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Page 1: Crashtests für bessere Kopfstützen

Crashtests für bessere KopfstützenDamit Tests zur Entwicklung von Kopfstützen, Sitzen und Instrumententafeln schneller durchgeführt werden

können, hat der Sicherheitsspezialist Johnson Controls eine drei Millionen Euro teure Crashtest-Schlittenanlage

errichtet. Es gelte, insbesondere das Schleudertrauma mit besseren Kopfstützen zu verhindern, das sonst

Millionen Euro an volkswirtschaftlichem Schaden erzeugt.

Nur drei weitere SchlitteN­aNlageN iN europa

Zur Einweihung beim Zulieferer Johnson Controls gab es einen Knall. Es sind aber keine Sektkorken, sondern es ist eine Crashtest-Schlittenanlage in Burscheid, die sich am 8. Dezember 2010 in Bewe-gung setzte und das unangenehme Geräusch zum ersten Mal offiziell erzeugte. Die Anlage soll zum Testen von Kopfstützen, Sitzen und Instrumenten-tafeln dienen, die weltweit zum Einsatz kommen. Der 1,6 Millionen Euro teure Schlitten vom Prüfgerätebauer Seattle

Safety simuliert Front-, Heck- und Seiten-crashs mit Beschleunigungsimpulsen von bis zu 650 m/s² und 85 km/h Aufprallge-schwindigkeit, 1. Samt Infrastruktur gab das 125 Jahre alte Unternehmen für die Crashtest-Schlittenanlage drei Millionen Euro aus. Es ist die zweite Schlittenanlage dieser Art bei den Burscheidern; in Europa gibt es nur drei weitere dieser Art: bei Porsche, Renault und dem Tüv Rheinland. Die neue Druckluftanlage der US-Ameri-kaner soll die alte Anlage entlasten, wie Georg Müller, Testleiter bei JCI, erläuterte.

Auf der daneben stehenden zwölf Jahre alten Anlage, die noch hydraulisch ange-

trieben wird, werden pro Jahr 1600 Tests im Zwei-Schicht-Betrieb an fünf Tagen durchgeführt. Doch durch die zuneh-mende Produktpalette und viele gesetz-liche Bestimmungen, in jedem Land der Welt etwas anders, war die Erweiterung der Kapazitäten notwendig geworden.

„Unsere neue Crashtestanlage ist auf dem allerneuesten Stand der Technik“, erklärte Dr.-Ing. Detlef Jürss, der Entwick-lungsleiter bei Johnson Controls Automo-tive Experience. „Wir sind der einzige Zulieferer, der über eine solche Schlitten-test-Anlage verfügt.“ Durch den sehr reali-tätsnahen Aufbau des Beschleunigungs-

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impulses liefere diese mit Druckluft betriebene Anlage sehr detaillierte Erkenntnisse über die Belastungen, denen die Sitze und die Dummys ausgesetzt sind, erklärt er. Diese Erkenntnisse fließen in die Serienentwicklung ein und helfen, Sitze neben den Komfort- auch unter Sicherheitsaspekten zu optimieren.

Schleudertrauma uNd heckaufprall im fokuS

Im Gegensatz zum Frontalaufprall, bei dem der Einfluss der Rückhaltesysteme wie Airbag und Gurt im Vordergrund steht, liegt der Fokus für Johnson Controls auf Szenarien, die einen Heckaufprall simulieren. Die neue Anlage besteht aus zwei Führungsschienen, auf denen ein Schlitten geradlinig eine Strecke von etwa 16 m zurücklegen kann. Der eigentliche Schlittenversuch findet auf einer Strecke von etwa 2 m statt. Der Schlitten wird von der Kolbenstange eines überdimensio-nalen Pneumatikzylinders beschleunigt. Dieser Zylinder wird vor dem Crashtest auf beiden Seiten des Kolbens mit Luft gefüllt, die aus der Umgebung der Anlage gewonnen und mit 345 bar Überdruck komprimiert wurde. 220 bar Arbeitsdruck stehen nun auf der einen Seite des Kol-bens bereit, auf der anderen Seite dient mit etwa 125 bar komprimierte Luft als pneumatische Bremse für den Kolben.

Entscheidend für die Tests mit den Dummys, 2, ist der Beschleunigungsver-lauf – und hier spielt ein ganzes Arsenal von Scheibenbremsen eine zentrale Rolle.

„Unter dem Schlitten befinden sich einige parallel in Fahrtrichtung verlaufende Metallschienen, die sogenannten Schwer-ter“, erklärte Müller. Hydraulische Brem-sen umfassen diese Schwerter wie eine herkömmliche kreisförmige Sattelbremse im Auto die Bremsscheibe am Rad und halten den Schlitten so gegen die 220 bar Arbeitsdruck fest.

Der Heckaufprall eines anderen Autos auf den Prüfling wird dann im Crashtest dadurch simuliert, dass sich die Bremsen innerhalb eines Beschleunigungsverlaufs von etwa 100 ms mehrfach dosiert gere-gelt öffnen und wieder schließen. Der Schlitten wird dadurch nicht wie bei einem Katapultstart durch einen einma-ligen Impuls beschleunigt, sondern mit kurzen, nichtlinearen Krafteinleitungen. „So erhält der Schlitten genau den Impuls, den wir benötigen. Denn im realen Fall sorgen die Verformungen im Vorderwagen des auffahrenden und im Heck des getrof-fenen Autos ja auch für einen nicht linea-ren Impuls“, sagte Müller.

Mit der Schubkraft von 2 MN kann die neue Testanlage den Schlitten je nach Masse und Beschleunigungsverlauf mit dem 65-Fachen der Erdbeschleunigung innerhalb von nur 20 ms auf maximal 85 km/h beschleunigen. Die höchste beim Heckaufprall erforderliche Geschwindig-keit beträgt allerdings nur rund 35 km/h. Das klingt harmlos, doch gilt es zu beden-ken, dass diese Geschwindigkeit nicht absolut zu verstehen ist, sondern als Rela-tivgeschwindigkeit. 35 km/h bedeutet also konkret, dass das auffahrende Fahr-

zeug mit 35 km/h Überschussgeschwin-digkeit auf das Heck des durch den Schlit-ten simulierten Fahrzeugs prallt.

VerSchiedeNe teStSzeNarieN

Der Aufprall mit Relativgeschwindigkeiten zwischen 24 und 35 km/h gilt hierbei als Hochgeschwindigkeitsaufprall („High-speed Impact“), darüber hinaus werden auch Crashtests mit einer Relativge-schwindigkeit von rund 16 bis 24 km/h gefahren, um den „Lowspeed Impact“ zu erforschen. Es sind Stoßrichtungen in longitudinaler Richtung, aber auch mit schräger Impulsrichtung möglich. Dann werden die zu testenden Sitze im Winkel von 30° zur Fahrtrichtung auf dem Schlit-ten montiert.

„Auf unserer 1998 eröffneten Crashan-lage, die weiterhin in Betrieb ist, erfassen wir die von den Sensoren gemessenen Daten analog mit bis zu 56 Kanälen, die mit der Messdatenerfassung am Schlitten verbunden werden“, führte Müller aus. Die neue Anlage erlaube die digitale Datenerfassung. Das heißt: Es muss nur ein Kabel mit bis 96 Messkanälen ange-schlossen werden, das die Daten aus dem Datenrecorder der Dummys in die Mess-datenerfassung am Schlitten überträgt. Erst wenn alle von Johnson Controls, seinem Kunden und vom Gesetzgeber gesetzten Grenzwerte für die Belastung der Dummys unterschritten sind, ist für Müller und sein Team dieser Job beendet.

Michael reichenbach

1 Der neue Schlitten kann Front-, heck- und Seitencrashs mit Beschleunigungsimpulsen von bis zu 650 m/s² simulieren

2 Speziell für den Lowspeed-heckaufprall nach EuroNCap und IIWPG entwickelter Dummy, der Bio-rid-II (rid für rear Impact Dummy)

02I2011 113. Jahrgang 125


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