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Musharaff Moulamia Khan

Der Zauber Indiens

Aus dem Leben eines Sufi

Postfach 2162, 71370 Weinstadt

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Titel der englischen Originalausgabe:„Pages in the Life of a Sufi”1. Auflage 1932, Rider and Co., London2. Auflage 1971 © Sufi Publishing Co.3. Auflage 1982 © Sufi Publishing Co.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Khan, Musharaff Moulamia Khan:Der Zauber Indiens - Aus dem Leben eines SufisÜbersetzung: Karima Sen Gupta mit historischen Ergänzungen von Mashaikh Mahmood KhanWeinstadt, Verlag Heilbronn, 2014ISBN 978-3-936246-08-7

Verlag HeilbronnPostfach 2162, D-71370 Weinstadtwww.verlag-heilbronn.deinfo@verlag-heilbronn.denfoVerkehrsnummer 14894

ISBN 978-3-936246-08-71. Auflage 2014Dieses Buch ist auch als eBook erhältlichAlle Rechte vorbehalten© Verlag HeilbronnGedruckt in Tschechien

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Inhalt

Vorwort von Musharaff KhanEinführung in die 2. Auflage von Fazal Inayat KhanEinführung in die 1. Auflage von E. A. MitchellVorwort zur 2. Auflage von Claire MacKail Ein etwas anderes Vorwort zur deutschen Übersetzung von Karima Sen Gupta

1. Teil Aus dem Leben eines Sufi

1. Das Leben meines Vaters, Rahmat Khan 2. Mein Großvater, Moula Bakhsh 3. Im Haus von Moula Bakhsh - Anmerkungen zur indischen Musik 4. Meine Großmutter und Mutter 5. Jahre der Erziehung 6. Jugendjahre 7. Indische Feste 8. Der Tod meines Vaters 9. Inayat Khan in Hyderabad - Begegnung mit seinem Murshid10. Mein Leben mit Inayat Khan11. Der Ruf in den Westen12. Der Maharaja von Baroda und seine Reformen 13. Der Nizam von Hyderabad – Dichter und Heiler14. Meine Reise nach Amerika15. Kontraste16. Die Mission meines Bruders17. Das mystische Ideal

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2. Teil Aus dem Tagebuch eines Sufi

18. Musik im Osten und im Westen19. Über den Klang20. Das Geheimnis des Klangs21. Die Schönheit spirituellen Strebens

3. Teil Eine indische Pilgerfahrt

22. Besuch heiliger Gräber in Bagdad und Ajmer 23. Begegnung mit einem lebenden Heiligen 24. Am Grabmal von Hazrat Inayat Khan

Anhang

25. Erinnerungen an Murshid Musharaff von Ranjit Sen Gupta26. Gedanken zum Leben von Savitri von Elisabeth Weibel-Heer

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Vorwort

Das Ziel des heutigen Sufismus ist es, das Verständnis für die verschiedenen Zivilisationen und zwischen Ost und West zu fördern. Mögen diese Seiten helfen, die Schönheit aufzuzeigen, die im Herzen der Menschheit verborgen ist und inneren und äußeren Frieden zu schaffen, nach dem jede Seele sich sehnt. Dieses Buch widme ich meiner Frau Savitri. Ich danke Miss M. Skinner für ihre Mithilfe beim Schreiben dieses Buches.

Musharaff Moulamia Khan, 1932

Einführung in die zweite Auflage

Die Worte und Begriffe „Indien, der Osten, Orient“ haben in den meisten westlichen Sprachen eine romantisch-mystische Nebenbedeutung erhalten. Gedanken von zeitloser, altersloser Zivilisation werden ausgelöst, sobald jemand in einer Diskussion über Indien zu sprechen beginnt. Bei denjenigen, die nach spiritueller und kultureller Tiefe suchen, erweckt dieses Gebiet ein Konzept von einer Art Lagerhaus der Weisheit, der Heiligen und spirituell entwickelten Seelen. In der Tat existiert eine Art Mythos in diesem Gebiet, - ein Mythos, der in der heutigen Zeit 1970 jährlich rund 250000 junge Männer und Frauen im Jahr anzieht, um zu Fuß oder auf andere Weise nach Indien zu reisen, um einen „Meister“ zu finden oder erleuchtet zu werden. Etwa die gleiche Anzahl älterer Menschen reisen jedes Jahr per Flugzeug oder mittels anderer komfortabler Transportmittel an in der Hoffnung, schöne Tempel, ruhige Dörfer und freundliche mystisch veranlagte Menschen zu finden, sie auf ihren Kameras, Tonbandgeräten usw. einzufangen und nach ihrer Rückkehr Diashows zu veranstalten und aus erster Hand sachkundig über Indien zu sprechen.

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Dieses Buch wurde publiziert, um dem Leser einen Eindruck, einen zauberhaften Duft, einen verhohlenen Blick in ein Indien zu gewähren, das alle diese romantischen und spirituellen Dinge vermittelt. Eine Nation, die Heilige hervorbringt und Seelen erleuchten kann. Pir-o-Murshid Musharaff Khan diktierte den größeren Teil dieser Seiten etwa um 1932, und viele andere Teile in den 60 er Jahren. Er hat in diesem Buch etwas erreicht, was nur wenigen Schriftstellern je gelungen ist. Er hat uns ein Indien gezeigt, das jeder zu sehen wünscht. Jenes Land, das in einem Traum von Schönheit und Vollkommenheit existiert, ein Daseinsgrund für friedliche Menschen und einer stabilen Kultur. Der Autor zeigt uns keine grellen, teuren Farbdrucke, noch erzählt er uns sensationelle Geschichten. Dieses Buch besticht durch seine Einfachheit, seine Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit. Das Indien, das in unserem Bewusstsein und unseren Herzen lebendig wird, wenn wir diese Seiten lesen, ist das Land, das Konzept, welches in unserer Vorstellung geweckt wird, wenn dieses Gebiet in unser Bewusstsein kommt. Es ist jenes Land, für das die jungen Männer und Frauen hinausgehen, alles hinter sich lassend, um es zu finden. Es ist auch jener unbegrenzte, unschätzbare Hintergrund für tausende teurer Kameras und Filmstreifen. Jedoch für diejenigen, die in dieser Dekade dort waren und wenigstens teilweise aufrichtig sind, existiert dieses Indien nicht mehr, von dem auf diesen Seiten die Rede ist. Es ist ein Traum von einer nahen Vergangenheit, es ist ein Wunsch höchst menschlicher Wesen nach einer entfernten Zukunft und seine Realität flieht entlang des Ozeans kultureller Verdrängung und des Wandels. Wir können niemals dankbar genug sein für dieses unbezahlbare kleine Buch, denn in diesen Seiten können wir das finden, was keine Kamera einfangen kann und was durch kein Umherstreifen, um mit Sadhus oder Heiligen zu leben, erreicht werden kann.

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Die Sufi-Botschaft, die von Hazrat Inayat Khan, dem ältesten Bruder des Autors, Musharaff Khan, in den Westen gebracht wurde, trägt in sich einige der Feinheiten und einige der leuchtenden Aspekte, mit denen diese Seiten uns innerlich inspirieren möchten. Ohne Zweifel wird für die Sufis „Der Zauber Indiens Aus dem Leben eines Sufi” von unschätzbarem Wert sein. Das Buch wird helfen, die Sufi-Mystik, die Weltsicht der Sufis und die Sufi-Bewegung zu verstehen. Mögen die Leser durch diese Seiten eine Inspiration für ihr Leben finden.

Pir-o-Murshid Fazal Inayat Khan, 1971

Einführung in die erste Auflage Unser Interesse an Indien scheint gerade jetzt fast täglich zuzunehmen. Und mit der Zunahme wächst das Bedürfnis nach einem besseren Verständnis der wahren Herzen der indischen Menschen, denn von diesem Verständnis hängt die Zukunft unserer Beziehungen ab. Viele Bücher wurden über den Osten geschrieben. Einige sind absichtlich sensationell, andere sind Beschreibungen, andere behandeln die sozialen Bedingungen, und es gibt Bände, die Interpretationen der orientalischen Religion und Philosophie behandeln. Aber es gibt etwas, das selten übermittelt wurde: die natürliche Inspiration, die sich aus dem familiären und sozialen Leben Indiens entwickelt, wenn es in Resonanz mit hohen spirituellen Idealen gelebt wird und die Unschuld der Kindheit sowie das sensible Gemüt der Jugend beeinflusst. Dies ist es, was die Seiten von Musharaff Moulamia Khan für jeden so wertvoll macht, der mit Sympathie an diesem indischen Geschehen interessiert ist. Prinzen, Fakire, Mystiker, Musiker bewegen sich über die Szene. Wir erhaschen einen Schimmer von glänzenden Festumzügen und pittoresken Zeremonien. Aber der tiefste Eindruck und gleichzeitig der am

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meisten berührende ist eine Art Unberührbares, das mit einem Duft verglichen werden mag. Parfum. Vergleichbar einem Parfum, wie ein Sufi-Mystiker es beschrieben hat, als „von einer Verbindung mit der Rose“. Es ist sicherlich zu subtil, um alles herauszufinden: Denjenigen, die es herauszufinden vermögen, gewährt es die Einsicht in einen Aspekt indischen Lebens, den viele Seiten einer intellektuellen Analyse nicht so adäquat vermitteln können.

E. A. Mitchell, Schriftsteller und Journalist, 1932

Vorwort zur zweiten Auflage 1971 Diese Auflage enthält neue Texte vorwiegend auf-gezeichnet nach Murshid Musharaffs eigenen Worten. Am Ende des Buches unter dem Titel „Aus dem Tagebuch eines Sufi“ findet sich sein Artikel, der 1933 publiziert wurde in „The Sufi“, einer halbjährlich erscheinenden Zeitschrift über Mystik. Im letzten Kapitel mit dem Titel „Eine indische Pilgerfahrt” geht es um seinen eigenen Bericht über die Reise nach Indien nach einer Abwesenheit von 25 Jahren (zuerst veröffentlicht in „The Sufi”, 1936). Es scheint, als ob die Welt niemals in größerer Notlage in ihrer Sehnsucht nach Reinheit und Schönheit war, wie sie in diesen Seiten ausgedrückt werden. In diesem Glauben möge dieses Buch sich jenen auftun, die für die Botschaft offen sind.

Claire MacKail

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Ein etwas anderes Vorwort zur deutschen Übersetzung

Erloschen ist das Licht, das mir den Weg erhellt. Begreifen kann ich’s nicht, so dunkel wurd‘ die Welt.

Wie finde ich das Ziel, das du gewiesen hast? - Ein Strahl der Sonne fiel Hin auf die Blumenlast.

Jetzt weiß ich, du bist hier, und es ist nie zu spät. Dein Licht lebt fort in mir, Dein Segen nicht vergeht.

Karima (Dez. 1967)

Die obigen Zeilen habe ich nach der Trauerfeier für Pir-o-Murshid Musharaff Khan geschrieben, der neun Jahre mein Murshid, mein geistiger Lehrer war. In dieser Zeit wurde er für mich zum Vater. Mein eigener Vater starb, als ich erst sechs Jahre alt war. Ich habe kaum Erinnerungen an ihn und habe später oft einen Vater vermisst. Aber dann trat Murshid in mein Leben und ihn konnte ich in allen Problemen und Entscheidungen um Rat fragen - vor meiner Heirat, vor unserer Umsiedlung in die Schweiz, vor unserem Hauskauf fast ohne Geld und vielen kleineren Ereignissen meines Lebens. Ich bin ihm immer gefolgt, selbst als es mir einmal sehr schwer gefallen war vor einer Änderung meines Berufs. Doch heute nach einigen Jahrzehnten bin ich ihm auch dafür dankbar. Eine Zustimmung von ihm wäre für mich später falsch gewesen. Lange habe ich mit dem Gedanken gespielt, sein zauberhaftes Buch „Pages in the Life of a Sufi“ zu übersetzen,

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das mich vom ersten Lesen an zutiefst berührt hatte. Aber die Zeit war noch nicht gekommen. Auf meinen vielen Indienreisen habe ich einiges vom heutigen Indien kennengelernt und musste erkennen, dass es mit Murshids Indien nicht mehr viel zu tun hat, obwohl sicher einiges im Verborgenen immer noch existiert. Die einzigartige Kultur, die tiefe Spiritualität Indiens kann einfach nicht untergehen. Murshid Musharaff und seine Frau Shahzadi waren sehr oft bei uns zu Besuch. Ich habe für sie indische Gerichte gekocht und wir haben Sufi-Veranstaltungen organisiert. Ebenso oft waren wir bei ihnen in Den Haag zu Besuch, haben dort übernachtet und wunderbare Gespräche gehabt. Ich bin sehr glücklich, dass ich meine Dankbarkeit für alles, was er mir und meinem Mann geistig gegeben hat, mit dieser Übersetzung zeigen kann.

Karima Sen Gupta, 2013

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Das Leben meines Vaters, Rahmat Khan

Mein Vater, Rahmat Khan, wuchs in einer reichen musikalischen Tradition heran und war wie sein Großvater Mashaikh Nyamat Khan und sein älterer Bruder, Mashaikh Jafar Khan, Musiker und wurde in eine teils asketische, teils höfische Karriere gedrängt. Er lernte seine Kunst zu Füssen eines großen Meistersängers, der vor allem für sein Wissen in jenem Zweig der alten heiligen Musik, die wir Dhrupad nennen, bekannt war. Dhrupad ist Musik aus der Schule, die in Indien existierte, bevor das Moghul-Reich entstand. Wie alle indische Musik wurde auch diese nie niedergeschrieben, obwohl sie über Generationen vom Meister zum Schüler weitergegeben und gelehrt worden war. In Indien lernen wir Musik in der Gegenwart des Meisters, wir hören ihm zu und ahmen ihn nach. Wir sagen, dies wird „von Seele zu Seele“ gelehrt.

Der Meister meines Vaters hieß Sayn Ilyas, und er war nicht nur ein Musiklehrer für meinen Vater, sondern auch sein geistiger Lehrer oder Murshid, weil Sayn Ilyas ein Mystiker und Heiliger war. Er hatte verschiedene Schüler und war ein Fakir, ein „König ohne Krone“, der sich immer auf die Vorsehung Gottes verließ. Er lebte von den Gaben, die ihm geschenkt wurden. Wenn er mehrere Tage gefastet hatte, ging einer seiner Schüler in die Stadt und trug dabei seinen Stab. Wenn sie den Stab des Sayn Ilyas sahen, schenkten die Händler sofort alles Notwendige.

In dem früher fürstlichen Staat Kapurthala wird bis heute des heiligen Sayn Ilyas als eines großen Sufis und Dhrupad-Sängers gedacht.?*

Manchmal besuchten die Könige dieses Landes, wie zum Beispiel der Maharaja von Kaschmir, diesen Murshid, brachten ihm Geschenke, Geld und Gold. All dies pflegte der Murshid sofort unter seinen Schülern zu verteilen und sagte ihnen, dass sie alles am gleichen Tage ausgeben sollten. Wenn

Anita Singh, Direktorin der Indischen Musikgesellschaft, New Delhi*

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manchmal das Geschenk sehr groß war, verteilte es der Murshid unter den Einwohnern der Dörfer in der näheren Umgebung. Dies tat er, um seine Unabhängigkeit zu bewahren und zu zeigen, dass er nur seiner göttlichen Kunst, der Musik, diente und im Dienst Gottes lebte. Denn es ist die Unabhängigkeit, die den Künstler ausmacht und seine Kunst bewahrt.

Seine Lieder waren sehr besonders und klassisch und wurden von den musikalischen Menschen, die dazu imstande waren, sehr geschätzt. Sowohl Hindus wie Muslime waren seine Schüler, und sie waren ihm alle sehr ergeben. Er lebte sein Leben als Asket, ein Mensch nicht von dieser Welt, er lebte in seiner göttlichen Musik. So lernte mein Vater von diesem Murshid und lehrte seinerseits uns, seine Söhne. Denn wir drei, seine Söhne, wurden ebenfalls Musiker.

Mein Vater gehörte zu einer sogenannten Mashaikh-Familie, eine Bezeichnung, die wieder ganz unterschiedliche Bedeutungen haben kann, aber im Allgemeinen den mys-tischen und ritterlichen Widerstand gegen die religiöse Gesetz-orthodoxie mit einschließt. Er war 1843 geboren und seine Familie lebte lange auf dem Land im nördlichen Punjab, in dem die Hauptorte Sialkot und Sambrial waren. Der Name meines Großvaters war Mahashaikh Bahadur Khan. Er lebte sein Leben in der alten Kombination von Sufi-Mystik und Ritterlichkeit: meditativ, musikalisch und kämpferisch und war seinen Idealen treu.

Mein Vater war schon von früher Kindheit an Waise. Als sein Vater starb, kam er unter die Obhut seines ältesten Bruders Dschafar Khan, der 14 oder 15 Jahre älter war. Mein Vater erzählte eine Geschichte aus jener Zeit, als er unter der Obhut von Dschafar Khan war, die vielleicht etwas von der indischen Betrachtungsweise, dem Familienleben und der Zu- neigung zueinander aufzeigen kann. Eines Tages, so ging die Geschichte, als Dschafar Khan nicht zu Hause war, kam der Junge zu spät zum Abendessen und deshalb war seine Schwägerin, meine Tante, ärgerlich über ihn. Mein Vater war

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von unabhängiger Natur und sehr feinfühlig und gefühlvoll. Er konnte das Missfallen, das seine Schwägerin zeigte, nicht ertragen. Er erwartete von ihr Zartheit, Rücksicht und Verständnis. Tatsächlich liebte sie ihn sehr, doch war er so empfindsam, dass er ihre Haltung nicht ertragen konnte. So sprang mein Vater, impulsiv wie ein Junge sein kann, auf und schwor, dass er von niemandem mehr einen Gefallen annehmen würde und rannte aus dem Hause. Als der ältere Bruder zurückkam, sah er, dass der Junge schon seit einiger Zeit nicht mehr da war, und dass es keine Neuigkeiten von ihm gab. Mein Onkel hielt es mit dieser Unrast und Sorge nicht aus, doch es blieb ein Rätsel, wie der Junge gefunden werden könnte. Vielleicht war er in den Straßen einer der Städte verschwunden, die sich unweit von ihrem Haus auf dem Land befanden. Oder vielleicht war er sogar weiter fortgegangen und hatte das Land Punjab verlassen. Indien besteht, wie bekannt ist, aus vielen Ländern. Es war schwierig, sich ohne Hinweis vorstellen zu können, wohin ihn die rebellische und abenteuerlustige Natur der Jugend geführt haben mochte. In Indien gehen die Gläubigen oft zum Grab eines Heiligen, um ihm ihre Gebete darzubringen, damit ihre gerechten Wünsche erfüllt werden. Es ist unser Brauch in schwierigen Augenblicken und hoffnungslosen Umständen dieser verwirrenden Lebenspfade, so dass wir Inspiration und Trost empfangen können. So entschied mein Onkel, nachdem er die ersten Tage mit der Suche verbracht hatte, das Grab eines Sufi-Heiligen zu besuchen, und dort für den Knaben, seinen Bruder, zu beten. Zuvor arrangierte er alles für das Wohlergehen seiner Frau und seiner Kinder. Dann brach er auf zum Grabmal des Heiligen und saß tage- und nächtelang am heiligen Ort, fastete und ging auf in den Gebeten im Gedanken an die Sicherheit seines Bruders, und kümmerte sich zu jener Zeit um nichts anderes. Der jüngere Bruder begann zur gleichen Zeit, sich unruhig zu fühlen, wie wenn etwas Stärkeres als er selbst ihn

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fortzuziehen begann. Schließlich brach er auf, um zum Haus seines Bruders zurückzukehren, wie gegen seinen eigenen Willen und seine Gefühle. Als er völlig übermüdet wieder zu Hause ankam, weil er wirklich von weit her gekommen war, war seine erste Frage: „Wo ist mein Bruder?“ Der kleine Sohn meines Onkels, Meher Bakhshe, der später der Ehemann meiner Schwester wurde, freute sich, den Knaben zurückkehren zu sehen und rief aus: „Mein Vater war am Grab des Heiligen, seit Du weggingst. Ich werde hinlaufen und es ihm sagen.“ Dieses Kind war so glücklich, die gute Nachricht seinem Vater zu bringen und rannte die ganze Strecke zum Grab des Heiligen, obwohl es gute sieben Kilometer bis dahin waren. Dort fand es seinen Vater, der in Gebet und Meditation saß. „Er ist zurückgekehrt“, rief das Kind aus. Dschafar Khan erhob sich von seinen Gebeten, sprang auf seine Füße und rannte sofort los, um seinen Bruder willkommen zu heißen. Er überholte seinen Sohn und ließ ihn auf der Straße zurück, als er in seiner großen Freude nach Hause rannte, seinen Bruder zu sehen. Als er ihn dann erblickte, fiel er ohnmächtig hin, weil er viele Tage lang gefastet hatte. Sein inneres Gelübde, seinen Bruder zu finden, hatten den Heiligen und die kosmische Welt angesprochen, um es Wirklichkeit werden zu lassen. So wurde ihm der Wunsch, seinen Bruder wiederzuhaben, erfüllt. Daraus können wir erkennen, dass hinter uns allen ein Leben, ein Geist, ein Strom steht. So erfüllte sich alles harmonisch, um den Wunsch des älteren Bruders zu erfüllen, der fastete und betete. Daraus können wir auch erkennen, was die geistige Kraft und die Stärke der Liebe tun können: sie können Wunder auf dieser irdischen Ebene bewirken. Die Liebe ist in sich selbst beides, die Kraft und das Wunder. Obwohl der Murshid, von dem mein Vater lernte, ein Fakir war, wurde mein Vater selbst keiner. Nachdem er in seiner Kunst fortgeschritten war, wurde er ein Ustad oder professioneller Lehrer. Sobald er von seinem Murshid genug gelernt hatte, begann er eine Tournee, wie dies unser Brauch ist, ähnlich dem der damaligen Troubadoure und der heutigen

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Konzertsänger im Westen, um in den Städten, durch die er reiste, zu spielen und zu singen. In den alten Zeiten war es in Indien Brauch, dass die Eltern, wenn sie mit einer anderen Familie befreundet waren, oft Wünsche hatten in Bezug auf die Heirat ihrer Kinder. Sie sprachen manchmal sogar davon, bevor ihr Kind überhaupt geboren war. Wenn nun in einer Familie ein Sohn war und in der anderen eine Tochter, begannen beide Familien darüber zu sprechen, dass ihre Kinder heiraten sollten. So hatte die Mutter meines Vaters mit den Eltern einer Familie gesprochen, die eine Tochter hatten, und sie sagte ihnen, dass ihre Tochter ihren Sohn heiraten solle. Doch Rahmat Khan war in seiner frühen Jugend sehr vom Reisen angetan und hatte nicht die Absicht, so früh zu heiraten. Er verließ das Land für viele Jahre, und es ergab sich, dass er sich weit von seinem Geburtsort entfernt niederließ. Doch da die Eltern der Familien miteinander gesprochen hatten, was er nicht sehr ernst genommen hatte, nahm jedoch das Mädchen, das von seinen Eltern über ihre zukünftige Heirat mit Rahmat Khan gehört hatte, ihr Ideal das ganze Leben lang ernst und heiratete niemanden. Sie sagte, dass wenn ihr Name ein- mal in Verbindung mit ihm ausgesprochen worden war, dies für ihr ganzes Leben gelten würde, und sie daher keine neue Verbindung wolle. Dies war ihr Ideal und dies hielt sie aufrecht bis zu ihrem Tode. Als sie hörte, dass Rahmat Khan verheiratet war, ergab sie sich in den Willen Gottes.

Dies ist etwas sehr seltenes, etwas Heiliges, auch bekannt als Rajputen-Ideal. Als man meinem Vater davon erzählte, war er sehr unglücklich und traurig darüber. Sie lebte im Gottesideal und war damit bis zu ihrem Ende glücklich – sie war eine heilige Seele. Die Jungen hatten immer volles Vertrauen in die Führung ihrer Eltern und Älteren für ihr zukünftiges Glück.

Für seine Mutter war die Trennung von ihrem Sohn sehr leidvoll und ihre Liebe zu diesem Kind und die Trennung machten sie fast blind vom Weinen. Sie hatte keinen Lebens-willen mehr. Jedes Mal, wenn sie sich ihrer bewusst wurde, rief

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sie nach ihrem Sohn Rahmat Khan. Schließlich verließ sie ihr irdisches Leben, und er sah sie nicht wieder. Er war der Jüngste, und in seiner Jugend nahm er ihre Liebe und ihre Agonie nicht wahr. Er dachte, er könne dann später zurückkommen, wenn er seinen eigenen Weg gemacht hatte. Er verstand damals nicht, dass ihre Liebe für ihren Jüngsten so groß war, weil sie bei ihrem ältesten Sohn, Dschafar Khan, lebte. Später verstand mein Vater all dies und oft weinte er im Gedanken an seine Mutter. Besonders als er seinen Sohn Karamat Khan verlor, kam ihm oft der Gedanke an seine Mutter und brachte ihn zum Weinen, und er sagte dann, dass es unerträglich sei, daran zu denken, wie er seiner Mutter Leid zugefügt hatte. Als er dann wegen seiner Tournee aufbrach und nach Ajmer kam, dachte er, dass er die Stadt nicht verlassen könne, ohne das Grabmal von Moinuddin Chishti zu besuchen, einem großen Sufi und Begründer jener Schule des Sufi-Denkens, das Chishti genannt wird und von der mein Bruder, Hazrat Inayat Khan, sein Ijazat (Diplom) bekam. Dazu fragte sich mein Vater, damals noch ein junger Mann, in welche Richtung er seine Schritte lenken sollte, und wohin in Indien er wohl auf seiner Tournee gehen solle. Als er neben dem Sarg des Sufi-Heiligen stand und seine Ehrerbietung zeigte, erfüllte ihn der Wunsch, vom Heiligen ein Zeichen zu erhalten. Als er länger dort stand, ehrfürchtig und erwartungsvoll, fühlte er sich plötzlich etwas benommen, wie wenn seine Körpersinne etwas dumpf geworden seien. Für einen Augenblick war alles wie ausgelöscht vor ihm. Dann schien er die Form des Heiligen zu erkennen, die aus dem Boden neben ihm emporstieg, sein Gesicht war mit Blumen verschleiert. Der Heilige schien sich in eine sitzende Position zu rücken, hob mit beiden Händen den Schleier aus Blumen und zeigte sein Gesicht meinem Vater. Es schien meinem Vater auch, dass bevor die Vision vorbei war, der Heilige eine Geste in eine bestimmte Richtung machte, und als er dieser folgte, brachte es ihn nach Baroda. So kam es, dass mein Vater, ein Mann aus

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dem Punjab, das erste Mal nach Baroda kam, wo er später seine Frauen fand, Moula Bakhsh’s ältere und mittlere Tochter, und wo seine Kinder geboren wurden und aufwuchsen. Als mein Vater das erste Mal nach Baroda kam, hatte er nicht die Absicht, dort zu bleiben. Er traf jemanden, der ihn beriet und zum Hause des Vaters meiner Mutter, Moula Bakhsh, brachte, der zu jener Zeit der Musiklehrer des Maharaja Gaikwar war, die Hauptfigur in der musikalischen Welt jener Zeit. Seine Zeitgenossen nannten Moula Bakhsh den ‘morning star’ – den Morgenstern, weil sie glaubten, dass er die Musik Indiens wieder zu ihrer vollen Identität führen würde. Das erste, was Moula Bakhsh anzog, war die Persönlichkeit meines Vaters. Erst später entdeckte er in ihm einen der feinsten Interpreten jener Zeit in der Musik, die Dhrupad genannt wird.Im Haus von Moula Bakhsh in Baroda wurden ‘Darbars’ gehalten, Treffen der Gelehrten Indiens, Dichter, Philosophen, Musiker, Denker aller Richtungen. Ohne die Empfehlung von Moula Bakhsh und seiner Familie würde der Maharaja keinem Musiker erlauben, an seinem Hof zu spielen. Bei einer dieser Gelegenheiten spielte und sang mein Vater und verdiente sich damit viel Lob. Nach diesem ersten Erfolg brachte Moula Bakhsh meinen Vater zum Hof des Maharaja Gaikwar. Nachdem dieser seine Musik gehört hatte, fragte er ihn mit aller Höflichkeit und Wertschätzung, mit der er die Liebe seines Volkes gewonnen hatte, ob sich mein Vater freuen würde, zum Hof zu gehören? Dies festigte die Stellung meines Vaters in Baroda. Er blieb immer ein ruhiger und zurückhaltender Mann, aber jemand, der leicht und schnell Freunde gewann. Als Sänger wurde er vor allem bewundert für sein ‘Singen auf der Note’, wie wir es nennen – d.h. seine außergewöhnliche Reinheit des Tons. Wegen seines feinen mu-sikalischen Ohrs war es sehr schwer für ihn, Noten zu ertragen, die nicht rein waren. In seinem Unterricht war er oft sehr streng mit seinen Schülern, auch mit seinen Kindern. Wenn sie einen

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Fehler machten, wurde er sehr heftig, so wie einige italienische Maestros in früheren Zeiten. Er sagte jeweils: „Ich habe die Musik gelernt durch Geduld, Gehorsam, Liebe und Respekt, und dadurch, dass ich selbstlos wurde. Auf diese Weise wurde ich im musikalischen Wissen von Dhrupad, dem alten Stil inspiriert. Ich habe gelernt, indem ich meinem Lehrer gedient habe. Es nahm einen großen Teil meines Lebens in aller Demut und Selbstverleugnung in Anspruch“. So wünschte er, dass wenn die Kinder von ihm lernen wollten, sie mit der gleichen Haltung zu ihm kommen sollten, um das gleiche Wissen zu erlangen. Er sagte jeweils: „Es ist nicht mein Ziel, euch auf die einfache Art vorzubereiten und euch all dies zu geben, weil ihr meine Kinder seid. Das ist nicht möglich.“ Als Freund war mein Vater zuverlässig und ein Friedens-stifter. Wegen seiner Wahrheitsliebe hatten seine Freunde hohen Respekt vor ihm und ein Gefühl von verlässlicher Freundschaft und Vertrauen. Sogar die Bankiers hatten so großes Vertrauen in ihn, dass wenn unter seinen Freunden und Musikern jemand Geld ausleihen wollte, die Bankiers Rahmat Khan als Bürgen akzeptierten. Der Bankier Bandhara Pershotam Bapu sagte jeweils: „Wenn Rahmat Khan einverstanden ist, werde ich Dir das Geld geben“. Sein Wort war so wertvoll, dass die Bankiers keine schriftlichen Verträge wollten, lediglich das Wort von Rahmat Khan. Da er ein freundliches Herz hatte, half er seinen Freunden oft, doch gelegentlich musste er auch wegen seiner Freundlichkeit die Schulden eines Freundes von seinem eigenen Salär an den Bankier zurückbezahlen. Mein Vater wurde zum Friedensrichter ernannt in der Gemeinschaft der Musiker. Oft schlichtete er Auseinander-setzungen unter den Musikern und Sängern. Nicht einmal als junger Mann und Neuling in Baroda konnte ihn die ober-flächlichere Seite des Lebens verführen, die eine Versuchung aller Künstler zu allen Zeiten und in allen Ländern ist. Der Hof war zu jener Zeit berühmt für seine Brillanz, für die Schönheit seiner Tänzerinnen, für die Aufführungen, Feste und den Glanz,

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der da herrschte. Es war jene ernsthafte Seite und Festigkeit im Charakter meines Vaters, sogar mehr als sein Erfolg als Künstler, die Moula Bakhsh veranlassten, ihn zu bitten, in seinem Haus zu leben und ihn später als seinen Schwiegersohn zu akzeptieren. Aus der Ehe mit der ersten Tochter von Moula Bakhsh, Fatimabibi entstammte eine Tochter, Jennahbibi. Nach einigen Jahren starb Fatimabibi, und Rahmat Khan war sehr verzweifelt und wollte Baroda verlassen, um in sein Heimatland zurückzukehren. Aber mein Großvater war seinem noblen Charakter so zugetan, dass er nicht wünschte, von ihm getrennt zu sein. So arrangierte er die Heirat mit seiner zweiten Tochter, ihr Name war Khatidjabibi. Sie hatten vier Söhne, der älteste war Inayat Khan, der zweite Maheboob Khan und der dritte hieß Karamat Khan, sein Kosename war Papumiyan, der vierte Sohn war Musharaff Khan. Leider starb der dritte Sohn, als er etwa acht Jahre alt war, und später starb auch unsere Mutter, weil sie den Verlust ihres Sohnes nicht ertragen konnte. Karamat Khan war ein sehr mutiger und brillanter Junge. Er kannte keine Angst und ritt sogar auf dem Rücken eines Schwanes. Diese von Natur aus wilden Tiere ertrugen dies ohne Protest. Als Ustad lebte mein Vater ein Leben der Praxis in der Welt, jedoch immer mit Achtung und Respekt für die Religion. Er war immer bereit, Fakiren und Madzubs Gastfreundschaft zu erweisen. Er lud sie als heilige Männer in sein Haus ein, und tat alles für sie, was er konnte. Er lehrte uns, seine Kinder, großen Respekt vor ihnen zu haben und zu erkennen, welche Entwicklungen in einem Menschen möglich waren. Ein Madzub ist eine Seele, die sich über dieses irdische Leben erhebt und in Einheit mit Gott lebt. Ein Madzub kann das Bewusstsein der weltlichen Menschen täuschen, sie denken, er sei geisteskrank. Ein Madzub wird selten einen Segen erteilen, doch mein Vater spürte, dass ihre Gegenwart ein Segen ist, und so brachte er uns zu ihnen, wenn sie in unser Haus kamen zum Ausruhen und Essen.

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Er lehrte uns, sie zu beobachten, doch sie weder nach-zuahmen noch ihnen zu folgen, sondern eine Ausgeglichenheit im Leben zu bewahren und in nichts extrem zu sein. Es war sein höchster Wunsch, uns Kinder so aufzu-ziehen, dass wir ein glückliches und normales Leben haben sollten. Als er entdeckte, dass mein ältester Bruder als Knabe Gedichte geschrieben hatte, zerstörte er sie aus diesem Grund. Er wollte nicht, dass mein Bruder ein Dichter werde. Dichtung und Mystik erschienen ihm als Wege zu Tragödie und Sorge, die von einem aktiven, glücklichen und normalen Leben wegführten. Er hatte eine liberale Gesinnung. Zum Beispiel stellte er keine Regeln für uns auf in Bezug auf die Heirat. Er war ohne Vorurteil gegenüber Kasten und Ethnien, darin zeigte er seine Sufi-Überzeugung. Diese Haltung brachte meinem Vater hohen Respekt ein in den Augen unseres Großvaters, ebenso wie in unserer Familie. Auf diese Weise wurde unser Vater bis zum Ende seines Lebens hoch geachtet.

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Anfragen für Informationen über die von Hazrat Inayat Khan gegründete Internationale Sufi-Bewegung und Internationaler Sufi-Orden können an

folgende Adressen geschickt werden:

Sufi Orden Deutschland e.V.www.sufiorden.de

Sufi Orden Österreichwww.sufiorden.at

Sufi Orden Schweizwww.sufismus.ch

Sufi-Bewegung Deutschlandwww.sufibewegung.de

The General Secretariat of the Sufi MovementInternational Sufi Movement

Geschäftsstelle: [email protected]

www.sufimovement.org

Tänze des Universellen Friedenswww.friedenstaenze.de

Verlag HeilbronnPostfach 2162, D-71370 Weinstadt

www.verlag-heilbronn.de ● [email protected]

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