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DAS PROBLEM DES HÖCHSTEN GUTESIN KANTS PRAKTISCHER PHILOSOPHIE

von Klaus Düsing, Bochum

Das höchste Gut wird in den heutigen Bemühungen um eine praktische Philo-sophie wenig beachtet; ihm wird im allgemeinen weder in der Frage der Grundle-gung noch in der Frage der Ausführung einer philosophischen Ethik noch etwa ineiner Geschichtsphilosophie, die zugleich auf das anzustrebende Ziel und den Sinnder Geschichte reflektiert, besondere Bedeutung zugemessen. Ein Verständnis fürdas höchste Gut als Problem müßte deshalb wohl allererst gewonnen werden 1. Mitdem höchsten Gut ist dabei, nach einer vorläufigen Bestimmung, das Endziel dersittlichen Wirksamkeit und Anstrengung des Menschen gemeint. Es ist der umseiner selbst willen erstrebte Inhalt aller sittlichen Zielsetzungen, dessen Erreichungals höchste Erfüllung des Menschseins vorgestellt werden kann. Nun wäre es mög-lich, diesen Gedanken als ethisch bedeutungslos hinzustellen. Darauf ist mit Argu-menten der praktischen Philosophie einzugehen. Wird aber das höchste Gut alsverständlicher Inhalt des sittlichen Willens akzeptiert, so besteht die Alternative,es entweder für eine nicht realisierbare Fiktion oder aber für eine reale Möglichkeitzu halten, auf die wir hinwirken sollen. Die beiden letzten Ansichten beruhen aufmetaphysischen Voraussetzungen. So steht mit dem höchsten Gut, sofern es alsethisch sinnvoller Begriff gesichert ist, nicht nur ein vereinzeltes ethisches Themazur Frage; es wird damit zugleich das Problem des Verhältnisses von Ethik undMetaphysik gestellt. Diesen systematischen Zusammenhang suchten in der Tradi-tion — seit Platos Lehre vom Sein des Guten an sich und Aristoteles' Bestimmungdes vollendeten, höchsten Glücks — mannigfache Erörterungen und Theorien deshöchsten Gutes vor allem in der Antike und im Mittelalter zu klären.

Hier soll nun das Problem des höchsten Gutes bei Kant untersucht werden. Kantsetzt sich mit einer Reihe von früheren, vornehmlich antiken Lehren zum höchstenGut auseinander und hebt seine eigenen Entwürfe eindeutig davon ab. Er ist sichoffenbar bewußt, daß er mit dem höchsten Gut ein Thema wiederaufgreift, das beiden „Neueren ... außer Gebrauch gekommen, zum wenigsten nur Nebensache

1 E. Bloch hat allerdings in Das Prinzip Hoffnung auf diesen Begriff aufmerksamgemacht. Für ihn ist der eigentliche Sinn des hödisten Gutes das „Utopissimum", das„Leitbild im Weltprozeß" (Suhrkamp-Ausg., Frankfurt a. M. 1959, S. 368; 1565), das inder philosophischen Tradition zu einem abstrakten, jenseitig fixierten Ideal ohne treibendeKraft für die Geschichte gemacht worden sei (vgl. S. 1551 ff.; auch 355 f.).

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geworden zu sein scheint" 2. Er selbst widmet dieser Frage ausführliche und grund-sätzliche Überlegungen und stellt sie auf'völlig neue Fundamente. Sollte das höch-ste Gut nach der Kritik an der dogmatischen Metaphysik als legitimes Problembestehen bleiben bzw. wiedergewonnen werden, so war eine ganz neue Begründungnotwendig. Es soll nun im folgenden gezeigt werden, daß der späteren, bekannte-ren Theorie des höchsten Gutes, die Kant seit der Kritik der -praktischen Vernunftentwickelte, eine vollständig ausgebildete frühere Theorie des höchsten Gutes vor-ausging, die noch in die Frage nach deh Prinzipien der Ethik hineingehörte. Be-rücksichtigt man die sachlichen Motive zur Veränderung seiner Konzeption, soergibt sich, daß Kants viel kritisierte späte Lehre vom höchsten Gut gerade eineKonsequenz seiner reifen Moralphilosophie ist.

Für die ersten selbständigen Entwürfe des deutschen Idealismus ist dann, waszur weiteren Geschichte dieses Problems noch erwähnt werden soll, die Aufnahme

• und Kritik der späteren Kantischen Lehre vom höchsten Gut und von den Postu-laten der praktischen Vernunft von maßgeblicher Bedeutung. Der frühe Schellingkritisierte diese Lehre, die er jedoch offenbar nur in der Umdeutung und Miß-deutung der Tübinger „Orthodoxie" rezipierte, und stellte dagegen aus dem„Geiste des Kritizismus" wenigstens in Grundzügen eine eigene Ethik auf. Derjunge Hegel nahm Kants praktisch begründete Metaphysik positiv auf und orien-tierte sich an ihr im Prinzip auch noch, als er sich bereits von Kant zu entfernenbegann. Später verfaßte er in der Pbanomenologie des Geistes in dem Kapitel:„Der seiner selbst gewisse Geist. Die Moralität" eine ausführliche Kritik an KantsTheorie des höchsten Gutes und der praktischen Postulate, die zugleich als Kritikan seinem eigenen früheren Standpunkt angesehen werden kann. Auch Schleier-macher suchte über Kant hinauszugehen und bildete sogar eine neue selbständigeLehre vom höchsten Gut aus, die von zentraler systematischer Bedeutung für seineKonzeption der Ethik war. — Seit dem Ausgang des Idealismus aber verlor dashöchste Gut anscheinend seine Bedeutung als philosophisches Problem. Auch beider Wiederentdeckung der Kantischen Philosophie im späteren 19. Jahrhundertwurde Kants Lehre vom höchsten Gut vielfach kritisiert. Cohen brachte bereits diegewichtigsten Einwände gegen Kant vor, die sich deutlich von der idealistischenKritik unterschieden und die mit gewissen Abwandlungen bis heute ganz oder teil-weise wiederholt wurden. Darauf wird im Zusammenhang mit der Erörterung derKantischen Lehre selbst näher eingegangen. — Hier soll nun der Versuch unter-nommen werden zu zeigen, daß Kants spätere Lehre vom höchsten Gut erst dannsachgerecht beurteilt werden kann, wenn man sie von seiner früheren Konzeptionabhebt und die Gründe der Veränderung seines Ansatzes untersucht. Dann aberergibt sich wohl, wie erörtert werden soll, daß Kants spätere Lehre vom höchstenGut ein legitimer und notwendiger Bestandteil einer vollständigen Philosophie derLeistungen des endlichen, sittlichen Bewußtseins ist.

2 Kr. d. pr. V. 114. Zitiert wird nadi: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von derPreußischen, später Deutsdien Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910—1968. DieSeitenangabe bei den Kritiken folgt der Originalpaginierung.

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L Kants Auseinandersetzung mit den sittlichen Idealen der „Alten'3 und mitdem Begriff des höchsten Gutes in der christlichen Ethik

Vor der Aufstellung der „Antinomie", die sich für die praktische Vernunft inder Bestimmung der Idee des höchsten Gutes ergibt, behandelt Kant in der Kritikder praktisdyen Vernunft die stoische und die epikureische Lehre als einanderentgegengesetzte Theorien des höchsten Gutes. Aus den Reflexionen geht hervor,daß Kant diese Lehren aus einer größeren Anzahl von antiken Theorien, dieer ebenfalls vor Augen hatte, unter bestimmten Gesichtspunkten ausgewählt hat.Kant befaßt sich in den Reflexionen schon von der Mitte der sechziger Jahrean mit dem Thema des höchsten Gutes und setzt sich ausführlich mit ethischenLehren aus der antiken Tradition auseinander. Dabei betrachtet er deren Pro-bleme und Lösungen unter der leitenden Hinsicht seiner eigenen systematischenFragestellung s.

Nach einer Definition des Begriffs des höchsten Gutes, die lautet: „Die Glük-seeligkeit und das gute, Sittlichkeit, machen zusammen summum bonum aus", zähltKant z. B. folgende Positionen auf, die er in den Reflexionen immer wiederdiskutiert: „Epicur: Maximum der Glükseeligkeit in dem maximo der Bedürfnisseund deren Befriedigung. / Zeno: Maximum der Glükseeligkeit allein durch dietugend. / Platonische moralphilosophie mystisch. ... terminus ad qvem ist mitdem a qvo ... verwechselt. / Cynische Secte: minimum der moralischen Bestre-bung, um moralisch gut zu seyn, indem die Begierden auch in ihrem minimumseyn. Der Mensch der rohen Natur, System der Einfalt" 4. Außer Epikur, der diegrößte Glückseligkeit in der größtmöglichen Befriedigung aller menschlichen Be-dürfnisse sieht, und dem Stoiker Zeno, der die größte Glückseligkeit allein imBewußtsein der Tugend begründet, nennt Kant also auch Plato und die Kyniker.Plato ist für Kant — durch die neuplatonische Tradition — der Vertreter desMystizismus in der Moralphilosophie. Der Mystizismus hält das, was nur einunendliches Ziel sein kann, nämlich die Anschauung Gottes, für einen Ausgangs-punkt des sittlichen Lebens. Daher spricht Kant von dem „mystischen ideal derintellectuellen Anschauung des Plato" 5. Sittlichkeit ist zwar für Plato nur möglichdurch die Vorstellung der Ideen* als Richtmaß, was Kant an vielen Stellen an-

8 Als Quelle dürfte Kant wohl Bruckers Philosophiegeschichte gedient haben, in deralle von Kant erwähnten Sdbulen (sectae) und Philosophen der Antike dargestellt werden(lacobi Bruckeri Historia critica philosophiae. Tomus primus. Lipsiae 1742); außerdemwaren ihm philosophische Untersuchungen von Cicero, Seneca und auch wohl von Dioge-nes Laertius bekannt»

4 XIX, 95 (Nr. 6584). Eine nur in etwa vergleichbare Aufstellung deutet Kant in derKritik der praktischen Vernunft einmal in einer Anmerkung an: „Die Ideen der C y n i -k e r , der E p i k u r e e r , der S t o i k e r und der C h r i s t e n sind: die N a t u r -e i n f a l t , die K l u g h e i t , die W e i s h e i t und die H e i l i g k e i t." Kr. d. pr. V.230 Anm. Vgl. auch Eine Vorlesung Kants über Ethik, hrsg. v. P. Menzer, Berlin 1924.S. 7 ff.

5 XIX, 108 (Nr. 6611). Vgl. EfA/Jfe-Vorlcsung, S. 11.

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erkennt; aber „er suchte seine idee in Gott, oder er machte den Begrif von Gott ausdiesen ideen" e. Diese übersinnliche Anschauung der Ideen, die in Gott vereinigtsind, ist für Kant überschwenglich und bringt außerdem die Gefahr mit sich, denmoralischen Ideen die praktische Kraft zu nehmen. — Auch in der Kritik derpraktisdicn Vernunft denkt Kant wohl an eine solche platonische Theorie, wenn ervor dem Mystizismus und vor der „schmelzenden Vereinigung" der Theosophenund Mystiker „mit der Gottheit"7 warnt. — Die vierte von Kant in den Re-flexionen sehr oft angeführte Theorie ist die kynisdie, als deren Hauptvertreter ermeistens Diogenes nennt. Ihr Prinzip ist das Ideal der natürlichen Einfalt und derUnschuld. Diese Theorie war für Kant bedeutsamer, als man zunächst annehmenmöchte. Er versteht den in ihr geforderten „Mangel des Lasters" 8 aber kaum alsspezifisch sittliche Unschuld und Tugend, sondern vielmehr als Bewahrung der ur-sprünglichen Einfachheit, die der menschlichen Natur gemäß ist. So heißt es ineiner etwas späteren Reflexion aus den siebziger Jahren: „Das cynische (sc. Ideal)ist der menschlichen Natur am gemäßesten in der idee, aber in der execurion amwenigsten Natürlich und ist das ideal der künstlichsten Erziehung so wohl als derbürgerlichen Gesellschaft." Kant fügt im folgenden hinzu, es betreffe bloß dieMittel und sei zwar „in der theorie richtig, in der praxi aber sehr schweer, obzwardie norma"9. Er bejaht also die kynisdie Theorie der menschlichen Natur, nachder allein Einfachheit und Beschränkung der Bedürfnisse der Natur des Menschengemäß sind und ein glückliches Leben gelingen lassen. Dieses Ideal ist jedoch kaumdurchzuführen, obwohl es die Norm in der Praxis sein soll. Eine unmittelbare Ver-wirklichung der Natureinfalt durch Verabscheuung aller Kultur, wie es z. B. in derAntike Diogenes versuchte, hält Kant für keineswegs der menschlichen Natur an-gemessen. Das kynische Ideal soll vielmehr innerhalb des hochentwickelten kultu-rellen Lebens Richtschnur des Verhaltens sein. Die Erwähnung der „Erziehung"und der „bürgerlichen Gesellschaft" ist vielleicht eine kritische Anspielung aufRousseau, den Kant auch als den „feinen Diogenes"10 bezeichnet hat. Diese kyni-sche Lehre, der Kant wohl wegen ihrer Verwandtschaft mit derjenigen Rousseauseine so große Bedeutung einräumt, hat aber für ihn nur die allgemeine menschlicheNatur und die Frage der Mittel zu einem naturgemäßen Leben zum Gegenstand;sie entscheidet daher für den späteren Kant, wie auch bereits aus der oben zitiertenReflexion deutlich wird, weder etwas in der ethischen Prinzipienlehre noch in dermoralischen Anthropologie. Sie ist für ihn „blos eine Lehre der Mittel", die Kantvon den „theorien der moralischen Philosophie" u absondert.

' XIX, 177 (Nr. 6842); vgl. XIX, 191 (Nr. 6882).^ Kr. d. pr. V. 217; vgl. 125; auch XIX, 198 (Nr. 6894); vgl. gegen die neuen „Plato-

niker" z. B. VIII, 399 ff. Anm. Zu weiteren Fragen der Stellung Kants zu Plato vgl.Heimsoeth: Kam und Plato. Kant-Studien 56 (1965), S. 349—372.

8 XIX, 95 (Nr. 6584).9 XIX, 106 f. (Nr. 6607).10 EfWfc-Vorlesung, S. 9. Vgl. audi etwa XIX, 99 (Nr. 6593).11 XIX, 107 (Nr. 6607). Vgl. XIX, 174 (Nr. 6831): „Alle Unterweisung" besteht hier

„nur darin ..., die Natur nidit zu stöhren" — wie bei der „Gesundheit".

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Diese vier antiken Theorien vergleicht Kant nun untereinander hinsichtlich desUrsprungs bzw. der Bedingungen der Verwirklichung des höchsten Gutes. Daß essich bei den genannten antiken Idealen des Menschseins um das Problem des höch-sten Gutes handelt, wird von Kant noch ausdrücklich durch die Formulierung her-vorgehoben: „Von dem Sittlichen ideal der alten, dem höchsten Gut" 12. Nach derkynischen und nach der platonischen Lehre wird nun das höchste Gut nicht durchunsere sittliche Wirksamkeit hervorgebracht, sondern es ist, wenn nur äußere hin-derliche Bedingungen beseitigt sind, bereits vorhanden. Es besteht entweder ineinem der menschlichen Natur angemessenen Leben oder in der Gemeinschaft mitGott durch intellektuelle Anschauung. Davon unterscheidet Kant grundsätzlichandere schon in der Antike vorgezeidmete Möglichkeiten: „Der Unterschied dercynischen und platonischen (sc. Philosophie betrifft) den Ursprung des höchstenGuts: ob er physisch oder hyperphysisch sey; die epicureische und stoische nahmenden Ursprung als künstlich an und die Wirkung von erworbenen und durch Nach-denken gefundenen Grundsätzen ..."1S. Der „künstliche" Ursprung, den dieepikureische und die stoische Theorie annehmen, bedeutet, daß der Mensch dashöchste Gut nur durch eigenes sittliches Bemühen und Handeln nach selbst auf-gestellten Maximen hervorbringen und sich verschaffen kann. Erst durch diesenGedanken, den die „Dialektik" der Kritik der praktischen Vernunft schon voraus-gesetzt hat, gehört das Problem des höchsten Gutes eigentlich zur praktischenPhilosophie. Daher ist wohl auch in ihm der entscheidende Grund dafür zu suchen,daß in der „Dialektik" der praktischen Vernunft von den antiken Theorien nurdie Positionen des Stoizismus und des Epikureismus gegeneinander auftreten.

Die epikureische und die stoische Lehre suchen nun für Kant bei der Vereinigungvon Sittlichkeit und Glückseligkeit im höchsten Gut „Einerleyheit des Begrifs" 14.Die Auseinandersetzung mit ihnen kann sich daher nicht auf einen Teil ihrer ethi-schen Lehren beschränken, sondern muß sie jeweils im ganzen betrachten. Die be-dingte Anerkennung wie auch die Kritik dieser Systeme in den "Reflexionen vorallem der siebziger Jahre kann zugleich einigen Aufschluß über Kants eigenemoralphilosophische Konzeption zu dieser Zeit geben. — Bei der Besprechung undPrüfung der antiken Theorien vom höchsten Gut wendet Kant die Unterscheidungdes sittlichen Beurteilungsprinzips von den Gründen der Ausführung sittlicherHandlungen an, die der antiken Ethik selbst fremd ist: „Epikur nahm die sub-iective Gründe der exsecution, die uns zum Handeln bewegen, vor obiectiveGründe der d i i u d i c a t i o n . Zeno umgekehrt. Daß epicur alles auf körperlicheReitze aussetzt, scheint mehr eine Meinung, die Entschließungen der Menschen zuerklären, als eine Vorschrift zu seyn" 15. Epikur behauptete also, daß die sinnlichenund empirisch erforschbaren Triebfedern, die er nach Kant zu Recht als die sub-

« XIX, 104 (Nr. 6601).15 XIX, 188 (Nr. 6874). Vgl. XIX, 110 (Nr. 6611); XIX, 190 (Nr. 6879); XIX, 197

(Nr. 6894); auch XIX, 104 (Nr. 6601).14 IX, 190 (Nr. 6879).15 XIX, 112 (Nr. 6619); vgl. ebenda Nr. 6617.

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jcktivcn Bedingungen der Ausführung sittlicher Handlungen ansah, zugleich ob-jektive Kriterien der moralischen Beurteilung an die Hand geben. Kant fügtallerdings einschränkend hinzu, Epikur habe die sinnlichen Triebfedern wohlweniger zur Vorschrift machen als zum Erklärungsgrund von Handlungen nehmenwollen 16. Doch blieb für Kant die Glückseligkeit, die auch als verfeinerter undvergeistigter Genuß von sinnlichen Triebfedern erstrebt wird, das epikureischePrinzip der sittlichen Beurteilung. Dagegen setzte Zeno umgekehrt das objektivePrinzip der sittlichen Beurteilung zugleich als subjektiven Beweggrund der Aus-führung an, ohne auf die Andersartigkeit des natürlichen und sinnlichen Strebensnach Glückseligkeit Rücksicht zu nehmen 17. — Für beide Theorien sind in jeweilsverschiedener Auslegung die Elemente des höchsten Gutes: Sittlichkeit und Glück-seligkeit eins; beide Lehren haben für Kant in je einer Hinsicht eine Berechtigung:„Das stoische ideal ist das richtigste reine ideal der sitten, aber in concreto auf dieMenschliche Natur unrichtig; es ist richtig, daß man so verfahren soll, aber falsch,daß man iemals so verfahren wird. Das ideal des Epicurs ist nach der reinen regelder sitten und also in der theorie des sittlichen principii falsch, obzwar in den sitt-lichen Lehren wahr; allein es stimmt am meisten mit dem Menschlichen Willen" 18.Kant gibt also der stoischen Begründung des sittlichen Prinzips in der reinen Ver-nunft seine Zustimmung. Aber er kritisiert die stoische Lehre von der Ausführungder sittlichen Grundsätze, da in ihr die menschliche Natur und ihre Angewiesenheitauf sinnliche Triebfedern verkannt wird. In dieser Frage hat nach Kant vielmehrdie epikureische Lehre von den Gefühlen und sinnlichen Triebfedern recht, die je-doch ein falsches Prinzip der Sittlichkeit aufstellt. Epikur verlangt, was Kant oftbetont, zur Erreichung der eigentlichen Glückseligkeit Mäßigung und veredelte,vergeistigte Gefühle, die der Ausführung des wahren, nämlich vernünftigen Prin-zips der Sittlichkeit, wie es Kant selbst aufstellt, vielfach förderlich sind. So unter-scheidet Kant deutlich Epikurs Theorie von der hedonistischen des Aristipp, dersagt, „die Wollust sey das Summum bonum als genossen" 19. Kant schätzt alsoEpikurs Lehre in der moralischen Anthropologie hoch ein; er übernimmt sogar— allerdings mit erheblicher Umdeutung — die sittliche Grundstimmung, dieEpikur lehrte, nämlich „das stets fröhliche Herz nur durch rügend"20, und erweist damit den Vorwurf zurück, sein Rigorismus verlange eine kartäuserartigeoder sklavische Haltung 21. — Die Position Epikurs setzt Kant auch in Parallelezu derjenigen der englischen Gefühlsethik und kritisiert zwar die Begründung

16 Vgl. auch Kr. d. pr. V. 208.17 Vgl. auch Immanuel Kant. Aus Vorlesungen der Jahre 1762 bis 1764. Auf Grund der

Nadisdiriften Joh. Gottfr. Herders. Hrsg. v. H.-D. Irmscher. Kantstudien-Ergänzungs-heft 88 (1964), S. 102 f.

18 XIX, 106 f. (Nr. 6607). Vgl. Kr. d. pr. V. 228.19 XIX, 197 (Nr. 6894). Kant verbindet mit der Cyrenaisdien Philosophie, deren

Hauptvertreter Aristipp ist, auch die neuzeitlichen Theorien von Lamettrie und Helv^tius(vgl. XIX, 109; Nr. 6611).

20 XIX, 174 (Nr. 6831); vgl. Kr. d. pr. V. 208." Vgl. VI, 23 f. Anm. und VI, 484 f.

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des Prinzips der Dijudikation im Gefühl, nicht jedoch die Lehre von den Ge-fühlen als Triebfedern22. Allerdings unterscheidet sich Kant in der Bestimmungsolcher Gefühle im einzelnen von den Engländern und auch von Epikur.

In dieser Auseinandersetzung mit den antiken Lehren treten also zugleichGrundzüge von Kants eigener Ethik während der siebziger Jahre hervor. Die Be-gründung des allgemeinen Prinzips der Sittlichkeit in der reinen Vernunft fandKant bei Plato und den Stoikern vorgebildet. Auf Plato greift Kant bekanntlichbei der Erläuterung der Idee vor allem in ihrer praktischen Bedeutung zurück23;aber auch die stoische Theorie war für Kant richtungweisend in der Frage desVernunftursprungs des Prinzips der Ethik. Sie hat eigentlich sogar noch den Vor-zug, wie Kant dann in der Kritik der praktischen Vernunft hervorhebt, daß siedie Sittlichkeit in der Autarkie des Einzelnen unabhängig von Gott begründet24

und insofern den platonischen „Mystizismus" vermeidet. — In der Vorstellungdieses Prinzips des sittlichen Verhaltens sind jedoch nach Kant nicht die Trieb-federn zur Ausführung enthalten. Dazu sind vielmehr Gefühle und natürlicheBestrebungen notwendig, wie sie in einer moralischen Anthropologie analysiertwerden und wie sie für Kant in der Antike zuerst Epikur aufgezeigt hat. Hiermitstellt sich das für eine Ethik zentrale Problem der Exekution 25. Kant fragt, wiedas im reinen Intellekt bzw. in der Vernunft begründete Sittengesetz, dessen Be-wußtsein allein die Macht der Befolgung nicht in sich enthält, das also nur zumPrinzip der sittlichen Beurteilung von Handlungen zureicht, die sinnlichen Gefühleals Triebfedern zur Ausführung und Verwirklichung des als sittlich notwendig Er-kannten bestimmen kann. Kant sucht damit nach einem Grund der Exekution, dera priori zu begreifen ist. Dies Problem bestimmt offenbar die weitere Entwicklungder Kantischen Ethik 2e. Es führt zu einer eigenen Konzeption des höchsten Gutes,die auch noch in der Kritik der reinen Vernunft zu erkennen ist, und es erhält erstin der Kritik der praktisdien Vernunft seine endgültige Lösung.

Kant geht es auch bei seiner Auseinandersetzung mit den ethischen Theorienund Idealen der Antike vornehmlich um das Verhältnis des objektiven Prinzipsdes Sittlichen zu den subjektiven Gründen der Ausführung. Er setzt dabei dieantiken Lehren oft mit moralphilosophischen Systemen des 18. Jahrhunderts inParallele, die dieselben Probleme behandeln und ähnliche Lösungen vertreten. Erwar sich allerdings auch der grundsätzlichen Verschiedenheit der neuzeitlichen

22 Vgl. De mundi sensibilis § 9 (II, 396).» Vgl. ebda.; auch Kr. d. r. V. A 314 ff.; B 371 ff.24 Vgl. Kr. d. pr. V. 227; auch 201 f.25 VgL zu dieser systematischen Frage Henrich: Das Problem der Grundlegung der

Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus. In: Sein und Ethos. WalberbergerStudien l (1963), S. 367 ff.

2e Auf dieses Thema geht Schmucker in seinem Buch: Die Ursprünge der Ethik Kantsin seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen (Meisenheim a. G. 1961) kaum ein. Eruntersucht vielmehr das moralische Beurteilungsprinzip und zeigt, daß es für Kant trotzmancher Veränderungen schon seit etwa 1762 feststand (vgl. vor allem S. 59 ff. und373 ff.).

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Moralphilosophie von der antiken Ethik insgesamt bewußt. In den Vorlesungs-ankündigungen von 1765 spricht Kant nur von einem Untersdiied der Methode inder „Tugendlehre", die eine ethische Prinzipienlehre voraussetzt27. Der Unter-schied betrifft aber eigentlich die ganze Konzeption der Ethik. So heißt es in einerReflexion vermutlich gegen Ende der sechziger oder zu Beginn der siebziger Jahre:„Die theorien der alten scheinen darauf abzuzielen, die beyde Elemente oderwesentliche Bedingungen des höchsten Gutes: Glükseeligkeit und Sittlichkeit aufeines zu bringen. ... Die Systeme der Neueren dienen, das principium der morali-schen Beurtheilung zu finden" 28. Das Grundproblem der ethischen Theorien derAntike war also das höchste Gut als die Vollendung des Menschseins. Es wurde,insbesondere in den hellenistisch-römischen Lehren, an die Kant dachte, als Ideal,als Vorstellung des Einzelnen in seiner größtmöglichen Vollkommenheit auf-gestellt 29. Ein solches Ideal ist z. B. der stoische Weise. Im Vollendungszustand istzugleich die Eudaimonia erreicht. So sind vollendete Sittlichkeit und Glückseligkeitim Ideal eins. Dieses höchste Gut war in jenen Lehren das Richtmaß und Ziel allersittlichen Handlungen. — Die Neueren dagegen begründeten die Ethik nicht mehrvon der Vollendung, dem Wesen und dem Telos des Menschseins her, sondernsuchten ein Prinzip der moralischen Beurteilung und damit ein eindeutiges Krite-rium zur Unterscheidung sittlicher von unsittlichen Handlungen zu gewinnen. AuchWolffs Prinzip der Vollkommenheit, das der stoischen Ethik nahe steht, ist fürKant eine allerdings unzureichende Regel der Beurteilung und daher grundsätzlichvon einem antiken Ideal der Vollkommenheit zu unterscheiden so.

Kant geht also, worauf er selbst hinweist, bei seiner Anerkennung und Kritikder antiken Theorien vom Boden der neuzeitlichen Moralphilosophie aus. Dennseine Prüfung der Ethik der Alten setzt die Unterscheidung des Prinzips der mora-lischen Beurteilung vom höchsten Gut voraus. Die Berechtigung für ein solchesVorgehen liegt für Kant in der Uneinheitlichkeit des Begriffs des höchsten Gutes.Diese Uneinheitlichkeit wurde, wie Kant mehrfach sagt, zuerst durch das Christen-tum erwiesen. Die christliche Ethik, rein philosophisch betrachtet, war damit fürKant zugleich die erste Lehre, die das höchste Gut vom Prinzip der Sittlichkeitselbst unterschied. Dadurch wurde eine gegenüber den antiken Theorien verändertesystematische Stellung des höchsten Gutes in der Ethik notwendig. In einer Re-flexion heißt es z. B.: „Der Lehrer des evangelii setzte mit recht zum Grunde, daßdie zwey principia des Verhaltens, tugend und Glükseeligkeit, verschieden undursprünglich wären. Er bewies, daß die Verknüpfung davon nicht in der Natur(dieser Welt) liege. Er sagte, man köne sie jedoch getrost glauben. Aber er setzte

27 Vgl. II, 311; vgl. audi Immanuel Kant. Herder-Nadisdiriften, S. 100.28 XIX, 116 (Nr. 6624). Vgl. XIX, 172 (Nr. 6819); XIX, 190 (Nr. 6880); Kr. d. pr. V.20 Vgl. zur Bestimmung des Ideals Kr. d. r. V. A 569 f.; B 597 f.; XIX, 108 (Nr. 6611)

u. a.80 Vgl. XIX, 116, 2. 11 ff. (Nr. 6624).

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die Bedingung hoch an und nach dem heiligsten Gesetz" 31. Die christliche Ethikvollzieht also die prinzipielle Trennung von Sittlichkeit und Glückseligkeit. DerGrund für diese Unterscheidung liegt nach Kant in der Bestimmung des Sitten-gesetzes in seiner ganzen Reinheit und Strenge. Der Mensch kann durch sein eige-nes Bemühen dem Gesetz niemals völlig angemessen sein, also nicht von sich aus diesittliche Vollkommenheit und die darin enthaltene Glückseligkeit erreichen. Kantbezeichnet dieses über die sittliche Fähigkeit des Menschen hinausgehende, un-bedingte Gesetz als „heilig" und dementsprechend das Ideal der Christen als Idealder Heiligkeit82. Soll nun aber das höchste Gut, die Vereinigung von Sittlichkeitund Glückseligkeit, trotz des „Unvermögens" des Menschen, dem Sittengesetzevollständig gemäß zu sein, dennoch für ihn eine Möglichkeit bleiben, so bedarf esvor allem der Ergänzung des „Mangels der heiligkeit" 33 durch Gott.

Die Vorstellung der Reinheit und Strenge des Gesetzes begründet für Kant alsonicht nur ein Prinzip a priori der sittlichen Beurteilung, sondern macht insbesonderedie Unfähigkeit des Menschen bewußt, in der Ausführung dieses Gesetz adäquat zuerfüllen. Darin liegt für Kant der entscheidende Unterschied der christlichen Ethikzu den Theorien der Alten: „Das summum bonum der philosophischen secten kontenur statt finden, wenn man annahm, der Mensch könne dem moralischen Gesetzeadaeqvat seyn. Zu dem Ende muste man entweder seine Handlungen mit morali-schem Eigendünkel vortheilhaft auslegen oder das moralische Gesetz sehr nadi-siditlich machen. Der Christ kan die Gebrechlichkeit seines Persöhnlichen werthserkennen und doch hoffen, des höchsten Gutes selbst unter Bedingung des heiligstenGesetzes theilhaftig zu werden" S4. Mit der „nachsichtlichen" Auslegung des mora-lischen Gesetzes dürfte Kant die epikureische Lehre meinen 35. Dagegen beziehtsich der Vorwurf des „moralischen Eigendünkels" wohl auf die Stoiker36. Kanterkennt zwar, wie erörtert wurde, das aus dem stoischen Ideal heraushebbarePrinzip der Sittlichkeit als Beurteilungsprinzip an, nicht jedoch die stoische Lehrevon den Triebfedern, d. h. von den Bedingungen der AusführungTles Sittengesetzes.Bei diesem Problem unterscheidet er grundsätzlich die stoische von der christlichenEthik. Die Stoiker machten das „Bewußtsein der Seelenstärke", d. h. einen ge-wissen „Heroism" zur Triebfeder 37. Das Gefühl der eigenen Kraft des Geistes, dieFreude an der Autarkie ist für Kant einmal keine rein sittliche Triebfeder; vor

31 XIX, 238 (Nr. 7060). Die Reflexionen zur christlichen Ethik zeidinetc Kant z. T.zu derselben Zeit, z. T. später auf als die Überlegungen zu den Idealen der Alten. Dievorliegende stammt aus den Jahren 1776—78.

32 Vgl. XIX, 309 (Nr. 7312); XIX, 108; 109 (Nr. 6611); EfWfe-Vorlesung, S. 11;Kr. d. pr. V. 149; 230 Anm.; VI, 60 ff.

» XIX, 120 (Nr. 6634); XIX,-175 (Nr. 6836).M XIX, 187 (Nr. 6872).35 Vgl. auch Kr. d. fr. V. 221.* Vgl. XIX, 309 (Nr. 7312).37 Kr. d. pr. V. 229 Anm.

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allem aber führt diese Vorstellung zur „moralischen Schwärmerei" 38. Denn diestoische Theorie nimmt die Erreichbarkeit des höchsten Gutes, das sie als Ideal derWeisheit bestimmt, durch das sittliche Bestreben des Menschen an; sie setzt damiteine sittliche Vollkommenheit des Menschen voraus, die die Grenzen seiner end-lichen Natur übersteigt.

Die christliche Ethik erkennt dagegen nach Kant die „Gebrechlichkeit" dermenschlichen Natur. Der Mensch kann nur durch göttliche „Ergänzung" der ihmfehlenden sittlichen Vollkommenheit hoffen, des höchsten Gutes teilhaftig zu wer-den. Die Frage nach der Möglichkeit des höchsten Gutes verschärft sich beim spätenKant offenbar noch durch die Lehre vom radikalen Bösen, durch die der Begriffder Erbsünde moralphilosophisch umgedeutet werden soll. Kant sucht jedoch auchunter Voraussetzung einer ursprünglichen, vom Menschen selbst unaustilgbarensittlichen Verschuldung die Möglichkeit des höchsten Gutes zu legitimieren, indemer z. B. die Deduktion einer Idee der Rechtfertigung liefert. Auf diese Ausführun-gen der Religionsschrift soll hier aber im einzelnen nicht näher eingegangenwerden.

Die christliche Ethik stellte also nach Kant das reine Prinzip der Sittlichkeit aufund wurde zugleich der endlichen Natur des Menschen gerecht. Sie unterschied dasPrinzip der Sittlichkeit für den Menschen von dem der Glückseligkeit, der diemenschliche Natur immer schon, auch ohne Rücksicht auf das praktische Gesetz,nachstrebt. Das höchste Gut erweist sich damit — anders als in den antikenTheorien — als verschieden vom Prinzip der Sittlichkeit selbst. Kant setzt aller-dings voraus, daß dieses Sittengesetz, das für ihn zum Prinzip der sittlichen Be-urteilung zureicht, auch in der christlichen Ethik eigentlich nicht theonom, sondernautonom, nämlich in der reinen Vernunft begründet ist39. — Ob Kant mit diesenÜberlegungen tatsächlich, wie er selbst glaubte, nur die philosophischen Grund-fragen und das philosophische Prinzip der christlichen Sittenlehre herausgestellthat, ist freilich ein ganz anderes Problem. Es sei hier nur darauf hingewiesen, daßdie christliche Ethik auch grundsätzlich anderer philosophischer Auslegungen etwain nadikantischer Zeit fähig war. So entfernte sich z. B. der junge Hegel geradewegen seiner Konzeption der Liebe als Prinzip einer philosophisch verstandenenchristlichen Ethik von Kants Prinzip des allgemeinen moralischen Gesetzes, dasnach Hegel in seiner Einseitigkeit und Abstraktheit überwunden werden sollte.

38 Kr. d. pr. V. 153. Vgl. 22 Anm. Solche Überschreitungen der Grenzen der Endlidikeitmüssen durch eine Kritik aufgedeckt werden. — Vgl. auch: „Die Alten hatten alle denfehler, daß sie aus ihren idealen Chimären machten." (XIX, 96; Nr. 6584.)

80 Vgl. Kr. d. pr. V. 232. Wenn Kant es als „fehler der philosophischen secten" ansieht,„daß^sie die moral von der religion unabhängig madien wolten" (XIX, 188; Nr. 6876),so kritisiert er damit keineswegs die nidit-theonome Begründung des Prinzips der Sittlich-keit, sondern allein den Gedanken der Erreichbarkeit des hödisten Gutes aus eigener Kraftohne Religionsideen, wie sie das Christentum aufstellte (vgl. Kr. d. pr. V. 227).

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II. Das höchste Gut als Grund a priori für die Ausführungsittlicher Handlungen

Das Ergebnis dieser systematischen Trennung von Sittengesetz und höchstemGut, die für Kant zuerst das Christentum vollzog, scheint nun zu sein, daß der Ge-danke des höchsten Gutes keine Bedeutung mehr für die Grundlegung einer Ethikhaben kann. So hat Kant in der Kritik der praktischen Vernunft die Theorie deshöchsten Gutes aus der Frage der Begründung der Ethik ausgeschlossen. Aber inder Kritik der reinen Vernunft und in den Reflexionen der späteren siebzigerJahre, die zur Erläuterung der knappen Darlegungen der ersten Kritik heran-gezogen werden müssen, ist eine vollständig ausgebildete andere Theorie des höch-sten Gutes deutlich erkennbar. Kant sucht darin das höchste Gut als ein Prinzipa priori zu begreifen, das die Ausführung des Sittengesetzes ermöglicht.

Das Problem der Exekution sittlicher Handlungen formuliert Kant in einerEthik-Vorlesung folgendermaßen: „Urteilen kann der Verstand freilich, aberdiesem Verstandesurteil eine Kraft zu geben, und daß es eine Triebfeder werdeden Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen" 40.Denn die Triebfedern zur Ausführung von Handlungen sind für uns allein sinn-liche Gefühle, die zuletzt immer auf die Erfüllung eines Bedürfnisses, eines Ver-langens nach Glückseligkeit aus sind. So entsteht hier als ein Grundproblem derMoralphilosophie die Frage, ob und wie es überhaupt möglich ist, daß die morali-schen Begriffe in ihrer Reinheit auf das Gefühl wirken und dadurch sittliche Trieb-federn zustande kommen.

Kant forderte zwar schon in früherer Zeit, man solle nicht das „sympatheti-sche" Gefühl der „Theilnehmung" oder ähnliche moralische Gefühle zur „Trieb-feder" machen, sondern die „ m e n s c h l i c h e W ü r d e und Größe"41. Aberer zeigte noch nicht die Möglichkeit einer solchen Triebfeder auf. In der Kritikder reinen Vernunft und in einer Reihe von Reflexionen suchte Kant nundas Problem der Ausführung des Sittengesetzes und damit die Frage der sittlichenTriebfedern durch den Begriff des höchsten Gutes und die Vorstellungen seinerMöglichkeit, nämlich die Ideen: Gott und Unsterblichkeit, zu lösen: „Ohne ...einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt" — als vonuns anzunehmende Bedingungen der Möglichkeit des höchsten Gutes — „sind dieherrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunde-rung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung" 42. Die sittlichenGesetze erhalten sogar erst durch die Vorstellung eines „angemessenen Effects",den nur Gott herbeiführen kann, „für uns verbindende Kraft" 43, sind erst durchdie Verknüpfung mit den „angemessenen Folgen" für uns „ G e b o t e " . Ohnejene Annahmen wären dagegen „die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste

*° Ethik-Vorlesung, S. 54. Vgl. auch XIX, 182 f. (Nr. 6859); XIX, 185 (Nr. 6864).41 Immanud Kant. Herder-Nadisdiriften, S. 103.42 Kr. d. r. V. A 813; B 841; vgl. A 589; B 617.43 Kr. d. r. V. A 815; B 843. Vgl. auch XIX, 248 (Nr. 7097); XVIII, 458 (Nr. 6110).

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anzusehen" 44. Wäre also das höchste Gut unmöglich, so forderten die moralischenGesetze das Hinwirken auf etwas für uns Unmögliches. Da wir ihnen auf dieseWeise von vornherein keine objektive Realität in unserer Welt verschaffen könn-ten, würden wir sie auch gar nicht als verbindliche Gebote verstehen. Nur durchden Gedanken der Möglichkeit des höchsten Gutes erhält also für uns das Sitten-gesetz seine praktische Kraft. Damit hat Kant ein Prinzip a priori für die Exeku-tion des Sittengesetzes aufgestellt.

Diese „triebfeder ist von allen Hindernissen der Natur frey. Die triebfeder ausder ändern Welt ist auch schon an sich selbst der Entsagung auf allen Vortheilgleich. ... Die andere (intellectuale) Welt ist eigentlich die, wo die Glükseeligkeitgenau mit der Sittlichkeit zusammenstimt" 45. Der Begriff dieser „intellectualen"Welt ist identisch mit dem des höchsten Gutes. Die Triebfeder, die auf den Vorteilin der Sinnenwelt Verzicht tut, ist hier nicht empirisch bedingt, sondern rein; siesteht unter der Idee der „ändern", der „intellectualen" Welt als einer sie leitendenIdee a priori. Daß Kant mit diesem Gedanken die christliche Tradition wieder-aufnimmt, tritt an folgender Stelle deutlicher hervor: „Das Reich Gottes aufErden ist ein ideal, welches in dem Verstande desjenigen eine bewegende Krafthat, der sittlich gut seyn will" 4e. Kant identifiziert dann in der Kritik der -prak-tischen Vernunft die Vorstellung des Reiches Gottes ausdrücklich mit der deshöchsten Gutes 47. Das höchste Gut wird damit Bestandteil einer moralischen Reli-gion, die als Auslegung und Umdeutung der christlichen Lehre aus reiner Vernunftverstanden werden muß.

Die moralische Religion ist nun für Kant notwendig zur Exekution des Sitten-gesetzes: „Ohne Religion würde die moral keine triebfedern haben, die alle vonder Glükseeligkeit müssen hergenommen seyn. Die moralischen Gebothe müsseneine Verheißung oder Drohung bey sich führen" 48. Alle Triebfedern des Menschensind also von der Vorstellung der angestrebten, erhofften Glückseligkeit abhängig.Hier entsteht nach Kant das Problem: „Was darf ich hoffen" als die dritte für dasDasein des Menschen entscheidende Grundfrage neben den Fragen nach dem Wis-sen und nach dem Sollen. „Alles H o f f e n geht auf Glückseligkeit ..." 4Ö. Diesittliche Triebfeder besteht nun in der Hoffnung auf die Glückseligkeit in einer

44 Kr. d. r. V. A 811; B 839. Ähnlich XVIII, 547 (Nr. 6280): „Der moralische Begrif"würde ohne die Voraussetzung der Möglichkeit einer Zusammenstimmung von Sittlichkeitund Glückseligkeit „ein blosses ens rationis betreffen, das in Nichts zerginge". Noch in derKritik der praktischen Vernunft spricht Kant einmal von der „Falschheit" des moralisdienGesetzes, wenn das höchste Gut unmöglich wäre (Kr. d. pr. V. 205); das Sittengcsctz wäredann zwar nicht in sich widersprüdilich, aber doch eine sinnlose Fiktion.

45 XIX, 176 (Nr. 6838).46 XIX, 201 (Nr. 6904); vgl. auch XIX, 197 (Nr. 6894) und XVIII, 465 (Nr. 6134):

„Ohne eine beste Welt giebts keine Moral."47 Vgl. Kr. d. pr. V. 230; 231 f.; 235. Zum Begriff des Reiches Gottes in der Religions-

schrift vgl. Bohatec: Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb derGrenzen der bloßen Vernunft". Hamburg 1938, S. 393 ff.

48 XIX, 181 (Nr. 6858). Vgl. XIX, 307 (Nr. 7303); audi XIX, 188 (Nr. 6876).48 Kr. d. r. V. A 805; B 833.

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künftigen Welt nach dem Maße der Sittlichkeit. Diese Hoffnung legt sich aus imSich-Vorhalten von Verheißungen bzw. negativ — als Furcht —' in der Vorstel-lung von Drohungen 50. Die erwartete Belohnung oder Bestrafung in einer künfti-gen Welt kann jedoch nur als realisierbar gedacht werden durch die Macht einesmoralischen Welturhebers, dessen Dasein daher anzunehmen ist. Gott gilt also alsGarant der Verwirklichung der erhofften Welt. Da nach Kant vor allem durchdiesen Gedanken die Möglichkeit des höchsten Gutes vorstellbar ist, kann für ihnin der Annahme des Daseins Gottes geradezu die sittliche Triebfeder selbst ent-halten sein: „Glaube an Gott durch moralitaet. Diese giebt das Interesse. Diemoralische Gesinnung ist ohne diesen Unmöglich, obzwar die Beurtheilung" 51. Dermoralische Glaube an Gott ist der Grund für die Ausführung des Sittengesetzes.Die Moraltheologie nimmt damit in den damaligen Reflexionen und in der Kritikder reinen Vernunft eine andere systematische Stelle ein als später. Dieser mora-lische Glaube selbst ist jedoch begründet in der Hoffnung auf die moralisch aus-geteilte Glückseligkeit in einer intelligiblen Welt, d. h. in der Hoffnung auf dashöchste Gut52. Diese Hoffnung und, darin impliziert, die Vorstellung der Mög-lichkeit des Erhofften machen also die sittliche Triebfeder aus.

Kant bestimmt in der Aufnahme der christlichen Tradition das höchste Gut alsintelligible Welt, als Reich Gottes oder als „moralische Welt" 53. Im Unterschiedzu den Idealen der Alten, in denen die Vollendung des einzelnen Menschen vor-gestellt wird, ist damit das höchste Gut ein ethischer Weltbegriff. Es wird als einGanzes vernünftiger Wesen gedacht, in dem Sittlichkeit und Glückseligkeit harmo-nisch zusammenstimmen. Zwar kennt nach Kant auch die christliche Sittenlehreein persönliches Ideal: das Ideal der Heiligkeit; aber die Allgemeingültigkeit undStrenge des Sittengesetzes verbietet es dem Menschen, der seine „Gebrechlichkeit"und die Endlichkeit seiner Natur selbst nicht aufheben kann, nach sittlicher Voll-kommenheit als privater innerer Vollendung unabhängig den ändern zu

50 Vgl. auch Kr. d. r. V. A 811; B 839. Kritischer ist Kant gegenüber diesen Triebfedernnoch zur Zeit des Rousseau-Einflusses, vgl. etwa II, 372 f. Vgl. auch die kritische Beurtei-lung solcher Triebfedern in Kants späteren Schriften, z. B. VI, 161 f.; VIII, 338 f.

51 XVIII, 468 (Nr. 6143). Vgl. auch XIX, 296 (Nr. 7258). In einer £f^-Vorlesungspricht Kant sogar davon, daß nicht nur der Glaube, sondern sogar die praktische „Er-kenntnis Gottes in Ansehung der Ausübung der moralischen Gesetze notwendig" sei (S. 49;vgl. S. 102 ff.).

52 Henridi weist in seinem Aufsatz: Der Begriff der sittlichen Einstein und Kants Lehrevom Faktum der Vernunft (in: Die Gegenwart der Griedien im neueren Denken. Fest-schrift f. H.-G. Gadamer. Tübingen 1960) schon in einer Anmerkung auf diesen früherenSinn der Moraltheologie hin. Er verbindet sie dort mit der „Lehre von der Glückswürdig-keit" (S. 106 f. Anm.). — Diese Theorie gründet wohl, wie weiter unten noch zu zeigen ist,in der früheren Lehre vom höchsten Gut als Prinzip für die Ausführung des •Sitten-gesetzes. — Audi Gueroult (Vom Kanon der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik derpraktischen Vernunft. Kant-Studien 54 (1963), S. 432—444) weist auf Unterschiede derKonzeption der Moralphilosophie in den beiden ersten Kritiken hin. Sein Hauptinteressegilt allerdings nicht dem Problem des höchsten Gutes selbst.

53 Kr. d. r. V. A 808; B 836; vgl. A 809; B 837 u. ö.

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streben, und verweist ihn an die Gemeinschaft. Das höchste Gut eines Einzelnenist nur innerhalb des höchsten Gutes aller vernünftigen und freien Wesen möglich.Die Frage der Glückseligkeit der anderen und der Glückseligkeit des Ganzen, diein diesem Begriff des höchsten Gutes enthalten ist, soll weiter unten noch näherbetrachtet werden.

Kant erwähnt selbst, daß er diese der christlichen Tradition entstammende Vor-stellung des Reiches Gottes auch in der Leibnizsdien Auslegung als Reich derGnaden vor Augen hatM. Das Reich der Gnaden oder der Gottesstaat ist auch fürLeibniz eine moralische Welt, wird also als ethischer Weltbegriff konzipiert, deraber zugleich dogmatisch-metaphysisch ist. Jene Welt, jenes sittliche Gemeinwesender geistigen Monaden gilt ihm im ganzen als erkennbar, während die intelligible,moralische Welt für Kant von vornherein nur Gegenstand der Hoffnung als einersittlichen Triebfeder ist. Vor allem versucht erst Kant, mit Hilfe dieser Idee deshöchsten Gutes ein Grundproblem einer ausgebildeten und gegenüber der theoreti-schen Philosophie selbständig entwickelten Moralphilosophie zu lösen.

Das höchste Gut ist für Kant also ein moralischer Weltbegriff, der als ein Prin-zip a priori die Ausführung des Sitten gesetzes ermöglichen soll. Der kategorischeImperativ erhält nun, sofern er im Hinblick auf diese Konzeption des höchstenGutes formuliert wird, eine spezifische Bestimmung. Anders als die drei besonderenFormeln der Grundlegung und die allgemeine Formel, die dann die Kritik derpraktischen Vernunft allein herausstellt, lautet die Formel in der Kritik der reinenVernunft: „Thue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein" 55. Die hierinenthaltene Vorstellung der Glückseligkeit wäre im reinen Prinzip der moralischenBeurteilung überflüssig und unbrauchbar. Aber diese Gestalt des kategorischenImperativs als Antwort auf die Frage: „Was soll ich tun?" darf nicht nur alsDijudikationsprinzip, sondern muß zugleich als verbindliches Gebot aufgefaßtwerden, das zur sittlichen Ausführung antreibt. Kant fragt, wie „die sittliche Be-dingungen motiva" werden können und nennt „erstlich das mit der moralitaetwesentlich verbundene motivum, nemlich die Würdigkeit glüklich zu seyn" 56. Dasmoralische Gesetz selbst verlangt diese Würdigkeit, glücklich zu sein, als Beweg-grund unserer Handlungen 57. Der Gedanke der Glückseligkeit und der der Wür-digkeit als ihrer obersten sittlichen Bedingung setzen aber die Idee des höchstenGutes voraus. Daher kann Kant in einer Reflexion sogar sagen: „Die qvaestiode summo bono fragt: wie sollen wir würdig werden Glüklich zu seyn 58"? Wirdalso in den kategorischen Imperativ der Begriff der Würdigkeit, glücklich zu sein,aufgenommen, damit das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit für uns praktischeKraft hat, so ist diese Formel nur unter Voraussetzung der Idee des höchstenGutes verständlich.

54 VgL Kr. d. r. V. A 812; B 840; A 815; B 843; auch VIII, 250.55 Kr. d. r. V. A 808 f.; B 836 f. Die Sperrung des Zitats wurde nicht übernommen.56 XIX, 117 (Nr. 6628); vgl. auch XIX, 248 (Nr. 7097).57 VgL Kr. d. r. V. A 806; B 834.58 XIX, 175 (Nr. 6836).

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Die Sittlichkeit bzw. Tugend ist als Würdigkeit, glücklich zu sein, also dieoberste Bedingung der Erreichung der Glückseligkeit. Die Allgemeinheit des Sitten-gesetzes steht nun innerhalb dieser Idee des höchsten Gutes als moralischer Weltebenfalls in einem Bezug zur Glückseligkeit: „Die Notwendigen Gesetze (diea priori feststehen) der allgemeinen Glükseeligkeit sind moralische Gesetze"59.Unter allgemeinen Bedingungen der Sittlichkeit kann man nur die „Glükseeligkeitdes Ganzen"60 wollen. Es wird damit eigentlich die Glückseligkeit als Materieund Zweck der Handlungen unter das formale allgemeine Gesetz der Sittlichkeitsubsumiert. Hieran denkt Kant wohl in seiner Notiz: „principium formale identi-tatis in moralibus. materiale: felicitas publica" 61. Kant fällt mit diesem Gedankender allgemeinen Glückseligkeit nicht wieder in Theorien des 18. Jahrhunderts voneinem die Sittlichkeit begründenden Zweck der Handlungen bzw. vom Zweck desStaates zurück. Die allgemeine Glückseligkeit hat für ihn nur als Bestandteil derIdee des höchsten Gutes Bedeutung. In dieser Idee wird das Moralgesetz selbst alsGesetz der allgemeinen Glückseligkeit gedacht; es macht das Wollen der Glück-seligkeit erst allgemein. — Manche Formulierungen Kants in den Reflexionenkönnen allerdings den Anschein erwecken, als gehe es bei der Unterordnung dererstrebten Glückseligkeit unter das allgemeine Gesetz nur um ein vernünftiges Mit-tel zur Erreichung der Glückseligkeit. So ermöglicht, wie Kant z. B. sagt, das Ver-nunftprinzip „Ordnung und form ..., ohne Welches unter meinen privat Ver-gnügen, imgleichen denen mit anderer ihren, kein Zusammenhang ist." Es wäredann „alles tumultuarisch" e2. Aber das unbedingte sittliche Gesetz ist nicht alsbloßes Mittel eines vernünftigen Glücksstrebens auszulegen, sondern muß für sichselbst gewollt werden. Die allgemeine Glückseligkeit ist also zwar ein Gut, „aberschlechthin gut ist sie nicht" es; sie untersteht der Bedingung des schlechthin guten,nämlich an sich selbst allgemeingültigen Willens.

Kant kritisiert in diesen Reflexionen jedoch noch nicht den^Begriff der all-gemeinen Glückseligkeit selbst. Während der Begriff der Glückseligkeit für Kantspäter ein unbestimmter Begriff ist, dessen Elemente bloß empirische, aber niemalsstreng allgemeine Regeln des Verhaltens zulassen 64, gibt er ihm hier eine besondereBedeutung innerhalb der Konzeption des höchsten Gutes. Die allgemeine Glück-seligkeit kommt in diesem systematischen Zusammenhang nur in der moralischenWelt zustande und ist als Wirkung des allgemeinen Willens aus Freiheit zu den-ken. Dieses Verhältnis von Freiheit und Glückseligkeit soll noch näher betrachtetwerden.

59 XIX, 203 (Nr. 6910). Vgl. Vorlesungen über die Metaphysik, hrsg. v. Poclitz, Erfurt1821, S. 321 f.

co XIX, 215 (Nr. 6965); vgl XIX, 216 f. (Nr. 6971).« XIX, 119 (Nr. 6631).«2 XIX, 230 (Nr. 7029); vgl. etwa XIX, 215 (Nr. 6961); XIX, 114 f. (Nr. 6621).w XIX, 195 (Nr. 6890); vgi. audi XIX, 221 (Nr. 6989); XIX, 272 f. (Nr. 7199);

Kr. d. pr. V. 61.w Vgl. Grundlegung 418 (in Bd. IV der Akademie-Ausg.); Kr. d. pr. V. 63; audi

VIII, 298.

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Die Idee des höchsten Gutes verlangt, wie Kant in der Kritik der reinen Ver-nunft sagt, daß „die durch sittliche Gesetze theils bewegte, theils restringirteFreiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit" sei 65. Dieser Gedankewar für die nähere Vorstellung der Struktur des höchsten Gutes offenbar zentral;Kant hat ihn in den Reflexionen mehrfach erwähnt und auch genauer ausgeführt.So „stiftet" für Kant z. B. das „Principium der Einheit der freyheit unter Ge-setzen ... ein analogon mit dem, was wir Natur nennen, und auch einen innernQvell der Glükseeligkeit, den Natur nicht geben kan und wovon wir selbst Ur-heber seyn. Wir befinden uns alsdenn in einer Verstandeswelt nach besonderenGesetzen, die moralisch sind, verbunden, und darin gefallen wir uns" es. Wie dieNatur als Inbegriff der Gegenstände der Erfahrung das Dasein der Dinge unterGesetzen der Erscheinungen bedeutet, so ist die intelligible Welt als Dasein derWesen unter nichtsinnliehen Gesetzen, d. h. unter Gesetzen der Freiheit zu denken.In ihr bringen die vernünftigen Wesen aus Freiheit, sofern sie der notwendigenEinheit des allgemeinen Willens gemäß ist, die Glückseligkeit als ihren Zustandselbst hervor e7. Dieses Verhältnis von Freiheit und Glückseligkeit sucht Kant ineiner ändern Reflexion noch näher zu bestimmen: „Das principium der Moral istavtocratie der freyheit in Ansehung aller Glükseeligkeit oder die Epigenesis derGlükseeligkeit nach allgemeinen Gesetzen der freyheit" e8. Die Macht der Freiheit,sofern sie den moralischen Gesetzen gemäß ist, besteht also darin, die Glückselig-keit ursprünglich hervorzubringen. Die „Epigenesis" der Glückseligkeit, wie Kantmetaphorisch sagt, ist ihre „Erzeugung" aus Freiheit69. Damit entsteht etwasNeues, das in seiner „Form" durch das „Erzeugende", vorgeprägt ist. Diese Glück-seligkeit ist kein physisches Gut, das man nur zufällig erlangt, sondern geht ge-setzmäßig aus der Freiheit hervor, ist selbst ein spontan erzeugtes Bewußtsein derHarmonie des sittlichen Willens mit sich selbst. Die Freiheit unter den Regeln desallgemeinen Willens wird also als das Grundgesetz des Daseins und des Zustandesder Wesen in der intelligiblen Welt gedacht. — Dieses Hervorbringen der Glück-seligkeit aus Freiheit bezeichnet Kant in der oben angeführten Reflexion als„principium der Moral". Er denkt hierbei wohl an die zentrale systematische Stel-lung, die nach seiner damaligen Konzeption die Idee des höchsten Gutes als einermoralischen Welt in der Moralphilosophie erhalten sollte, nämlich an das Prinzipder Exekution sittlicher Handlungen.

Kant läßt nun bei dieser Idee der intelligiblen Welt, in der die Glückseligkeitaus der Macht der sittlichen Freiheit selbst erfolgt, die Endlichkeit unseres freienWillens nicht unberücksichtigt. Das wird in einer Reflexion folgendermaßen an-gedeutet: „Das Vornehmste problem der moral ist dieses: Die Vernunft zeigt, daß

65 Kr. d. r. V. A 809; B 837.66 XIX, 296 (Nr. 7260); vgl. audi XIX, 274 (Nr. 7200).67 Vgl. dazu auch Kr. d. pr. V. 74 f.68 XIX, 186 (Nr. 6867).69 Vgl. XIX, 273 (Nr. 7199): „Die Moralitat besteht in den Gesetzen der Erzeugung

der wahren Glüdkseeligkeit aus Freyheit überhaupt."

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die durchgängige Einheit aller Zweke eines Vernünftigen Wesens so wohl in an-sehung seiner selbst als andrer, mithin die formale Einheit im Gebrauche unsererfreyheit, d. i. die moralität, wenn sie von jedermann ausgeübt würde, die Glük-seeligkeit durch freyheit hervorbringen und vom allgemeinen zum besondern ab-leiten würde ..." 70. Auch hier ist für Kant der Zusammenhang von sittlicherFreiheit und Glückseligkeit „das Vornehmste problem der moral". Die Glückselig-keit geht aber für alle und, daraus folgend, auch für den einzelnen nur danngesetzmäßig aus der Freiheit hervor, wenn jeder moralisch handelt. Da der mensch-liche Wille jedoch immer moralisch unvollkommen bleibt, kann diese Voraus-setzung von Menschen bzw. überhaupt von endlichen vernünftigen Wesen nichterfüllt werden 71. Denn bei einem endlichen Willen erfolgt, was sittlich notwendigist, doch immer nur zufällig und kann also auch unterbleiben72. Nun muß mansich aber das höchste Gut gerade für einen endlichen, menschlichen Willen alsmöglich denken, da er zur Ausführung des Sittengesetzes auch der Vorstellung derGlückseligkeit bedarf. Also muß aufgrund der moralischen Unvollkommenheit derendlichen Wesen ein „moralisch vollkommenster Wille" als „Ursache aller Glück-seligkeit in der Welt" angenommen werden. So bleibt das Prinzip a priori, dasdie Ausführung sittlicher Handlungen ermöglichen soll, in Kraft, „wenn gleichandere diesem Gesetze sich nicht gemäß verhielten" 73.

Diese Annahme eines vollkommensten Willens ist nun selbst eine theoretischeVorstellung der Möglichkeit des höchsten Gutes74. „Die Idee des allgemeinenWillens hypostasirt, ist das höchste selbständige Gut, das zugleich der zureichendeQvell aller Glüdkseeligkeit ist: das Ideal von Gott" 75. Nur bei einem göttlichenWillen geht aus der Freiheit selbst alle Glückseligkeit hervor, sowohl für ihn selbstals auch für die endlichen sittlichen Wesen. Gott wird also — vermöge seiner voll-kommenen Freiheit — theoretisch als der zureichende Grund aller Glückseligkeitin der moralischen Welt gedacht. Kant unterscheidet damit, in inpralphilosophischbegründeter Aufnahme der christlichen Tradition, Gott als das höchste ursprüng-liche Gut von der moralischen Welt als dem höchsten abgeleiteten Gut76. Diemoralische Welt aber ist der eigentliche Gegenstand der Hoffnung. Da sie nur dieBedeutung einer praktischen Idee für einen endlichen sittlichen Willen hat, wird

70 XIX, 283 (Nr. 7204).71 Vgl. Kr. d. r. V. A 809 f.; B 837 f.; auch Grundlegung: IV, 438.72 Vgl. dazu Kr. d. U. 342 f.75 Kr. d. r. V. A 810; B 838.74 Zur Verbindung dieser theoretischen Voraussetzung mit den praktischen Prinzipien

vgl Kr. d. r. V. A 805; B 833; A 809 ff.; B 837 ff.75 XIX, 282 (Nr. 7202).7e Vgl. Kr. d. r. V. A 810 f.; B 838 f.; Kr. d. pr. V. 226; Afef*pA?sifc-Vorlesungen

S. 334 ff.; 325. So können die Grundthemen der Metaphysik des 18. Jahrhunderts:Einzelseele, Welt und Gott praktisdi umgedeutet und durch die Idee des höchsten Gutesjeweils als Ideal des Einzelnen, als moralisdie Welt und als vollkommenster, allmädnigerWille gedacht werden.

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in ihr die Endlichkeit dieses Willens mitgedacht; deshalb aber muß sie von dervollendeten Macht der göttlichen Freiheit unterschieden werden.

Zu Beginn des deutschen Idealismus wurde dann, was hier nur anzudeuten ist,diese von Kant vollzogene Unterscheidung aufgehoben. Sie konnte sich aus derbloßen Analyse des Begriffs der Freiheit nicht ergeben. So war für Fichte Gottdie moralische Weltordnung selbst, deren der freie Wille sich bewußt ist; derfrühe Schelling dachte die absolute Freiheit des Ich als intellektuelle Gewißheitdes Absoluten oder als intellektuelle Anschauung des Göttlichen im Ich und sahdarin auch den Grund der praktischen Freiheit des endlichen Selbstbewußtseins.Das „älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus" faßt diese Intention, dieSchelling und Hegel gemeinsam ist, in der Forderung zusammen: „Absolute Frei-heit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen, und weder Gott nochUnsterblichkeit a u ß e - r s i c h suchen dürfen"77. Als Grundlage und Recht-fertigungsgrund dieser neu entstehenden Ethik als Metaphysik dient der meta-physische Begriff der unbedingten Gewißheit der absoluten Freiheit im Ich. FürKant dagegen war nur die Freiheit des unvollkommenen, endlichen Willens gewiß,der die Idee einer moralischen Welt und — davon unterschieden — die Idee Gottesbloß zur Ermöglichung seiner sittlichen Praxis entwirft.

In der Idee des höchsten Gutes als moralischer Welt wird die Glückseligkeitaller Glieder der intelligiblen Welt gedacht, sofern sie dieser Glückseligkeit würdigsind. Aus dieser Vorstellung des vollendeten Gutes als praktischer Idee ergibt sichnun auch die Pflicht, das Glück Anderer zu fördern, und zwar schon in der sinn-lichen Welt. Kant sieht die „freyheit als ein prindptum der allgemeinen Glük-seeligkeit" an, woraus die „gütigkeit gegen andere" offensichtlich folgt78. DieseLiebespflichten, wie sie genannt werden, sind nur ethisch; zu ihrer Erfüllung kannman nicht juridisch gezwungen werden 7fl. Es sei an dieser Stelle nur erwähnt, daßKant schon in den Reflexionen der sechziger und siebziger Jahre, in Auseinander-setzung mit Baumgartens Initia pbilosopbiae practicae primae, den Unterschiedvon Rechtslehre und Ethik durch eine präzisierte Fassung der Begriffe des äußerenund inneren Zwangs näher zu bestimmen suchte. Dabei ist für die Ethik geradedas Problem.der inneren sittlichen Triebfedern konsumtiv. Die rein ethische Be-deutung der Liebespflichten leuchtet nun unmittelbar ein, solange die Idee deshöchsten Gutes, in der sie begründet sind, als Prinzip a priori für die Exekution,d. h. für die Handlungen aus innerer Freiheit gedacht wird. Sie ergeben sich un-mittelbar aus der Idee, unter der überhaupt alle sittliche Ausübung erst möglichist. Mit der veränderten Begründung des höchsten Gutes, die Kant später gibt,muß auch die Sittlichkeit der Liebespflichten anders begründet werden.

Im höchsten Gut als Weltbegriff werden also die Anderen mitgedacht. Soll dieFreiheit „eine nothwendige Ursache der Glückseeligkeit seyn, so muß sie 1. Aus

77 In: Hölderlin: Sämtlidje Werke. Bd. 4,1 (hrsg. v. F. Beißner) Stuttgart 1961, S. 298.78 XIX, 286 (Nr. 7209); vgl. auch XIX, 218 (Nr. 6977).79 Vgl. z. B. XIX, 129 (Nr. 6670); XIX, 296 (Nr. 7259).

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principien die Willkühr bestimmen. 2. Aus principien der Einheit so wohl mitseiner eigenen Persohn und zugleich in ansehung der Gemeinschaft mit ändern" 80.Die notwendige Einstimmigkeit der eigenen Zwecke und die Zusammenstimmungdes eigenen Willens mit dem Willen der Anderen nach allgemeinen Gesetzen ist dieBedingung für das Zustandekommen wahrer Glückseligkeit. Dieser Gedanke derZusammenstimmung des Willens aller nach allgemeinen Gesetzen liegt der späterenFormulierung des Sittengesetzes mit Hilfe des Begriffs des Reichs der Zwecke'zugrunde 81. Der Pluralismus der freien Wesen, der keineswegs selbstverständlichist, wird 'hierbei vorausgesetzt. Wie allerdings die praktische Erkenntnis des An-deren und seines freien Willens zustande komme, etwa in einem Akt der An-erkennung, und wie die intellektuelle Zusammenstimmung der einzelnen Willen un-tereinander durch Billigung des allgemeinen Gesetzes oder allgemeinen Willens alsein praktischer Erkenntnisakt des Selbstbewußtseins näher zu bestimmen ist, hatKant offen gelassen. Er weist nur auf eine Analogie der notwendigen Einheit desallgemeinen Willens als Bedingung der Glückseligkeit in der moralischen Welt mitder notwendigen Einheit der Apperzeption hin: „Gleichwie die identität derapperception ein principium der synthesis a priori vor alle mögliche Erfahrungist, so ist die identität meines wollens der form nach ein principium der glück-seeligkeit aus mir selbst.. .**.82. Bei dieser Analogie wird zwar die Verschiedenheitder Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung und der Prinzipien des sittlichenHandelns bereits vorausgesetzt; aber der spezifisch praktische Charakter der Zu-stimmung zum allgemeinen Willen, der für das Selbstverständnis und die Praxisdes einzelnen sittlichen Bewußtseins konstitutiv ist, wird doch nicht näher unter-sucht. —

Die Glückseligkeit, die aus der sittlichen Freiheit hervorgehen soll, kommt nunnach der bisher erörterten Konzeption des höchsten Gutes nur in der moralischen,d. h. intelligiblen Welt zustande. Kant stellt damit in den Reflexionen der sieb-ziger und der frühen achtziger Jahre und z. T. auch in der Kritik der reinenVernunft einen Begriff der Glückseligkeit auf, der von seinem späteren Begriffder Glückseligkeit deutlich unterschieden ist. In einer Reflexion gibt Kant z. B.folgende Bestimmung: „Die Glükseeligkeit a priori kan in keinem ändern Grundegesetzt werden als in der Regel der Einstimmung der freyen Willkühr. Diesesist ein Grund der Glükseeligkeit vor allen Kenntnissen der Mittel durch Erfah-rung und eine Bedingung ihrer Möglichkeit in allen fällen. Dadurch Gefällt dieWelt dem Verstande ..." 8S. Die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guteskann also nicht empirisch bedingt sein. Sie muß vielmehr als intellektuelle Glück-

80 XIX, 274 (Nr. 7200).81 Vgl. Grundlegung: IV, 433 ff.; vgl. auch sdion in den Träumen eines Geistersehers:

II, 335 f.82 XIX, 283 f. (Nr. 7204), statt „mir" steht im Text: „mich". Vgl. XIX, 280 (Nr. 7202)

u. a. ,83 XIX, 203 f. (Nr. 6911). Vgl. auch die Bemerkung, „der Genuß der Sinne" sei „bey

weitem kein achtes Stük der Glükseeligkeit" (XIX, 203; Nr. 6910).

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Seligkeit vorgestellt werden. „Wenn mir etwas gefällt, aber nicht so fern es meinesinne afficirt, so ist das Vergnügen intellectuel und ein freyes Vergnügen." Esentsteht durch das „Wohlgefallen an der regelmäßigkeit der freyheit" 84. Kantspricht auch von dem „intellectuellen der Glückseligkeit" 85. Diese Glückseligkeitergibt sich aus der freien Einwilligung des Einzelnen in das Gesetz des allgemeinenWillens; das Bewußtsein dieser Zusammenstimmung ist nach Kant selbst schon einZustand des Glücks und der Freude, die hier rein intellektuell sind.

Kant unterscheidet diesen Begriff der Glückseligkeit ausdrücklich von dem Be-griff der physischen oder empirischen Glückseligkeit: „Die Glükseeligkeit istzwiefach: entweder die, so eine Wirkung der freyen Willkühr vernünftiger Wesenan sich selbst ist, oder die nur eine Zufellige und äußerlich von der Natur ab-hängende Wirkung davon ist. Vernünftige Wesen könen sich durch handlungen,welche auf sich und auf einander wechselseitig gerichtet sind, die Wahre Glük-seeligkeit machen, die von allem in der Natur unabhängig ist ... Dieses ist dieGlükseeligkeit der Verstandeswelt" 8e. Die wahre Glückseligkeit ist nicht die Be-friedigung natürlicher Bestrebungen, Antriebe und Bedürfnisse, d. h. sie ist nichtphysisch, sondern muß, da sie notwendiger Erfolg der Sittlichkeit innerhalb deshöchsten Gutes sein soll, als Glückseligkeit der „Verstandeswelt" vorgestellt wer-den. Daran denkt Kant wohl auch in der Kritik der reinen Vernunft, wenn er „ineiner intelligibelen, d. i. der moralischen, Welt ... ein solches System der mit derMoralität verbundenen proportionirten Glückseligkeit" fordert87. — Kant suchtdiese beiden Begriffe der physischen und der intellektuellen Glückseligkeit auch alszwei unterschiedliche Bestimmungen des einen Begriffs der Glückseligkeit zu den-ken: „Die Materie der Glückseligkeit ist sinnlich, die Form derselben aber istintellectuel." Im folgenden erläutert Kant, was er unter dieser Form versteht:„Die Function der Einheit a priori aller Elemente der Glückseligkeit ist die noth-wendige Bedingung der Möglichkeit und das Wesen derselben ... Das macht dieGlückseligkeit als solche möglich und hangt nicht von ihr als dem Zwecke ab undist selbst die ursprüngliche form der Glückseeligkeit ..." 88. Die „Form" und das„Wesen" der Glückseligkeit eines vernünftig existierenden Selbstbewußtseins istdie freie Zustimmung zum allgemeinen Willen. Doch verbirgt sich in diesemSchwanken zwischen dem „Wesen" der Glückseligkeit und ihrer „notwendigen"oder auch „formalen Bedingung" 89, die im Gegensatz zur Materie der Glückselig-keit steht, ein ungelöstes Problem. Ein vernünftiges, aber zugleich sinnlich beding-

84 XIX, 190 f. (Nr. 6881); vgl. XVIII, 259 (Nr. 5620).85 XIX, 278 (Nr. 7202); vgl. etwa auch XIX, 282 (Nr. 7202).8« XIX, 202 (Nr. 6907). Vgl. XIX, 186 (Nr. 6867). Audi in der Religionsschrift unter-

sdieidet Kant zwischen „physisdier" und „moralischer Glückseligkeit", worunter er dortallerdings das Bewußtsein des „Fortschritts im Guten" versteht (VI, 75 Anm.; vgl. 67; velauch VI, 387 f.).

87 Kr. d. r. V. A 809; B 837; vgl. A 814; B 842. Zur Bestimmung der empirischenGlückseligkeit vgl. dagegen B 834 (A 806).

88 XIX, 276 f. (Nr. 7202).89 Ebd.

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tes Wesen wie der Mensch bleibt auch bei sittlichen Entscheidungen in seinem Zu-stande an sinnliche Gegebenheiten gebunden. An diesem Punkt wird dann KantsRevision des Begriffs der Glückseligkeit innerhalb der Theorie des höchsten Guteseinsetzen.

In diesem Begriff der intellektuellen Glückseligkeit hat Kant wohl vor allemzwei Traditionen verarbeitet. Einmal greift er mit seinem Begriff der Glückselig-keit in der intelligiblen Welt die christliche Lehre von der Seligkeit auf: „Dieheiligkeit hat zum Wohlbefinden seeligkeit. Entspringt aus der Gemeinschaft mitGott"90. „Die Lehre des evangelii will auch, daß man nicht anders als durchWohlverhalten und Heiligkeit soll hoffen seelig zu werden ..."91. Die Seligkeit,die als „Gemeinschaft mit Gott" gedacht wird, kommt also nicht durch intellek-tuelles Anschauen zustande, wie nach Kant der Platonismus annahm, sondern nurdurch eigene sittliche Anstrengung sowie die göttliche Ergänzung unseres Unver-mögens. Gott als das höchste ursprüngliche Gut denken wir uns dabei als den„moralisch vollkommensten Willen, mit der höchsten Seligkeit verbunden"ö2.Diese ursprüngliche Seligkeit Gottes wie auch die abgeleitete Seligkeit endlichervernünftiger Wesen kann aber nur als eine mit empirischen Elementen unver-mischte, intellektuelle Glückseligkeit vorgestellt werdenÖS.

Zum ändern bestimmt Kant die nichtempirische Glückseligkeit als moralischeSelbstzufriedenheit und geht damit offenbar auf den Glückseligkeitsbegriff derStoa zurück. „Die Zufriedenheit aus einem Besitze des Wohlbefindens, der vonäußeren Dingen unabhängig ist, ist Selbstzufriedenheit" 94. Sie kommt durch dieZustimmung der Person zu ihren moralischen Entschließungen und Handlungenzustande und ist als Bewußtsein der inneren Unabhängigkeit und Überlegenheitüber äußere Einflüsse bereits ein Zustand der Glückseligkeit. Dieser Zustandbraucht allerdings für Kant noch nicht die höchste Vollendung der Person, die er

»° XIX, 109 (Nr. 6611). Vgl. auch Metaphysik-Vorlesung S. 320.M XIX, 248 (Nr. 7094); vgl. Kr. d. pr. V. 232; 222 f. Anm.; Immanuel Kant. Herder-

Nadisdiriften, S. 106.w Kr. d. r. V. A 810; B 838.es Brugger fordert in seinem Aufsatz: Kant und das höchste Gut (in: Zeitschrift für

philosophische Forschung 18 (1964), S. 50—61) für den Begriff des höchsten Gutes einenicht bloß empirische, sondern wesentlich intellektuelle Glückseligkeit nach christlichemVorbild. Er berücksichtigt allerdings nicht, daß Kant selbst eine vollständige Theorie deshöchsten Gutes mit dem Begriff einer derartigen Glückseligkeit a priori entwickelte unddaß er offenbar Gründe hatte, sie nach der Kritik der reinen Vernunft entscheidend zuverändern. — Schon zu Kants Zeiten wurde eine empirische Glückseligkeit als Bestandteildes höchsten Gutes, wie es dann die Kritik der praktischen Vernunft darstellte, abgelehnt.So sagt Schelling z. B. in der Schrift: Vom Ich: „Empirische Glückseligkeit kann ... un-möglich als im Zusammenhang mit Moralitat gedacht werden/' Er verlangt daher eine„reine Glückseligkeit" (Sämtliche Werke, hrsg. v. K. F. A. Schelling, I, 197 Anm.). Vgl.auch Greiling: Darlegung einiger Schwierigkeiten in der Lehre vom höchsten Gute. In:Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, hrsg. v. F. J. Niethammer,Bd. 2, H. 4 (1795), S. 283—305.

«4 XIX, 111 (Nr. 6616). Vgl. XIX, 277f. (Nr. 7202); XIX, 283 (Nr. 7204).

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als Seligkeit denkt, zu bedeuten. Von dieser Glückseligkeit heißt es, in deutlicherAnlehnung an die Stoa: „Der tugendhafte" besitzt „in sich selbst die Glükseeligkeit(in rcccptivitate), so schlimm auch die Umstände seyn mögen" 95. Auch der Ge-danke der Autarkie ist in diesem Begriff der Glückseligkeit enthalten: „Glück-seeligkeit ist eigentlich nicht die größte Summe des Vergnügens, sondern die Lustaus dem Bcwustseyn seiner Selbstmacht zufrieden zu seyn ..." 9 . Kant hat alsomit dieser intellektuellen Freude an der eigenen Tugend und an der Macht dereigenen Freiheit Grundzüge des stoischen Begriffs der Glückseligkeit aufgenom-men 97^ — £r ft]^ aber Jie beiden Bestimmungen der Glückseligkeit a priori alsSeligkeit und als moralische Selbstzufriedenheit in seine eigene Konzeption deshöchsten Gutes ein. So ist die moralische Selbstzufriedenheit für ihn Triebfederzur Verwirklichung sittlicher Zwecke ö8; und die Seligkeit ist als Vollendung derintellektuellen Glückseligkeit in der moralischen Welt Gegenstand des zur sitt-lichen Ausführung antreibenden Hoffens.

Vom Begriff der moralischen Selbstzufriedenheit aus, wie er in den Reflexionenerörtert wird, lassen sich nun auch Kants Ausführungen zur Selbstzufriedenheit inder „Dialektik" der Kritik der praktischen Vernunft aufhellen, die systematischdort nicht leicht einzuordnen sind. Kant spricht in der Kritik der praktischenVernunft nämlich von der Selbstzufriedenheit als einem „Analogon der Glück-seligkeit", d. h. einem „Wohlgefallen" an sich selbst und seiner eigenen Existenzoder auch von einem Gefühl der „Lust", das allein aus der Bestimmung des Wil-lens durch das Sittengesetz hervorgehe. Der sittlich handelnde Mensch, der sichvom bestimmenden Einfluß der Neigungen unabhängig wisse, sei selbst „einzigerQuell" dieser Zufriedenheit, die nur „intellectuell" sein könne". So werde, wieKant sogar sagt, „die Freiheit selbst ... (nämlich indirect) eines Genusses fähig",der dem der „Selbstgenügsamkeit analogisch" sei 10°. Kant nimmt hier offensicht-lich frühere Überlegungen zur moralischen Selbstzufriedenheit auf. Er ordnet siein den Zusammenhang der Erörterung des höchsten Gutes ein; aber die intellek-tuelle Glückseligkeit als Selbstzufriedenheit ist für ihn nun systematisch wohl be-deutungslos geworden. Er faßt ihre Vorstellung nicht mehr als sittliche Triebfederauf. Das Problem der sittlichen Triebfedern wird in der Kritik der praktischenVernunft vielmehr durch das Gefühl der Achtung gelöst. Dennoch hielt Kant ander Glückseligkeit a priori oder der moralischen Selbstzufriedenheit offenbar alseiner Evidenz des moralischen Selbstbewußtseins fest, obwohl sie nicht mehr wiefrüher notwendiger Bestandteil seiner Theorie des höchsten Gutes war.

95 XIX, 186 (Nr. 6867). In der Kritik der praktischen Vernunft stellt Kant dies als dieLehre der Stoa dar (vgl. Kr. d. pr. V. 200; 202; 228 f.); er dachte dabei vielleicht auchan Hutdieson, vgl. Kr. d. pr. V. 67 f.

80 XIX, 276 (Nr. 7202).97 Vgl. dazu audi noch XIX, 188 (Nr. 6874); XIX, 190 (Nr. 6880).98 Vgl. XIX, 292 (Nr. 7237); vgl. auch XIX, 185 (Nr. 6866).99 Kr. d. pr. V. 210—212. Vgl. audi VI, 46 Anm.100 Kr. d. pr. V. 213 f.

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Diese Selbstzufriedenheit ist für Kant zwar ein Gefühl der Lust m; aber er hatihren Gefühlscharakter bzw. die Wirkung der intellektuellen Glückseligkeit aufdas Gefühl auch in den Reflexionen nicht näher untersucht. Ebenso wurde die Be-stimmung des Gefühls durch die "Hoffnung auf die künftige Welt von Kant nichtgenauer aufgezeigt. So blieb der Zusammenhang des höchsten Gutes als einer Ideea priori mit den Triebfedern, die beim Menschen immer nur zur Sinnlichkeit ge-hörige Gefühle sind, im Grunde ungeklärt.

Da nun die Glückseligkeit innerhalb des höchsten Gutes als Glückseligkeita priori in ihrer Reinheit dem Erlebnisbereich der sinnlichen Bestrebungen undGefühle entzogen ist, wird es überhaupt schwierig, sie als einen in seiner Bedeu-tung erfüllbaren Begriff näher zu bestimmen. Kant versucht deshalb auch, sie nichtselbst als Glückseligkeit, sondern nur als formale Bedingung der Glückseligkeit zufassen oder sie als bloß „negatives Wohlgefallen" an sich selbst und seiner Exi-stenz, d. h. als Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben vorzustellen 102. Vonihrer positiven Bedeutung aber haben wir dann keine Kenntnis. „Von der blosmoralischen Gliikseeligkeit oder der Seeligkeit verstehen wir nichts" 103. Solche Be-denken gegen den Begriff der Glückseligkeit a priori führen Kant offenbar zueinem anderen Begriff der Glückseligkeit, die der Sittlichkeit angemessen sein soll;diesen neuen Begriff hat Kant später vor allem in der Kritik der praktischenVernunft innerhalb einer veränderten Theorie des höchsten Gutes dargestellt.

III. Die systematisdje Bedeutung der Idee des höchsten Gutesin Kants späterer kritischer Philosophie

In der Kritik der praktischen Vernunft ist die Idee des höchsten Gutes für Kantnicht mehr ein Prinzip für die Ausführung des Sittengesetze/. Das Verhältnis derGlückseligkeit a priori zum sinnlichen Gefühl ließ sich wohl nicht näher darlegen.Würden sich dagegen die Hoffnung auf Belohnung und die Furcht vor Bestrafungin einer künftigen Welt auf Vorstellungen von empirischer Glückseligkeit gründen,so wären die dadurch erregten Gefühle nicht tauglich zu sittlichen Triebfedern. —So sagt Kant schließlich in der Grundlegung, es übersteige die menschliche Fähig-keit, die Möglichkeit sittlicher Triebfedern a priori zu begreifen 104. Es soll in die-sem Zusammenhang nur erwähnt werden, daß Kant in der Grundlegung dieGültigkeit und praktische Verbindlichkeit des Sittengesetzes für die sittliche Aus-übung durch die Idee der Freiheit in der intelligiblen Welt zu begründen sucht, ander das praktische Selbstbewußtsein teilhat. Dabei wird dann auch die Idee derintelligiblen Welt als sittliche Triebfeder gedacht, deren Möglichkeit aber für uns

101 VgL Kr. d. pr. V. 210; XIX, 295 (Nr. 7255); auch XIX, 186 (Nr. 6867).102 Kr. d. pr. V. 212; vgl. XIX, 280; 281 (Nr. 7202).103 XIX, 191 (Nr. 6883).JM Vgl. IV, 460; 462 f.

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unerkennbar bleibtI05. Dieser Gedanke erinnert an die frühere Idee der mora-lischen Welt als Grund für die Ausführung des Sittengesetzes. Es wird in der Grund-legung jedoch bei der Vorstellung der intelligiblen Welt von der Frage nach derGlückseligkeit abgesehen 10°. — In der Kritik der praktischen Vernunft, in dererst endgültig das Verhältnis von Sittengesetz und Freiheit geklärt wird, hältKant daran fest, daß wir die Möglichkeit der sittlichen Triebfeder, d. h. der Be-stimmung des freien Willens durch das Sittengesetz und damit des Praktisch-seinsder Vernunft nicht erkennen können. Aber unter der Voraussetzung, daß es prak-tische Vernunft gibt und daß wir durch das Bewußtsein des Sittengesetzes einVermögen der Freiheit für die sittliche Exekution in uns annehmen müssen, läßtsich die Wirkung der sittlichen, rein intellektuellen Willensbestimmung auf dassinnliche Gefühl a priori analysieren. Dies geschieht in der Kritik der praktischenVernunft mit der Theorie der Achtung, wozu sich in der Grundlegung nur einigevorläufige Hinweise finden. Das Gefühl der Achtung ist dabei allerdings nur alsFolge des freien Akts der Selbstbestimmung des sittlichen Bewußtseins die Trieb-feder zu Handlungen in der Sinnenwelt.

Schon in der Lehre vom höchsten Gut als dem Prinzip für die sittliche Ausfüh-rung war die Freiheit eine notwendige Bedingung dieser Ausführung; aus der sitt-lichen Freiheit soll ja in der intelligiblen Welt die Glückseligkeit erfolgen. Kantunternahm aber damals auch bereits den Versuch, die Triebfeder allein auf die„Macht der Vernunft in Ansehung der freyheit" m zu gründen. Dieser Gedankeführte ihn jedoch noch nicht zu einer grundsätzlichen Veränderung seiner Theoriedes höchsten Gutes und seiner Lehre von den Triebfedern; denn ethische Freiheitbedeutet in Kants damaliger Konzeption für ein vernünftiges Wesen das Bewußt-sein seines Daseins in der intelligiblen und das hieß zugleich in der moralischenWelt. — In der Kritik der praktischen Vernunft klärt Kant dann abschließend dasProblem der Exekution im Rahmen der Möglichkeiten der endlichen Erkenntnisund eliminiert die Idee des höchsten Gutes aus der Frage der Grundlegung derEthik. Damit wird diese Idee für ihn jedoch nicht bedeutungslos; er gibt ihr viel-mehr eine völlig neue Begründung. Sie gehört nun für Kant zwar nicht mehr zurGrundlegung, wohl aber zu einer vollständigen Entfaltung der Lehre vom end-lichen sittlichen Bewußtsein.

Nach Kants späterer Auffassung kann also „bei der Frage vom P r i n c i p derMoral ... die Lehre vom h ö c h s t e n Gut ... ganz übergangen und beiseitegesetzt werden" 108; der Pfliditbegriff erhält durch die Vorstellung des höchstenGutes nicht „die erforderliche Stärke einer T r i e b f e d e r " , sondern „an jenemIdeal der reinen Vernunft ... ein O b j e k t " 109. Das höchste Gut muß als „un-

105 Vgl. IV, 462.1M Vgl. IV, 453—463; auch Kr.d.pr.V. 74 f.; XIX, 176 (Nr. 6838); XIX, 201

(Nr. 6904).107 XIX, 184 (Nr. 6864).108 VIII, 280.100 VIII, 279; vgl. audi schon VIII, 139.

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bedingte Totalität des G e g e n s t a n d e s der reinen praktischen Vernunft" no

gedacht werden, dessen Beförderung allerdings sittlich notwendig ist. Kant be-gründet damit die Idee des höchsten Gutes in der Struktur, des sittlichen, aberzugleich endlichen Willens als eines Vermögens der Zwecke. — Diese Begründungist vielfach kritisiert worden. Unter den Einwänden, die man gegen Kant erhob,lassen sich wohl vor allem zwei Argumentationsweisen erkennen, deren gemein-sames Bestreben jedoch die Erhaltung der Kantischen Grundlegung der Ethik inihrer Reinheit ist. Einmal wird gegen das höchste Gut als Objekt und zugleichBestimmüngsgrund des sittlichen Willens in die Formalität des Sittengesetzes alsdes einzigen sittlichen Bestimmungsgrundes geltend gemacht und in der Verbin-dung dieses formalen Gesetzes mit dem höchsten Gut in der Ethik ein Widerspruchgesehen. Zwar habe auch der sittliche Wille wohl Objekte, aber deren Erreichungbzw. Beförderung könne nicht als eine eigene Pflicht vorgestellt werden 112. —In dem anderen Argument, das zuerst Cohen vorbrachte, wird zwar zugestanden,daß die Formalität des Sittengesetzes einen bestimmten Inhalt a priori verlange.Aber dieser apriorische Inhalt müsse aus der Form des Sittengesetzes selbst her-vorgehen; er sei schon mit der Idee der Menschheit in jeder Person, dem Begriffdes Zweckes an sich selbst oder der Idee eines Reiches der Zwecke vollständigbestimmt. Das höchste Gut mit dem darin enthaltenen Begriff der Glückseligkeitkönne nicht als zusätzlicher Inhalt und Gegenstand gelten; dies bringe die Grund-legung der Moralphilosophie in Gefahr und sei deshalb als eine Inkonsequenzabzulehnen 113.

Diese Einwände treffen aber wohl Kants spätere vollständig ausgeführte Theo-rie des höchsten Gutes nicht; in ihnen bleiben die sachlichen Motive, die Kant beider Neubegründung dieser Idee leiteten, unberücksichtigt; vor allem wird darinverkannt, daß gerade durch die Einsichten der reifen Theorie der sittlichen Exeku-tion eine solche Neubegründung möglich und notwendig wurde. Um Kants Be-

130 Kr. d. pr. V. 194.111 Vgl. Kr. d. pr. V. 196 f.112 Ygj dazu etwa Döring: Kants Lehre vom höchsten Gut. Eine Richtigstellung.

Kant-Studien 4 (1899/1900), S. 99 ff. Audi Kroner bringt unter anderem diesen Einwandgegen Kant vor (Von Kant bis Hegel. 2. Aufl. Tübingen 1961, S. 208). — In der jüngstenangelsächsisdien Diskussion über das höchste Gut wird dieses Argument gegen Kant vorallem vertreten von Beck: A Commentary on Kant9s Crltique of Practical Reason.Chicago 1960, S. 242 ff. Murphy (The Highest Good äs Content for Kant's EthicalFormaiism. Kant-Studien 56 (1965), S. 102—110) stellt die Kritik Becks der Rechtferti-gung des hödisten Gutes durdi Silber gegenüber. Silber hatte ausgeführt, daß das hödisteGut zwar nicht zu erreichen, aber als notwendiges Objekt unseres sittlichen Wollens dochzu befördern sei und daß es auch in seiner Transzendenz ein legitimes Richtmaß und Idealunseres sittlichen Strebens darstelle (vor allem in: Kant's Conception of the Highest Goodäs Immanent and Transcendent. In: The Philosophical Review 68 (1959), S, 469—492;deutsch: Immanenz und Transzendenz des hödisten Gutes hei Kant. Zeitschrift für philo-sophische Forschung 18 (1964), S. 386—407). — Murphy schließt sich jedoch in der Sacheder Kritik an Kant an.

113 Vgl. Cohen: Kants Begründung der Ethik. 2. Aufl. Berlin 1910, S. 344 ff.; bes.352 f.; vgl. auch S. 223 ff.

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gründung der Idee des höchsten Gutes zu rekonstruieren, darf man sich auch nichtnur an die knappen, z. T. nicht einhellig erscheinenden Äußerungen in der Kritikder praktischen Vernunft halten n4, sondern muß die Ausführungen der Kritikder Urteilskraft und anderer später Schriften mit berücksichtigen.

Die Idee des höchsten Gutes ist nun nach Kant notwendig für einen endlichenmoralischen Willen. Der endliche Wille oder die „Willkür" ist die Fähigkeit, sichselbst Zwecke bestimmen und aufgrund solcher vorherigen Vorstellung vonZwecken in der sinnlichen Welt wirken zu können. Läßt man einmal den Begriffdes Zwecks an sich selbst unberücksichtigt, auf den weiter unten noch näher einzu-gehen ist, so sind alle Zwecke, die in der Sinnenwelt verwirklicht werden sollen,dem Inhalte und der Realisation nach abhängig von empirisch Vorgegebenem undvon der jeweiligen Situation. Darin muß man die materialen Bedingungen derZwecke sehen 115. — Nun vermag zwar das Sittengesetz, wie wir nach Kant an-nehmen müssen, mit der Forderung nach Allgemeingültigkeit der Maximen, d. h.der subjektiven .Grundsätze der Zwecksetzung, den endlichen Willen unabhängigvon besonderen Zwecken zu bestimmen; aber die Notwendigkeit, sich materialbestimmte Zwecke vorzusetzen und sie zu verwirklichen, bleibt für einen endlichenWillen auch beim sittlichen Handeln erhalten. Der sittlich sich entschließende Willemuß also immer zugleich etwas wollen, das es in der Sinnenwelt zu realisieren gilt,und dabei muß er auch am Erfolg seines sittlichen Handelns interessiert sein. —Der höchste physische Zweck, den ein endliches vernünftiges Wesen zu erreichenstrebt, ist aber die eigene Glückseligkeit; sie ist der wirkliche Zweck, auf den allesHandeln nach besonderen natürlichen Zwecken, abzielt. Dieses Verlangen gründetin der Bedürftigkeit der endlichen Natur. Das sittliche Wollen eines endlichenWesens kann nun nicht darin bestehen, daß es sich die eigene Glückseligkeit zumZweck macht und die einschränkende Bedingung, dies müsse nach allgemeinenGesetzen möglich sein, dabei nur in Kauf nimmt. Ein solches Wollen wäre nachKant zwar juridisch, aber nicht ethisch zu rechtfertigen. Ebensowenig kann dassittliche Wollen das formale Sittengesetz in die Maxime aufnehmen und sich mitdem Bewußtsein der sittlichen Gesinnung begnügen, ohne daß es zur sittlichenZwecksetzung und zur Wirksamkeit in der Welt käme. Dann bestünde der zuerstvon Hegel erhobene und seither oft wiederholte Vorwurf zu Recht, die Moralität

114 In diesen Äußerungen sudite man mehrfach Widersprüche nachzuweisen, vgl. z. B.Döring: Kants Lehre vom höchsten Gut, S. 98 ff.; Murphy: The Higkest Good, S. 106 ff.Audi Paulsen wirft Kant Zusammenhanglosigkeit und Widersprüchlichkeit in der „Ana-lytik" und „Dialektik" der zweiten Kritik vor. Er kritisiert die Lehre vom höchsten Gutund bemängelt zugleich, daß Kant die ideologische Betrachtung ganz aus der Ethik aus-geschlossen habe (Immanuel Kant. Sem Leben und seine Lehre. Stuttgart 1898, S. 314 ff.;320 ff.). Auf Kants eigene Argumentation läßt er sich jedoch kaum ein.

115 Zur Begründung des Zweckbegriffs in der Endlichkeit unserer Erkenntnisvermögenvgl. Kr. d. U. 349 f. und die Voraussetzungen dazu im § 76 dieses Werkes. Kants Ge-danke ist dort, daß für einen Zweck, der als bloß mögliches, vorgestelltes Ganzes in dersinnlichen Welt verwirklicht werden soll, der Unterschied von Möglichkeit und Wirklich-keit und damit der von Begriff und empirischer Anschauung konsumtiv ist.

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verbleibe nach Kant im Bereich der Innerlichkeit der subjektiven Willkür, die einbloß formales, leeres Gesetz anerkenne, wahrend die konkreten Inhalte der wirk-lichen Welt davon gar nicht betroffen wären und unabhängig.davon nach eigenenGesetzen existierten. — Für Kant muß jedoch der endliche sittliche Wille nachZwecken in der Welt handeln. Die sittlichen Zwecke, die verwirklicht werden sol-len, sind diesem aber nicht schon ohne sein Zutun vorgegeben; die Zwecke, die nurum der Glückseligkeit willen erstrebt werden, sind nicht unter gewissen Einschrän-kungen . einfach beizubehalten116. Vielmehr entspringen eigentlich erst sittlicheZwecke durch die Subsumtion möglicher Inhalte, die allem Handeln nach Zweckenvorgegeben sein müssen, unter das allgemeine Sittengesetz. Wie durch die von derUrteilskraft vollzogene Subsumtion von sinnlichen Anschauungen unter ein all-gemeines Gesetz eine neue Naturerkenntnis entsteht, so läßt sich erst durch eineneigenen Akt der Subsumtion auffinden, was ein Zweck des sittlichen Wollens seinkann. Diesen muß der endliche Wille um des Gesetzes willen sich voraussetzen undzu verwirklichen suchen m. Ein sittlicher Zweck als Objekt des moralischen Wil-lens ist also durch diese Subsumtion von anderer Struktur und Bedeutung als einZweck der Glückseligkeit, auch wenn in ihren materialen Bestandteilen Überein-stimmung herrschen sollte. — Zur Erläuterung sei noch auf den Begriff der Tu-gendpflicht in der Metaphysik der Sitten hingewiesen; in ihm ist der Begriff einesethischen Zweckes, den der sittliche Wille sich allererst selbst bestimmt, enthalten.Solche Zwecke sind, wie Kant in Anlehnung an Baumgarten sagt: eigene Voll-kommenheit und fremde Glückseligkeit. — Diese Gegenstände des sittlichen Wol-lens in ihrer Vollständigkeit unter einem Prinzip vorgestellt, ergeben nun denBegriff des höchsten Gutes als des höchsten sittlichen Zwecks. Man darf wohl an-nehmen, was Kant in der Metaphysik der Sitten selbst nicht ausdrücklich sagt, daßdie erwähnten besonderen sittlichen Zwecke die leitende Idee eines Ganzen allerZwecke, die unter dem Sittengesetz möglich und notwendig sind, nämlich die Ideedes höchsten Gutes voraussetzen 118.

m Manche Äußerungen Kants in der Kritik der praktischen Vernunft können diesenEindruck noch erwecken; sie erinnern an den früheren Versuch, das Sittcngesctz als Prinzipder Ordnung und Verallgemeinerung der natürlichen Zwecke aufzufassen. Vgl. z. B.Kr. d. pr. V. 61.

117 In der Metaphysik der Sitten nennt Kant daher die Ethik im Unterschied zurRechtslehre sogar eine Lehre der Zwecke (vgl. VI, 381). — Der Begriff des Zweckes mußalso, was in Kants Äußerungen nicht immer ganz deutlidi wird, so weit gefaßt werden,daß er natürliche und ethisdic Zwecke unter sich begreift.

118 Auf den Zusammenhang dieser sittlichen Zwecke mit dem hödistcn Gut hat bereitsGoedeckemeycr hingewiesen (vgl. Kants Lcbensansdjcuung in ihren Grundzügcn. Kant-studien-Ergänzungsheft 54. Berlin 1921, S. 35 ff.). Zu den Tugcndpflichtcn vgl. VI,382 ff.; zu Andeutungen des höchsten Guts in der Metaphysik der Sitten vgl. VI, 396;458. — Die Sittlichkeit der Liebespflichten beruht hier natürlich nicht mehr auf der Ideedes höchsten Gutes als Prinzip für die Exekution, sondern auf der inneren Freiheit, diedem Sittcngesetzc gemäß handelt, sich für dieses Handeln aber einen Zweck: den Zustandder Glückseligkeit der Ändern setzt. Das Problem der sittlidien Anerkennung des Ändernliegt diesen Liebespflichten aber noch voraus.

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In diesem höchsten Zweck wird nun auch die Glückseligkeit mit vorgestellternicht als Bcstimmungsgrund des Handelns, sondern nur als Erfolg des sittlichenTuns oder nur, sofern sie der Sittlichkeit angemessen ist. „Denn der Glückseligkeitbedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht theilhaftig zu sein,kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens ... gar nicht zu-sammen bestehen" 119. Dieses höchste Gut einer Person ist aber nur im höchstenGut eines Weltganzen möglich. Das höchste, praktisch zu befördernde Gut istauch in Kants späterer Konzeption ein ethischer Weltbegriff.

Damit hat sich wohl gezeigt, daß das höchste Gut ein notwendiges Objekt desendlichen sittlichen Willens ist. Es ist eine Idee, in der die unbedingte Totalitätder sittlichen Zwecke unter einem Prinzip gedacht wird; Kant nennt das höchsteGut als die Vorstellung Einer Welt auch: „Ideal"; es ist der Eine Gegenstanddieser Idee120. — Dieses Ideal kann nun kein Mensch erreichen. Er kann nichteinmal die oberste Bedingung, die vollkommene Sittlichkeit, aus eigener Kraftganz erfüllen. Er soll -jedoch, soviel an ihm liegt, das höchste Gut in der Welthervorbringen helfen, befördern und für die Realisierung die Ergänzung dessenerhoffen, was nicht in seiner Gewalt ist. Von einem endlichen vernünftigen Willenwird also nach Kant natürlich nicht die Erreichung, sondern nur eine solche Mit-wirkung und Beförderung des höchsten Gutes verlangt121.

Die Beförderung dieses Ideals ist also Pflicht. Hierbei bleibt jedoch das Sitten-gesetz der alleinige Bestimmungsgrund eines sich Zwecke setzenden sittlichenWillens. Kant bezeichnet zwar einmal das Sittengesetz, zum ändern aber auchdas höchste Gut als Bestimmungsgrund des sittlichen Wirkens 122. Doch auch imzweiten Fall bestimmt nach Kant nur das Sittengesetz den endlichen Willen. DiePflicht, das höchste Gut zu befördern, folgt nicht analytisch aus dem Begriff des

110 Kr. d. pr. V< 199. Die theologischen Implikationen dieser Stelle, die für Kant bloßproblematisch sind, können unberücksiduigt bleiben. — Zu der hier vorgetragenen Argu-mentation im ganzen vgl. VIII, 279 und 279 f. Anm.; VI, 4 ff.; zum Problem der Be-stimmung der Inhalte des sittlichen Wollens durch die Urteilskraft vgl. auch Silber: DerSchematismus der praktischen Vernunft. Kant-Studien 56 (1965), S. 253—273. Zur Ab-wehr zahlreicher Mißverständnisse hinsichtlich der Inhalte des kategorischen Imperativsvgl. Ebbinghaus: Deutung und Mißdeutung des kategorischen Imperativs. In: GesammelteAufsätze. Darmstadt 1968, S. 80 ff.

120 Vgl. XX, 307; VIII, 279; Kr. d. r. V. A 804; B 832.121 Auch wenn Kant in einigen Formulierungen vom Bewirken und Hervorbringen des

höchsten Gutes spricht (vgl. z. B. Kr. d. pr. V. 203; 219), ist offenbar eine Leistung ge-meint, zu der endliche Wesen überhaupt in der Lage sein müssen. Kants Theorie ist indieser Frage jedenfalls nicht zweideutig; vgl. Kr. d. pr. V. 205; 214 f.; 226 u. a. Ein Pro-blem hatte hierin Silber gesehen: Immanenz und Transzendenz des höchsten Gutes beiKant, S. 389—395; 404 f.; vgl. auch Kroners Kritik: Von Kant bis Hegel, S. 206; 210.Schon Fichte hatte in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung einen Widerspruchzwischen der theoretischen Unmöglichkeit und der praktischen Notwendigkeit des höchstenGutes konstatiert, der aber durch die Religion aufgelöst werde (Gesamtausgabe. Abt. I,Bd. l, hrsg. v. R. Lauth u. H. Jacob unter Mitwirkung v. M. Zahn u. R. SchottkyS. 27 ff.). y

122 Vgl. Kr. d. pr. V. 196; 197.

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moralischen Gesetzes. Eine solche Aufforderung ist vielmehr ein „synthetischerpraktischer Satz a priori" 128; er geht über den Begriff des Gesetzes hinaus zueinem Gegenstand des endlichen Willens als Zweck. Ein endlicher und zugleichfreier Wille muß sich ja Zwecke setzen, wenn er überhaupt in seiner Welt wirkenwill. Der synthetische Satz a priori ist nun gültig, weil ein endlicher Wille nurauf diese Weise die Notwendigkeit versteht, das Sittengesetz in der Erfahrungauszuführen und diesem nur so praktische objektive Realität in der Welt verschaf-fen kann. Die notwendige Beförderung des höchsten Gutes kommt also nicht zumSittengesetz noch hinzu als zusätzlicher Bestimmungsgrund außer dem Gesetz,sondern ist die Anwendung des Sittengesetzes als Bestimmungsgrund auf ein Wol-len und Handeln nach Zwecken 124. — Die Idee des höchsten Gutes gehört damitzwar.nicht mehr zur Grundlegung der Ethik; aber sie gehört doch unabdingbarzu einer vollständigen Theorie der Grundbestimmungen und Leistungen des end-lichen sittlichen Bewußtseins. Sie „geht aus der Moral hervor und ist nicht dieGrundlage derselben"125. Kants späte Lehre vom höchsten Gut setzt daher geradedie endgültige Theorie der Moralität und die Begründung ihrer Prinzipien un-abhängig von der Idee des höchsten Gutes voraus; das höchste Gut entspringt erstaus der Anwendung der reinen Moral auf die Teleologie eines endlichen Willens;es ist der nicht schon vorgegebene, sondern allererst zu entwerfende höchste Zweckunseres sittlichen Tuns in der Welt.

Alle Verwirklichung von Zwecken zielt nun mit der Veränderung oder Erhal-tung eines Zustandes in irgendeiner Weise auf Glückseligkeit. Diese wird entwederselbst als Bestimmungsgrund des Handelns gewollt; oder der endliche sittlicheWille hat an ihr lediglich als Erfolg der Sittlichkeit ein Interesse, wobei Interessehier eine Intention des Zwecke setzenden Willens bedeuten soll, die ganz vomWollen des Bestimmungsgrundes als solchen verschieden ist. Die Glückseligkeitüberhaupt ist uns aber nur als ein Zustand endlicher vernünftiger Wesen bekannt,der von natürlichen und sinnlichen Bedingungen abhängt; eine reine Glückseligkeita priori können wir nicht realisieren. Da nun das höchste Gut eine praktische Ideeist, ein Zweck, auf dessen Verwirklichung wir hinwirken sollen, muß also auchdie darin enthaltene Vorstellung der Glückseligkeit empirisch sein. Trotz diesesempirisch bedingten Bestandteils ist das höchste Gut eine Idee, bzw. als einzelner„Gegenstand" ein Ideal, sofern es nämlich die Vorstellung eines Maximum derVollkommenheit oder der Gedanke einer vollkommensten Welt ist.

Durch den empirischen Begriff der Glückseligkeit enthält das höchste Gut alsozwei ganz ungleichartige und scheinbar nicht zu verbindende Bestandteile. DieUngleichartigkeit von Sittlichkeit und Glückseligkeit beruht auf dem für unserErkennen prinzipiellen Unterschied von Natur und Freiheit, sinnlicher und intelli-

123 VI, 7 Aom.124 Vgl. dazu VI, 6 ff. Anm.; auch Kr. d. U. 461 Anm. Der Begriff eines endlichen,

Zwecke setzenden Willens ist nach Kant ohne Erfahrung nicht möglidi; er ist kein tran-szendentales, sondern ein „metaphysisches" Prinzip (vgl. Kr. d. U. XXX).

125 VI, 5.

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giblcr Welt und ist also für uns unaufhebbar. Dadurch entsteht nun das Problem,wie eine notwendige Verbindung beider Teile überhaupt möglich und denkbarist. Es wurde schon erörtert, daß nach Kant die stoische und die epikureischeEthik mit ihren einander entgegengesetzten Versuchen einer analytischen Ver-einigung die Heterogeneität der Bestandteile außer acht ließen. Die synthetischeVereinigung aber führt zu einer Antinomie. Kant löst diese Antinomie ebensowie die dritte Antinomie der theoretischen Vernunft, indem er darlegt, es seiwenigstens denkbar, d. h. nicht unmöglich, daß sittliche Freiheit als intelligibleKausalität in der Sinnenwelt Glückseligkeit als Wirkung hervorbringe. Die nähereVorstellung der Möglichkeit des höchsten Gutes bedarf jedoch nach Kant derAnnahme zusätzlicher theoretischer Bedingungen, nämlich der Postulate. Auf dieEinzelheiten dieser Antinomie und der Postulatenlehre soll hier aber nicht mehreingegangen werden 126.

Nun stellt sich jedoch die Frage, in welchem Verhältnis dieser Begriff des höch-sten Gutes zum Begriff des Zwecks an sich selbst und des Reichs der Zwecke steht.In der Grundlegung ist für Kant schon die Existenz eines vernünftigen und freienWesens als Zweck an sich selbst bzw. auch die Gemeinschaft solcher Wesen imReich der Zwecke die Materie des formalen sittlichen Gebots für unseren Wil-len 127. Kant sucht in dieser Schrift den Zweck an sich selbst als objektiven, un-bedingten Zweck in Abhebung von den subjektiven, relativen und immer nurbedingten Zwecken unseres Wollens zu bestimmen. Dabei zeigt sich, daß derZweck an sich selbst von grundsätzlich anderer Bedeutung ist als alle sonstigenZwecke des Handelns; er ist nicht ein allererst zu bewirkender Gegenstand desendlichen Willens, sondern charakterisiert die Existenz eines vernünftigen undfreien Wesens 128. Dessen Auszeichnung besteht darin, daß es Subjekt der Morali-tät ist. — Soll nun die Existenz eines vernünftigen Wesens als Zweck an sich selbstgedacht werden, -so liegt hier, was in der Grundlegung unerwähnt bleibt, nichtnur ein von den bedingten Zwecken meines Wollens unterschiedener Zweck, son-dern eine ganz andere Zweckbetrachtung zugrunde. Wenn ausschließlich dieExistenz eines vernünftigen Wesens als Zweck an sich selbst vorzustellen ist, dannkann die Existenz aller anderen Dinge und Wesen in der Welt immer wieder bloßals Mittel zu höheren Zwecken angesehen werden. Nur der Mensch als vernünf-tiges Wesen kann nicht, auch nicht etwa von Gott, allein als Mittel gebraucht wer-den; seine Existenz muß, da er den Zweck seines Daseins in sich selbst hat, als„Endzweck" gedacht werden129. Diese Überlegungen sind von der Frage nachdem Zweck der Existenz geleitet und gehören, wie aus dem Zusammenhang derKritik der Urteilskraft zu ersehen ist, eigentlich der teleologisch reflektierendenUrteilskraft an, sind aber durch ein praktisches Interesse legitimiert. Die teleo-

126 VgL dazu z. B. Cohen: Kants Begründung der Ethik, S. 353 ff.; auch Beck: A Com-mentary, S. 245 ff. u. a.

127 Vgl. IV, 436 f.128 VgL IV, 437; 427 f.120 Vgl. Kr. ä. U. 381 f.; vgl. auch die Andeutungen in der Grundlegung: IV, 428; 438.

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logische Reflexion setzt hierbei nicht den Begriff des Zwecks der Form nach vor-aus wie bei der Beurteilung von Organismen, sondern den Begriff des Zwecksder Existenz und die Frage nach dem Endzweck, die dann zu einer praktischbegründeten Metaphysik führt. Der Begriff des Zwecks an sich selbst ist also nurdurch diese Betrachtung der ideologischen Urteilskraft vollständig explizierbar. Erist jedenfalls kein Objekt der Intention des endlichen Willens, sofern diese aufallererst zu verwirklichende Zwecke ausgerichtet ist.

Die vernünftigen Wesen, deren Existenz im Vergleich zu den anderen nichtvernünftigen Dingen und Wesen als Endzweck anzusehen ist, bilden nun unter-einander ein „moralisches Reich der Zwecke". Dies bezeichnet Kant an einer Stelleder Kritik der Urteilskraft bereits als „das h ö c h s t e unter seiner [sc. Gottes]Herrschaft allein mögliche G u t , nämlich die Existenz vernünftiger Wesen untermoralischen Gesetzen" 13°. Demnach wären also der Zweck an sich selbst und dasReich der Zwecke, die für Kant in der Grundlegung die inhaltliche Erfüllung desformalen Sittengesetzes ausmachen, schon das höchste Gutm. Die weiteren Aus-führungen an der genannten Stelle über die Eigenschaften des moralischen Welt-urhebers zeigen jedoch, daß Kant die Natur, die zur Sittlichkeit zusammenstimmt,und auch die Glückseligkeit als Erfolg des sittlichen Handelns aus dem Begriff deshöchsten Gutes nicht ausschließen will. Allenfalls könnte hier in der Formulierungebenso wie in der Grundlegung bei der Darstellung des Reichs der Zwecke alsintelligibler Welt eine gewisse Reminiszenz an den früheren Begriff des höchstenGutes, nämlich der „moralischen Welt" vorliegen 182. Schon in der Grundlegungverweist Kant aber auch auf die Verbindung des Reichs der Zwecke mit einemReich der Natur und ihrer Zweckmäßigkeit, d. h. zugleich mit der Glückseligkeitder vernünftigen Wesen in ihr133. Er spricht dort allerdings noch nicht vom höch-sten Gut und dessen Begründung in der Struktur des endlichen, sittlichen Willens;Kants späterer Begriff des höchsten Gutes war in der Grundlegung wohl nochnicht deutlich genug ausgebildet.

Die Kritik der Urteilskraft entwickelt dann diesen späten Begriff des höchstenGutes im Zusammenhang mit der physischen und moralischen Teleologie 134. Fürdas Verhältnis des höchsten Gutes zur ideologischen Betrachtung ist es von Be-deutung, daß man der Sache nach zwischen der Existenz vernünftiger Wesen untermoralischen Gesetzen, d. h. in einer sittlichen Gemeinschaft, in einem Reich derZwecke, und dem höchsten Gut als Objekt der praktischen Vernunft unterscheiden

130 Kr. d. U. 413 f.131 Hierin sieht Cohen die allein zulässige Bedeutung des höchsten Gutes; vgl. Kants

Begründung der Ethik, S. 350.132 Vgl. oben S. 28. Auch in der Kritik der praktischen Vernunft nennt Kant die intelli-

gible Welt, als Postulat der Freiheit, einmal „Reich Gottes", das er an anderen Stellen mitdem höchsten Gut identifiziert (Kr. d. pr. V. 246; vgl. 230; 231 f.; 235).

J33 VgL IV, 438 f.; vgl. auch 436 Anm.134 Vgl, 2U diesem Thema auch Lenfers: Kants Weg von der Teleologie zur Theologie.

Interpretationen zu Kants Kritik der Urteilskraft. Diss. Köln 1965, S. 65 ff.; 85 ff. >

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muß. Kant bezeichnet beides zwar als Endzweck, aber doch in verschiedenem Sinnund in verschiedenen systematischen Zusammenhängen. — Die allgemeine Bestim-mung des Endzwecks lautet: „ E n d z w e c k ist derjenige Zweck, der keinesändern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf" 135. Diese bloß negative Kenn-zeichnung des Endzwecks Jäßt noch mehrere Möglichkeiten der positiven Erfüllungoffen. Der Mensch und jedes vernünftige Wesen kann sich nun, wie schon erwähntwurde, seinem Dasein nach als Endzweck ansehen; denn ihm ist als Subjekt derMoralität das übersinnliche Vermögen'der Freiheit zuzuschreiben, das in keinerWeise als bloßes Mittel gebraucht werden kann. Dem Menschen als Endzweck abermuß nach Kant „die ganze Natur" als „ideologisch untergeordnet" vorgestelltwerden; durch den Endzweck erhält die „Kette der einander untergeordnetenZwecke" der Natur ihren Abschluß und ihre eindeutige Untergliederung 136. Dieteleologische Urteilskraft, die in ihrer Reflexion hier dem Begriff des Zwecks derExistenz folgt, stellt also den Begriff einer ideologisch strukturierten Welt auf137.Die Rechtfertigung dafür liegt in diesem Zusammenhang in dem praktischen Inter-esse der Vernunft. Denn die Verwirklichung der Sittlichkeit ist uns nur in der Aus-führung von Zwecken inmitten des Mannigfaltigen der Welt möglich. Wollen wirsittliche Zwecke in der Welt realisieren, so müssen wir das uns Begegnende darauf-hin befragen, ob wir es bloß als Mittel gebraudien können oder ob wir es immerzugleich als Zweck zu behandeln haben. Diese „Beurtheilung" machen die morali-schen Gesetze uns als „Weltwesen", die in ihrem Handeln Zwecke verfolgen, selbstzur „Vorschrift" 138. Der Mensch als Endzweck kann sich für befugt halten, alleDinge der sinnlichen Natur bloß als Mittel zu gebraudien, sofern er die sittlicheBedingung erfüllt, die in diesem Begriff des Endzwecks gedacht wird. — DieserBegriff des Endzwecks erhalt nun von Kant noch eine metaphysisch erweiterteBedeutung. Der Mensch, der sich im Vergleich zu den Naturwesen als Endzweckansehen kann, wird von Kant, in Aufnahme der metaphysisdien Teleologie des18. Jahrhunderts, sogar als Endzweck des Daseins der Welt gedacht. Das Sein derWelt ist damit — allerdings nur in teleologisdier Beurteilung — auf die Existenzfreier Vernunftwesen hin angelegt1S9.

Wird unter Endzweck also die Existenz vernünftiger und freier Wesen in derWelt verstanden, denen die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist, so ist diesein Begriff der teleologisch reflektierenden Urteilskraft, den sie im Interesse derpraktischen Vernunft aufstellt. Das höchste Gut ist dagegen kein Begriff derteleologisdien Reflexion, die Existierendes beurteilt; es ist vielmehr als das voll-ständige Objekt der praktischen Vernunft ein allererst zu verwirklichender bzw.

135 Kr. d. U. 396.136 Kr. d. U. 398 f. Vgl. auch § 67 und § 82.187 Zum teleologisdien Weltbegriff bei Kant vgl. Klaus Düsing: Die Teleologie in Kants

Welthegriff. Kantstudien-Ergänzungsheft 96, Bonn 1968. Zum Begriff des Endzwecks unddes Zwecks der Existenz vgl. vor allem S. 206 ff.; 229 f.

188 Kr. d. U. 419.189 Vgl. dazu Wundt: Kant als Metaphysiker. Stuttgart 1924, S. 356.

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zu befördernder Zweck des endlichen Willens. Audi das höchste Gut aber muß alsEndzweck gedacht werden, da es ein durch das Sittengesetz selbst aufgegebener,unbedingter Zweck ist. — Der Mensch sieht also sein Dasein unter allen Natur-wesen als Endzweck an, er ist Endzweck in dieser Betrachtung; zugleich aber hatsein Wille einen Endzweck als angestrebtes letztes Ziel: das höchste Gut 14°.

Die Vorstellung der Möglichkeit, daß sich sittliche Zwecke in der Welt aus-führen lassen und dadurch das höchste Gut befördert wird, setzt aber wohl eineteleologische Weltbetrachtung voraus. Denn einmal ist zur Verwirklichung sitt-licher Zwecke die ideologische Frage zu klären, ob wir Dinge und Wesen unsererUmwelt bloß als Mittel oder zugleich als Zwecke anzusehen haben. Zum anderenaber muß, damit die Durchführung und der Erfolg der Zwecke aus Freiheit in derWelt überhaupt als möglich erwartet werden kann, eine Zweckmäßigkeit des viel-fältig uns begegnenden Mannigfaltigen angenommen werden. Erst unter Voraus-setzung einer solchen Zweckmäßigkeit ist es denkbar, daß die Verwirklichungsittlicher Zwecke gelingen kann, weil etwa geeignete Mittel zu beschaffen sindund keine von vornherein unüberwindlichen Hindernisse erwartet werden.— Kanthatte in der Kritik der reinen Vernunft die Naturzweckmäßigkeit noch in die prak-tisch begründete Idee einer teleologischen Einheit der sinnlichen und übersinnli-chen Welt eingeordnet und ihr nicht die Bedeutung eines selbständigen Prinzipsverliehen141. Dies geschieht erst in der Kritik der Urteilskraft mit der Aufstel-lung eines transzendentalen Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur. Dieses Prin-zip liegt nach Kants Aussagen in der dritten Kritik nicht nur der Möglichkeit derErkenntnis besonderer Gesetze, der Möglichkeit der Betrachtung des Schönen und— unter Verwendung des Begriffs des Naturzwecks — der Beurteilung von Orga-nismen zugrunde, sondern auch der Ausführbarkeit sittlicher Zwecke in der Welt.Durch diese Begründungsfunktionen insgesamt ermöglicht die Zweckmäßigkeit desMannigfaltigen der Welt für unsere Fassungskraft — als subjektiv notwendigesPrinzip — eigentlich erst ein überlegtes und vernünftiges Weltverhalten, so daß wiruns in der unüberschaubaren Fülle des Besonderen zurechtfinden können 142. Unterdieser Voraussetzung läßt sich auch eine erfolgreiche Verwirklichung sittlicherZwecke in der Welt als möglich denken, woran ja der endliche Wille notwendigein Interesse hat. Der endliche Wille muß in der Vielfalt dessen, was ihn umgibt,eine solche Disponierbarkeit vorfinden, daß er seine freien Zwecke in der Sinnen-welt und in Übereinstimmung mit ihren besonderen Gesetzen realisieren kann.Durch die formale Zweckmäßigkeit, die keine besonderen Zwecke der Natur an-nimmt, stimmt also die Natur in ihrer Mannigfaltigkeit „wenigstens zur Möglich-

140 Vgl. Kr. d. U. 423, wo Kant beide Begriffe des Endzwecks nebeneinanderstellt.Zum höchsten Gut als Endzweck vgl. auch XX, 294 f.; VI, 6 f. Anm.

141 Vgl. Kr. d. r. V. A 815 f.; B 843 f. Kant denkt damit — in praktischer Umdeu-tung — die Leibnizsche Harmonie des Reichs der Natur mit dem Reich der Gnaden alszweckmäßige Einheit beider Reiche.

142 Vgl. Anm. 137.

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kcit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen" zusammen 143. Die-ses Prinzip der Naturzweckmäßigkeit selbst ist zwar weder theoretisch noch prak-tisch, sondern gehört der reflektierenden Urteilskraft an; doch wird dadurch, wieKant sogar sagt, „die Möglichkeit des Endzwecks, der allein in der Natur und mitEinstimmung ihrer Gesetze wirklich werden kann, erkannt" 144. Mit dem End-zweck als „Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe" meint Kant hier offensichtlichdas höchste Gut145. Die Teleologie in der Struktur der Welt des Subjekts liegt alsodem Gedanken der Möglichkeit des höchsten Gutes zugrunde.

Man muß jedoch einschränkend hinzufügen, daß die Naturzweckmäßigkeit alsunabhängiges Prinzip der Urteilskraft allein nicht genügt, um die Möglichkeit deshöchsten Gutes in der Welt positiv und zureichend verständlich zu machen. Dazuist nicht nur erforderlich, daß besondere sittliche Zwecke, die das höchste Gutbefördern, in der Welt mit Erfolg ausführbar sind, wobei immer entscheidendeFehlschläge eintreten können, die dann die Möglichkeit des höchsten Gutes in derWelt überhaupt in Frage stellen; dazu ist notwendig, daß die Welt über die physi-sche Teleologie hinaus selbst einen Endzweck hat, und zwar eben die Realisierungdes letzten Ziels der praktischen Vernunft, nämlich des höchsten Gutes 146. DieMöglichkeit des höchsten Gutes bedeutet für Kant keineswegs bloß die Möglich-keit begrenzter sittlicher Zwecke in der Welt, sondern die Möglichkeit der höch-sten Vollendung der Welt selbst. Diesen Endzweck als Ziel der Veränderungen derWelt nennt Kant auch den Endzweck der Schöpfung. Das höchste Gut hat alsGegenstand der praktischen Vernunft nur subjektiv-praktische Realität. Durch dieAnnahme eines Endzwecks der Schöpfung, der eben in der Verwirklichung deshöchsten Gutes besteht, erhält es objektive, aber auch bloß praktische Realität.Eine solche Annahme ist für uns jedoch nur dann sinnvoll, wenn wir das Daseinund Wirken eines moralischen Welturhebers wie auch die Unsterblichkeit der Per-son voraussetzen* und postulieren 147. Dieser Nachweis der objektiven Realität undBedeutung des höchsten Gutes, der allerdings hinsichtlich der Modalität des Für-wahrhaltens nur für einen praktischen Glauben Gültigkeit hat148, ist nach Kanteine Rechtfertigung, eine transzendentale Deduktion dieses Begriffs 149.

In diesem Begriff des Endzwecks der Schöpfung sind nun die beiden anderenBegriffe des Endzwecks enthalten. Im Endzweck der Schöpfung wird das Seinoder die objektive Realität des Endzwecks der praktischen Vernunft, d. h. deshöchsten Gutes gedacht. Wenn aber die vollendete Sittlichkeit und die ihr an-gemessene Glückseligkeit den Endzweck der Schöpfung ausmachen, dann muß auch

143 Kr. d. U. XX.144 Kr. d. U. LV; vgl. auch 419 f.145 Kr. d. 17. LIV f.14e Vgl. Kr. d. U. 432; XX, 306.147 Vgl. Kr. d. U. 429—433; 442; XX, 294; vgl. auch Kr. d. pr. V. 219 ff.; 235 ff.148 Vgl. XX, 297 ff. u. a.149 Vgl. Kr. d. pr. V. 203; 227.

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das Dasein vernünftiger und freier Wesen in ihr als ideologisch unbedingt an-gesehen werden 15°.

Kant gewann seinen Begriff des Endzwecks der Schöpfung,, wie die Reflexionenzeigen, vor allem in einer Auseinandersetzung mit dem Kapitel: „Finis creationis"in Baumgartens Metapbysica. Nach Baumgarten liegen den Zwecken, Zweck-mäßigkeiten und Vollkommenheiten der Geschöpfe die Zwecke und schließlich derEndzweck Gottes bei der Erschaffung der Welt zugrunde. Die Erkenntnis derVollkommenheiten der Welt aber dient der Ehre Gottes. Die Vollkommenheit dergeistigen Wesen, die die Vollkommenheiten der Welt erkennen und Gott darüberrühmen, ist nun mit ihrer Glückseligkeit notwendig verbunden. So ist die größt-mögliche Glückseligkeit der geistigen Wesen in einer vollkommensten Welt derEndzweck der Schöpfung: „Ergo prosperitas et beatitudo seu felicitas spirituumtanta, quanta in mundo optimo possibilis, finis fuit creationis" 151. Wohl vondiesem Begriff des Endzwecks der Schöpfung her argumentiert schon der vor-kritische Kant gegen die rein theoretischen Bestimmungen des „mundus optimus"in der Metaphysik: „Perfectio mundi absoluta non consistit in multitudine, ordine,varietate substantiarum, sed in maximo et purissimo voluptatis sensu" 152. DieseÜberlegung hängt offenbar mit Kants Kritik am metaphysischen Begriff derVollkommenheit zusammen153. In späterer Zeit kritisiert Kant nicht nur dentheoretisch-metaphysischen Begriff der vollkommensten Welt, sondern auch dieAuslegung ihrer Vollkommenheit durch die erwähnte Lehre vom Endzweck der

150 Ob diese metaphysisdie Annahme eines Endzwecks der Sdiöpfung, der dem End-zweck der praktisdien Vernunft korrespondiert, subjektiv notwendig ist, bleibt allerdingsdoch fraglich. Auch wenn wir die Beförderung des höchsten Gutes wollen, können wir vonuns selbst immer nur die Ausführung begrenzter sittlicher Zwecke verlangen. Die Planungdieser Zwecke ist möglich und ihre Ausführung kann gelingen, wenn unter der Voraus-setzung einer allgemeinen Zweckmäßigkeit des Mannigfaltigen der Welt für unsere Fas-sungskraft ein vernünftiges Weltverhalten überhaupt möglich ist. Zur Erfüllbarkeit un-serer moralischen Aufgaben in der Welt aber kann es offen und problematisch bleiben,ob ein Endzweck der Welt dem Endzweck unserer praktischen Vernunft entspridit, der nureine leitende Idee und ein Grenzbegriff unseres sittlichen Verhaltens zu sein braucht. —Daß es dennoch eine moralische Tendenz gibt, sich einen solchen Endzweck der Schöpfungzu denken, ließe sich dann vielleicht anthropologisch aus den sehr begrenzten Wirkungs-möglichkeiten bzw. der oft erzwungenen Passivität des Menschen erklären.

151 Baumgarten: Metaphysica. 4. Aufl. Halle 1757, § 948. Zum Gedankengang vgl.§§ 942—949. ·

152 } 298 (Nr. 3804). Kant wendet sich hiermit speziell gegen Baumgartens theore-tische. Bestimmungen des „mundus optimus" in Metaphysica §§ 436 ff.

i« ygi dazu n^ 90. Noch in den Optom'smHi-Betraditungen erkannte Kant den vonLeibniz herkommenden metaphysischen Begriff der vollkommensten Welt als das „höchsteendliche Gut" an (II, 33). Er kritisierte aber schon früh Leibniz' Beweis der besten Welt,der auf die Annahme eines Mißfallens in Gott an den metaphysisch notwendigen Endlich-keiten hinausläuft, und zog Popes ideologischen Beweis vor (XVII, 230—239; Nr. 3704und 3705). Dies ist dann in den folgenden Jahren wohl ein Grund für Kant, die Glei-chung des Grades der Vollkommenheit mit dem Grad der Realität zu verwerfen; einzweiter dürfte die Erkenntnis der Realrepugnanz sein.

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Schöpfung. Vermutlich mit einer Wendung gegen Baumgarten sagt Kant: „mundmoptimiiSy ... die höchste Glücksccligkeit ist nicht der oberste Zwek, ... auch nichtdie Sittlichkeit, denn sie ist nicht der ganze Zwek ... Daß Vernünftige Wesen inder Welt glüklich, in so fern sie dieser Glükseeligkeit nicht unwürdig scyn" 154.Auch die Glückseligkeit der geistigen Wesen ist also nicht der Endzweck derSchöpfung, durch dessen Verwirklichung die Welt etwa ihre höchste Vollkommen-heit erreichte. Ein praktischer Begriff der Vollkommenheit der Welt setzt vielmehrdie Grundlagen der kritischen Ethik voraus; nur Sittlichkeit als oberste Bedingungund Glückseligkeit als ihre Folge machen die größtmögliche Vollkommenheit derWelt aus. In dieser Umdeutung behält Kant den Leibnizschen Begriff der „bestenWelt" oder der „Weltvollkommenheit" bei und identifiziert ihn mit dem deshöchsten Gutes 155.

Durch die rein praktische Interpretation der besten Welt ergibt sich nun imRückblick auf die Metaphysik des 18. Jahrhunderts für Kant eine überraschendeAnalogie. Es ist für den Menschen Pflicht, nach seinem Vermögen das höchste ab-geleitete Gut hervorzubringen. Hierbei denkt er sich „nach der Analogie mit derGottheit, welche, obzwar subjectiv keines äußeren Dinges bedürftig, gleichwohlnicht gedacht werden kann, daß sie sich in sich selbst verschlösse, sondern dashöchste Gut außer sich hervorzubringen selbst durch das Bewußtsein ihrer All-genugsamkeit bestimmt sei" 15e. In der damaligen Metaphysik wurde die Not-wendigkeit, das höchste abgeleitete Gut hervorzubringen, in Gott als dem Welt-urheber begründet. In Kants moralphilosophischer Auslegung wird sie im end-lichen sittlichen Willen begründet, d. h. es ist nun der Mensch, der diese Aufgabevor sich sieht und der sich darin mit Gott vergleicht. Die Notwendigkeit derHervorbringung ist allerdings für ihn nicht Allgenugsamkeit, sondern sittlichesGebot.

Im Gefolge der Umdeutung der besten Welt zu einem praktischen Weltbegriffhat Kant sich auch mit weiteren Themen der Leibnizschen Metaphysik und derMetaphysik des 18. Jahrhunderts auseinandergesetzt. Genannt seien nur die Har-monie des Reichs der Natur mit dem Reich der Gnaden nach ideologischen Ge-setzen, der Begriff des Reichs der Gnaden oder des Gottesstaates selbst, der offen-bar Modell für seinen eigenen Begriff des Reichs der Zwecke wurde, das Problemder Theodizee, theologische Fragen wie z. B. die Ehre Gottes und andere religions-philosophische Einzelthemen. Diese Probleme der damaligen Metaphysik warenjedoch nicht für Kants Neubegründungen des höchsten Gutes selbst bestimmend;sie gehörten vielmehr zu den Fragen, die erst nach der Konstitution einer neuenTheorie des höchsten Gutes behandelt werden konnten.

154 XVIII, 468 (Nr. 6143).155 Vgl. Kr. d. r. V. A 815; B 843; A 819; B 847; Kr. d. pr. V. 226; Kr. d. U. 425·

429; VI, 61; XXa 307; XVIII, 465 (Nr. 6134); XIX, 173 (Nr. 6827); Die philosophischenHauptvorlesungen (hrsg. v. A. Kowalewski, Mündien u. Leipzig 1924), S. 585 u a

156 VIII,' 280 Anm.

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Auf ein Thema sei hier noch hingewiesen, das Kant selbst zwar angeschnitten,aber nicht näher ausgeführt hat, nämlich auf den Zusammenhang des höchstenGutes als des letzten Ziels der praktischen Vernunft mit der Geschichte 157. DasZiel der Geschichte ist nach Kant die größtmögliche Kulturentfaltung und ein aufdas Recht gegründeter ewiger Frieden, den man als höchstes politisches Gut an-sehen kann.158 Zwar entwickelt sich nach Kant die Natur der Menschengattung vonsich aus auf dieses Ziel hin; der Zustand des ewigen Friedens ist für sich selbstnoch kein sittlicher Zustand. Aber die Beförderung dieses geschichtlichen Ziels istdoch ethische Pflicht, weil der ewige Frieden eine Vorbedingung der sittlichen Voll-endung der Menschheit ist und als Vorbereitung dazu dienen kann. So erhält dieIdee des höchsten Gutes eine geschichtsphilosophische Dimension. Diese Idee kannund soll zugleich das Movens für konkrete, auf die jeweilige geschichtliche Lagebezogene Entwürfe von Zielen sein, die im Interesse des Handelns aufgestelltwerden. —

Damit hat sich wohl gezeigt, daß das höchste Gut nach Kants späterer Konzep-tion zwar nicht zu der Lehre von den Prinzipien der Ethik, aber doch zu einervollständig entfalteten praktischen Philosophie notwendig gehört, die alle funda-mentalen Leistungen des endlichen sittlichen Bewußtseins untersucht. Das höchsteGut ist notwendiges Objekt des Zwecke setzenden endlichen Willens. Es ist einethischer Entwurf unserer Welt als Leitidee für alle Bestimmung und Durchfüh-rung einzelner sittlicher Zwecke in der Welt. Die Möglichkeit der Realisierungsolcher sittlichen Zwecke unter den besonderen Bedingungen und Gegebenheitender Natur und der Geschichte läßt sich aber nur denken, wenn man eine allge-meine Zweckmäßigkeit des Mannigfaltigen für unser überlegtes und vernünftigesWeltverhalten voraussetzt.

Kants Verknüpfung dieser praktischen Idee des höchsten Gutes mit der Postu-latenlehre wurde hier nur an einigen Stellen angedeutet; sie stellt ein eigenesschwieriges Problem dar. Wie es scheint, ist diese Verknüpfung nicht so eng undso notwendig, wie Kant wohl angenommen hat. Denn er zeigt eigentlich nicht,warum denn der endliche Wille, der nur bestimmte sittliche Zwecke realisierenkann und also nur die Möglichkeit solcher Zwecke überhaupt erwarten muß, not-wendig die Möglichkeit bzw. objektive Realität des höchsten Gutes insgesamt, d. h.des besten Weltganzen postuliert. Eine regulative Idee könnte für das sittlicheHandeln nach Zwecken ausreichen. Kants Motive für die Ausbildung seiner Postu-latenlehre haben aber wohl ihren Ursprung im metaphysischen Denken nicht nurdes 18. Jahrhunderts.

Mit dieser Erinnerung an die verschiedenen Theorien des höchsten Gutes beiKant und dessen Auseinandersetzung mit anderen ethischen und metaphysischen

157 Darauf machte auch sdion Landgrcbe aufmerksam in dem Aufsatz: Die Gesdiidrte imDenken Kants. Studium Generale 7 (1954), S. 538 ff. (wieder abgedruckt in: Pbänomeno-logie und Gerichte. Gütersloh 1968, S. 46 ff.; vgl. dort 55 ff.).

*» VgL VI., 355.

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Lehren sollte der Versuch unternommen werden, das höchste Gut als ein Problemwiederzugewinnen. Zwar muß wohl systematisch eine Klärung der Prinzipien-fragen der Ethik vorangegangen sein; aber die Anerkennung des höchsten Gutesals eines berechtigten Problems, vor allem in der vom späten Kant aufgewiesenenerforderlichen Fragestellung, kann vielleicht auch zur Vermeidung von Miß-verständnissen in den Grundlagenproblemen der Ethik beitragen.

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