Mit dem Evangelischen Kirchentag, auf dem sich auch sein
Präsident Ernst Benda für den Boykott ausgesprochen hatte, war die ganze Wucht der Bewegung
entfacht worden. Die Christen beließen es nicht bei stillen Gebeten für die Besetzer. An den
Hamburger Shell-Tankstellen sah sich jeder Motorist, der sich an die Zapfsäule wagte, von
demonstrierenden Kirchtagsbesuchern oder Schülergruppen umringt. "Unser Umsatz ist um 70
Prozent zurückgegangen", bestätigte der Tankwart an der Station am Hamburger Bahnhof Dammtor.
Auch in Berlin waren die Shell-Stationen praktisch tot: "Die Leute kommen rein, kaufen Zigaretten,
und fragen, wo die nächste Tankstelle ist." In Freiburg sagte Pächter Berthold Schott: "Ich rechne mit
rund 50 Prozent Minus." Schott nahm`s relativ gelassen: "Wenn die Leute von Greenpeace nochmal
kommen, mach ich ein Grillfest. Die haben doch recht, und ich kann`s nicht ändern."
Das konnte nur die Deutsche Shell. Die Hamburger Krisenmanager mühten sich hinter den
Kulissen bereits redlich, der Konzernspitze das Ausmaß der Katastrophe zu schildern und Shell UK
zum Einlenken zu bewegen. Kein Konzern hatte jemals in so kurzer Zeit soviel an Glaubwürdigkeit
verloren. Die Falle, die man sich mit der gefährlichen "Verantwortungs"-Werbekampagne selbst
gestellt hatte, war durch die britische Plattform zum "PR-Gau" geworden. Die Brent Spar hatte einen
zentralen Nerv in der Bevölkerung getroffen, und die Boykotteure spürten, daß der Koloss
verwundbar war. Am Donnerstag, den 15. Juni, schienen Peter Duncans Meldungen bei der Zentrale
auf Gehör gestoßen zu sein; seine Geheimdiplomatie Erfolge zu zeigen. Der Direktor der
niederländischen Shell, Jan Slechte, in einem frühmorgendlichen Interview: "Falls sich die britische
Regierung zu einer Überprüfung ihrer Entscheidung entschließt, wäre Shell bereit, die laufende
Aktion zu stoppen und neu zu verhandeln." Das sah nach Kapitulation, nach der ersehnten Weißen
Fahne aus; damit schien die Sache gelaufen. Die Medien vermeldeten: "Konzern lenkt ein!"
Irrtum. Am gleichen Abend stellte Chris Fay für die Shell Uk verbissen klar: "Alles weiter wie gehabt.
Es wird versenkt." Doch inzwischen waren auch die Medien in Londons Fleetstreet aufgewacht. In
der Woche, als in Deutschland der Zorn hochkochte, wurden die ersten kritischen Artikel lanciert, die
den Boykott nicht mehr allein als überzogene "German Angst" oder pure Umwelthysterie abtaten. In
Dänemark und den Niederlanden hatten sich weitere Politiker und Kabinettsmitglieder,
Umweltminister und Wirtschaftsminister, ebenfalls zu Boykotteuren erklärt. Beeindruckt waren die
Briten vor allem, nachdem sie die Ausweitung des deutschen Protestes nicht nur nach Holland,
Belgien und Dänemark, sondern vor die eigene Haustür vermerkten. Am 16. Juni, als draußen auf
dem Nordatlantik der Nervenkrieg tobte und der Hubschrauber die zwei Kletterer auf der Brent Spar
absetzte, standen in sieben englischen Großstädten über 300 Greenpeacer und Greenpeacerinnen
an 40 Shell-Tankstellen. Sie informierten die Autofahrer, überreichten Flugblätter und
Protestpostkarten. Und: Sie riefen im Namen von Greenpeace UK zum Boykott auf, was offenbar auf
fruchtbaren Boden fiel. Erste schnelle Umfragen in London ergaben, daß auch die englischen Shell-
Tankstellen Umsatzeinbußen von 20 bis 30 Prozent erlitten hatten. Das war plötzlich eine Story nicht
nur für die politischen Kommentatoren oder Umweltreporter, sondern für die Skandal-Presse. Im
deutschen Brent Spar-Aktionsraum mehrten sich die Anrufe von Londoner Journalisten, die Brent
Spar nicht einmal buchstabieren konnten und von der Nordsee-Problematik keine Ahnung hatten.
Sie wollten wissen, wie die deutschen Zeitungen in den Boykott eingestiegen waren. Wichtigste
Frage dabei: Welche Leser-Aktionen waren am erfolgreichsten?
Das konnte nur eines bedeuten: Die Stimmung schlug um. Die absolut blutrünstigen Londoner
Boulevardblätter, wie die Sun oder der Daily Mirror, hatten nun Lunte gerochen. Der ungeliebte
Premierminister John Major war bisher bei allen Gelegenheiten als energischster Verteidiger und
Fürsprecher Shells aufgetreten. Jetzt lag der Konzern auf dem Kontinent am Boden; und
offensichtlich war nun die Gelegenheit da, ihm und damit auch dem Premier billig in die Parade zu
fahren. Die Brent Spar wurde zu einem weiteren Akt in dem seltsamen Schauspiel, mit dem die
Insulaner in masochistischer Lust am Königsmord ihre Innenpolitik zelebrieren. Selbst der seriösere
Observer titelte in seiner Wochenendausgabe vom 18. Juni plötzlich "Give Shell Hell" und führte aus:
"Brent Spar muß zurück an Land; ein Präzedenzfall geschaffen werden, daß der Verursacher auch
wirklich zahlt. Shell wird nur zu Sinnen kommen, wenn es an den Geldbeutel geht. Schließen Sie
sich dem Boykott an."
John Major, derlei Ungemach gewohnt, schlug sich wacker und nahm sich, um Stärke zu beweisen,
zunächst den Kanzler vor. Helmut Kohl hatte die Brent Spar zum Thema auf dem G7-
Wirtschaftsgipfeltreffen im kanadischen Halifax gemacht und vollmundig angekündigt, mit Major "von
Mann zu Mann" reden zu wollen. Die Versenkung, die John Major da guthieß, müsse nicht sein.
Helmut Kohl: "Wenn ich eine Firma zu leiten hätte, würde ich nicht ein Verhalten an den Tag legen,
das mein Geschäft negativ beeinflußt." Major sagte Kohl in Halifax, was er davor hielt, und gab dem
Deutschen eine deutliche Abfuhr. Kohl kleinlauter nach dem Gespräch: "Wir haben darüber
gesprochen und sind uns nicht einig. So einfach ist das."
Doch so einfach war es nicht. Allein die Tatsache, daß eine rostige Shell-Plattform zu einem Thema
auf dem Wirtschaftsgipfel der sieben wichtigsten Industrienationen geworden war und plötzlich auch
die Titelseiten der Times und der Washington Post bestimmte, bewirkte einen politischen
Umschwung. Die Front der Ignoranz in Großbritannien weichte weiter auf. Die Opposition im
britischen Unterhaus stürzte sich auf die Regierung und verlangte eine aktuelle Stunde im
Parlament. Energieminister Tim Eggar kam unter Beschuß; seriöse Wirtschafts-Journalisten
begannen zu recherchieren, wie es zu der Versenkungsentscheidung gekommen war. Die britischen
Fernseh-Kanäle waren plötzlich voll mit den Aufnahmen, die sie bisher abgelehnt hatten. Die Brent
Spar war nun ein brandheißes Thema; Chris Fay ein gefragter Interview-Partner, der sich
unbequemen Fragen stellen mußte. Spätestens am dritten Juni-Wochenende war auch Shell Uk klar,
daß mit der Versenkung der Brent Spar die Affäre nicht vom Tisch sein würde. Vor allem, daß sich
Wirtschaftszeitungen wie das Wall Street Journal oder die Financial Times der Brent Spar
angenommen hatten, sandte ein klares Signal aus: Hier ging es nicht mehr um eine Plattform,
sondern um den guten Ruf der Industrie, den Shell zu verspielen drohte.
Der massive Boykott der Verbraucher hatte Shell zwar allein in Deutschland Verluste in
zweistelliger Millionenhöhe beschert, aber keinesfalls an den Rand des Ruins getrieben. Portokasse.
Auch daß die 30 Millionen Mark für die Werbekampagne in den Wind geschrieben waren, steckte
der Konzern bei einem Jahresgewinn von knapp 6,3 Milliarden US-Dollar (1994) noch locker weg.
Alarmierend war dagegen die zu erwartende Langzeitwirkung: Nach Aussage eines
Branchenkenners entsteht aus der Bereitschaft des Kunden, sich an der "richtigen" Tankstelle
langfristig einzunisten, eine starke Markenbindung. Oder umgekehrt: Der Stammkunde, der Shell
boykottiert und damit von der "falschen" Marke weggeht, kommt nicht so schnell wieder. Analysen,
die dem Shell-Konzern vorlagen, zeichneten dementsprechend ein düsteres Bild. Der Konzern
konnte sicher sein, nach der Versenkung und dem hochwahrscheinlichen Ende des spontanen
Massenboykotts die große Menge der Laufkundschaft wiederzugewinnen. Gleichwohl lief er aber
Gefahr, kritische Prozentpunkte und Marktanteile auf Dauer zu verlieren. Die Verve und Intensität,
mit der die Brent Spar in den Tagen vor dem 20. Juni in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, brannten
Shells kühl geplanten Umweltfrevel tief ins Gedächtnis der Kunden ein. Bei einer Versenkung wäre
die Plattform über Jahre hinweg zu einem Menetekel geworden, gegen das Bhopal oder das Esso-
Desaster mit der Exxon Valdez wie kleinere Betriebsunfälle verblaßt wären. Fazit: Bei einer
Versenkung war der Ruf des Weltkonzerns auf Jahre hinaus ruiniert; der Langzeitverlust weit, weit
höher zu beziffern als die 85 Millionen Mark, die Shell Expro bei der Versenkung eingespart hätte.
Der Boykott gegen Shell war so schnell zu einer kreuzzugartigen Massenbewegung geworden, so
schnell und schlagartig erfolgreich, daß den Analytikern und gewerblichen Bewegungsmeldern kaum
eine Chance blieb, zeitgleich zu räsonieren. Dafür fielen die Wertungsnoten nach der Kür umso
höher aus. Der Soziologe Ulrich Beck in der Berliner Wochenpost: "Das politische System hat in
Umweltfragen seine Legitimation verbraucht. Industrie, Politik, Verwaltung treffen Absprachen mit
dem Effekt, daß die Meere, die Arten sterben. Nicht Greenpeace erzeugt eine Krise des politischen
Systems, sondern Greenpeace macht eine latente Legitimationskrise des politschen Systems
sichtbar, die in manchen durchaus Parallelen zu dem hat, was wir in der DDR erlebten." War die
Brent Spar die Berliner Mauer der Industriepolitik? Beck weiter über die Boykotteure: "Es war ein
Bündnis der Nicht-Bündnisfähigen, der sich ausschließenden Wahrheiten, wenn man daran denkt,
daß Autofahrer gegen die Benzinindustrie mobil machten, daß ein außerparlamentarischer Akteur
wie Greenpeace sich letztlich verbündet hat mit der parlamentarischen Gewalt, nämlich Kohl. Es war
ein völliger Wechsel der Szenarien: Die Regierungen saßen auf der Zuschauerbank, während nicht-
authorisierte Akteure das Geschehen bestimmten."
Die gleiche Kerbe traf Konrad Adam im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen: "Die Akteure im
Drama vor der Küste Schottlands waren nicht mehr Minister oder Parteivorsitzende, sondern zwei
Multis, von denen der eine mit Öl, der andere mit Emotionen handelt. Beide sind professionell
geführt und straff organisiert, ziemlich wohlhabend, geschäftserfahren und hart in der Wahl ihrer
Mittel. Die dritte Hauptrolle spielten die gleichfalls überstaatlich agierenden Medien. Sie stellten den
Resonanzboden und die Projektionsflächen, auf denen alles, was Shell und Greenpeace taten, rund
um die Welt verbreitet wurde. Diese drei lieferten die Argumente, erzeugten den Druck und trafen
letztlich auch die Entscheidungen. Die sogenannte große Politik kam erst viel später. Und als sie
kam, spielte sie eine kleine und ziemlich lächerliche Rolle, die des Lakaien oder Clowns."
Die Folgen sind nach Einschätzung des Psychoanalytikers Horst-Eberhard Richter allerdings nur
ermutigend. Er schreibt über die Bereitschaft von Millionen, Shell zu boykottieren: "Die Politik kann
nicht mehr scheinheilig grüne Begriffe besetzen und hinter dieser Tarnung ungestraft industriehörig
Risikotechnologien fördern. Die Industrie selbst steht auf dem ökologischen Prüfstand und kann -
Shell hat es bitter erfahren - auch mit den gewieftesten und aufwendigsten PR-Kampagnen
vorhandene Unglaubwürdigkeit nicht länger verdecken. Überdies hat der Boykott sich als eine legale
friedliche Waffe von ungeheurer Schlagkraft erwiesen."
Kein Wunder also, daß E.F., Redakteur der konservativen FAZ, überlaunig folgerte: "Man wird über
die Macht von Greenpeace reden müssen." Wird man auch über die neu erwachte Macht der
Verbraucher, über das Erwachen aus der Ohnmacht, über das daraus erwachsene neue
Selbstbewußtsein reden müssen? Wie wird man diese aus dem tiefen Schlummer erwachten Kräfte
wieder einschränken wollen?
Für Thilo Bode ist es bezeichnend, daß man erst darüber reden will, nachdem Greenpeace vor
laufenden Kameras eine Plattform besetzte und die Verbraucher in Folge einen Weltkonzern in die
Knie zwangen: "Solange der Bürger brav seine Rollen als Steuerzahler, Urnengänger, und stummer
deutscher Michel spielt, und die Politik mit der Industrie die Fäden in der Hand hält, ist alles bestens
geregelt. Da stört auch Greenpeace als Überdruckventil nicht weiter. Doch wenn sich die Beiden
verbündeten, und gemeinsam eine politische Kampagne gegen den drittgrößten Konzern der Welt
gewinnen, dann kommen erst die Erkenntnis "Mein Gott, die haben ja Macht!" und dann der
Aufschrei "Gefahr, Anarchie!". Und eben die entscheidende Frage: Wer, wenn nicht der Bürger, hat
in diesem Land die Legitimation, Boykott zu rufen?"
9. Der zwanzigste Juni: Shell
Noch sechsunddreißig Schleppstunden bis zur Ankunft der Brent Spar im Versenkungsgebiet
West Feni Ridge; und auf den Tag genau zehn Wochen, seit Greenpeace die Besetzung in
Amsterdam beschlossen hat - auf dem Flugplatz von Stornoway, der Hauptstadt der Äußeren
Hebriden-Insel Lewis, fliegen an diesem 20. Juni zwei Hubschrauber der britischen
Chartergesellschaft Bristow Ltd. ein. Die Zivilmaschinen, eine Bell 212 und ein Tiger, landen kurz
nach 11 Uhr auf einem abgeschirmten Teil des Flughafens, der normalerweise der königlichen
britischen Luftwaffe RAF und der Küstenwache vorbehalten ist. Die rund ein Dutzend Passagiere,
die den Maschinen entsteigen, tragen orange und olivgrüne Overalls und verschwinden in einem
abseits gelegenen Hangar. "Irgendwas sehr Außergewöhnliches geht da vor sich. Seit dem Besuch
der königlichen Familie in Stornoway habe ich solche Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr erlebt,"
bemerkt ein Flughafenarbeiter.
Auch über dem Ärmelkanal herrscht an diesem Dienstag morgen außergewöhnlicher Reiseverkehr.
Ein firmeneigener Jet der Shell ist auf dem Weg nach Den Haag. An Bord der Maschine: Chris Fay,
der Vorsitzende von Shell Uk. Der Brite ist, nachdem er in den vergangenen Tagen fast täglich mit
dem Konzern-Chef Cornelius Herkströter in Kontakt gestanden hat, nun von der obersten Leitung
der Royal Dutch/Shell-Gruppe, dem Committee of Managing Directors (CMD), einbestellt. Chris Fay
soll zu dem einzigen Punkt auf der Tagesordnung sprechen: Brent Spar.
Just zu Fays Flugstunde sind weitere Ungereimtheiten in der Sache aufgetaucht. Greenpeace hat
in London und Hamburg zeitgleich einen hausinternen Vermerk des Fischerei-Labors des britischen
Ministeriums für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung veröffentlicht. In dem zweiseitigen
Schreiben vom 6. Dezember 1993 wird auf die Anfrage eines AURIS-Mitarbeiters Bezug genommen,
der sich bei dem Labor nach den Entsorgungsbestimmungen für 4.500 Liter der Chemikalie Glyoxal
erkundigt hat. Das Glyoxal ist an Bord der Brent Spar verwendet worden, um insgesamt 50.000
Kubikmeter kontaminiertes Öl zu binden. Der Vermerk ist über den Schreibtisch des Laborleiters
gegangen, und der hat als Antwort an den Verfasser handschriftlich vermerkt: "Danke für die Notiz.
Der Abfall kann grundsätzlich nicht auf See entsorgt werden. Die einzige Option ist die Behandlung
an Land. Jegliche Freisetzung von Abwässern braucht die Zustimmung der RPB."
Der Sachverhalt stellt die Shell-Unterlagen und die Gutachten für die Versenkungsgenehmigung in
Frage und erschüttert die ohnehin belastete Glaubwürdigkeit des Konzerns noch weiter. Die besagte
RPB, die Fachbehörde River Purification Board, ist weder in das Brent Spar-
Genehmigungsverfahren einbezogen noch wegen des angefragten Glyoxals kontaktiert worden.
Warum überhaupt erkundigt sich ein von Shell beauftragter AURIS-Mitarbeiter Ende 1993 nach den
Vorschriften für 4.500 Liter giftiges Glyoxal, exakt jener Menge also, die wenige Wochen später im
fertigen AURIS-Report als längst entsorgt gelten? Im Gutachten von Rudall Blanchard Associates
(RBA) wird in Absatz 3.2.6. auf AURIS Bezug genommen und konstatiert: "Es wird davon
ausgegangen, daß das Glyoxal eine chemische Reaktion eingegangen ist, und daß alle
Reaktionsstoffe während der Außerbetriebstellungsoperation im Jahr 1991 entfernt wurden (AURIS,
1994)."
Wenn das Glyoxal bzw. seine Reaktionstoffe während des Shellschen "Großreinemachens" im
Spätjahr 1991 tatsächlich entfernt wurden, gibt es im Dezember 1993 keinen schlüssigen Grund
mehr für die AURIS-Nachfrage. Oder sind die 4.500 Liter Glyoxal noch an Bord der Brent Spar? Sind
sie sowohl von AURIS als auch im RBA-Gutachten einfach unter den Tisch gekehrt worden, weil die
Chemikalien nach britischem Recht an Land zu entsorgender Sondermüll waren? Klar sind an dem
Rätsel nur drei Dinge: Keiner außer Shell weiß, was an Bord war. Mit Glyoxal an Bord wäre die
Versenkungsgenehmigung auf der Basis lückenhafter Shell-Angaben erteilt worden. Und: Mit
Glyoxal auf der Brent Spar muß die gesamte Plattform zurück an Land, weil der Sondermüll auf See
nicht vom Rest der Schadstoffe an Bord getrennt und isoliert behandelt werden kann.
Der aufgetauchte Glyoxal-Vermerk ist nicht die einzige schlechte Nachricht, die Chris Fay vor der
CMD-Sitzung erreicht. Auch auf See sind die Dinge noch komplizierter geworden. In der Nacht ist ein
zweites Greenpeace-Schiff, die Solo, zum Schleppkonvoi gestoßen; der Bordhubschrauber hat bei
Sonnenaufgang zwei weitere Kletterer auf der Brent Spar abgesetzt. Die nunmehr vier Besetzer
haben angekündigt, bis zum bitteren Ende auf der Plattform auszuharren. Der englische
Kampagnendirektor der Umweltschützer, Chris Rose, hat am Morgen pünktlich vor Fays Abflug in
den Frühnachrichten der BBC erklärt: "Wir werden unsere Leute nicht zurückziehen. Es liegt ganz in
der Hand von Shell, sie zu räumen, oder die Versenkung abzublasen."
Das CMD-Treffen am diesem 20. Juni, im Sitzungssaal ganz oben unter dem Dach des Royal
Dutch/Shell-Hauptquartiers in Den Haag, beginnt um 10 Uhr und ist eine der turbulentesten
Veranstaltungen, die in den heiligen Hallen bisher stattgefunden haben. Das Gremium ist nicht
vollzählig: Die Amerikaner von der Shell Petroleum Inc. sind nicht da. Das Rumpf-Kabinett, die Briten
John Jennings und Mark Moody-Stuart, der Holländer Martin van der Bergh sowie der CMD-
Vorsitzende Cornelius Herkströter, haben neben Fay auch den Niederländer Jan Slechte und Peter
Duncan vorgeladen. Es geht von Anfang an hoch her; Streit liegt in der Luft. Herkströter hat sich in
den Wirren der vergangenen Woche seltsam zurückgehalten; von Führungsstärke an der Shell-
Spitze war in der Öffentlichkeit nichts angekommen. Die eigentliche Auseinandersetzung wird eine
Etage tiefer, auf nationaler Ebene, ausgefochten. Während Fay weiter an seinen Versenkungsplänen
festhalten will, fordert Duncan seit Tagen, die Brent Spar zu stoppen. Im Konzern tobt ein Krieg
zwischen zwei verfeindeten Töchtern und Kulturen.
Jan Slechte, Direktor der Shell Niederlande, schildert die Stimmung in Holland und outet sich, nach
seinem vorsichtigen Verhandlungsangebot in der vergangene Woche, nun auch offen als
Versenkungs-Gegner. Slechte vermeldet, daß das niederländische Königshaus, mit rund zwei
Prozent an Royal Dutch beteiligt, den Konzern aufgefordert hat, dem Hochsee-Drama ein Ende zu
bereiten. Die Amsterdamer Zeitungen sind voll mit Brent Spar; Shell Niederlande droht, in den
deutschen Strudel hineingerissen zu werden.
Peter Duncan berichtet, wie regelmäßig in den Tagen zuvor, aus Deutschland. Die Plattform, die
dem Konzern von den Briten ohne Vorwarnung untergeschoben wurde, ist inzwischen das größte
Desaster in über hundert Jahren Firmengeschichte. Eine katastrophale politische Fehleinschätzung
der Shell-Leute auf der Insel, auf die noch katastrophaleres Krisenmangement im ganzen Konzern
folgte. Duncan hat es am eigenen Leib erfahren müssen, als Shell UK ihn am vergangenen Freitag
ins offene Messer laufen ließ. Duncan hatte auf einer Pressekonferenz zur Brent Spar einen Brief
der Shell UK verlesen, in dem es sinngemäß hieß, man nütze die verbleibende Zeit, um den Shell-
Standpunkt in der Öffentlichkeit zu verdeutlichen. Peter Duncan interpretierte dies - bewußt oder
unbewußt, sei dahingestellt - vor laufenden Kameras als Möglichkeit, die Versenkung zumindest zu
verschieben. Zwanzig Minuten später kam über die Nachrichtenagenturen nicht nur das Dementie
von Shell UK, sondern auch die Einschätzung der Journalisten, daß der Konzern offenbar nicht mehr
wisse, was er tue. Greenpeace hatte den Vorgang genüßlich kommentieren können: "Wir waren
soeben Zeugen, wie bei der Weltmacht Shell die Entscheidungs- und Kommunikationsstrukturen
vollständig kollabiert sind."
Der Neuseeländer ist nach wie vor überzeugt, daß die von Shell UK vorgeschlagene Versenkung
der Brent Spar die ökologischste Lösung des Problems darstellt. Doch Duncan hat in den
vergangenen drei Wochen in Deutschland auch lernen müssen, daß ein Konzern in eine Sackgasse
läuft, wenn er seine Umwelttechniker die Umweltpolitik des Unternehmens gestalten läßt. Duncan
hat sich in einer Wertediskussion verheddert, in der tiefschürfende massensoziologische,
philosphische und staatstheoretische Fragen aufgeworfen werden, während der gesunde
Menschenverstand millionenfach die praktische Antwort an der Tankstelle gibt. Versenkung oder
Rückzug, darum geht es längst nicht mehr, denn beide Varianten sind nach Duncan vorliegenden
Analysen gleich bitter für den Konzern. Wenn die Brent Spar im Nordatlantik versinkt, ist damit das
Wertesymbol längst nicht verschwunden und auf unbestimmbare Zeit mit dem Namen Shell
verbunden. Das wird man in den Bilanzen lesen können.
Wenn der Konzern allerdings nachgibt und an Land entsorgt, muß er nicht nur die billige
Schmähung abwettern, "daß ein Konzern vor einer professionellen Spendensammlertruppe in die
Knie gegangen" ist. Die Royal Dutch/Shell-Gruppe setzt sich auch dem Vorwurf aus, aus "der
Schwäche heraus, die eigene Haut zu retten" etwas verspielt zu haben, das nicht nur Shell wert und
teuer ist: Planungssicherheit. Wenn Shell seine Schlepper zurückpfeift, haben kühle Kosten-Nutzen-
Analysen, wissenschaftliche Beweisführung, Genehmigungsverfahren, abgestimmte Behörden-
Richtlinien und eingespielte Entscheidungswege plötzlich und entscheidend an Stellenwert verloren.
Kein Mineralölkonzern, keine Industriebranche kann sich mehr sicher sein, daß ein langfristiges,
kostenintensives Großprojekt am Ende nicht doch noch scheitert. Scheitert an Größen, die
betriebswirtschaftlich und politisch bisher nicht einkalkuliert wurden: die öffentliche Meinung und die
Macht des Verbrauchers.
Duncan klagt dennoch den Rückzug ein. Er ist ein Shell-Mann, und denkt in Konzern-Kategorien:
Zahlen, Umsatz, Sicherheit. Wenn der Konzern jetzt die Notbremse zieht und der Boykott damit
ermattet, kann endlich Shell-like abgerechnet werden. Umsatzrückgänge an Tankstellen verteilt über
zwei Wochen, Entschädigungszahlungen von zwei bis drei Millionen Mark an die Pächter, neue PR-
und Werbekampagne zum geeigneten Zeitpunkt plus ein paar Prozentpunkte Verlust wegen
mittelfristiger Rufschädigung ergeben eine relativ glatte Summe, die abgeglichen wird mit dem zu
erwartenden Gewinn aus dem "Einsicht kommt nie zu spät"-Bonus. Der Neuaufbau der ruinierten
Reputation wird zwar teuer, ist aber, da die Preise von PR-Agenturen und Werbern bekannt sind,
ebenfalls plan- und kalkulierbar.
Duncan hat in den vergangenen Tagen nicht nur mit Thilo Bode bei Greenpeace telefoniert,
sondern auch die politische Lage genauestens sondiert. Die Politiker in Bonn haben sich so offen auf
die Seite der Boykotteure geschlagen, daß es kein Zurück gibt. Glaubt man den weder bestätigten
noch dementierten Berichten der englischen Daily Mail, hat Duncan sich am Wochenende Rat von
höchster Stelle geholt. Kanzler Kohl, so das Blatt, habe ihn nach den Rückkehr vom
Wirtschaftsgipfel zu einem persönlichen Treffen empfangen. Der Kanzler habe ihm erklärt, daß er
nach der Abfuhr, die Major ihm in Halifax erteilt hat, keine Veranlassung sehe, dem britischen
Premier und Shell zur Hilfe zu eilen. Er habe sich eindeutig und unwiderruflich positioniert. Die Briten
sollten die Versenkung absagen; Duncan solle weiter Druck auf Fay und Herkströter machen.
Duncan hat auch mit mehreren Shell-Chefs auf dem Kontinent ausführlich gesprochen. Seine
Analyse: Die Lage ist inzwischen unhaltbar ist, die Entwicklung der Anti-Shell-Bewegung nach einer
Versenkung nicht abschätzbar. Niemand kann bestimmen, wie weit und heftig der Boykott noch
Kreise zu ziehen vermag. Doch es ist hochwahrscheinlich, daß sich die Wut auf den Konzern in die
Rache für die versenkte Brent Spar verwandelt. Wohin das ausufern könnte, haben die sinnlosen
und kriminellen Anschläge auf Shell-Tankstellen gezeigt. Zu erwartende Verluste also bei der
Versenkung: unwägbar, nicht in Planungs- und Bilanzzahlen auszudrücken. Die europäischen Shell-
Chefs scheinen Duncans kühle Einschätzung zu teilen.
Deshalb klagt der Aufsichtsrats-Vorsitzende der Deutschen Shell in der CMD-Runde nicht nur eine
bittere Niederlage ein, sondern fordert auch die Palastrevolution: Entgegen aller Shell-Tradition soll
eine Tochtergesellschaft sich diesmal dem Willen anderer Töchter beugen. Shell UK soll die Brent
Spar stoppen. Sofort.
Cornelius Herkströter, der oberste Konzern-Chef, hat seinen Urlaub, in den er vor 14 Tagen
aufgebrochen war, nach der Hälfte abgebrochen, und hat die Affäre inzwischen selbst in die Hand
genommen. Mit seinen Urlaubspläne mitten im heftigsten Brent Spar-Gewitter hat er sich sowohl
intern als auch in der Öffentlichkeit deftigste Kritiken eingefangen; manche vermuten, daß sein Stuhl
wackelt. Diesen Eindruck gilt es für Herkströter zu korrigieren; er muß heute nicht nur zwischen den
verfeindeten englischen und deutschen Positionen vermitteln, sondern auch eine glasklare
Entscheidung treffen. Nach Duncan hat Fay hat das Wort.
Der Ruf vor das erlauchte Gremium war für Chris Fay kein einfacher Gang. Er hat den Konzern-
Oberen einiges zu erklären, und vieles zu rechtfertigen. Auf dem Kontinent ist die Shell ein Pariah,
und seit dem ersten Protest-Wochenende der britischen Greenpeacer sind auch an den Tankstellen
auf der Insel die ersten finanziellen Einbußen zu spüren. Eilig in Auftrag gegebene
Kundenbefragungen haben ergeben, daß auch die britische Boykottbereitschaft wächst. Die Presse
hat sich auf Shell und Major eingeschossen: "Mord auf hoher See - wie das Meeresleben
ausgelöscht wird" titelt das Massenblatt Daily Mirror und der liberale Independent fragt: "Bomben in
Deutschland, Proteste an Tankstellen in Großbritannien... welchen Preis ist Shell bereit, für das
Brent Spar-Fiasko zu zahlen?"
Alles scheint sich gegen Shell UK verschworen zu haben, doch Fay ist nicht gewillt, die Brent Spar
von sich aus zu stoppen. Shell UK glaubt sich im Recht, hat die Versenkung mit den britischen
Behörden abgestimmt, und ist sich der vollen Unterstützung der Regierung sicher. Energieminister
Tim Eggar hat mit Verweis auf die Kostenseite noch einmal vor einem Rückzug gewarnt; die Sache
durchzuziehen, ist von beiderlei Interesse. John Major verteidigte die angegriffene Shell persönlich
gegen Helmut Kohl und hat die Plattform damit ebenfalls zur Chefsache gemacht. Shell UK steht bei
ihm im Wort; Fay kann dem Premier jetzt nicht in den Rücken fallen oder sich gar vorwerfen lassen
müssen, an Majors Demontage mitgewirkt zu haben. Jetzt ein Kniefall vor Greenpeace, vor den
hysterischen Deutschen und vor dem grünen Opportunismus der Politiker auf dem Kontinent: ein
Ding der schieren Unmöglichkeit.
Fay und die britischen Regierung sind stattdessen auf eine alternative Lösung des Problems
verfallen: die militärische. "Während wir hier tagen," erfahren die Anwesenden, "stehen in Stornoway
auf den Äußeren Hebriden zwei Hubschrauber bereit." Wenn sie grünes Licht bekommen, fliegen sie
los und räumen die Brent Spar.
Die Kommandos, die in einem Hangar auf den Einsatzbefehl warten, bestehen aus Shell-
Sicherheitsleuten und zusätzlichen Räumkräften, deren Identität nicht bekannt werden soll: Es sind
handverlesenen Elitesoldaten der Marine, auch bekannt unter dem Namen Special Boat Service
(SBS). Die Eingreiftruppe, vergleichbar mit der deutschen GSG 9, war während der Ölkrise in den
siebziger Jahren ins Leben gerufen worden, als Großbritannien damit rechnete, Terroristen auf
Nordseeplattformen bekämpfen zu müssen. Der Einsatz der Royal Navy-Terrorexperten ist sowohl
mit Premier Major als auch mit dem Verteidigungsministerium abgestimmt und von langer Hand
vorbereitet. Die SBS hat Videoaufnahmen der Brent Spar ausführlich studiert, das Terrain in
Stornoway observiert und hat vor dem Flug auf die Hebriden auf einer Plattform im Brent-Feld den
Angriff trainiert. Ihr Plan sieht vor, sich aus den Helikoptern auf die Plattform abzuseilen und die
Besetzer außer Gefecht zu setzen. Die Luftlandung soll von einer Aufklärungsmaschine der
königlichen Luftwaffe RAF überwacht werden. Der vierstrahlige Jet vom Typ Nimrod kreist bereits
über dem Brent Spar-Schleppkonvoi.
Diese Räumung, so Chris Fay, sei für Shell UK die richtige Alternative zu den Rückzugsphantasien
der Shells vom Kontinent.
Wessen Entscheidung es schließlich ist, die Brent Spar zu stoppen, bleibt offen. Ob Herkströter
sich das Hausrecht bei Shell UK nimmt, Fay entmachtet, und für ihn entscheidet: möglich. Ob
Duncans Zahlen und Verlustprognosen Herkströter in seinem Sinne zum Handeln zwingt, oder ob
die CMD-Runde Fay doch noch in letzter Minute überzeugt und einen Konsens findet; Beides kann
nur vermutet werden. Der Spiegel in seiner Einschätzung: "Am Ende votiert das Gremium in alter
Shell-Tradition doch noch einstimmig für ein Ende des Dramas. Die Briten hatten nach Stunden
erbitterter Redeschlacht keine andere Wahl, als zuzustimmen: Brent Spar, das Stahlgerüst mit der
Ölschlacke im Bauch, muß nun an Land entsorgt werden."
Hektische Telefonate beginnen. Auf dem Flugplatz in Stornoway wird Bescheid gegeben, daß die
Räumungsaktion ausgesetzt ist. Ein Anruf erreicht auch das Ministerium für Handel und Industrie
(DTI); Fay bittet um einen sofortigen Termin bei Energieminister Eggar unter vier Augen. Als Grund
gibt er an, es "handle sich um extrem wichtige Entwicklungen". Dann fliegt Fay mit dem Shell-Jet
zurück zum britischen Luftwaffenstützpunkt Northholt bei London. Gegen 15 Uhr begibt er sich zum
Amtssitz Eggars im Ashdown House im Stadtteil Victoria. Die Financial Times: "Die beiden Männer
hatten sich nicht viel zu sagen." Fay teilt Eggar mit, daß Shell ausgestiegen sei. Sein Stab arbeite
gerade an einer Presseerklärung, in der das Unternehmen dies noch innerhalb der nächsten Stunde
öffentlich machen werde.
Die Erklärung von Shell UK, die kurz nach 17 Uhr die BBC und die Nachrichtenagenturen erreicht,
beginnt mit dem Statement, daß die Firma die Versenkung nach wie vor für die umweltfreundlichste
Option der Entsorgung halte. Shell UK habe jedoch beschlossen, die Brent Spar an Land zu
entsorgen, da die Situation ihrer kontinentalen Schwestergesellschaften unter dem politischen Druck
inzwischen unhaltbar geworden sei. In den 18 Uhr-Nachrichten melden die Radiostationen in
London, daß "Greenpeace triumphiert" und Shell den Kampf um die Brent Spar verloren habe. Zu
dieser Zeit, in Hamburg ist es bereits 19 Uhr, kommt die Nachricht auch bei Greenpeace an.
Michaela Schießl vom Spiegel in ihrer letzten Depesche von Bord der Altair über den Kollegen der
BBC: "Wie wild geworden schoß er am Dienstagabend, 18.10 Uhr, aus dem Radioraum. Er raste den
schmalen Gang entlang, hangelte sich die steilen Treppen zur Brücke hinauf, und da stand er nun,
atemlos und bleich: "Shell hat aufgegeben, sie werden die Brent Spar nicht versenken, es ist vorbei,
gerade wurde es durchgegeben", schrie es aus ihm heraus." Die Shell-Schiffe Rembas, Torbas und
Kronbas stellen die Wasserkanonen ab; eine Stunde später setzt die Rembas die vier Tage lang
festgehaltenen Greenpeace-Aktivisten mit einem Beiboot über zur Altair.
Während Chris Fay im Shell-Hauptquartier eine improvisierte Pressekonferenz abhält, um die
Entscheidung zu rechtfertigen, versucht sich die völlig überrumpelte Regierung wieder zu sammeln.
Krisenmanagement. Tim Eggar und Indutrieminister Michael Heseltine sind außer sich vor Wut über
den "Hinterhalt, in den wir gelockt wurden". John Major schäumt und beschimpft die Shell-Manager.
Sie seien erbärmliche "Schlappschwänze". Am Nachmittag noch, gegen 15 Uhr, hat er sich im
britischen Unterhaus öffentlich vor die Shell gestellt, sich mit der Opposition herumgestritten, und die
gemeinsam beschlossene Versenkung hartnäckig verteidigt. Spott und peinliche Zwischenrufe wie
"Versenkung? Das wird Dir auch bald passieren!" hat er sich eingefangen. Hat der undankbare
Konzern es wirklich gewagt, ihn nichtsahnend im Regen stehen zu lassen und ihn "öffentlich zu
demütigen"?
In der Nachbetrachtung eine gute Frage des Premiers, die viele weiter ebenso unbeantworte Rätsel
aufwirft. Nach Chris Fays Auskunft gegenüber der BBC habe er, oder einer seiner Mitarbeiter, direkt
im Anschluß an die Den Haager CMD-Sitzung das DTI angerufen, und um eine sofortige Audienz bei
Minister Eggar nachgesucht. Der Grund: "extrem wichtige Entwicklungen". Die Räumkommandos in
Stornoway wurden ebenfalls telefonisch zurückbeordert; sie flogen gegen 15.30 Uhr vom Flughafen
ab. Auch der Nimrod-Luftaufklärer wurde am Nachmittag zurückgerufen. War das am britschen
Verteidigungsministerium spurlos vorbeigegangen? Gab es keinen gemeinsamen Krisenstab?
War das eilig anberaumte Nachmittags-Treffen zwischen Fay und Eggar ohne Rücksprache mit
Eggar vereinbart worden? Hatte Eggars Stabsstelle im DTI "extrem wichtige Entwicklungen" im
Krisenfall Brent Spar zur Kenntnis genommen, einen Not-Termin gemacht, ohne den Minister sofort
zu informieren? Hatten niemand im DTI sich gemüßigt gefühlt, bei Shell UK weiter nachzufragen?
Oder hatte das DTI von Shells Rückzugsplänen Wind bekommen, aber versäumt, das Büro des
Premiers zu warnen, daß sich bei dem Konzern etwas bewegte? Wo waren an diesem 20. Juni 1995
die Informationen versickert, und warum? Hatte etwa nicht Shell, sondern das DTI, unter der
Führung vom Majors Erzrivalen Michael Heseltine, den Premier im Regen stehen lassen?
Michael Heseltine tritt am Abend des 20. Juni als erster Vertreter der Regierung vor die Kamera von
BBC Channel 4.. Er erklärt, daß "John Major von einem britischen Unternehmen besseres verdient
gehabt" hätte. Dann sagt Heseltine vieldeutig: "Ich glaube, der Premier hat sich beispielhaft
verhalten, als er Shell seine volle Unterstützung zukommen ließ." Heseltine droht Shell, daß eine
Genehmigung zur Entsorgung auf britischem Boden nicht gewährt werde, und attackierte den
Konzern: "Sie hätten besser die Nerven behalten und getan, was sie vorhatten."
Die Deutsche Shell erklärt zur gleichen Zeit in Hamburg lapidar, daß sie "die Entscheidung der
Tochtergesellschaft Shell Uk mit Erleichterung und Freude" aufgenommen habe.
10. Welche Zukunft hat das Meer?
Chris Fay hatte während der Pressekonferenz von Shell UK am 20. Juni verzweifelt bemerkt: "Ich
sitze hier und weiß nicht, wohin ich die Brent Spar schleppen lassen kann." In der Tat warf Shells in
letzter Minute getroffene Entscheidung, das Plattform-Wrack an Land zurückzuholen, heftige neue
Probleme auf. Der wütende Energieminister Tim Eggar kündigte an, daß der Konzern keine
Genehmigung erhalten werde, die Brent Spar nach Großbritannien zu bringen. Welchen Kurs sollte
der Schleppzug nehmen? Nach einer Woche hektischer politischer Sondierungen gab schließlich
das Umweltministerium in Oslo die einzig sinnvolle Zusage: Die Brent Spar durfte zunächst wieder
im Erfjord geparkt werden. Es dauerte drei Wochen, bis die Plattform in Begleitung der Altair just den
Ort in Norwegen erreichte, an dem sie zusammengebaut worden war. Am 11. Juli 1995, neunzehn
Jahre nach ihrem Auslaufen, bugsierten sechs Schlepper die Brent Spar durch den schmalen
Zugang in den idyllischen und geschützten Fjord; sie wurde wieder an ihren alten Ketten vor Anker
gelegt.
In Großbritannien und Deutschland war während des Schlepps in den Erfjord ein heftiger Disput
ausgebrochen: Wer konnte und durfte die Brent Spar nun entsorgen? Die Plattform war wieder,
diesmal allerdings in einem anderen Sinne, das Pilotprojekt für die über 400 Offshore-Anlagen, die
langfristig zur Entsorgung anstehen. Obwohl sich niemand im Detail Gedanken gemacht hatte, was
dies technisch bedeutete, war eines sofort klar: Ein geschätztes Auftragsvolumen von mehreren
Milliarden Mark war zu erwarten. Arbeitsplätze winkten nicht nur auf den Shetlands, in Aberdeen
oder in den Niederlanden. Auch in den deutschen Küstenbundesländern meldeten sich Politiker aller
Coleur, die Brent Spar für sich reklamieren wollten. Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard
Schröder wurde bei Shell-Chef Peter Duncan persönlich vorstellig, und bot Wilhelmshaven als
Standort für die Abwrackung der Plattform an. Man wolle an der Jade langfristig einen
"Entsorgungspark" schaffen. Auch in Schleswig-Holstein wurden Hafenanlagen ins Gespräch
gebracht. Die CDU-Fraktion im Kieler Landtag forderte, die Brent Spar nach Brunsbüttel in der
Elbmündung zu schleppen. Am 9. Juli unterbreitete ein Konsortium von zehn norddeutschen Firmen
unter Führung der Howaldtswerke-Deutsche Werft (HDW) Shell ein konkretes Entsorgungs-Angebot
in Höhe von 100 Millionen Mark.
Das brachte auf der britischen Insel die Wut auf die Deutschen noch mehr zur Wallung. Der
Verdacht wurde laut, die Unterstützung von Greenpeace durch die Bonner Politiker sei ein
abgekartetes Spiel gewesen, um der notleidenden britischen Werftindustrie zu schaden. Der
Nationalstolz, durch die Schlappe der "britischen" Firma ohnehin schon schwer getroffen, brach sich
ungestüm Bahn und förderte alte Ressentiments zu Tage. Britannia murrte über die "Kapitulation vor
der deutschen Volksfront", etwas, das selbst Hitler nicht geschafft hatte. In den Zeitungen wurde
daran erinnert, daß es schließlich die Deutschen gewesen seien, die im Zweiten Weltkrieg mit ihrer
U-Bootflotte Schiffe und Tanker versenkt und den Meeresboden mit Tonnen von Schrott verschandelt
hatten. Ein Leserbrief in der Times zum perfiden deutschen Wesen: "Sir, nie zuvor wäre es mir in
den Sinn gekommen, etwas Gutes über Frankreich oder die Franzosen zu sagen. Aber ich
applaudiere ihrer Entschlossenheit, Atomtests im Südpazifik durchzuführen, aus dem einzigen
Grund, daß jedenfalls irgend jemand in der westlichen Welt bereit ist, das Geschrei der Öko-
Faschisten zu ignorieren."
"Die Angebote kommen etwas verfrüht", bemerkte wesentlich moderater Rainer Winzenried, der
Pressechef der Deutschen Shell. Zu Recht. Vor einer internationalen Ausschreibung und
Auftragsvergabe müssen zunächst andere Schritte absolviert werden: Erst nach der genauen
Inventarisierung der Tankinhalte und der Wintersicherung der Anlage kann ein technisches Konzept
der Landentsorgung entworfen werden. Entschieden werden muß zunächst auch die Frage, ob eine
senkrechte Abwrackung - dafür kommen aus technischen Gründen nur Ankerplätze in Norwegen in
Frage - günstiger ist, oder ob ein Drehen der Brent Spar in die Waagerechte ohne zusätzliche
Risiken erfolgen kann. Davon wird es nicht zuletzt abhängen, wo die Brent Spar schlußendlich
rückgebaut werden wird. Am 12. Juli vergab Shell UK zunächst den Auftrag, eine unabhängige
Bestandsaufnahme der Brent Spar-Tankinhalte vorzunehmen, an die norwegische Gesellschaft Det
Norske Veritas (DNV). Die DNV sollte bis zum 18. Oktober 1995 ihre Ergebnisse vorlegen, welche
Schadstoffe sich exakt noch an Bord der Anlage befinden und welche Entsorgungsschritte damit
vorgegeben sind. Ein Angebot von Greenpeace, die Analysen des Exeter-Labors zu nutzen und
einen Wissenschaftler der Organisation während der Untersuchung an Bord der Brent Spar zu
nehmen, wurde von Shell UK zunächst abgelehnt. Begründung: Greenpeace sei nur eine Gruppe
unter vielen, die daran ein Interesse hätten. Greenpeace drohte, mit der Meldung, Shell versuche
wieder etwas zu verheimlichen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Anfang August 1995 kam schließlich
ein Treffen zwischen den Umweltschützern und DNV zustande. DNV versprach, Greenpeace an
Bord einzuladen, und bei dieser Gelegenheit die Art der Probennahme zu demonstrieren.
Unterdessen hat die Brent Spar noch an anderen Fronten für Stellungskriege gesorgt. Auf der
Vierten Nordseeschutzkonferenz Anfang Juni 1995 in Esbjerg hatte die Ministerrunde sich wegen
des britischen, norwegischen und französischen Widerstandes nicht auf ein einheitliches Votum für
ein generelles Versenkungsverbot für alte Offshore-Installation einigen können, eine entsprechende
Empfehlung aber zur Beschließung auf die kommende Sitzung der Mitgliedsstaaten der Oslo und
Paris Kommission OSPARCOM ausgesprochen. Die OSPARCOM-Sitzung fand vom 26. bis zum 30.
Juni in Brüssel statt. Von den Mitgliedsstaaten stimmten die elf Länder Belgien, Dänemark, Finnland,
Deutschland, Island, Irland, Niederlande, Portugal, Spanien, Schweden und schließlich auch
Frankreich für eine schwedische Vorlage, die ein Versenkungs-Moratorium bis 1997, und danach ein
generelles Versenkungsverbot vorsah.
Großbritannien und Norwegen lehnten den schwedischen Vorschlag, und wie in Esbjerg, ein
generelles Versenkungsverbot widerum ab. Nach den Spielregeln der OSPARCOM können beide
Länder formal nicht gezwungen werden, auf Versenkungen zu verzichten. Doch daß die beiden
Länder nach der gescheiterten Brent Spar und der eindeutigen politischen Willensbildung der
restlichen OSPARCOM-Unterzeichner Plattformbetreibern die Genehmigung erteilen, neue
Plattformen in den Nordatlantik zu schleppen oder in der Nordsee vor Ort zu versenken, ist höchst
unwahrscheinlich.
Ein konferenzerfahrenes Delegationsmitglied von der Bundesanstalt für Seeschiffahrt und
Hydrographie (BSH) schätzt die Lage nach der Brüsseler OSPARCOM-Sitzung positiv ein: "Die
Norweger würden ein absurdes Projekt wie die Brent Spar nie ins Auge fassen. Ihnen geht es im
Grunde nur um die riesigen Betonsockel ihrer Plattformen. Nun, mit diesen massiven Klötzen auf
dem Meeresgrund könnte man zur Not leben. Und die Briten? Für die ist es zunächst ein finanzielles
Problem, und deshalb sträuben sie sich mit Händen und Füßen. Das erinnert mich an ihre Haltung in
der Frage der Dünnsäureverklappung. Da waren die Briten auch die letzten, die schließlich
mitgezogen wurden. Ich schätze, sie in der Plattform-Frage auf politischer Ebene zum Einlenken zu
bewegen, wird noch zwei bis vier Jahre dauern. Aber es gibt kein Zurück."
Die Nichtversenkung der Brent Spar war nicht nur ein Sieg für die politischen Argumente der
Umweltbewegung und der Triumph der öffentlichen Meinung über die profitable Option der Industrie,
sondern auch eine Niederlage für die kühle Rationalität der britischen Naturwissenschaftler, die der
Versenkung das Wort geredet hatten. Kein Wunder, daß die konservative Wissenschaft versuchte,
ihre Position zu rechtfertigen. Beispiel: Das Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlichte am 29.
Juni einen Leitartikel unter dem Titel "Brent Spar, Broken Spur", der Greenpeace beschuldigte,
wissenschaftlich "flach" zu argumentieren. Als Beweis wurde die Untersuchung der beiden britischen
Forscher E. Nisbet und C. Fowler ins Feld geführt, die die hohe Menge an Schwermetallen, die an
Ausströmfeldern oder offenen Quellen wie denen im Tiefseegebirge "Broken Spur" im Atlantik
natürlich freigesetzt werden, mit den Schwermetallen an Bord der Brent Spar verglichen. Die
Schlußfolgerung im Nature-Kommentar: "Viele Tief-See-Mikroben brauchen Schwermetalle als
Elektron oder Energiequelle für ihren Metabolismus. Für die Bakterien auf dem Grunde des Ozeans
sind Schwermetallrückstände weder tödlich noch unappetitlich. Im Gegenteil, sie hätten die Ankunft
der Brent Spar begrüßt, wie wenn alle Weihnachtsbescherungen auf einmal gekommen wären." Die
Nature-Darstellung wurde von der Major-Regierung, Shell UK, einigen britischen Medien - und einer
Handvoll Wissenschaftsjournalisten in Deutschland - begierig aufgenommen.
Die Richtigstellung erschien in der folgenden Nature-Ausgabe am 20.Juli: Acht andere britische
wissenschaftler und Tiefseeexperten stellten klar, daß Nisbit und Fowler nicht nur einen
Rechenfehler gemacht hatten, der den natürliche Schwermetallaustoß künstlich in die Höhe
getrieben hatte. Nisbit und Fowler hatten auch verschwiegen, daß die Brent Spar nicht in einem
Quell-Gebirge, sondern im quellfreien North Feni Ridge - und somit in einem Gebiet ohne natürliche
Schwermetallfreisetzung - versenkt werden sollte. Die künstliche Debatte über die Folgen
eventueller Brent Spar-Schwermetalle im North Feni Ridge hat inzwischen noch eine andere
Wendung genommen. Im New Scientist vom 26.August warfen die zwei schottischen
Meeresforscher John Gage und John Gordon Shell UK vor, Warnungen vor dem geplanten
Versenkungsort North Feni Ridge zwar frühzeitig erhalten, aber gänzlich ignoriert zu haben. Nach
Untersuchungen der beiden Wissenschaftler toben im North Feni Ridge in regelmäßigen Abständen
sogenannte "Unterwasserstürme", schwere Strömungen, die die Brent Spar mit hoher
Wahrscheinlichkeit in Stücke zerissen hätten. Der Inhalt der Plattform hätte sich, so die New
Scientist-Autoren, in kürzester Zeit "auf schottischen Fischmärkten" wiedergefunden.
Brent Spar - seit die Plattform im Erfjord einen vorübergehenden Ankerplatz gefunden hat, ist es in
der Öffentlichkeit still um sie geworden. Doch die Wisssenschaftsdebatte ist nur ein Zeichen dafür,
daß sich hinter den Kulissen vor allem in Großbritannien einiges bewegt. Handels- und
Industrieminister Michael Heseltine hatte am Tag nach Shells Umkehr in einem BBC-Interview
öffentlich verkündet, daß er die Demütigung durch die "Öko-Terroristen" von Greenpeace nicht auf
sich sitzen lassen wolle. Er werde "diesen Leuten", so Heseltine wörtlich, "ihre Grenzen deutlich
aufzeigen." Auch die Offshore-Industrie hat sich inzwischen von den Schockwellen erholt, die die
Shell-Niederlage ausgesendet hat. "Der 20. Juni, das war für die Öl-Multis Stärke 12 auf der Richter-
Skala", sagt ein britischer PR-Fachmann. "Das hat sie so unerwartet wie heftig erwischt, sie waren
wie gelähmt." Inzwischen sind sie wieder handlungsfähig. Nach Berichten britischer PR-Magazine
hat die UKOOA, die Vereinigung der Offshore-Firmen, inzwischen vier bekannte PR-Agenturen
beauftragt, eine europaweite Werbe- und Informationskampagne zu entwickeln. Ziel: das drohende
generelle Versenkungsverbot zu verhindern. Harold Hughes, Geschäftsführer der UKOOA: "Die
Öffentlichkeit muß über die Entsorgungs-Optionen der Industrie besser informiert werden. Wir waren
mit der Desinformation durch Greenpeace sehr unzufrieden." Hughes wollte nicht dementieren, daß
sich unter den unter Vertrag genommenen Unternehmen auch die Firma Burson-Marsteller befindet.
Doch allein, daß sie bei der Offshore-Industrie im Gespräch ist, zeigt, wie ernst die UKOOA ihre
Lage einschätzt: Burson-Marsteller ist Expertin in Desaster-Management. Die Firma hat schon
versucht, PanAm nach dem Jumbo-Absturz von Lockerby, Union Carbide nach der Katastrophe von
Bhopal und Exxon nach dem Valdez-Öl-Unfall wieder ins rechte Licht zu setzen. Burson-Marsteller
war auch die Firma, die die Pro-Kahlschlag-Kampagne in der kanadischen Provinz British Columbia
inszeniert hat.
Wie immer der geplante Werbefeldzug der Fördergesellschaften aussehen und ausgehen mag,
Greenpeace hat bereits angekündigt, nicht nur den weiteren Weg der Brent Spar zu begleiten,
sondern auch die anderen Entsorgungspläne der Fördergesellschaften im Auge zu behalten.
Kooperation dabei ist nicht zu erwarten. Die Offshore-Industrie ist nicht bereit, sich mit
Umweltschützern an einen Verhandlungstisch zu setzen. Zitat aus einem Bericht über ein
Arbeitsessen einiger Offshore-Chefs im schotischen Scotsman:"Ich weiß nicht, ob ich mit Terroristen
kooperieren will,"knurrte der Boß einer amerikanischen Öl-Gesellschaft. Paul Horsman von
Greenpeace dazu: "Das ficht uns nicht an. Wir werden nicht nur die einzelnen Firmen mit
unbequemen Fragen angehen, sondern auch versuchen, das Offshore-Geschäft politisch unter
Kontrolle zu halten." Zentraler Termin ist dabei die im Dezember 1995 stattfindende Sitzung der
Internationalen London Konvention. Das Gremium mit Rechtsgebungsstatus, früher nach dem Jahr
der ersten Zusammenkunft bekannt unter dem Namen London Dumping Convention 1972, reguliert
weltweit, welche "Abfälle und andere Gegenstände" von Schiffen, Flugzeugen und Plattformen legal
ins Meer eingeleitet werden dürfen. Die für alle Mitgliedsstaaten bindenden Vorschriften schreiben
auch vor, wie Plattformen entsorgt werden müssen. Die Offshore-Lobby hat bereits argumentiert,
daß die Plattform-Entsorgung in der Nordsee ein Sonderfall sei, und daher als "regionale"
Angelegenheit, die nicht unter die Bestimmungen der London Konvention falle, betrachtet werden
müsse. Horsman: "Die London Konvention ist das entscheidende Gremium. Dort entscheidet sich,
ob die Meere zur Müllkippe werden oder in Zukunft eine Chance zum Überleben haben. Greenpeace
wird alle Anstrengungen unternehmen, um im Dezember 1995 ein weltweites Versenkungsverbot zu
erreichen. Und wenn es im Dezember nicht kommt, dann eben etwas später. Aber es kommt."
Wie die Plattform, die nach neunzehn Jahren im Brent-Feld wieder im Erfjord vor Anker liegt, ist
auch Greenpeace wieder bei einer seiner Ursprünge - dem Kampf um den Schutz der Meere -
angekommen. Dieser Kampf ist noch lange nicht gewonnen; das beweisen die andauernde
Auseinandersetzung mit der Offshore-Industrie, die Protestfahrten nach Muroroa, der Streit um die
Industriefischerei und viele andere Kampagnen. Doch Greenpeace scheint gut gerüstet. Mit dem
Brent Spar-Kraftakt hat die Organisation nicht nur eine ihrer Kampagnen gewonnen, sondern auch
zu den Stärken und Tugenden ihrer Anfänge zurückgefunden: Die Wahl der Brent Spar als Symbol
für den Kampf um die Zukunft der Meere war nicht allein ein geschickter strategischer Schachzug.
Die Shell-Ruine, Garant für spektakuläre Bilder und dramatische Auseinandersetzungen, ergänzte
sich ideal mit der Hintergrundarbeit auf politischer Ebene, ohne die Schlauchboot-Attacken längst
zum medialen Selbstzweck verkommen wären. Brent Spar war auch pfiffig und clever eingefädelt:
Greenpeace hat nicht nur die Verblüffung und Überraschung des Kampagnen-Gegners geschickt
genutzt, sondern auch im Gegensatz zu Shell auch die Öffentlichkeit gesucht. Die Schnelligkeit und
Durchschlagskraft der Brent Spar-Kampagne war ein erster Beweis, daß die Organisation in 25
Jahren zu einer eigenen Art von internationalem Multi gereift ist, dessen Macht und Rolle noch
genau definiert werden will.
Mit Brent Spar ist Greenpeace zudem erstmals etwas gelungen, was sich in Zukunft als vielleicht
größte Stärke der Organisation erweisen kann: Sie hat das Herz der Bevölkerung so bewegt, daß
diese von sich aus Partei ergriffen haben und auf Seite von Greenpeace aktiv wurden. Ob diese
unerhörten Kombination der Vorgänge - die spontane Parteinahme und der massenhafte Boykott
einer industriellen Weltmacht - von dauerhaftem Erfolg sein wird, liegt nicht allein in den Händen der
Umweltschützern. Brent Spar hat bewiesen, daß alte Autoritäten - kühle Wissenschaft, behördliche
Rechthaberei und industrielle Arroganz - in grundsätzlichen Fragen des Umweltschutzes an ihre
Grenzen stoßen. Entscheidend wird in Zukunft sein, welche Schlüsse Politik und Industrie daraus
ziehen. Es reicht nach Brent Spar nicht mehr aus, bloße Lippenbekenntnisse zur Besänftigung der
Wähler zu formulieren und Umweltschutz als Werbemaßnahme und technische Lösung zu
begreifen. Die Sorge um die Zukunft - und nicht allein der Meere - muß sowohl bestimmendes
Element von Parteiprogrammen als auch Leitmotiv von Unternehmensphilosophien werden. Wie
wird sich Shell wirklich verändern, wie wird Helmut Kohl reagieren, wenn es um naheliegendere
Umweltprobleme geht? Investiert der Multi, dessen Reichtum auf endlichen fossile
Kohlenwasserstoffe gebaut ist, in Zukunft verstärkt in regenerative Energien, in Photovoltaik und in
die Sonne? Wann spricht sich der Kanzler mit Greenpeace für ein Tempolimit aus?
Der eigentliche Schlüssel liegt allerdings in der noch unbeantworteten Frage: Welchen
Bewußtseinsprozeß hat Brent Spar bei den begeisterten Boykotteuren in Gang gesetzt? Shell zu
boykottieren, war ein guter Anfang, aber eine einfache Übung. Wieviele Boykotteure überprüfen
indess, ob sie ihr Fahrzeug - mit oder ohne Shell-Sprit -tatsächlich brauchen? Wann fangen sie an,
die deutschen Automobilhersteller wegen der Verschleppung des Drei-Liter-Autos unter Druck zu
setzen? Angst vor der unbekannten Macht und Konsequenz des Verbrauchers ist jedenfalls zu
erkennen. Schon am Tag nach dem Shellschen Einlenken im Nordatlantik meldete sich Olaf Henkel,
der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie BDI, zu Wort. Er mahnte zur
"Versachlichung". Die Industrie sei besorgt, daß gerade in Deutschland zunehmend auf
Umweltprobleme reagiert werde.
Sorgenfalten also bei den einen, Hoffnung bei den andern. Der englischen Tagfeszeitung The
Guardian soll es vorbehalten bleiben, die bisherige Geschichte der Brent Spar, und dessen, was sich
daraus noch entwicklen wird, zusammenzufassen: "Menschen zählen noch. Boykotte können noch
funktionieren. Das ist für die Demokratie genauso erfrischend wie für die Nordsee."
Hamburg, Herbst 1995
Jochen Vorfelder